Charlotte Link
Sechs Jahre
Der Abschied von
meiner Schwester
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1. Auflage
© 2014 by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagbild: privat
Lektorat: Nicola Bartels
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-14100-4
V003
www.blanvalet.de
Vorwort
Warum dieses Buch? Diese Frage habe ich mir gestellt, bevor ich begann, es zu schreiben, und auch während ich daran arbeitete, habe ich immer wieder versucht, sie zu beantworten. Schon deshalb, weil ich, bekannt als Autorin von Kriminalromanen, davon ausging, dass meine Leser vielleicht verwundert sein würden und eben genau dies von mir würden wissen wollen: Warum dieses Buch?
Meine Schwester Franziska starb im Alter von sechsundvierzig Jahren am 7. Februar 2012, nachdem sie sechs Jahre lang voller Entschlossenheit gegen den Krebs und vor allem gegen die dramatischen gesundheitlichen Folgen von Strahlen- und Chemotherapien gekämpft hatte. Unsere ganze Familie kämpfte an ihrer Seite. Wir erlebten Schreckliches in dieser Zeit, Tragisches, Verrücktes, Unglaubliches, manchmal sogar Komisches. Es gab immer wieder Momente, in denen Franziska zu mir sagte: »Wenn das alles hier hinter uns liegt, musst du darüber schreiben!«
Ich versprach ihr, dass ich das tun würde. Und dann wechselten wir rasch das Thema, weil wir nicht weiter vertiefen wollten, wie es aussehen würde, dieses Wenn das alles hinter uns liegt. Es ging um Leben oder Sterben. Diese Dimension sieht keine Zwischenlösungen vor.
Mit dem Tod meiner Schwester verlor ich den wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich durchlebte eine seelische Erschütterung, die mir vorkam wie ein schweres Erdbeben: Nichts war mehr wie zuvor, kein Stein lag mehr auf dem anderen, jedes Gefühl von Sicherheit und Vertrauen schien verloren zu sein.
»Das Leben geht weiter!« Es gibt wohl keinen Ausspruch, den ich in der Folgezeit so oft hörte wie diesen.
Ja, dachte ich dann immer, das tut es wohl. Bloß wie?
Ich wusste nicht mehr, wo mein Platz in meinem eigenen Leben war. Ich versuchte, diesem Schicksalsschlag mit Tapferkeit zu begegnen, weiterzumachen, nicht in Trauer zu versinken, den Kopf über Wasser zu halten. Manchmal gelang mir die Strategie des Vorwärtsgehens; meistens glückte sie aber auch gar nicht. Irgendwann begriff ich, dass ich der Verwüstung, die in meinem Inneren herrschte, nicht dadurch Herr werden konnte, dass ich sie immer wieder zu ignorieren versuchte. Ich musste sie ansehen, akzeptieren und dann mit den Aufräumarbeiten beginnen. Nur so würde ich möglicherweise irgendwann eine Ahnung davon haben, wie mein Leben von nun an tatsächlich weitergehen könnte.
So besehen, gehörte das Schreiben dieses Buches für mich zu den Aufräumarbeiten. Stellte ein Stück persönliche Bewältigungsstrategie dar. Vielleicht sogar den Versuch, das, was geschehen ist, irgendwann dadurch zu begreifen, dass ich es in Worte gefasst habe. Denn noch immer ist dies das vorherrschende Gefühl in mir: Ich begreife nicht, dass sie nicht mehr da ist.
Darüber hinaus denke ich, dass wir in den hier beschriebenen sechs Jahren manches erlebt haben, was anderen Menschen zugänglich gemacht werden sollte. Ich schildere in diesem Buch, mit welch erschreckend geringer Empathie schwer kranke Menschen in manchen – keineswegs in allen – Krankenhäusern behandelt werden. Wie alleine man sie und ihre Angehörigen mit hoffnungslosen Diagnosen lässt. Wie gnadenlos drastisch oft gerade tödliche Diagnosen ausgesprochen werden, ohne dass zuvor mit der gebotenen Gründlichkeit überprüft worden wäre, ob sie überhaupt stimmen.
Ich bin sicher nicht die Erste und nicht die Letzte, die ihren Finger auf solche Missstände legt. Ich bin aber der Überzeugung, dass man auf diese Probleme nicht oft genug hinweisen kann. Dass man als Betroffener sogar verpflichtet ist, immer wieder darauf hinzuweisen, so lange, bis sich etwas Entscheidendes ändert.
Dieses Buch möchte außerdem Mut machen, trotz seines tragischen Ausgangs. Franziska war eine Kämpfernatur, und sie hat scheinbare Aussichtslosigkeit nie einfach hingenommen. Wenn ihr fünf Ärzte gesagt hatten, dass es aus einer bestimmten Situation keinen Ausweg mehr gebe, dann hat sie den sechsten oder siebten Arzt gesucht, der vielleicht doch noch eine Möglichkeit sah. Wir, ihre Familie, haben mit gesucht, und wir konnten Erfolge verbuchen. In vermeintlich hoffnungslosen Situationen, über die man uns zuvor gesagt hatte, ein Erfolg sei vollkommen ausgeschlossen.
Ich habe dieses Buch aus meiner Sicht, also aus der Sicht eines medizinischen Laien geschrieben, und ich habe bewusst darauf verzichtet, es später von einem Arzt noch einmal gegenlesen zu lassen. Über medizinische Abläufe und Zusammenhänge berichte ich daher genau so, wie sie sich mir in jener Zeit darstellten und wie ich sie verstehen konnte. Ganz sicher würden Fachleute etliche Problembereiche als weitaus komplexer und vielschichtiger bezeichnen, als ich hier mit ihnen umgegangen bin.
Einem wissenschaftlich fundierten Anspruch in größerem Ausmaß gerecht werden zu wollen hätte jedoch bedeutet, die Absichten dieses Buches in einem wesentlichen Punkt zu unterlaufen: Wir waren eine Familie ohne besonderes medizinisches Wissen, und wir standen plötzlich inmitten der Konfrontation mit einer lebensbedrohlichen Krankheit. Gerade auch die Hilflosigkeit zum Ausdruck zu bringen, die sich aus Unkenntnis ergibt, war mir ein Anliegen.
Dass es richtig war, dieses Buch zu schreiben, bestätigt mir die Tatsache, dass ich noch während der Entstehungsphase bereits von zwei Kliniken angesprochen und um spätere Lesungen aus dem fertigen Buch gebeten wurde. Einmal zu der Thematik des ärztlichen Umgangs mit Schwerstkranken. Und dann zu dem Problem der Spätfolgen von Radiotherapien. Ich hielt unseren Fall natürlich nicht für den einzigen seiner Art, aber doch für ziemlich speziell. Was nicht stimmt, wie ich erfuhr.
