DIE SPUR
DER
TAR-AIYM
Ein Pip & Flinx-Roman
Aus dem Amerikanischen von
Kerstin Fricke
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2009 by Thranx Inc.
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Flinx Transcendent«
Originalverlag: Del Rey Books, NY
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2011 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: Arndt »Mr. SF« Drechsler, Rohr
Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz
Datenkonvertierung E-Book: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-1102-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für die Freunde von Pip und Flinx,
die geduldig gewartet haben
(okay, manchmal nicht ganz so geduldig),
und zwar seit mehr als einem Dritteljahrhundert,
dass er seine Suche endlich abschließen kann.
Wir drei danken euch.
ABU DER DIEB:
»Du hast, was du wolltest.
Jetzt werde ich bekommen, was ich will.«
PRINZ AHMAD:
»Und was wäre das?«
ABU:
»Endlich etwas Spaß und Abenteuer.«
DER DIEB VON BAGDAD, 1940
Soweit er wusste, war Flinx der erste inoffizielle, uneingeladene Vertreter seiner Spezies, der einen Fuß auf die AAnn-Heimatwelt Blasusarr setzte. Nur wenige Menschen und noch weitaus weniger Thranx waren je formell dazu eingeladen worden. Und nur die minimale Anzahl, die für den bescheidenen diplomatischen Austausch erforderlich war, bei dem die elektronische Repräsentation nicht ausreichte, sondern eine persönliche Unterhaltung stattfinden musste, hatte je den Zugang zu diesem Planeten erlangt. Der Gedanke, dass ein einzelner Mensch, der allein und aus eigenem Antrieb vorging, es irgendwie schaffen konnte, die ausgeklügelte und ausgedehnte Verteidigung, die Blasusarr ständig umgab, zu durchdringen, war derart lächerlich, dass er eine völlig neue Stufe der kognitiven Absurdität darstellte. Jeder wusste, dass kein Nicht-AAnn-Schiff sich auch nur den Außenbereichen des Heimatweltsystems nähern konnte, ohne dass es bemerkt und herausgefordert wurde - wenn man es nicht direkt abschoss.
Doch die AAnn-Wissenschaftler und -Ingenieure, die diese beeindruckenden planetaren Verteidigungssysteme entwickelt und gebaut hatten, hätten sich die Teacher natürlich nicht einmal im Traum vorstellen können. Aber das galt auch für so gut wie jeden anderen.
Die tatkräftigen und enthusiastischen Ulru-Ujurrianer hatten all ihre sich exponentiell weiterentwickelnden Fähigkeiten eingesetzt, um dem kompletten Rumpf von Flinx' Schiff die Eigenschaften eines Chamäleons zu verleihen. Das Schiff konnte sein Erscheinungsbild derart vollständig von einem Augenblick auf den anderen verwandeln, dass es gerade noch das perfekte Ebenbild mit entsprechender Erkennungssignatur eines privaten Passagierschiffes war, im nächsten Moment aber einer schwer gepanzerten Militäreskorte glich. Während es jetzt im Orbit der AAnn-Heimatwelt in eine unauffällige Umlaufbahn ging, sah es exakt so aus wie ein mittleres AAnn-Clanschiff. Und das war nicht die einzige Transformation, die stattgefunden hatte. Auch Flinx hatte sich einer einstweiligen umfangreichen körperlichen Umwandlung unterworfen.
Das Ergebnis war derart überzeugend, dass er sich schon seit einer lokalen Teverravak, also seit sechzehn Tagen, auf Blasusarr aufhielt, ohne mehr als einen zufälligen Blick auf sich gezogen zu haben. Der Simanzug, der ihn komplett umgab, war zwar perfekt, doch er hätte die Illusion nicht aufrechterhalten können, wenn Flinx die Quasi-Reptilien, unter denen er sich aufhielt, nicht so gut gekannt hätte. Er wusste, wie er den seltsamen Gang der AAnn nachmachen musste, die leicht die Knie beugten und jeden Schritt mit einer kleinen Hüpfbewegung begleiteten; er war vertraut mit ihrem eloquenten Repertoire an kommunikativen Handgesten; er konnte ihre Nahrung zu sich nehmen (auch wenn die durch und durch fleischhaltige Kost langsam begann, sich auf seinen Hüften abzuzeichnen); und dank der winzigen, aber kraftvollen Servos, die am Hinterteil des Anzugs befestigt waren, konnte er sogar den integrierten leichtgewichtigen Schwanz in zufriedenstellendem Ausmaß bewegen. Die eingebauten Nanoneuromatiken bedienten die doppelten Augenlider des Anzugs. Da er die Welt durch ihre geschlitzten Pupillen sehen musste, schränkte das sein peripheres Sehen zwar ein, doch das Resultat war mehr als zufriedenstellend. Er sah alles, was ihn aus dem Gleichgewicht bringen konnte.
Derart getarnt und erfahren konnte er sich unter seinen unwissenden Gastgebern frei bewegen, wenn er entsprechend vorsichtig war. Und die freien Stellen sowie die speziell für sie angefertigte Schlaftasche innerhalb des Anzugs boten sogar Pip genug Platz, um sich auszuruhen und innerhalb des begrenzten Raums ein wenig zu bewegen.
Nicht einmal die Besitzer des unterirdischen Erdbaus für Durchreisende, in dem sich Flinx ein Wohnquartier gemietet hatte, hatten die geringste Ahnung, dass es sich bei ihrem Gast um etwas anderes als einen Nye handelte - einen voll ausgewachsenen reifen AAnn. Die Sprache seiner Gastgeber beherrschte er meisterhaft, was für einen Menschen überaus bemerkenswert war, und wurde deshalb von den anderen Bewohnern des Erdbaus als einer der ihren angesehen. Dennoch sagte er nur etwas, wenn es unbedingt sein musste. Er vergaß auch nicht, den Sandraum in seinem Quartier regelmäßig zu benutzen, und erinnerte sich jedes Mal, bevor er am Morgen zu seinem Tagestrip aufbrach, daran, den entsprechenden schuppigen Abdruck seines Simanzugs auf der angewärmten Oberfläche zu hinterlassen.
