Die Blumen des Koran
oder: Gottes Poesie
Ein Lesebuch
Alle hier wiedergegebenen Passagen aus dem Koran folgen dieser Ausgabe:
Der Koran.
Vollständig und neu übersetzt von Ahmad Milad Karimi.
Mit einer Einführung herausgegeben von Bernhard Uhde.
2. Auflage der Studienausgabe.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand
Umschlagmotiv: © caracterdesign – iStock
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-80395-6
ISBN (Buch) 978-3-451-31335-6
„Schönheit gibt es überall, wo du auch hinsiehst.
Das steht in meinem Koran.“
Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran
„Es lohnt sich immerhin,
Gott von Mohammed her gefühlt zu haben“.
Rainer Maria Rilke
(Brief an Karl und Elisabeth von der Heydt)
Für Nicoletta
Inhalt
Prolog
1.In deinem Namen
2.Die erste Regung
3.Und gestaltet hat Er euch, schön eure Gestalt
4.Sein sind die Namen, die schönsten
5.Von der edlen Einfalt Gottes
6.Von der Kritik der Gottheit Jesu
7.Bei Ihm ist die schönste Heimkehr
8.Die schöne Ermahnung
9.Denn bei Gott ist der schöne Lohn
10.Die schönste der Erzählungen
11.Der Mensch im Exil
12.Und tut den Eltern Schönes!
13.Die schönste Erläuterung
14.Streitet nur auf die schönste Weise
15.Das schönste Ziel
16.Ihr habt ein Beispiel, ein schönes, an Abraham
17.Vom Gedenken Gottes
18.Doch die Geduld ist schön
19.Hingabe
Textnachweise
„Die Schönheit wird die Welt erlösen.“
Fjodor M. Dostojewski
Im Anfang ist das Wasser. Das Wasser fließt leise über die Hände; aber es haftet nicht an den Händen. Das Wasser, das die Hände berührt, eröffnet den religiösen Akt. Vor der Berührung des Koran bestimmt Achtsamkeit den Augenblick. Die rituelle Waschung ist stets mehr als der Akt selbst. Sie nimmt die Begegnung mit dem Koran versinnbildlichend voraus. Die Seele, die an das Göttliche rühren will, kehrt zunächst zu sich selbst, reinigt das weltliche Gefäß; das fließende Wasser nimmt gleichsam alles Vergängliche hinweg. Der Gang zum Koran gleicht der Umrundung der Kaaba. Der Koran als Schrift steht nicht einfach im Regal. Er liegt über allen Büchern – von seidenen, zarten Tüchern umwickelt. Tuch für Tuch wird der Koran zunächst hingebungsvoll entschleiert.
Wie ist aber der Koran zu lesen? Halten wir ihn tatsächlich in den Händen? Obgleich er in unseren Händen liegt, ist er kein Gegenstand. Der Koran entgleitet uns im Akt der Rezitation; und gerade in der Rezitation scheint er ganz auf. Was im Koran steht, lässt sich nicht abstrahieren von der Weise, wie es im Koran steht. Inhalt und Form sind untrennbar, sie greifen ineinander. Wer einen Prosatext erwartet, so etwas wie einen Informationstext, der wird enttäuscht sein. „Die Sonne“ ist der Titel der Sure 91 des Koran. Der Name der Sure spielt auf den ersten Vers der Sure an, in der die Rede von der Sonne ist:
Sure 91: Die Sonne (al-šams) –
Geoffenbart in Mekka
Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers
1 Bei der Sonne, die strahlend erhellt,
2 und bei dem Monde, wenn er ihr Schritt hält,
3 bei dem Tage, wenn er glänzend funkelt,
4 und bei der Nacht, wenn sie dunkelt!
5 Beim Himmel und Dem, der ihn errichtet,
6 bei der Erde und Dem, der sie ausgebreitet,
7 und bei einer Seele und Dem, der sie geformt,
8 ja, ihr Sündigkeit und Gottesfurcht eingegeben!