»Das Problem der Spätfolgen von Krebstherapien betrifft immer mehr Patienten«, schrieb mir der Professor, der mich zu der Lesung einlud. Zunehmend beschäftigt sich die Wissenschaft nicht mehr nur mit der Bekämpfung der furchtbaren Krankheit Krebs, sondern mit den Krankheiten, die durch eben diese Bekämpfung überhaupt erst ausgelöst werden. Franziskas gesamter Leidensweg ist ein tragisches Beispiel für dieses Dilemma, in dem die moderne Medizin steckt – und wir alle mit ihr.
All dies sind sicher sinnvolle Gründe, die vorliegende Geschichte zu erzählen. Aber neben meinem Versuch der persönlichen Aufarbeitung und dem Bemühen, anderen Betroffenen mit unserer Geschichte zu helfen, geht es mir vor allem auch darum, einem sehr besonderen Menschen in der Beschreibung wenigstens ansatzweise gerecht zu werden: meiner Schwester Franziska.
Charlotte Link
Sonntag, 8. Januar 2012
Die Sonntage sind mein Part, so haben wir es abgesprochen. Vereinzelt auch Wochentage zwischendurch, aber die Sonntage stehen fest. Es fällt mir sonst schwer, von morgens bis abends nicht daheim zu sein, ich habe ein zehnjähriges Kind und drei Hunde. Aber sonntags ist mein Mann da, ich kann problemlos weg.
An den anderen Tagen sind meine Eltern im Krankenhaus. Wir wollen meine Schwester Franziska nicht mehr alleine lassen, oder zumindest so wenig wie möglich. Seit dem 29. Dezember 2011 liegt sie im Krankenhaus von Bad Homburg, einem Vorort von Frankfurt. Seit sechs Jahren kämpft sie, kämpfen wir alle um ihr Leben. In den vergangenen Wochen hat sich die Situation dramatisch verschärft. Im tiefsten Inneren wissen wir bereits, dass jetzt nur noch ein Wunder helfen kann, und sie weiß es auch. Sie ist 46 Jahre alt und wird Tag und Nacht von dem Gedanken an ihre Kinder gequält, die sie zurücklassen muss, einen zwanzigjährigen Sohn und eine achtjährige Tochter. Darüber hinaus hat sie einfach Todesangst. Die Angst wird schlimmer, wenn sie alleine ist, daher versuchen wir sie abzulenken, so gut wir können.
Ich gehe den Gang entlang. Krankenhausgeruch, leise quietschendes Linoleum unter meinen Füßen. Eine Schwester schiebt einen Wagen mit leeren Tassen und Tellern zur Küche zurück. Sie grüßt freundlich. Alle hier auf der Lungenstation sind sehr nett, sehr bemüht. Eine Wohltat nach manch anderem, was wir in den letzten Jahren erlebt haben.
An den Türen hängen noch die Weihnachtssterne aus rotem und goldfarbenem Stanniolpapier. Irgendwie wirken sie inzwischen etwas deplatziert. Mir begegnet der sehr sympathische Pfleger, der sich immer so um meine Schwester bemüht. Er gehört zu den Menschen, die unaufgefordert stets mehr tun, als sie tun müssten. Er scheint auch gerade über die Sterne nachzudenken, denn er sagt zu mir: »Die kommen morgen weg. Dann hängen wir Frühlingsblumen aus Papier an die Türen.«
»Ich freue mich darauf«, sage ich. Zwar scheint der Frühling in endlos weiter Ferne zu liegen, und draußen ist der Januar genauso kalt, grau und trostlos, wie es nach meinem Empfinden nur dieser Monat sein kann. Aber umso schöner, wenn man versucht, etwas Farbe in den Alltag zu bringen.
Ich betrete das Zimmer meiner Schwester. Die Tür ist nur angelehnt. Franziska, die genau wie ich immer eher der ausgesprochen individualistische Typ war – nie zu viel Gemeinschaft ertrug und stets eine gute Rückzugsmöglichkeit in Reichweite brauchte –, hält geschlossene Türen nicht mehr aus, zumindest nicht, wenn sie alleine ist. Man respektiert das auf dieser Station, indem ständig ein blaues Handtuch so von innerer zu äußerer Türklinke drapiert wird, dass die Tür nicht zugehen kann. Ich nehme das Handtuch jetzt weg. Ich bin da, wir können die Tür schließen.
Franziska schläft, sie bemerkt mein Kommen nicht. Ich stelle die große Tasche, in der ich frische Wäsche und Zeitschriften für sie habe, auf einen Stuhl. Ziehe meinen Mantel aus und husche so leise wie möglich zur Garderobe, um ihn aufzuhängen. Trotzdem hört sie mich jetzt. Sie schlägt die Augen auf, braucht eine Sekunde, um den Schlaf abzuschütteln. Dann erhellt ein warmes, freudiges Lächeln ihr Gesicht.
»Du bist da«, sagt sie. »Schon lange?«
»Eben gekommen.«
Mit ihrem Lächeln umarmt sie andere Menschen, es ist strahlend und echt. Immer noch, auch wenn sie sich sonst auf schreckliche Weise verändert hat. Bei einer Größe von 1,73 Meter ist sie auf 39 Kilo abgemagert, was ihren Kopf in eine Art lebenden Totenschädel verwandelt hat, an dem die langen, noch immer leuchtend blonden Haare fast irritieren. Von ihrem Körper ganz zu schweigen. Wenn ich ihr ein neues Nachthemd mitbringe und sie sich umzieht, muss ich mich wegdrehen, ich ertrage den Anblick nicht. Sie sieht aus wie die Frauen auf den Bildern, die nach der Befreiung von Auschwitz gemacht wurden.
In ihre Nase laufen zwei Schläuche, die sie mit dem Sauerstoffgerät verbinden. Ihre Luftnot ist in den letzten Jahren immer schlimmer geworden, aber zumindest konnte sie noch im vergangenen November mit dem Auto von München nach Wiesbaden zu mir kommen, um ihre Nachsorge in Mainz wahrzunehmen. Jetzt schafft sie es ohne Sauerstoffgerät nicht mehr vom Bett bis zum Bad.
Das ist es, was uns alle in diesem Winter verzweifeln lässt: Die Krankheit galoppiert plötzlich. Auf einmal überschlagen sich die Ereignisse. Wir verlieren die Kontrolle. Wir jagen hinterher, versuchen einen Dammbruch zu verhindern und haben doch das Gefühl, ständig zu spät zu sein. Sechs Jahre lang sind wir immer wieder aus jeder noch so aussichtslos erscheinenden Schlacht als – zumindest vorübergehende – Sieger hervorgegangen. Jetzt droht uns das Schicksal abzuhängen.