Zu seinem Glück war das wärmeempfindliche Kühlsystem des Anzugs der Aufgabe gewachsen und konnte dem anspruchsvollen Klima auf Blasusarr trotzen. Die AAnn hatten sich schließlich auf einer Wüstenwelt entwickelt. Normalerweise hätte Flinx keine Probleme mit der trockenen Hitze und den vierzig Grad gehabt, allerdings wäre jeder andere vollkommen geschlossene Anzug absolut unerträglich gewesen. Eingesperrt in die technologisch fortschrittlichen Fasern hatte er es jedoch kühl und einigermaßen bequem, und außerdem konnte er nahezu alles tun, wozu auch ein AAnn in der Lage war, ohne seine menschliche Identität preiszugeben. Essen, Trinken und sich Entleeren waren dabei die wichtigsten Dinge. Er hielt seine Maskerade aufrecht, indem er diese notwendigen Tätigkeiten nur unter sorgfältig überwachten Bedingungen und wenn er ganz alleine war ausführte.
Krrassin, die Hauptstadt von Blasusarr und somit auch des gesamten AAnn-Reiches, war eine weitläufige Metropole mit lang gestreckten, niedrigen Gebäuden, deren Silhouette nur gelegentlich von einem der unvermeidlichen Türme durchbrochen wurde. Während Menschen den Ausblick aus der Höhe genossen und Thranx es vorzogen, sich unter der Erde zusammenzuscharen, lebten und arbeiteten die AAnn, die von aus dem Hinterhalt ihres Baus angreifenden Räubern abstammten, noch immer gern direkt unter oder über der Oberfläche. Die ideale AAnn-Behausung war ein teilweise unterirdisch verlaufendes Gebäude mit langen, schmalen Fenstern, die den Blick direkt auf den Boden preisgaben. In einer Stadt von der Größe Krrassins waren solche Ausblicke selten und standen nur den Privilegiertesten zur Verfügung. Jene, die sich gezwungen sahen, weit über oder tief unter der Oberfläche zu wohnen, mussten sich mit virtuellen Ausblicken zufriedengeben.
Der Großteil der AAnn, die sich an die raue Umgebung angepasst hatten, verbrachte die meisten wachen Stunden damit, in dem gewaltigen, miteinander verbundenen Gewirr an Gängen, das den Großen Bau von Krrassin darstellte, zu leben und zu arbeiten. Wer sich zu Fuß im Freien bewegte, tat dies auf externen Fußgängerwegen, die sich traditionsgemäß kreuz und quer durch die Stadt zogen und dabei ausgedehnte, konzentrische S-Kurven bildeten.
Und einen dieser sanft geschwungenen Wege schlenderte auch Flinx gerade entlang. Er hielt sich entweder ganz links oder ganz rechts und mied die Mitte des Weges, die für jene Bürger reserviert war, die sich der zeremoniellen Aggression hingeben wollten - entweder aus Gründen sozialer Interaktion, weil sie nach Höherem strebten, was alle AAnn antrieb, oder als Vorspiel zu einer tieferen und persönlicheren gegenseitigen Beziehung, die auch die Fortpflanzung beinhalten konnte, aber nicht musste.
Zuweilen wurden mehrere Kämpfe gleichzeitig ausgetragen. Dabei war es nicht ungewöhnlich, dass Angehörige beiderlei Geschlechts daran beteiligt waren. Nur selten zogen sie die Aufmerksamkeit der mit anderen Dingen beschäftigten Passanten auf sich, die auf den symmetrischen, neben dem Mittelgang entlangführenden Wegen vorbeieilten. Der Großteil dieser Konfrontationen lief nach einem festgelegten Ritual ab, wobei es auch zu tatsächlichem physischen Kontakt kam. Indem sie auf dem mittleren Weg entlanggingen und sich dem stellten, was immer ihnen entgegenkam - sei es feindseliger, sexueller oder sozialer Natur -, versuchten die Kämpfer, ihren Status zu verbessern. Dieser wurde aufgezeichnet und je nach Kampfergebnis angepasst. Auf diese öffentliche Weise konnte sich ein AAnn-Individuum innerhalb der sozialen Rangordnung nach oben arbeiten, auch ohne in eine aristokratische Familie hineingeboren worden zu sein. Während er danach strebte, sich immer weiter an die AAnn-Gesellschaft anzupassen, beobachtete Flinx solche Konfrontationen mit wachsendem Interesse. Und es war gut, dass er das tat.
Denn an seinem elften Tag auf Blasusarr schleuderte ein sorglos vorbeieilender Arbeiter mit seinem sich hin- und herbewegenden Schwanz Flinx aus Versehen vom linken Weg direkt auf den stets gefährlichen, mit Herausforderungen übersäten mittleren Pfad.
Anders als die breiten und geschwungenen Gehwege, die links und rechts daran angrenzten, war das Mittelstück nicht gepflastert, es sei denn, man zählte den fachkundig stilisierten und sterilisierten importierten Sand, der den sanft geschwungenen, muldenartigen vier Meter breiten Weg ausfüllte, als Straßenpflaster. Flinx' klauenbewehrte, sandalenbeschuhte AAnn-»Füße« glitten sanft in den weichen Sand, während er darum kämpfte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dabei verwischte er die ausgeklügelten Windungen, Riefen und anderen fantasievollen Muster, die ebenso traditionell wie modern waren und jeden Morgen von automatisierten, vorprogrammierten Sandsäuberungsmaschinen zur Freude und Erbauung vorbeikommender Nye angelegt wurden. Er streckte sich und versuchte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, um dann zurück auf den rechten Weg zu treten.
Doch er musste feststellen, dass sein Rückweg versperrt war.