9 Selig ist, wer sie reinigt,
10 unselig aber, wer sie verkommen lässt.
Die Sure beginnt mit einer Schwurfolge, bei der Sonne, der Nacht und immer fort. Dabei sind die Klangbilder der Schwurbegriffe der Form nach nahezu identisch mit der inhaltlichen Bestimmung der Begriffe. Die Nacht (layl), die dunkelt (yaġšāhā), klingt kehlig und dunkel, während der Tag (nahār), der glänzend funkelt (ǧallāhā), dem Klang nach hörbar ist. Dies lässt sich bei allen Schwurbegriffen am Anfang der Sure demonstrieren. Doch was steht in der Sure? Die erste Phase der Sure, die mit der Schwurfolge begann, endet (Vers 1–10) mit keiner Aufforderung, aber einer unterscheidenden Klärung zum seligen Leben. Wenn allein dies die Botschaft ist, warum die Schwurfolge – als Intensivierung der Aussage? Warum aber gerade diese Schwurfolge? Und warum dieses Anordnung der Worte? Und plötzlich ist die Rede von den Ṯamūd (einem altarabischen Volk der Nabatäer aus dem Westen der Arabischen Halbinsel vermutlich aus dem 8. Jhd. v. Chr. vermutlich):
11 Die Ṯamūd widersetzten sich und leugneten.
12 Als ihr Unseliger auftrat,
13 da sprach der Gesandte Gottes:
„Beachtet die Kamelstute Gottes, und dass sie trinkt!“
14 Sie aber bezichtigten ihn der Lüge
und durchschnitten ihr die Sehnen,
für ihre Schuld brach ihr Herr herein über sie mit Zorn
und ebnete sie ein.
15 Und Er fürchtet ihre Folgen nicht.
Die Verse 11 bis 15 beziehen sich auf das Vergehen gegen die Kamelstute. Bemerkenswert ist durchaus, dass das Leben und der Umgang mit der Kamelstute den ganzen Zorn Gottes provoziert (vgl. hierzu 54,27–28). Der Gesandte, der das Volk zum Guten anleiten will, wird nicht namentlich erwähnt. Warum nicht? Um wen handelt es sich hier? Der intertextuelle Bezug (vgl. 7,73–79) legt nahe, dass es sich dabei um den Gesandten Ṣāliḥ handelt. Was wissen wir von ihm? Wie lassen sich die zwei Phasen der Sure aufeinander beziehen? Am Anfang der Sure wird Spannung erzeugt, Erwartung geweckt, mit jedem Schwur erhöht sich die Neugier, die Steigerung ästhetisiert die Botschaft. Der Kern der Aussage, der als allgemeine Norm abstrakt eingeführt wird, schlägt plötzlich in eine Geschichte um, die Deutung verlangt. Es wird nahezu plastisch demonstriert, dass der Koran mehr ist als der Koran expressis verbis. Jede Nichterwähnung, jede Offenheit, jede Anspielung, jede Leestelle, jeder Kontext, der nur in Andeutung vergegenwärtig wird, gehört konstitutiv zum Koran, zur Botschaft desselben, wie auch das kontextuell geprägte Subjekt der Lesung. Der Koran lässt sich nicht zusammenfassen, auf eine Botschaft reduzieren. Somit steht der Koran nicht für eine bestimmte Idee, die er repräsentieren würde, er hat keine Stellvertreterrolle. Weder sind die Themen einzuschränken, noch gelingt eine solide Trennung der einzelnen Motive. Die Verse stehen mit anderen Versen explizit oder implizit im Dialog. Oder der Dialog entfacht sich mit den Dingen, mit dem Gegenwärtigen, dem Vergangenen oder dem Zukünftigen. Doch der