Trotz ihres Lächelns merke ich, dass dies kein guter Tag werden wird. Letzten Sonntag, am Neujahrstag, war ich auch hier, und alles verlief ganz harmonisch – gemessen jedenfalls an den mehr als unschönen Umständen. Ich wusch ihr die Haare, und wir mussten beide über die Turnübungen lachen, die ich dabei veranstaltete: Das kleine Bad, darin Franziska, ein Stuhl, auf dem sie sitzen konnte, der Rollwagen, auf dem das Sauerstoffgerät stand. Für mich war eigentlich kein Platz mehr, und ich wusch ihre Haare in einer Körperhaltung, die mir zeigte, dass ich auch als Endvierzigerin noch ziemlich gelenkig bin und auf meine Bandscheiben stolz sein kann.
Heute wird es keine Situation geben, in der wir lachen. Franziska ist tief deprimiert. Der Luftmangel sei heute besonders schlimm, sagt sie mit leiser Stimme, und außerdem komme sie einfach nicht über das Ergebnis des gestrigen Wiegens hinweg: 38,5 Kilo.
»Es wird schlimmer«, sagt sie. »Es wird immer schlimmer.«
Meine Schwester hängt nicht nur an einem Sauerstoffgerät, sie wird über einen Port, der unter ihrem Schlüsselbein sitzt, zudem mit Hochkaloriennahrung versorgt. Rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag, fließt eine weiße Pampe in ihren Körper, die jeden anderen Menschen ziemlich rasch in einen Fettkloß verwandeln würde. Sie bekommt die künstliche Ernährung seit Weihnachten, also seit zwei Wochen. Und nimmt weiterhin ab.
Im Prinzip habe ich natürlich auch keine Ahnung, aber ich erkläre ihr, dass ich mir das so wie bei einer Diät vorstelle, nur umgekehrt. Wir kennen das alle: Man will abnehmen und hungert und hungert, und zunächst passiert einfach nichts. Unter Umständen geht das Gewicht sogar nach oben. Erst nach einer ganzen Weile erntet man den Lohn für die Mühe. Vielleicht, so denke ich, ist das auch so, wenn man dringend zuzunehmen versucht. Es braucht seine Zeit, bis die Nahrung anschlägt.
»Du wirst sehen«, sage ich, »noch ein paar Wochen, und du passt in keine Jeans mehr.«
Sie lächelt müde. So wird es nicht sein, und das wissen wir beide.
Sie will an diesem Sonntag wieder, dass ich ihr die Haare wasche, aber sie hat eine Heidenangst vor der Prozedur. Da sie vor Schwäche kaum stehen kann, muss sie auf einem Hocker sitzen, der ganz dicht an die Dusche herangeschoben wird, und dann muss sie ihren Kopf nach vorn neigen, damit ich ihr die Haare waschen kann. Trotz Sauerstoffgerät bekommt sie in dieser Haltung so gut wie überhaupt keine Luft mehr. Da ihre Atemnot an diesem Tag ohnehin schlimmer als sonst ist, graut es ihr vor dem Moment, da wir anfangen.
»Lassen wir es doch«, sage ich. »Ich kann morgen oder übermorgen wiederkommen, dann machen wir es eben später.«
Aber sie ist wild entschlossen. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer erbärmlichen Schwäche ist ihr an nichts so viel gelegen wie daran, sauber und gepflegt zu bleiben. Jeden Tag wäscht sie sich von Kopf bis Fuß, alleine, obwohl sie sich fast nicht auf den Beinen halten kann. Sie hat mich gebeten, ihr einen Conditioner für die Haare mitzubringen, weil diese so trocken geworden sind. Das erfüllt nun mich wiederum mit Nervosität: Mein Auftrag ist es, vor allem rasend schnell zu machen. Haare nass, Shampoo rein, Shampoo raus. Im Eiltempo, damit sie sich wieder aufrichten und atmen kann. Der Conditioner wird den Ablauf verzögern.
Letztlich werden wir ihn dann auch nicht benutzen. Wir werden froh sein, es überhaupt irgendwie zu schaffen.
Der Vormittag vergeht, indem sie sich mit der Frage herumquält, wann wir anfangen. Sie muss vorher nach einer Schwester klingeln, die sie von der künstlichen Ernährung abstöpselt und das Sauerstoffgerät von der Wand auf den Rollwagen umbaut. Hinterher muss das alles wieder in die Ausgangslage gebracht werden. Insofern gibt es kein Zurück, wenn sie sich entschieden hat – zumindest nicht, ohne dass sie nicht das Gefühl hätte, anderen unnötig Arbeit gemacht zu haben. Sie ist den Tränen nahe.
»Ich kriege keine Luft«, sagt sie immer wieder. »Ich kriege keine Luft.«
Neben vielem anderen, was im Argen liegt, leidet meine Schwester an einer Strahlenfibrose. Ihre wegen einer Krebserkrankung bestrahlte Lunge hat vor drei Jahren begonnen, Lungengewebe in Narbengewebe umzubauen und dabei gleichzeitig zunehmend zu versteifen. Erst langsam, dann schneller und schneller, unaufhaltsam. Inzwischen verfügt sie noch über die Atemkapazität einer Säuglingslunge – soll aber den Körper einer erwachsenen Frau mit genügend Sauerstoff versorgen. Der Lungenmuskel pumpt wie wahnsinnig, ist mittlerweile völlig überlastet. Da Franziska das Gefühl hat – ob gerechtfertigt oder nicht, darüber streiten die Ärzte –, nach jedem Bissen Essen noch weniger atmen zu können, hat sie in den vergangenen drei Jahren mit fortschreitender Fibrose ihre Nahrungsaufnahme immer weiter hinuntergefahren. Sie hat, fast unbewusst, eine Vermeidungshaltung eingenommen, die natürlich zum nächsten Problem führen musste: ein inzwischen lebensbedrohliches Untergewicht.
Was uns alle überhaupt noch aufrecht hält, ist die vage Hoffnung, dass die Fibrose zum Stillstand kommt und dass der Lungenmuskel an Kapazität gewinnt, wenn Franziska wieder mehr wiegt. Die Hoffnung ist mehr als schwach, und manche Ärzte schütteln darüber auch nur den Kopf. Andere sehen noch diese Möglichkeit. An ihnen halten wir uns fest.
Ich selbst habe ein äußerst schlechtes Gefühl.