Der dünn gekleidete Herausforderer mit seinen schimmernden Schuppen war männlich, und seine Haltung spiegelte seine Kampfeslust wider. Wie jeder andere Nye, den Flinx auf dem mittleren Weg antreffen konnte, war er auf Ärger aus. Ansonsten hätte er sich auf dem friedlichen rechten oder linken Weg fortbewegt und nicht in der mit Sand ausgefüllten Mitte. Augenblicklich spannte sich Flinx an. Zumindest war sein Gegenüber keine erregte Frau, die sich auf die Suche nach einem Partner gemacht hatte. Der geniale Simanzug, den Flinx trug, konnte zwar viele Aspekte des körperlichen Verhaltens eines AAnn nachahmen, doch die körperliche Vereinigung von Reptilien gehörte eindeutig nicht dazu.
Es würde also eine direkte körperliche Konfrontation geben. Welchen Ausgang sie nehmen und wie heftig sie werden würde, musste Flinx allerdings noch herausfinden. Unter dem Anzug konnte er spüren, wie sich Pips Windungen an seiner Schulter zusammenzogen - sie spürte die Nervosität ihres Herrn und reagierte darauf. Er versuchte, seine Emotionen unter Kontrolle zu bringen und sie auf diese Weise zu beruhigen. Sie im Zaum zu halten, wenn er gegen jemanden kämpfen musste, war sehr kompliziert, wie er schon als Kind gelernt hatte. Wie schwer ihm das bei dieser besonders gefährlichen Begegnung fallen würde, hing größtenteils von den Absichten seines Gegners ab. Da Flinx' Status hierbei nicht auf dem Spiel stand, hatte er überhaupt kein Problem damit, seinem Widersacher den Sieg zu überlassen. Was er jedoch auf keinen Fall riskieren durfte, war, dass der ihn tarnende und schützende Simanzug beschädigt und seine wahre Identität auf diese Weise enthüllt wurde. Doch mit etwas Glück und Vorsicht würde es nicht dazu kommen.
»Zithnaitessisscher Abssschaum«, zischte ihn der große AAnn an. Diese Unfreundlichkeit wurde von einer Geste der Abscheu dritten Grades begleitet. Nichts allzu Ernstes, beschloss Flinx, als er die Beleidigung analysierte. Doch es war noch viel zu früh, um sich zu entspannen. Er musste angemessen und glaubhaft reagieren und dabei gleichzeitig sicherstellen, dass die Konfrontation nicht eskalierte. Er ging im Kopf sein beachtliches Repertoire an AAnn-Beschimpfungen durch und suchte nach einer, die genau die richtige Mischung aus Abscheu und Ehrerbietung widerspiegelte.
»Ssie ssind wohl im Ei ssauer geworden, wass?«, erwiderte er und stieß dabei seinen mit dem Simanzug bekleideten rechten Arm nach oben, um ihn in einer geschwungenen Bewegung, die Respektlosigkeit zweiten Grades ausdrücken sollte, wieder nach unten zu bewegen. Das war eine entsprechend starke Erwiderung, die aber nicht so stark war, dass gleich die Waffen gezückt werden mussten. Während Flinx seinen Arm herumbewegte, achtete er darauf, nicht die Sensoren zu aktivieren, mit denen er die falschen Klauen seines Simanzugs ganz ausfahren konnte.
Mit einem spöttischen Zischen und einem aufgeregt hin und her schwingenden Schwanz bewegte sich der AAnn leicht nach rechts. Der Versuch, hinter Flinx zu gelangen, war offensichtlich - der AAnn agierte ganz bewusst und machte gar nicht erst den Versuch, seine Absicht zu verschleiern. Flinx erkannte, dass sein Gegenüber bei dieser Konfrontation die Oberhand gewinnen wollte, jedoch nicht notwendigerweise dadurch, dass er seinen Mitbürger in den Sand prügelte - nicht, dass der AAnn zögern würde, genau das zu tun, wenn er es für notwendig hielt.
Nachdem Flinx die entsprechende Steuereinheit bedient hatte, begann sein servogesteuerter falscher Schwanz, sich auf ähnliche Weise wie der seines Gegners zu bewegen und dessen Bewegungen nachzuahmen. Doch viel mehr vermochte das falsche Anhängsel auch nicht zu tun. Sollte es wirklich zum Kampf kommen, so waren die synthetischen Muskeln bei Weitem nicht stark genug, als dass Flinx dem Herausforderer einen heftigen Schlag mit dem Schwanz versetzen konnte. Der Schwanz seines Gegners, so wusste er, war weitaus flexibler und einsatzfähiger als sein behelfsmäßiger eigener.
Der AAnn bleckte die scharfen Zähne, und Flinx reagierte entsprechend, öffnete seinen Mund allerdings nicht ganz so weit, aus Angst davor, dass seine Tarnung aufflog. Außerdem stellte das geringere Öffnen auch ein gewisses rituelles Zugeständnis dar, auf das sein Gegner natürlich sofort ansprang.
»Ihrem Bisss mangelt ess an Geisst. Mit sso einem kleinen Maul musss man ja verhungern. Ess wäre ein Gnadenstoß, von mir getötet zu werden, bevor Ssie den Hungertod ssterben müsssen.«
Obwohl er die Konfrontation so schnell wie möglich beenden wollte, war Flinx klar, dass er nicht einfach klein beigeben konnte. Würde er eine derartige Schwäche zeigen, wäre das nur eine Einladung zu schlimmeren Beleidigungen - oder sogar einer körperlichen Auseinandersetzung. Ihm war klar, dass er sich dann wohl oder übel physisch zur Wehr setzen musste, und es würde ihm sehr schwerfallen, Pip daran zu hindern, sich aus der Enge des Simanzugs zu befreien, um ihn zu verteidigen.
»Andere haben ess verssucht und ssind gesstorben.«
Tapfere Worte. Der AAnn musste sie nicht einmal glauben oder auf die Probe stellen. Es reichte völlig aus, dass der etwas größere Mann seitlich über den Sand glitt, während er sie aussprach. Ähnliche ritualisierte Konfrontationen fanden tausendfach auf Hunderten anderer identischer Mittelwege statt, die sich durch Krrassin, die Vororte und kreuz und quer über die Oberfläche von Blasusarr erstreckten. Sie boten den tatkräftigen, aufstrebenden Individuen eine (im Allgemeinen) nicht tödliche Gelegenheit, ihren Status zu verbessern und anzupassen, ohne dass es dabei zu Dutzenden unproduktiver Todesfälle kam.