Dialog ist nicht eindeutig. Uneindeutigkeit lässt sich als das umgreifende Prinzip des Koran bestimmen. Es gibt keinen Gang der Handlung, keine Chronologie der Erzählung, es geht weder um eine Lebensgeschichte noch überhaupt um Geschichte; Chronos steht still; jedoch sind Geschichten über Geschichten zu finden, Brüche, Rede und Gegenrede, Gebete und Mahnungen, Erinnerungen und Träume, Normen und Weisheiten, die übereinander greifen, sich überlagern. Jede Auswahl bleibt dabei selektiv und subjektiv. Wer den Koran verstehen will, der muss sich dem Koran als Ganzem widmen. So dürfte jede Einführung in den Koran mehr über den Standpunkt des Einführenden erkennen lassen als über den Koran selbst. Philologischer Feinsinn ist dabei konstitutiv, weil der Koran sprachlich vermittelt ist, aber darin erschöpft sich der Koran nicht als das Ereignis, das er sein will: Offenbarung. Das unvermittelte Lesen und Durchblättern des Koran bleibt aber genauso dunkel wie verfehlt, wenn sich daraus bloß Urteile bilden sollen über den Koran. Naiv ist dieser Standpunkt deshalb, weil der Leser zu erkennen glaubt, was geschrieben steht. Die Naivität besteht nicht nur darin, nicht begriffen zu haben, dass am Wort zu hängen kein Verstehen generiert, sondern bloß das Wort verlautbart; vielmehr will dabei das Subjekt in eigner Selbstvergessenheit verstehen. Wer sich aber distanziert und von sich selbst abstrahiert, geht nicht ein in den Akt des Verstehens, begegnet nicht dem Koran, sondern behauptet allein eine Begegnung, die er nicht einholen kann. So bleibt ihm der Koran eigentlich fremd. Bleibt nicht jede noch so genaue Einführung und Beschreibung der Liebe unterbestimmt im Vergleich zum unmittelbaren Akt des Liebens, der Berührung? Beide Positionen, die eine verloren in der Philologie und Zerteilung der Themen und Aussagen, die andere befangen im unbekümmerten Lesen, dürften den Koran verfehlen. Weder das partikuläre Sinnen, noch die „leere Lust“ erringen das Eigentliche. Friedrich Hölderlin schrieb einmal in einer Vorrede zu seinem Hyperion: „Wer bloß an meiner Pflanze riecht, der kennt sie nicht, und wer sie pflückt, bloß, um daran zu lernen, kennt sie auch nicht.“ Die Blumen des Koran verlangen nach Begegnung. Begegnung ist immer ein unmittelbarer Akt, sinnlich, zitternd, wie eine erste Berührung. Das ästhetische Moment entsteht durch das alles umspannende Erlebnis des Poetischen. Der Koran ist nicht einfach ein Gedicht oder gedichtet. Er ist, wie es Friedrich Schlegel in dem berühmten Athenäums-Fragment Nr. 116 zum Ausdruck brachte, eine progressive Universalpoesie. Alle Sinne sind angeregt, alle Künste und Wissenschaften miteinander verbunden; das Synästhetische lässt Traum und Wirklichkeit nicht in Trennung, sondern in Verbindung denken. Die Poesie Gottes umfasst alle Dinge, und sie ist progressiv deshalb, weil der Koran dem Werden und der Veränderung verschrieben ist. Der Koran, er endet nicht, gerade im Fragmentarischen atmet die Seele auf.