Das Mittagessen wird gebracht, Franziska setzt sich zu mir an den Tisch. Theoretisch müsste sie nichts essen, weil sie ja künstlich ernährt wird, aber ihr behandelnder Arzt, Dr. Althoff, bittet sie immer wieder, es zu versuchen. Der Magen soll sich nicht noch weiter verkleinern, das gesamte Verdauungssystem nicht vollständig seine Arbeit einstellen. Man bringt ihr leichtes, appetitlich riechendes Essen, aber sie starrt ihren Teller wieder einmal nur tief unglücklich an.
»Komm«, sage ich, »drei Löffel. Bitte. Für mich.«
Sie nimmt den Dessertlöffel, um das Problem von vorneherein zu verkleinern, stippt ein wenig Kartoffelbrei auf die Spitze, führt ihn in den Mund. Schluckt und presst gleich darauf die Hand auf den Magen.
»Ich bin restlos satt. Ehrlich, ich kann nicht mehr.«
»Dein Magen ist verkleinert, ich weiß. Aber so klein ist er auch nicht. Bitte. Drei Löffel. Du hast es versprochen.«
Das hat sie zwar eigentlich nicht, aber sie spürt meine Sorge. Sie nimmt eine zweite Löffelspitze. Ihr Atem geht jetzt röchelnd.
»Bitte, zwing mich nicht. Ich kriege kaum noch Luft.«
Dadurch, dass sich die Lunge so verkleinert hat, ist Platz entstanden, und der Magen ist ein Stück nach oben gerutscht, das wurde festgestellt. Ob er tatsächlich auf die Lunge drückt, ist strittig. Die einen sagen: ja. Die anderen meinen, das Ganze sei ein psychisches Problem. Franziska versuche, möglicherweise unbewusst, ihr Körpergewicht der schwindenden Lungenkapazität anzugleichen und bilde sich diesen Druck nur ein. Egal wie: Sie kann jedenfalls nicht essen.
Um den Schwestern auf der Station ein objektives Bild zu geben, esse auch ich die Mahlzeit nun nicht auf, sondern packe ein mitgebrachtes Brot aus. Niemand soll ein leergegessenes Tablett abräumen und glauben, die Dinge entwickelten sich besser, als sie es tatsächlich tun. Nur den Nachtisch, einen Becher Schoko-Sahnepudding, verschlinge ich mit schlechtem Gewissen. Neben Franziska komme ich mir wie ein übergewichtiges Walross vor.
Während ich mir auf dem Gang eine Tasse Kaffee aus den dort ab mittags immer aufgestellten großen Thermoskannen hole, denke ich noch einmal an den letzten Sonntag. Franziska bekam plötzlich Lust auf ein Stück Kuchen, und ich stürzte in die Krankenhauscafeteria hinunter und kaufte ein Stück Sahnetorte. Sie aß es immerhin fast zu einem Drittel auf.
Es gibt auch bessere Tage, tröste ich mich, heute ist eben … ein Scheißtag.
Zurück im Zimmer. Franziska hat sich inzwischen durchgerungen, sich jetzt die Haare waschen zu lassen, weil sie den inneren Druck, der durch das dauernde Aufschieben entsteht, nicht mehr erträgt. Ich halte den Moment nicht für günstig, weil sie nach den zwei Bissen Kartoffelbrei ohnehin extrem nach Luft ringt, aber ich will es ihr nicht ausreden. Nachdem ich meinen Kaffee getrunken habe, klingeln wir nach der Schwester.
Das Abenteuer kann beginnen.
Erwartungsgemäß wird es zum Desaster. Wir müssen zweimal abbrechen, weil sie die Luftknappheit nicht aushält. Dadurch, dass sie dann jedes Mal den Kopf panisch nach oben reißt, wird sie völlig nass. Sie muss also zu allem Überfluss auch noch das Nachthemd wechseln, was sie ihre allerletzten Kräfte kostet. Als sie endlich wieder in trockenen Sachen, aber mit noch nassem Kopf auf einem Stuhl mitten im Zimmer sitzt, das Sauerstoffgerät wieder in der Nase und kreidebleich im Gesicht, fängt sie an zu weinen.
Sie kämpft seit sechs Jahren gegen den Tod, und sie hat selten geweint in dieser Zeit. Sie ist eine Kämpfernatur, und sie hat noch nie zu Selbstmitleid geneigt. Wir sind immer wieder Ärzten begegnet, die Franziska ausdrücklich ihre Hochachtung ausgesprochen haben für die Tapferkeit, den Mut und die Würde, mit denen sie ihrem Schicksal begegnet.
Es ist deshalb besonders schlimm für mich, sie weinen zu sehen. Weil ich weiß, dass sie in diesem Moment seelisch und nervlich völlig am Ende sein muss.
»Es wird nichts mehr«, sagt sie leise, von Schluchzern unterbrochen. »Schau mich doch an. Du weißt doch selber, dass ich das nicht mehr schaffe. Ich werde nie wieder nach Hause können. Ich werde es diesmal nicht schaffen.«
»Das weißt du doch nicht. Dr. Althoff sagt …«
Sie unterbricht mich schroff: »Wahrscheinlich sagt er euch in Wahrheit etwas anderes. Er weiß es, und ihr wisst es, dass es vorbei ist. Ihr habt euch abgesprochen, mir etwas anderes zu erzählen, aber ich bin doch nicht blöd!«
Tatsächlich haben wir nichts abgesprochen. Wahr ist aber auch: Wir sind alle nicht halb so zuversichtlich, wie wir ihr gegenüber tun. Ich frage mich, nicht zum ersten Mal, ob unsere Strategie, vor ihr immer stark und sicher und positiv aufzutreten, die richtige ist. Wir haben es vom ersten Tag an so gemacht, und sicher haben wir sie dadurch oft entscheidend gestützt. Aber manchmal wird sie sich in ihrer Verzweiflung auch allein gelassen gefühlt haben, weil sie spürte, es eigentlich wusste, dass die Dinge ausgesprochen schlecht standen. Manchmal müssen unsere lächelnden, optimistischen Gesichter auch wie Hohn gewirkt haben und so, als kämen sie aus einer anderen Welt. Sie bekommt seit sechs Jahren eine Hiobsbotschaft nach der anderen von den Ärzten überbracht, zuletzt die furchtbare Diagnose: »Ihre Lunge wird schrittweise vernarben. Und wir können nichts dagegen tun.«
Sie steht mit dem Rücken zur Wand, und sie klagt selten. Ich stelle mir vor, dass ich, hätte ich diese Diagnose bekommen, von morgens bis abends schreien würde.