Flinx konnte die Kiefer seines Simanzugs nicht präzise bewegen, doch nachdem er zwei Sensoren berührt hatte, fuhr er seine synthetischen Klauen vollständig aus. Während er die Offensivwaffen des Simanzugs enthüllte, bewegte er sich nach links und versuchte, sich hinter seinen Gegner zu bewegen. Wie würde der AAnn reagieren? Welchen Status wollte er sich durch diese Konfrontation sichern?
Zu Flinx' Erleichterung reagierte sein Widersacher nur mit weiteren Worten. Gut gewählten Worten, so viel stand fest, aber diese waren weitaus weniger gefährlich als ein direkter Angriff oder ein heftiger Schlag, womit der mit einem Simanzug getarnte Mensch bereits gerechnet hatte.
»Auf Sspucke reagiere ich nicht mit Sschlägen.«
»Wenn Ssie dass ssagen«, erwiderte Flinx entsprechend neutral.
Der große AAnn zischte ihn noch ein weiteres Mal an und wandte sich dann ab. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging er den Mittelgang entlang, offenbar auf der Suche nach einem anderen Stadtbewohner, den er herausfordern konnte. Flinx spürte, dass sein Gegner zufrieden war. Dadurch, dass er derjenige gewesen war, der die erste Herausforderung ausgesprochen und den anderen »AAnn« auf diese Weise gezwungen hatte, sich zwischen einem Kampf oder dessen Vermeidung zu entscheiden, hatte der Nye diese Begegnung gewonnen. Und Flinx gönnte dem kämpferischen AAnn seinen Triumph. Das Wichtigste war doch, dass er einen Kampf hatte vermeiden können.
Der Rest der Fußgänger war damit beschäftigt, sich auf den an den Mittelgang angrenzenden Wegen gen Norden oder Süden zu bewegen, und hatte die von Zischen, Spucken sowie dem Zeigen von Klauen und Zähnen begleitete Konfrontation komplett ignoriert. Als Flinx seinen Weg fortsetzte und sich dabei nach dem zuvor erfolgten unvorhergesehenen Stoß auf den Mittelweg besonders darauf konzentrierte, sich in der Nähe der Mauern der niedrigen Gebäude zu bewegen, kam er an Dutzenden weiterer, ähnlicher Auseinandersetzungen vorbei. Bei einem dieser Zwischenfälle sah er zwei Frauen, die mit ineinander verschränkten Armen, Beinen und Schwänzen auf dem Sand lagen. Blut befleckte die kunstfertig angelegten Muster auf dem Boden unter ihnen. Ebenso wie alle anderen Passanten ignorierte auch Flinx den Kampf, der weitaus bedrohlicher wirkte als der, in den er zuvor verwickelt gewesen war. Aber solche Auseinandersetzungen waren nun mal an der Tagesordnung.
In vielerlei Hinsicht ist dieser regelmäßig ausgetragene körperliche Konflikt auf der Suche nach Rang und Status weitaus ehrlicher als vergleichbare Konfrontationen bei meiner eigenen Art, dachte Flinx und wanderte weiter unter der sengenden Sonne dahin. Was war ehrlicher: Klatsch und Intrigen hinter dem Rücken seines Feindes oder zu versuchen, ihm die Haut von besagtem Körperteil abzuziehen? Die Absicht, die dahinter steckte, war doch letzten Endes dieselbe, der einzige Unterschied bestand in der kulturellen Herangehensweise. Mithilfe seiner beiden Augen und seines Talentes beobachtete er die AAnn in seiner näheren Umgebung.
Blasusarr. An einem gefährlicheren Ort konnte sich ein Vertreter seiner Spezies wohl kaum aufhalten. Was er bereits erreicht hatte, indem er sich absichtlich unter die Erzfeinde der Menschen gemischt und ihre Lebensgewohnheiten aus nächster Nähe studiert hatte, war seines Wissens eine bisher noch nie da gewesene Leistung.
Als er der Teacher von seiner Absicht erzählt hatte, war das Schiff schockiert gewesen. Es hatte sich sogar vehement dagegen ausgesprochen. Doch es konnte sich den Anweisungen seines Besitzers nicht widersetzen, selbst dann nicht, wenn es zu dessen eigenem Wohl gewesen wäre. Daher hatte es sich entsprechend verwandelt, war in den imperialen Raum geflogen und in eine Umlaufbahn um die AAnn-Heimatwelt gegangen, um ihn dann mithilfe eines gut getarnten Shuttles in einer verlassenen Wüstengegend außerhalb der Metropole abzusetzen. Von hier aus machte sich der mit einem Simanzug bekleidete Flinx daran, sich mithilfe seines Wissens über die Sprache und Kultur der AAnn bis ins Innere der Stadt vorzuarbeiten.
Er hatte sich auf diese Herausforderung eingelassen, weil das etwas war, was zuvor noch nie jemand gewagt hatte, weil es eine so ungeheuerliche Idee war, über die anscheinend noch nie jemand nachgedacht hatte, und aufgrund der Dinge, die er bei seinem vorherigen Ausflug nach Gestalt erfahren hatte: Jetzt war es ihm nämlich nicht mehr wichtig, was mit ihm geschah. Wenn er dieses aktuelle Unterfangen überleben sollte, dann war das eine Leistung, die er mit einem Achselzucken abtun konnte. Falls er scheitern sollte, würde er sterben, was er nicht als allzu großen Verlust ansah. Die Teacher hatte zwar versucht, ihn mit Vernunft und guten Argumenten von seinem Vorhaben und der Depression, die dem zugrunde lag, abzubringen, doch es war ihr nicht gelungen. Jetzt trieb sie verborgen im Orbit und machte sich jeden Tag Sorgen um ihn. Um sich selbst sorgte sie sich natürlich nicht. Ihre Intelligenz war künstlicher Natur, ihr Mitgefühl einprogrammiert und ihre Sorge die Funktion eines Clusters vordefinierter Codes.