So beansprucht das vorliegende Lesebuch in keiner Hinsicht Vollständigkeit. Jedes Kapitel ist ein Fragment, die Themen bleiben offen, die Konstellation der Suren und Verse spielen stets auf das Unvorgestellte an. Der Versuch, den Koran so zu öffnen, dass seine Charakteristika zum Vorschein kommen, dass erlebbar wird, warum die Muslime so verzaubert sind vom Koran, steht im Vordergrund. Der Koran will nicht verschlossen sein, er will anregen, provozieren, anleiten, träumen lassen, aber auch Würde verleihen, Hoffnung spenden. Wie fremd ist uns der Koran? Wie nahe war er Goethe und Rilke? Wie oft schrieb Goethe die Sure 114 in arabischer Schrift aufs Papier? Und warum? Wie kommt Sinn zustande? Warum sollen sich die Engel vor dem Menschen niederwerfen? Und wie fühlt sich Gott an, der Erhabene, der mir näher ist als meine Halsschlagader? Warum hat Hölle Wahrheit, wenn sie Gottesferne bedeutet? Das Lesebuch klärt auf, aber niemals vollständig und endgültig; jede Aufklärung will zugleich Verklärung. So enttäuscht der Koran all die, die Religion als Rezept begreifen. Das Unvollendete, das Zerbrechliche, das Unerlöste wird nicht verschwiegen. In jedem Klang des Koran ist Gott gegenwärtig, das Unbegreifliche. Diese Einsicht fordert Demut ein – im Akt des Verstehens. Darin dürfte ein Stück Koran verborgen sein. Die wenigen Zeilen im vorliegenden Buch inszenieren die Spannung zwischen Offenheit und Klarheit, Zweideutigkeit und Mehrdeutigkeit und immer fort. Das begleitende Prädikat des Ganzen ist die Schönheit. Nicht rezeptionsästhetisch die Schönheit der Form allein, sondern der jeweilige Inhalt, nahezu ausnahmslos, identifiziert sich mit dem wahrhaft Schönen. So dass über den Propheten Muhammad als den ersten Adressaten der Worte Gottes, aus dem Koran (33,21) zu entnehmen ist: „Wahrlich, ihr habt an dem Gesandten Gottes ein Vorbild, ein schönes“.
Münster, im Ramadan 2015
Ahmad Mild Karimi
Das Papier wirkt zart, herbstlich; die Gedichtverse sind dicht aneinandergereiht, aber jedes Wort findet seine eigene Atmosphäre, wirkt bedacht und nachempfunden, ja gewürdigt, als wären die Buchstaben einzeln aufgelesen; die Überschrift ist unterstrichen, aber kaum lesbar, gleichsam gedrängt; der Blick wird gefangen von einer Schriftzeile, die alles Geschriebene überragt; die Feder ist dabei von rechts nach links geführt; die zerbrechlichen Buchstaben besitzen eine eigene Bestimmtheit; sie sind klar und zugleich liebevoll geschrieben, nahezu gezeichnet. Wer hat das geschrieben? Die Rede ist von Johann Wolfgang von Goethe. Aus der Feder des Dichters ist in arabischer Schrift zu lesen:
bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīmi
Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers!
Ungewöhnlich der Duktus, ungewöhnlich die Anordnung der Worte, ungewöhnlich der Dichter, über dessen Größe der mit Abstand tiefsinnigste islamische Denker des 20. Jahrhunderts, Muhammad Iqbal, einmal schrieb:
„Dem Blitz gleicht er, jung, aus Europas Stamme –
Östlicher Greise Hauch schürt meine Flamme.
Im Garten er geboren und gewachsen –
Aus totem Staube nur bin ich erwachsen.
Er ist im Hage Nachtigall-gleich singend –
Ich, in der Wüste Glocke klagend-klingend.
Wir wissen, wo das Seinsgeheimnis loht,
Sind Boten von dem Leben aus dem Tod,
Sind spiegelnd morgenhelle Dolche beide –
Doch er entblößt, und ich noch in der Scheide.“
Wie sehr Osten und Westen miteinander verflochten sind, zeigt Iqbal in seiner Botschaft des Ostens als Antwort auf Goethes Westöstlichen Divan, der dies bereits unnachahmlich demonstriert hat. Für Goethe ist der Koran nicht fremd; der Dichter macht sich ihn zu eigen; er schreibt von rechts nach links: Im Namen Gottes. Mit diesen ungewöhnlichen Worten greift Goethe für das Gedicht Vier Gnaden aus seinem Westöstlichen Divan auf den Koran (1,1) zurück.