Ich nehme ihre Hand. »Komm, halt durch. Du hast so viel geschafft, du schaffst das auch. Und jetzt föhne ich dir endlich die Haare trocken. Du holst dir sonst noch eine Lungenentzündung, und das ist wirklich das Letzte, was wir jetzt brauchen können.«
Sie hält meine Hand einen Moment länger. »Pass auf, wenn das alles hier nicht gut ausgeht, dann möchte ich, dass du …«
Ich unterbreche sie sofort. »Darüber spreche ich nicht mit dir. Es geht gut aus.«
Sie schweigt. Es ist das vierte oder fünfte Mal in all der Zeit, dass sie versucht, mit mir über ihren Tod und die Zeit danach zu sprechen. Jedes Mal weise ich sie zurück. Der Gedanke, sie zu verlieren, ist für mich von so überdimensionalem Schrecken, dass ich es nicht fertigbringe, ihn in Worte zu fassen. Ich weiß, dass sich meine mühsam aufrechterhaltene Alles-wird-gut-Fassade auflöst, wenn ich mich auf ein solches Gespräch einlasse, und dass es mir dann nicht mehr gelingen wird, sie wieder aufzurichten.
Ich trockne ihre Haare, sie kehrt ins Bett zurück. Ihre künstliche Ernährung fließt wieder. Ich hole mir einen zweiten Kaffee. Draußen wird es langsam dunkel, die schneeschweren Wolken sinken tiefer. Wir unterhalten uns über – in unserer Situation – unverfängliche Themen. Januar 2012, die Affäre um Bundespräsident Wulff hält die Republik in Atem. Ich bringe Franziska jede Woche den Spiegel mit, unser Vater lässt ihr täglich seine FAZ da. Anhand ihrer Äußerungen – stockend und mühsam wegen des Sauerstoffmangels hervorgebracht – erkenne ich, wie aufmerksam sie alles liest. Sie ist rundum informiert, hat sich eine Menge Gedanken zu der Thematik gemacht. Sie war nie ein Mensch, der Ansichten, die in der Zeitung standen und die öffentliche Meinung bestimmten, einfach nachgeplappert hat. Sie macht sich ihr eigenes Bild, beleuchtet Sachverhalte von allen Seiten, zieht eigene Schlüsse. Es macht Spaß, mit ihr zu diskutieren, weil man nie mit Plattitüden konfrontiert wird und nie mit einer eindimensionalen Sicht der Dinge. Sie ist das Gegenteil jeglicher Stammtischargumentation. Und gerade wenn die allgemeinen Ansichten – wie in der Wulff-Affäre – in nahezu völliger Gleichförmigkeit durch sämtliche Medien, ganz gleich welcher Couleur, geschrien werden, wenn zudem der Eindruck entsteht, dass sich nur wenige noch die Mühe machen, Behauptungen durch recherchierte Fakten zu belegen, wird sie misstrauisch. Und zweifelnd.
Trotzdem müssen wir das Gespräch schließlich abbrechen. Sie schließt die Augen, versucht, ihren Atem zu stabilisieren. Ich ziehe ein Buch hervor, fange an zu lesen. Gebe auf, nachdem ich viermal dieselbe Seite gelesen habe und noch immer nicht weiß, was dort steht. Außerdem wird es Zeit für mich. Schneefall ist vorausgesagt, und ich will zu Hause sein, ehe es losgeht.
Als ich schon im Mantel dastehe, in der Hand die Tasche, in der sich jetzt die alte Wäsche befindet, sagt Franziska plötzlich: »Könntest du mir noch einen Gefallen tun? Ich möchte meinen Tavor-Vorrat unter Kontrolle haben. Könntest du mir die Packungen ans Bett stellen?«
Tavor ist ein starkes, sehr gut wirksames Beruhigungsmittel, angstlösend und leicht sedierend. Es wird Menschen mit Angststörungen verschrieben, es verhindert Panikattacken und hebt anhaltende Schlaflosigkeit auf. Meiner Schwester wurde es sechs Jahre zuvor empfohlen, als sie nach einer vernichtenden Krebsdiagnose, die keine Hoffnung ließ, ihre Panik nicht mehr unter Kontrolle bekam. Das Problem mit Tavor ist, dass man nach vier Wochen täglicher Einnahme bereits in eine psychische wie physische Abhängigkeit von dem Wirkstoff gerät. Franziska hat es inzwischen sechs Jahre ohne Unterbrechung genommen. Ein Entzug wäre nur noch in einer Klinik möglich, aber im Augenblick ist ihre Tavor-Abhängigkeit unser geringstes Problem und seine Lösung damit auf irgendeinen späteren Zeitpunkt verschoben. Seit jedoch Dr. Althoff verlauten ließ, er würde sich wünschen, seine Patientin käme irgendwann von den Tabletten los, lebt Franziska in der Furcht, er könne ihr die Medikation plötzlich verweigern. Was er nie täte, wie ich ihr immer wieder versichere. Zum einen ist er Arzt und weiß, dass ein plötzliches Absetzen einen katastrophalen Zusammenbruch zur Folge hätte. Zum anderen: Sie ist immer noch ein erwachsener, selbstbestimmter Mensch. Sie entscheidet, welche Medikamente sie nimmt.
Im Prinzip weiß sie das, aber es ist wohl ihrer Schwäche und dem Gefühl totaler Wehrlosigkeit zuzuschreiben, dass sie trotzdem auf Nummer sicher gehen will. Ich musste deshalb an verschiedenen Stellen im Zimmer, vor allem in Taschen und Kleidungsstücken, ihre gesammelten Tavor-Rücklagen verteilen. Dabei habe ich überrascht festgestellt, wie groß ihr Vorrat ist, sie könnte einen blühenden Handel mit anderen Tavor-Junkies eröffnen. Sechs Schachteln à 100 Stück habe ich vor Dr. Althoffs vermeintlichem Zugriff versteckt. Nicht alle Packungen sind noch voll, aber dennoch muss Franziska über die Jahre zeitweise deutlich weniger Tabletten genommen haben, als ihr verschrieben worden waren. Nur so lässt es sich erklären, dass sie diese Mengen horten konnte.
Und jetzt will sie die alle an ihrem Bett haben?
»Warum? Ich meine, wieso brauchst du die jetzt?«
»Ich finde das nicht mehr so sicher, wie sie verteilt sind. Ich hätte sie lieber alle hier in meiner Schublade.« Sie weist auf den fahrbaren Tisch neben ihrem Bett.