Doch neben der KI der Teacher gab es noch gewisse aktive Elemente aus dem Inneren des Schiffes, die sich um seine Gesundheit Sorgen machten. Allerdings waren sie nicht mächtig genug, um verhindern zu können, dass er sich zu dem aufmachte, was sowohl ihre organischen als auch ihre anorganischen Geister als wagemutigen Ausflug ansahen.
Flinx' Abrutschen in ein zunehmend verantwortungsloseres Verhaltensmuster war durch das, was ihm bei seinem kürzlichen Besuch der kargen Welt Gestalt zugestoßen war, und durch das, was er dort über seine Herkunft erfahren hatte, drastisch beschleunigt worden. Seine lange, entschlossene Suche nach seinem Vater hatte mit der Enthüllung geendet, dass es solch ein Individuum nicht gab und dass es überdies auch nie existiert hatte. Als er herausgefunden hatte, dass die Hälfte seines biologischen Erbes aus nichts weiter als einem unpersönlichen Zusammenschluss von Designerproteinen bestand - von gleichgültigen Wissenschaftlern künstlich verbessert, um auf diese Weise eine befruchtete Eizelle zu produzieren, die, so die Hoffnung der Wissenschaftler, bestimmte interessante mentale Fähigkeiten besäße -, hatte Flinx gespürt, wie ihm etwas Bedeutsames genommen worden war. Er war nichts weiter als ein Test, ein Experiment, und noch dazu eines von vielen.
Dass sich das Endresultat als enttäuschend herausgestellt, die Vorstellungskraft der Meliorare-Forscher aber gleichzeitig deutlich übertroffen hatte, konnte ihn nicht trösten.
Die Entdeckung hatte ihm eine Enttäuschung über sich und die Angehörigen seiner Spezies beschert, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Nun stand er bald vor seinem dreißigsten Geburtstag und hatte die vergangene Dekade damit verbracht, die Wahrheit über sich selbst herauszufinden, nur um sich jetzt, da er auf den Straßen des fremden Krrassin herumwanderte, zu wünschen, dass er sich nie diese Mühe gemacht hätte. Die Suche hatte ihn zu wundersamen Enthüllungen und erstaunlichen Abenteuern geführt, ihm großartige Freundschaften und eine immer stärker werdende Liebe beschert, aber auch unerwünschte, unbequeme Erkenntnisse über die Menschheit und über eine zunehmend lästiger werdende persönliche Aufgabe, der er anscheinend nicht entkommen konnte.
Durch seine einzigartigen empathischen Fähigkeiten befand er sich nun in der Position, der potenzielle Retter der Galaxis zu sein. Und sie hatten bewirkt, dass dieser potenzielle Retter seinem eigenen Schicksal wie auch dem der Galaxis zunehmend gleichgültiger gegenüberstand. Warum sollte er sich überhaupt die Mühe machen, wo er doch selbst nur das Produkt menschlicher Experimente und nicht von Menschen war? Er konnte den Rest seines natürlichen Lebens mit Clarity Held verbringen. Dasselbe galt auch für ihre Kinder, falls sie denn je welche bekommen sollten. Auch wenn die Gefahr für das Commonwealth und seine galaktische Umgebung immer schneller näher kam, würde er seit Langem tot sein, bevor sie überhaupt die äußersten Sternensysteme bedrohte. Warum sollte er sein eigenes Leben und sein Glück riskieren, nur um eine Spezies zu retten, der er nur dank der Forschung angehörte?
Konnte er sich selbst überhaupt noch als Mensch bezeichnen?
Innerhalb der Enge seines Anzugs bewegte sich Pip unruhig hin und her, als sie die sorgenvollen Gedanken ihres Herrn spürte. Obwohl sie ihm immer ein Trost war, stellte sie auch nur eine weitere nichtmenschliche Präsenz dar. Empathisch, aber simpel. Er erwartete auch nicht, hier, auf der Heimatwelt des mächtigsten Gegners des Commonwealth, auf Mitgefühl oder Verständnis zu stoßen. Hierher war er nur gekommen, weil das etwas war, was er noch nie zuvor ausprobiert hatte, und weil es ihm im Grunde genommen gleichgültig war, wo er lebte oder starb. Die Zeit, die er mit den problembelasteten Jugendlichen auf Visaria verbracht hatte, hatte ihm einen Grund gegeben, einfach weiterzumachen. Doch dieses kurze Aufblitzen von Hoffnung und Inspiration war durch all das, war er auf Gestalt über sich erfahren hatte, schlicht und einfach wieder erloschen.
Als er sich den gewundenen, gepflasterten Gehweg entlangbewegte, empfand er es als betäubend, wenngleich nicht direkt als entspannend, sich unter intelligenten, aber nichtmenschlichen empfindungsfähigen Wesen zu befinden. Wenn sein immer noch unvorhersehbares, rätselhaftes Talent funktionierte, dann konnte er ihre Emotionen empfangen. Diese waren eigentlich immer feindselig, da sie von Geburt an kampflustiger waren als die Menschen. Doch sie besaßen auch eine ganz eigene Zuversicht und Ruhe, was nicht nur an ihrer Fremdartigkeit lag, sondern auch an der Kultur, in der sie verwurzelt waren. Kampf, Streit, Herausforderung - in diesem ständigen Konflikt lag eine Ernsthaftigkeit, die aus der Beständigkeit entsprang, und dieser Konflikt war es auch, der jeden einzelnen AAnn inspirierte und dazu anstachelte, immer sein Bestes zu geben, oder sich andernfalls auf ewig mit der Mittelmäßigkeit abzufinden. Die Menschen besaßen einen ähnlichen Ehrgeiz, der jedoch durch ihr Mitgefühl gebremst wurde.