Fast alle Suren im Koran finden mit dieser rezitativen Wendung ihren Anfang. Bevor den einzelnen Zeichen des Koran Ausdruck verliehen wird, steht der Atem still – im Namen Gottes. Diese Besinnung auf den Namen Gott, der sich durch die Barmherzigkeit und die Erbarmung näher bestimmt, ist stets Teil der Botschaft selbst. Diese Worte, die Buchstabe für Buchstabe von rechts nach links verwegen verlaufen, stehen in Vollendung vor dem Leser, sie lassen zwar keine Ergänzung zu, sie lassen aber die Eröffnung einer neuen Welt erahnen, die Zeichen für Zeichen, Wort für Wort Menschen ins Neue und Ungewisse verwickelt, sie lassen berühren und entdecken, was sich von selbst nicht entdecken lässt. Das Papier unter den Worten hebt sie gleichsam empor, um vielleicht das Geheimnis des Ganzen im Namen Gottes in sich zu schließen. Es fällt auf, dass dieser Anfang als das Eröffnende nicht bloß als erster Vers der ersten Sure vorkommt, sondern nahezu jeder Sure vorangestellt ist. Allein die Sure 9 (Die Umkehr) beginnt unmittelbar. Über diese Ausnahme, wenn man sie so fassen will, ist in der exegetischen Tradition viel sinniert worden; doch die Sure 27 (Die Ameisen) beinhaltet diesen Anfang im Vers 30 programmatisch als Anfang eines Briefes von Salomo, so dass er im Koran insgesamt 114-mal zu lesen ist – ebenso oft, wie der Koran Suren zählt.
Sure 11: Hūd1 (Hūd) –
Geoffenbart in Mekka
41 Und er2 sagte: „Steigt hinein!
Im Namen Gottes: seine Fahrt und seine Landung!
Wahrlich, mein Herr ist der unübertrefflich Vergebende,
der Barmherzige.“
Diese Vergegenwärtigung des Namens Gottes bestimmt aber auch jeden alltäglichen Anfang im Leben der Muslime, jeden Brief, jedes Traktat und jedes Dokument. So findet der persische Dichter Nizami die schönsten Worte in Bezug auf diesen außergewöhnlichen Anfang, womit er sein Epos über die Liebesgeschichte von Leila und Madschnun beginnen lässt:
„Der beste Anfang ist allein der Anfang mit deinem Namen Kein Schreiben eröffne ich ohne deinen Namen.“
Am Anfang des Koran in seiner verschriftlichten Form ist die Sure al-fātiḥa (Die Eröffnende) zu lesen. Bei der Gesamtkomposition der einzelnen Suren des Koran stellt die erste Sure eine Asymmetrie dar. Sie steht gleichsam als eine eigene Instanz da, als Prolog auf Erden, und ist dabei als solche ein Gebet, Ausdruck einer tiefen Zuwendung, die deshalb als die Eröffnende gilt, weil sie die Haltung des Menschen zu seinem Gott, in dessen Namen er Ihn und allein Ihn dankend lobpreist, in Worte kleidet. Die Worte lassen von ihrem weltlichen Kleid ab, um Gott anzurufen, dessen Name selbst der Anfang sein soll; aber die Worte kehren zurück, ergreifen die Existenz des Betenden. Demnach ist der Stellenwert dieser Sure im religiösen Leben schlechthin herausragend. Die Anordnung der Wörter steht dabei im Einklang mit dem Inhalt. Der Inhalt der Botschaft ist mit der Ausdrucksform verwoben. Der Inhalt ist mithin nicht monoton, nicht bloß Information. Vielmehr skizziert die Sure in aller Dichte das vergängliche Leben des Menschen im Angesicht Gottes. Die rhythmischen Tempi der Verse sind tragend und richten sich exakt an die Gesamtgestimmtheit der Sure. So beginnt die Sure mild und zerbrechlich, um mit jedem Atemzug an Intensivität und Eindringlichkeit zu gewinnen. Die Ordnung der Dinge ist vollbracht, wenn die Stimme allmählich der Stille naht – eröffnet ist der Koran:
Sure 1: Die Eröffnende (al-fātiḥa) –
Geoffenbart in Mekka
1 Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers.