»Für heute Abend hast du doch eine? Und für morgen und die kommende Woche?«
»Ja. Es geht mir nur um die Kontrolle.« Sie sieht mich genervt an, hasst in diesem Moment wohl ganz besonders ihre körperliche Schwäche, die es ihr nicht erlaubt, das Zeug einfach selbst einzusammeln.
Ich sehe sie ebenfalls an.
»Nein«, sage ich, »ich finde es besser, wenn sie da bleiben, wo sie sind.«
»Es kostet dich eine Minute. Bring sie mir doch.« Sie klingt völlig unverfänglich und gelassen.
»Ich sehe den Grund nicht.«
»Es geht mir um die Unsicherheit. Wenn die Putzfrau sie findet …«
»Die Putzfrau putzt nicht in deinen Taschen und Kleidungsstücken.«
Sie sagt nichts mehr. In Auseinandersetzungen ist man ihr zurzeit einfach deshalb überlegen, weil ihr so furchtbar schnell die Luft ausgeht.
Ich bleibe noch eine Weile. Franziska wirkt so ruhig, dass ich plötzlich sicher bin, ich habe die Situation falsch interpretiert. Sie wollte ihre Medikamente wirklich nur in Reichweite haben, um auf sie aufzupassen. Eine ganz leichte Paranoia ist ihr in der letzten Zeit einfach nicht abzusprechen. Und mir ganz offensichtlich auch nicht.
Schließlich umarme ich sie zum Abschied. Es ist, als drücke man ein ganz zartes Küken an sich, das jeden Moment zerquetscht werden könnte. Sie lächelt mich an, als ich das Zimmer verlasse und das blaue Handtuch wieder so drapiere, dass die Tür einen Spalt offen bleibt.
Ich fahre im Aufzug hinunter, durchquere die Eingangshalle, trete hinaus in die eisig kalte Winterluft. Bezahle mein Parkticket am Automaten. Erste Schneeflocken wirbeln vom Himmel. Ich fühle mich immer elend, wenn ich von ihr weggehe, habe das Gefühl, sie alleine zu lassen. Zu früh zu gehen. In das Leben zurückzukehren, während sie mit ihrer Atemnot und ihrer Todesangst alleine zurückbleibt. Ich weiß, dass sie jetzt ihre Tavor-Tablette nehmen und sich darüber entspannen wird. Unter Tavor funktioniert sogar die Atmung besser. Sie wird noch etwas fernsehen und dann schlafen.
Aber heute gelingt es mir nicht wie sonst, ganz allmählich über den Abschied hinwegzukommen. In mir erwacht langsam wieder eine furchtbare Unruhe. Das Wort Tavor kreist in meinem Kopf. Der Gedanke an sicher mehrere hundert Tabletten, die sich da oben in ihrem Zimmer befinden. Keiner der Ärzte weiß darüber Bescheid, keiner kann über unsere konspirative Aktion Bescheid wissen. Ich glaube, nicht einmal unsere Eltern wissen es. Nur ich. Und ich kenne ihre große innere Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.
»Meine schlimmste Angst wäre es, ersticken zu müssen«, hat sie vor Jahren einmal in einem anderen Zusammenhang gesagt.
Ich frage mich, ob ich die Tabletten hätte mitnehmen müssen. Einfach zur Sicherheit. Sie hätte mich nicht daran hindern können. Aber mir ist völlig klar, dass mich dann ein noch schlimmeres Gefühl quälen würde, nämlich das, ihr ihre Würde genommen zu haben. Gerade weil sie sich gegen nichts mehr wehren kann, was andere mit ihr tun, ist es von tiefster Bedeutung und Wichtigkeit, nichts gegen ihren Willen zu unternehmen. Es sind ihre Tabletten. Niemand außer ihr hat die Verfügungsgewalt darüber.
Es ist Sonntagabend, daher gelange ich ohne den üblichen Stau von Bad Homburg nach Wiesbaden. Mit jedem Kilometer, den ich zurücklege, wächst meine Panik. Ich habe richtig gehandelt, das ändert aber nichts an meiner Angst.
Es ist die Angst, die mich seit sechs Jahren gefangen hält, die ich mal besser, mal schlechter unter Kontrolle habe. Meine Schwester ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie war immer da, und ich habe stets in dem Glauben gelebt, dass sie auch in Zukunft da sein würde. Sie ist nicht nur meine Schwester, sondern auch meine beste Freundin und engste Vertraute. Es gibt nichts, was sie nicht von mir weiß, und umgekehrt ist es genauso. Sie ist der Mensch, der mir Sicherheit, seelische Stabilität und Zuflucht gibt.
Ohne sie zu leben ist nicht vorstellbar für mich.
Die Panik überfällt mich jetzt so stark, dass ich nicht weiterfahren kann. Zum Glück habe ich Wiesbaden schon erreicht, schere nach rechts in eine Parklücke aus. Etwas abrupt, der Fahrer hinter mir hupt erbost. Bis heute weiß ich nicht mehr, an welcher Stelle ich damals anhielt.
Ich schalte den Motor aus, zerre mein Handy aus der Handtasche. Ihre Telefonnummer im Krankenhaus habe ich gespeichert, zum Glück, denn meine Hände zittern so sehr, dass selbst das Aufrufen des Speichers zweimal misslingt.
Endlich. Bei ihr im Zimmer müsste es jetzt klingeln.
Es dauert. Das ist jedoch normal. Selbst eine so einfache Sache wie das Abnehmen eines Telefonhörers kostet sie Kraft. Außerdem zögert sie vermutlich. Es gibt dort kein Display, sie kann nicht sehen, wer sie anruft. Manchmal melden sich Freunde, die es gut meinen und glauben, während eines langweiligen Krankenhausaufenthaltes müsste ihr doch der Sinn nach nichts so sehr stehen wie nach einer schönen, langen Unterhaltung. Da ich niemandem sagen darf, wie schlecht es ihr geht, haben die meisten ein falsches Bild von ihrem Zustand. Ihr Handy hält sie deshalb auch schon grundsätzlich ausgeschaltet. Sie will nicht erreichbar sein.
»Bitte«, flüstere ich, »geh dran! Geh dran!«
Endlich meldet sie sich. Ihre Stimme klingt erschöpft, aber nicht schlechter als sonst.
»Ja?«, fragt sie einfach.
Ich weiß gar nicht sofort, was ich sagen soll. Ich bin so erleichtert, dass sie sich gemeldet hat. »Ich bin’s. Hallo«, sage ich schließlich.
»Bist du zu Hause?«
»Noch nicht ganz. Ich bin aber schon in Wiesbaden. Irgendwo am Straßenrand.«
»Am Straßenrand?«
»Ja. Ich … ich habe es irgendwie nicht mehr geschafft … Also, es dauerte mir zu lange bis nach Hause …«
Sie wartet.