War das wichtig? Was besaßen die Thranx oder irgendeine andere intelligente Spezies, deren Zukunft durch das Große Böse bedroht wurde, das es wert war, seine eigene kurzlebige, vorübergehende Zufriedenheit für sie zu opfern? Er dachte an Clarity und Mutter Mastiff, an Bran Tse-Mallory und Truzenzuzex. Sie stellten natürlich gute Beispiele für Individuen dar, die zu retten sich lohnte. Aber empfand er das nur so, weil sie zufällig seine Freunde und seine Geliebte waren? Was verband sie miteinander, und was sprach sonst noch für sie?
Dann hatte er auf einmal eine Erkenntnis.
Intelligenz. Unabhängig davon, ob sie seiner Ansicht nach missbraucht wurde, ob jene, die das Glück hatten, welche zu besitzen, sie für triviale persönliche Ziele oder unverantwortliche Streitereien vergeudeten - sie stellte das Licht dar, das keinesfalls verlöschen durfte. Wenn das Große Böse nicht gestellt wurde, wenn er nicht das Wenige tat, das er dazu beitragen konnte, um es abzulenken oder zu besiegen, dann war er letzten Endes ebenso schuldig wie die Milliarden, die er verdammte. Das hatte absolut nichts mit den verwirrten Kleinkriminellen auf Visaria, den langsamen Denkern auf Jast oder irgendeiner anderen bestimmten empfindungsfähigen Spezies zu tun, die Menschen eingeschlossen. Es hatte nur etwas damit zu tun, dass die Fähigkeit, zu verstehen, erhalten bleiben musste. Billionen Sterne und Milliarden Jahre waren hier in einem Funken der Erkenntnis zusammengekommen, einem Aufblitzen des Bewusstseins. Experiment hin oder her, er spürte, dass er ethisch gebunden war zu »zürnen, zürnen, gegen das Erlöschen des Lichts«, wie es ein terranischer Poet vor sehr langer Zeit einmal ausgedrückt hatte. Wenn sich diese Erkenntnis auf ein einzelnes Leben anwenden ließ, dann traf sie auch auf das Bewusstsein als Ganzes zu. Die Klarheit seiner eigenen Intelligenz war beispielsweise etwas, das sich von dem Durcheinander seiner Herkunft unterschied.
Ein Messer wurde direkt in seinen Kopf gerammt, durchbohrte den Frontallappen und ließ ihn bis hinunter in die Zehen erzittern. Die arme Pip, die dieser mentalen Eruption ausgesetzt war und ihr nicht entkommen konnte, zuckte spasmisch an seinem Oberschenkel.
All seine Überlegungen, seine guten Absichten und seine furchtbare Gleichgültigkeit endeten immer wieder in furchtbaren Kopfschmerzen, die ihn schon in seiner Kinder- und Jugendzeit geplagt hatten. Obwohl er sich so gut es ging gegen den Schmerz wehrte, der ihn soeben zu übermannen drohte, konnte er doch nichts anderes tun, als in einen öffentlichen Entleerungsspalt zu taumeln, der in die nach innen geneigte pechschwarze Wand des nächsten Gebäudes eingelassen war. Er lehnte sich gegen die Wand der sanitären Anlage, und seine Brust hob und senkte sich, als er kurze, zitternde Atemstöße von sich gab und mit aller Kraft versuchte, nicht umzufallen. Wenn er zuließ, dass ihn der lähmende Schmerz übermannte und er das Bewusstsein verlor, wäre es völlig ohne Belang, welche Entscheidung er hinsichtlich der Gefahr für das Universum oder irgendeiner anderen Sache treffen würde. Schon die oberflächlichste medizinische Untersuchung würde ihn als den Betrüger, der er war, entlarven und dafür sorgen, dass er unter schwerer Bewachung in die nächste Vollstreckungseinrichtung überführt wurde. Zu seinem Glück war der Entleerungsspalt von keinem anderen Nye besetzt.
Doch das blieb nicht lange so.
Kleiner als ein Mann, aber mit breiteren Hüften, drehte sich die elegant gekleidete Frau, die nach ihm eingetreten war, um, damit das Individuum vor ihr sein Geschäft unbeobachtet erledigen konnte. Doch als sie einen zweiten Blick auf die zusammengesackte männliche Gestalt warf, zögerte sie. Seine Haltung ließ erkennen, dass er für eine Entleerung falsch positioniert war. Stattdessen schien er sich gegen die sie umgebende geschwungene Mauer zu lehnen, als benötige er deren Halt. Diese Erkenntnis ließ augenblicklich zwei mögliche Handlungsweisen vor ihrem inneren Auge erscheinen. Sie konnte ihn angreifen, solange er körperlich geschwächt war, und so an Status gewinnen. Oder sie konnte Mitgefühl zeigen, ihm ihre Hilfe anbieten und möglicherweise dasselbe erreichen. Eigentlich hing alles davon ab, wie stark er beeinträchtigt war. Wenn nur leicht, dann wäre eine Herausforderung durchaus angebracht. War sein Zustand allerdings ernst, würde ein Angriff auf einen anderen Nye, der nicht in der Lage war, sich zu verteidigen, nur dafür sorgen, dass sie an Ansehen verlor.
Flinx musste sich nicht umdrehen und sie ansehen, um ihre Verwirrung ebenso wie ihre bloße Anwesenheit zu spüren. Trotz der Schmerzen, die durch seinen Schädel jagten, konzentrierte er sich darauf, Pip zu beruhigen. Das Letzte, was er in dieser Situation brauchte, war, dass sich die fliegende Schlange aus einer unnatürlichen Öffnung seines Simanzugs ins Freie bewegte und die erschrockene Passantin angriff. Als Reaktion auf seine stillschweigende Bitte blieb Pip eng um seinen rechten Arm geschlungen im Anzug und versuchte nicht, ihn zu verteidigen.