2 Das Lob Gott, dem Herrn der Welten,
3 dem Barmherzigen und dem Erbarmer,
4 dem Herrscher am Tage des Gerichts.
5 Dir dienen wir allein und Dich bitten wir um Hilfe:
6 Leite uns recht auf dem Weg, dem geraden,
7 dem Weg derer, die von Deiner Gnade getragen,
und nicht dem Weg derer, über die Dein Zorn waltet,
und derer, die in die Irre gehen!
Hölderlin war ganz von ihr durchdrungen, von jener Erfahrung, dass dem Menschen das Herz aufgeht, wenn er die Offenheit für die Offenbarung in sich trägt, die auch Muhammad zuteil wurde. Hölderlin schrieb: „O ihr, die ihr das Höchste und Beste sucht, in der Tiefe des Wissens, im Getümmel des Handelns, im Dunkel der Vergangenheit, im Labyrinthe der Zukunft, in den Gräbern oder über den Sternen! wisst ihr seinen Namen? den Namen des, das Eins ist und Alles? Sein Name ist Schönheit.“
Fernab und ganz allein pflegte Muhammad Jahr für Jahr für eine bestimmte Zeit Zuflucht in einer Höhle des Berges ḥirāʾ zu suchen, nordöstlich von Mekka, der Stadt, aus der er stammte. An jenem stillen Ort verweilte er allein – er und seine Einsamkeit. Finsternis umgriff den Suchenden, den Sinnenden. Hier hungert Muhammad „über sich hinaus“, wie es Rilke formulieren würde. Seine Hände sind ausgestreckt nach der Ewigkeit, die namenlos ist. Er dürfte sich im Schlaf befunden haben, als an ihm das Unmögliche geschieht: Gott erschütterte ihn mit seiner Offenbarung. „Nicht nur die Durstigen suchen Wasser / Das Wasser sucht die Durstigen“, sagt Maulana Rumi. Eindringlich wird er von den Worten eines Engels berührt. Die Dramatik dieses Erlebnisses, dieser Ruf, der seine Berufung werden sollte, schildert Rainer Maria Rilke in einem im Jahre 1907 in Paris geschriebenen Gedicht mit dem schönen Titel Mohameds Berufung:
Da aber als in sein Versteck der Hohe,
sofort Erkennbare: der Engel, trat,
aufrecht, der lautere und lichterlohe:
da tat er allen Anspruch ab und bat
bleiben zu dürfen der von seinen Reisen
innen verwirrte Kaufmann, der er war;
er hatte nie gelesen – und nun gar
ein solches Wort, zu viel für einen Weisen.
Der Engel aber, herrisch, wies und wies
ihm, was geschrieben stand auf seinem Blatte,
und gab nicht nach und wollte wieder: Lies.
Da las er: so, dass sich der Engel bog.
Und war schon einer, der gelesen hatte
und konnte und gehorchte und vollzog.
Der Engel, der ihm erscheint, Gabriel selbst, fordert ihn auf, er solle vortragen. Der Schriftunkundige weigert sich zu tun, was er nicht vermag. Aber der Engel lässt ihn nicht aus seinen Fesseln entkommen und fordert wiederholt: „Trag vor!“ Muhammad ist nahezu seines Atems beraubt, wie Ibn Isḥāq, sein erster Biograph, berichtet. So nimmt er sich zurück, und in dieser Zurücknahme erscheint seine Größe. Auserwählt als der Gesandte Gottes artikuliert er die ihm vermittelte Botschaft:
Sure 96: Der Blutklumpen (al-ʿalaq) –
Geoffenbart in Mekka
Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers
1 Trag vor3
im Namen deines Herrn, der erschuf,
2 erschuf den Menschen aus einem Blutklumpen!
3 Trag vor,
denn dein Herr ist im Guten unübertrefflich,
4 der durch das Schreibrohr nahe brachte,
5 den Menschen lehrte, was er nicht wusste!