»Ich wollte mich nur vergewissern, dass bei dir alles in Ordnung ist«, sage ich.
»Ja. Danke. Alles in Ordnung.«
»Hast du ein Tavor genommen?« Betonung auf ein.
»Eben gerade. Wirkt aber noch nicht.«
»Ach, bestimmt wirkt es jetzt bald«, sage ich. Ich bin immer noch nicht am entscheidenden Punkt des Gesprächs. Dann aber bricht es plötzlich aus mir heraus.
»Die vielen Tabletten … Du hast sie dir nicht geholt, oder?«
Sie klingt fast erstaunt. »Nein. Da wäre ich ja den halben Abend beschäftigt.«
»Okay. Okay, das ist gut.« Ohne dass ich es kontrollieren könnte, fange ich plötzlich an zu weinen. Es sind nicht nur ein paar Tränen. Ich weine so heftig wie seit Jahren nicht mehr. So, als könne ich nie wieder aufhören. »Du darfst es nicht tun. Bitte. Versprich es mir. Dass du es nicht tust!«
Sie weiß sofort, wovon ich rede. Sie schweigt einen Moment. Als sie antwortet, klingt sie sehr resigniert. »Ich habe nicht mehr die Hoffnung, das hier zu überleben, weißt du.«
»Doch! Doch, du überlebst das! Ich bin ganz sicher. Du musst kämpfen. Du hast all die Jahre gekämpft. Bitte, gib jetzt nicht auf. Hör nicht auf zu kämpfen!«
Ich weiß, was ich da verlange. Wie soll man kämpfen, wenn alles so aussichtslos erscheint? Wenn es kaum mehr jemanden gibt, der einem Hoffnung macht? Und wenn man vom vielen Kämpfen schon so müde ist, dass man einfach nicht mehr weiß, woher man die Kraft noch nehmen soll?
Normalerweise würde ich jetzt auf ihre Kinder kommen. So war es die ganzen Jahre über. Wenn sie einen Durchhänger hatte – während der Chemotherapien, Bestrahlungen und Operationen −, dann verwiesen wir anderen sie immer auf ihre Kinder.
Du musst für die Kinder kämpfen!
Diesmal sage ich es nicht. Ich spreche nicht von den Kindern. Auch nicht von ihrem Mann. Von ihren vielen Tieren. Es ist während der langen Jahre ihrer Krankheit einer der wenigen Momente, in denen ich nicht überlegt und vernünftig, nicht erwachsen bin. Sondern durch und durch authentisch.
Und als sie leise fragt: »Warum?«, da antworte ich ihr mit meinen Gefühlen. Mit meinen Ängsten. Einfach mit mir selbst.
»Wegen mir. Meinetwegen musst du kämpfen. Und durchhalten. Wenn es wegen nichts sonst ist, dann wegen mir. Weil du mich nicht verlassen darfst. Weil das nicht denkbar ist. Bitte. Verlass mich nicht. Ich schaffe es nicht ohne dich. Lass mich nicht allein!«
Ich höre es sofort an ihrer Stimme, dass ich sie erreicht habe. Wir, die ganze Familie, haben unsere Furcht, unseren Schmerz immer sorgfältig vor ihr verborgen. Um stark und stützend aufzutreten. Zum ersten Mal, seitdem der Tod als ständiges Damoklesschwert über ihr hängt, lasse ich sie in meine Seele blicken. Und in die trostlose, verzweifelte Dunkelheit, die darin herrscht. Ich bin nicht die große Schwester, die alles im Griff hat. Ich bin einfach nur ein Mensch, der vor Angst völlig am Ende ist.
»Keine Sorge«, sagt sie. »Ich versuche alles, um bei dir zu bleiben.«
Weiterer Versicherungen bedarf es nicht.
Zu unserem Verhältnis gehörte es immer, dass eine sich bedingungslos auf die andere verlassen konnte.
Tschesie
Ich nenne sie Tschesie. Das liegt daran, dass ich den Namen, mit dem unser Vater sie früher oft rief, als kleines Kind nicht aussprechen konnte: Er machte häufig aus Franziska eine Francesca. Und an eben dieser italienischen Variante brach ich mir die Zunge. Tschesie war da einfacher, und irgendwann wurde der Name von allen übernommen.
Dass unser Vater sie namensmäßig in einem südlichen Land ansiedelt, hängt damit zusammen, dass sie sich äußerlich ein wenig vom Rest der Familie unterscheidet. Wir sind alle äußerst hellhäutig und entsprechend empfindlich, ganz besonders meine Mutter und ich. Nur bei dem Gedanken an die Sonne bekommen wir beinahe schon einen Sonnenbrand. Meinem Vater geht es ein wenig besser, aber auch er muss sich im Sommer vorsehen. Tschesie hingegen kommt mit einem olivfarbenen Hautton auf die Welt, wird alljährlich mit den ersten Sonnenstrahlen im Frühling tief und anhaltend braun. Da ich sie von Anfang an als einen Teil von mir selbst empfinde, betrachte ich sie nicht mit Neid, doch aber mit einer gewissen Sehnsucht, so auszusehen wie sie.
Als Kind ähnelte ich, meinem eigenen Empfinden nach, einem Perlhuhn. Vor allem meine Nase war übersät mit Sommersprossen.
»Oh je, irischer Hauttyp«, sagt die Verkäuferin in einer Drogerie einmal zu mir. »Da wirst du es immer schwer haben!«
Es klingt irgendwie nach einem Schicksalsschlag. Über Tschesie, meist tief gebräunt, frei von jeder Andeutung einer Sommersprosse, blond und grünäugig, sagt niemand so etwas.
Über Tschesie heißt es von Anfang an: »Was für ein bildschönes Kind!«
Sie war und ist das größte Geschenk, das mir meine Eltern je machten.
Sie kommt auf die Welt, als ich ein Jahr und vier Monate alt bin, und auch wenn ich keine bewusste Erinnerung an diese erste Zeit habe, muss ich nur alte Fotos anschauen, um sofort zu wissen, wie viel sie mir schon damals bedeutet: Ich halte sie ständig im Arm, schleppe sie dauernd mit mir herum. Lehne mich über ihr Kinderbett, halte ihre Hände umklammert, schlinge beide Arme um sie. Es gibt, speziell aus unserer frühen Kindheit, kaum ein Bild, auf dem wir nicht gemeinsam zu sehen sind. Wir sind untrennbar, daher auch nicht einzeln zu fotografieren. Ich nenne sie »mein Baby«. So stelle ich sie anderen Leuten vor, und zum Schrecken meiner Mutter sammle ich gelegentlich wildfremde Kinder auf der Straße ein, führe sie in einem langen Zug ins Haus und an das Bett meiner Schwester, um dieses unglaubliche Wunder, das in mein Leben getreten ist, voller Stolz vorzuführen.