»Pssannch.« Er gab sich die größte Mühe, sich aufrecht hinzustellen und von der Wand zu entfernen. »Ein falsscher Alarm. Der Körper sspielt der Verdauung gelegentlich Sstreiche. Die Sstation gehört ganz Ihnen.« Es gelang ihm, sich aufzurichten. Die unsichtbaren Zwerge, die in seinem Hinterkopf nach Gold schürften, setzten ihre quälenden Anstrengungen fort.
Intensiv leuchtende helle geschlitzte Augen starrten in die seinen. Ein Augenlid schloss sich kurz, dann das zweite. »Ssie ssehen nicht gut auss, Bürger.«
Die Entleerungsstation, in der sich eigentlich immer nur ein Nye aufhalten konnte, schnitt sich tief in die Mauer ein. Sie war sehr eng, sodass die beiden Anwesenden dicht beieinander standen. Flinx versuchte, von der Frau abzurücken, und ihm fiel gerade noch ein, den entsprechenden Sensor zu berühren, damit sein Schwanz nicht gegen sie prallte. Das hätte sie nämlich entweder als Herausforderung oder als Einladung zu einer klassischen gewalttätigen AAnn-Schmusesitzung auffassen können - und nach keinem von beiden stand ihm im Moment der Sinn.
»Ein vorübergehender Sschmerz. Eine alte Verletzung auss früheren Kämpfen gegen die Käfer.«
»Ahriinn!« Sie rückte von ihm ab und ließ ihm so viel Platz wie möglich, um an ihr vorbeizugelangen. Soldaten wurden bei den AAnn verehrt, und jene, die gegen ihre Erzfeinde, die Thranx, in die Schlacht gezogen waren, genossen ganz besonders hohes Ansehen. »Gibt ess denn nichtss, wass ich für Ssie tun kann?«
Ihre Worte konnten durchaus als Versuch angesehen werden, eine intimere Interaktion anzuregen. Er ging das Risiko ein, unhöflich zu wirken, und bekämpfte den in seinem Kopf tobenden Schmerz, während er weiter in Richtung des gewundenen Gehwegs ging.
»Ich bin gebunden«, keuchte er schwach in ihre Richtung.
»Dass bin ich auch«, erwiderte die Frau. »Und ich habe mich von der Reproduktion lossgessagt.«
»Keine Zeit«, murmelte er. »Bachaanssk, und außerdem komme ich zu sspät zur Arbeit.« Mit dem linken Arm führte er eine Geste der Wertschätzung zweiten Grades aus, dann taumelte er auf die Straße hinaus.
Das Pochen in seinem Kopf, das drohte, ihm den Schädel von den Schultern zu sprengen, ließ endlich ein wenig nach. Glücklicherweise folgte ihm die Frau nicht, sondern schien es stattdessen vorzuziehen, die sanitäre Anlage, die ihm vorübergehend Zuflucht geboten hatte, zu benutzen. Er spürte, wie sich Pip an seinem Arm entspannte - sie reagierte darauf, dass er selbst sich langsam wieder beruhigte.
Das war knapp gewesen, und er beschloss, keine derartigen Risiken mehr einzugehen. Er hatte bereits genug getan, sein Spiel durchgezogen, die überaus hoch gesteckten Ziele erreicht, die er sich gesetzt hatte, als der Entschluss, dieses Unterfangen wirklich durchzuziehen, in ihm gereift war. Da er eine Teverravak in dem am besten bewachten, hochheiligen Teil des ganzen Imperiums überlebt hatte, wollte er sein Glück nicht überstrapazieren. Das Spiel war gut gelaufen, er hatte seine Zeit sinnvoll verbracht. Ihm war klar geworden, dass es, unabhängig von der Art der Spezies, letzten Endes nur darum ging, einen Funken der Intelligenz zu erhalten. Das war es, wofür es sich zu kämpfen lohnte, und dabei war es ohne Belang, welche politische Organisation oder Rasse zu guter Letzt über die Galaxis dominieren würde. Als Konsequenz würde er, Philip Lynx, sein Bestes geben, um dafür zu sorgen, dass das Bewusstsein nicht aufhören würde zu existieren. Es war unwichtig, was er wirklich war und wie er sich selbst oder wie andere ihn definierten, solange er ein Individuum blieb, das ein Ziel verfolgte.
Derart in seiner Entschlossenheit gestärkt schritt er weiter voran, bis er auf das öffentliche Transportmittel stieß, das ihn ursprünglich in diesen Teil der großen Stadt gebracht hatte. Er betrat das kleine automatisierte Fahrzeug, ignorierte die anderen Passagiere und begab sich in eine kleine Nische, wobei er darauf achtete, dass sein Schwanz niemanden in seiner Nähe streifte. Wie der Großteil der anderen Mitreisenden, mit Ausnahme der älteren und gebrechlichen, nutzte er den U-förmigen, herabklappbaren Sitz nicht, sondern stellte seine Gesundheit und Fitness zur Schau, indem er die gesamte Dauer der Reise stehen blieb. Mit einer vierfingrigen Hand griff er nach oben und benutzte eine seiner spitzen Klauen, um sich die Zwischenräume von mehreren Zähnen zu reinigen. Da es niemals beschmutzt wurde, hatte sein perfekt nachgeahmtes Gebiss diese Aufmerksamkeit eigentlich nicht nötig, aber diese Verhaltensweise half ihm dabei, unter den anderen Passagieren nicht aufzufallen.
Bei individuell gewählten Stopps betraten zahlreiche andere AAnn das Fahrzeug, in dem so gut wie nichts zu hören war, oder stiegen aus diesem aus. Es dauerte ungefähr eine Viertelstunde, bis das öffentliche Hochgeschwindigkeitstransportmittel den hoch entwickelten, dicht bevölkerten Vorort erreichte, in dem sich Flinx eine Unterkunft genommen hatte. Niemand sah in seine Richtung, als er aus dem Fahrzeug ausstieg.