Als ihn der Engel zurücklässt und er leise zu sich findet, ist er verwandelt. Wie eine Neugeburt ereignet sich die Offenbarung an ihm, ist er doch nicht mehr derselbe wie zuvor. So ist auch seine Welt verwandelt, ja das Ganze überhaupt. Zitternd steigt er vom Berg hernieder; er hat keine Schrift, keine Tafel und kein Bild erhalten, vielmehr ist ihm allein eine Erinnerung geblieben. Es ist ihm, wie er selbst berichtet, als seien ihm die Worte ins Herz geschrieben. Und er findet wärmende Geborgenheit bei seiner Ehefrau, die als erste Muslima überhaupt die Ehrlichkeit in seinem Blick erkennt, dass er nicht über seinen Zustand verfügt. Muhammad ist überantwortet. Sie gibt ihm Zuversicht – Zeit ihres Lebens. Er war und blieb bloß ein Mensch. Aber was ist ein Mensch? Friede über den Menschen, der er war, sagt der Koran (37,180), denn fortan war er der Gesandte Gottes. Es wiederholt sich die Offenbarung an ihm, immer und immer wieder; und sie ist immer noch wunderbar. Bemerkenswert ist in dieser ersten Regung der Offenbarung die Betonung der Aneignung des Wissens gerade mit dem Hinweis auf das „Schreibrohr“. Denn damit avanciert der Mensch zu einem ausgezeichneten Wesen, das als ein stets Strebendes skizziert wird. Wissen sei als ein Gut für die Menschen zu betrachten, womit ihn eben dieser Gott der Menschen in seiner unübertrefflichen Güte ehrt.
Das zunächst verborgene Zentrum dieser Verse bildet der Mensch. Der aus einem Blutklumpen Erschaffene wird angesprochen, der aber nicht Blutklumpen bleibt. Offenbarung zeigt sich im Islam also nicht als die Selbstoffenbarung Gottes derart, dass Gott Mensch wird. Vielmehr macht erst der Akt der Offenbarung aus dem Menschen den Menschen. So singt Maulana Rumi in seinem Divan (Gedicht: 2087):
„Ich will ein Gleichnis prägen über diese brennende Liebe: Du bist ein Feuer, leuchtend in meinem Verborgenen.“
Dem Menschen ist die letzte Sure im Koran gewidmet, in der der Mensch in besonderer Weise gewürdigt wird, indem sich der Herr aller Welten als Herr des Menschen bestimmen lässt:
Sure 114: Die Menschen (al-nās) –
Geoffenbart in Mekka
Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers
1 Sag:
„Ich suche Zuflucht bei dem Herrn der Menschen,
2 dem Herrscher der Menschen,
3 dem Gott der Menschen,
4 vor dem Bösen der Einflüsterung,
des Heimtückischen,
5 der einflüstert in die Brust der Menschen,
6 vor Dschinn4 und Menschen.“
Die Sure ist von besonderer Schönheit. Gerade ihre Verdichtung und die Anordnung der Worte, die auf das Reimwort nās (Menschen) abgestimmt sind, während auf den Buchstaben n (arab. nūn) beim Vortrag insistiert wird, machen das Tempo lebhaft, allegro bis presto. Im selben Atemzug steigern sich die Gedanken Vers für Vers, um im Begriff des Menschen (nās) zu ruhen.
Zudem wird die Sure gemeinhin als Schutz gegen die Heimsuchung begriffen wie auch die vorletzte Sure:
Sure 113: Die Morgendämmerung (al-falaq) –
Geoffenbart in Mekka
Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers
1 Sag:
„Ich suche Zuflucht beim Herrn der Morgendämmerung
2 vor dem Bösen dessen, was Er schuf,
3 vor dem Bösen der Finsternis, die hereinbricht,
4 vor dem Bösen knotenbespuckender5 Weiber
5 und vor dem Bösen des Neiders, der neidisch ist.“