Das größte Drama unserer Kindheit findet an dem Tag statt, an dem ich in die Schule komme, während sie naturgemäß noch zu Hause bleiben muss. Es ist unsere erste Trennung, und sie stürzt uns beide in eine tiefe Krise. Glücklicherweise hat meine Klassenlehrerin die Sitte eingeführt, dass Geschwister – in Begleitung von Erwachsenen – gelegentlich ganz hinten im Klassenzimmer sitzen und zuhören dürfen. Da unsere Eltern beide berufstätig sind, werden wir von einer Kinderfrau betreut, die täglich ins Haus kommt und die wir um den Finger wickeln können. Sie und Tschesie sitzen nun so oft hinten bei mir im Klassenzimmer, dass Tschesie, als sie schließlich selber in die Schule kommt, den gesamten Stoff des ersten Schuljahres praktisch schon auswendig kennt.
Trotzdem hat die Schule ihr Gutes, sie verhindert, dass wir allzu sehr miteinander verschmelzen. Nun lernen wir beide andere Kinder kennen, schließen eigene Freundschaften. Nabeln uns auf eine gesunde Art zunehmend voneinander ab. Entwickeln eigene Interessen.
Die tiefe, innere Verbindung bleibt dabei bestehen. Wir sind eine Einheit, verstehen uns auch als solche. Es ist für Außenstehende, aber auch für unsere Eltern, völlig unmöglich, sich mit einer von uns anzulegen, ohne nicht auch die andere sofort als Gegnerin zu haben. Unser Zusammenhalt hat etwas von einem starken, tief verankerten Fundament, dessen Vorhandensein ich während meiner Kindheit und Jugend noch kaum reflektiere; es ist einfach da, selbstverständlich und unwandelbar. Später begreife ich, wie viel Halt ich daraus ziehe, wie im tiefsten Kern unverletzbar ich mich fühle in der Gewissheit, einen Menschen immer und bedingungslos an meiner Seite zu haben. Durch sie weiß ich selbst in den schwierigen Jahren der Pubertät nicht, wie sich Einsamkeit anfühlt.
Erst als die Krankheit in ihr Leben tritt, verstehe ich, wie sehr ich mich immer auf meine Schwester verlassen habe: Der Krebs bedroht existenziell ihr Leben.
Meinem Leben reißt er den Boden unter den Füßen weg.
Im Nachhinein ist es seltsam zu sehen, dass meine Schwester schon mehrfach früher in Todesnähe schwebte, als sei der Tod ein stets in ihrem Hintergrund stehender Begleiter gewesen, ein roter Faden, der nie ganz abriss. Als Kind erkrankt sie nicht einfach an einer Blinddarmentzündung wie viele andere, sondern es ist gleich ein Durchbruch, der sie im Rettungswagen mit Blaulicht ins Krankenhaus katapultiert.
Als sie mit siebzehn Jahren bei einem Reitausflug vom Pferd stürzt, bricht sie sich nicht einfach einen Arm oder ein Bein, sondern liegt fast zwei Monate lang mit einem schweren Schädelbasisbruch in der Klinik, wobei in den ersten Tagen beständig eine Hirnblutung droht, von der ihre Ärzte nicht wissen, ob sie sie überleben würde.
Mit dreiundzwanzig Jahren erkrankt sie an Morbus Hodgkin, einer speziellen Variante des Lymphdrüsenkrebses. Von dieser Krankheit wird später noch die Rede sein, denn sie stellt sich letztlich als die entscheidende Weiche für alles Folgende heraus. Sie bedeutet unsere erste direkte Konfrontation mit dem Schrecken von Chemotherapie und radioaktiver Bestrahlung.
Als dann das eigentliche Drama im Frühjahr 2006 über uns hereinbricht, wird Franziska gerade einundvierzig Jahre alt. Mit ihrem Mann Christian und ihren beiden Kindern sowie einer Menge Hunde und Katzen lebt sie in einem kleinen Dorf, direkt am oberbayrischen Ammersee gelegen. Nach vielen Jahren engagierter Arbeit als Redakteurin verschiedener Münchner Zeitungen hat sie sich für eine Weile vom Berufsleben zurückgezogen: Sie will verhindern, dass ihr Sohn Johannes, gerade vierzehn Jahre alt, nach der Schule von mittags bis abends allein zu Hause ist und sein Leben ausschließlich vor Fernseher und Computer verbringt. Er braucht jemanden, der ihm ein Mittagessen kocht, seinen Schulfrust anhört und vor allem dafür sorgt, dass er seine Hausaufgaben erledigt – er überschlägt sich damals nicht gerade vor brennendem Eifer. Und da sie nun ohnehin für absehbare Zeit als Hausfrau und Mutter fungieren wird, hat Franziska ganz bewusst im Alter von achtunddreißig Jahren noch einmal ein Kind bekommen, ihre Tochter Clara. Später, wenn beide Kinder aus dem Gröbsten heraus sind, will sie überlegen, was es noch an beruflichen Möglichkeiten für sie gibt. Nachdem sie Johannes als kleinen Jungen ständig in verschiedenen, über den Tag verteilten Kindergartengruppen betreuen lassen musste, worunter er sehr litt und worüber sie entsprechend heftige Schuldgefühle entwickelte, genießt sie es nun, rund um die Uhr für ihre Kinder da sein zu können.
Da das Haus, in dem sie leben, seit dem Familienzuwachs zu klein geworden ist, haben sie es gerade verkauft und sich für ein etwas Größeres entschieden, ein Stück weiter entfernt vom See und noch ländlicher gelegen. Im Juni soll der Umzug stattfinden.
Franziska freute sich auf den neuen Lebensabschnitt. Es geht ihr allerdings körperlich nicht besonders gut, sie ist oft ungewöhnlich müde und fühlt sich ständig angeschlagen, aber sie schiebt das auf ihren anhaltenden Schlafmangel: Die kleine Clara schreit selbst mit ihren zwei Jahren noch in vielen Nächten, und Franziska sitzt dann stundenlang bei ihr und versucht, sie zu beruhigen. Kein Wunder, dass sie nicht gerade wie das blühende Leben aussieht und sich auch nicht so fühlt.
Sie hat nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, dass sie einen metastasierenden Krebs in sich trägt, der bereits ein Stadium erreicht hat, das die Ärzte als unheilbar bezeichnen werden.