Während er langsam auf das Gebäude zuging, in dem er die letzten zehn Tage gewohnt hatte, sinnierte er darüber nach, dass er jetzt mehr über die alltäglichen Abläufe in der imperialen Hauptstadt wusste als jene Spezialisten des Commonwealth, die auf diesem Fachgebiet als Koryphäen galten. Dass die Sektoren, in denen er sich aufgehalten hatte, nicht von militärischer Bedeutung waren, konnte seine Leistung nicht schmälern. Nach seiner ungenehmigten Ankunft auf dem Planeten hatte er sich quer durch die Stadt bewegt und sein aktuelles Quartier als Operationsbasis gewählt, weil es sich schlicht durch seine Gewöhnlichkeit auszeichnete. Hier ging man seinen täglichen Aktivitäten nach, und es kam nur zu einer minimalen Anzahl an sozial akzeptierten direkten Herausforderungen, da es AAnn auf mittlerer Stufe im Allgemeinen vorzogen, ihre Nachbarn zu meiden und sich ausschließlich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Auch wenn es keine Bäume gab, war die Wüstenlandschaft auf Blasusarr zwischen den Fußgängerwegen und Gebäuden mit Flecken aus grünen, braunen und seltsam dunkelblauen buschigen Gewächsen bedeckt, die jedoch nur auf dem größten Kontinent des Planeten zu wachsen schienen. Zusätzliche Formen und Farben lieferten öffentliche Skulpturen und Verschönerungen an Bauwerken. Obwohl diese in den gedämpften Tönen, die die Einheimischen bevorzugten, getüncht waren, herrschte kein Mangel an Farben. Individualistische Künstler waren zwar nicht gerade angesehen, doch was die kommunale Ästhetik anging, waren die AAnn eine dynamische und erfindungsreiche Spezies. Das wusste vermutlich kein Mensch besser als Flinx, der schließlich als Einziger einige Zeit bei AAnn-Künstlern verbracht hatte.
Er stieß auf Beispiele für die qualitativ hochwertige kollektive Arbeit in Form von Basreliefs und Skulpturen, die aus den Seiten langgestreckter, niedriger Wohngebäude ragten. Einige waren massiv und reglos, andere wurden als kunstvolle Wellen- und Klangprojektionen dargeboten. Szenen aus der Geschichte der AAnn und ausgewählte beliebte Unterhaltungselemente waren dabei am häufigsten anzutreffen. Als er in einen Weg einbog, der an den Pfad grenzte, über den er seine Behausung erreichen konnte, musste er grinsen - wie immer, wenn er die eingebettete Wellenprojektion erblickte, welche charismatische und tapfere AAnn-Krieger darstellte, die eine primitive Befestigung voller jammernder Menschen angriff und einnahm. Zumindest aus stilistischer Sicht sah es so aus, als ob diese billige Propaganda eigentlich aus einem anderen Teil der Galaxis stammte.
Alles, was er auf seine ungenehmigte Reise, die bald ein Ende finden würde, mitgebracht hatte, passte mühelos in einen einzigen AAnn-Beutel, der an Bauch und Rücken befestigt wurde. Die Teacher hatte ein makelloses Exemplar dieses einfachen Gepäckstückes anhand der in ihrer umfangreichen Datenbank enthaltenen Beispiele ohne Probleme herstellen können. Und nicht ein einziger AAnn, dem Flinx seit seiner Ankunft und Infiltration begegnet war, hatte sich bemüßigt gefühlt, ihn zu fragen, wo er diese Tasche denn herhätte. Falls das dennoch geschehen wäre, hätte er es einfach als ein Mitbringsel von einer der weiter entfernt liegenden Kolonialwelten des Imperiums ausgegeben. Wie im Commonwealth gewährte einem auch hier die Expansion der Kolonialisierung auf galaktischer Ebene eine angenehme Anonymität, was sowohl Produkte als auch Personen anging.
Er wollte seine wenigen Habseligkeiten holen und sich daranmachen, die Stadt wieder zu verlassen. Ein gemietetes automatisches Transportmittel konnte ihn in den entlegensten Teil eines nahe gelegenen planetaren Parks bringen, eine Region, in der die Wüste noch erhalten geblieben war und nicht angetastet wurde und die nur gelegentlich jene Personen aufsuchten, die für ihre Entstehung verantwortlich waren. Hier hatte ihn eines der getarnten Shuttles der Teacher unauffällig abgesetzt, und an diesen Ort würde er es auch zurückbeordern, um sich dort wieder abholen zu lassen. Er hatte seinen Ausflug in die Hauptstadt der AAnn überlebt und überdies noch etwas mehr über sich selbst in Erfahrung gebracht. Das und einige andere Dinge hatten bewirkt, dass er mit neuer Entschlossenheit eine Entscheidung angehen wollte, an der er jetzt nicht mehr zweifelte. Wieder einmal war er sich sicher, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen wollte. Verjüngt und erleuchtet von seiner Zeit auf der AAnn-Heimatwelt war er bereit für den Aufbruch.
Die intensiv strahlende Sonne von Blasusarr ging gerade unter und verwandelte den Horizont über den niedrigen Gebäuden in ein feuriges Gelb, während die Unterseiten der Wolken rostrot leuchteten. Zu dieser Tageszeit waren nur sehr wenige Nye zu Fuß unterwegs. Der Gedanke, einen entspannten Abendspaziergang zu machen, reizte nur wenige. Doch obwohl sich kaum andere Fußgänger in seiner Nähe aufhielten, achtete Flinx darauf, immer auf dem gepflasterten rechten Weg zu bleiben und nicht auf den gewundenen, mit Sand ausgefüllten Weg zu gelangen, der die Mitte der Straße dominierte. Er hatte durchaus schon von aggressiven, von Hormonen gesteuerten AAnn gehört, die zu einer schon bei ihren Vorfahren beliebten List griffen und sich im Sand eingruben, um dort zu warten, bis sich ein potenzieller Gegner näherte, der keine Zeit mehr hatte, der unausweichlichen Herausforderung zu entgehen, wenn sie unerwartet aus dem Sand hervorsprangen.
Als er um die letzte Ecke vor seiner Unterkunft bog, warf er einen Blick auf die kunstvolle Sandskulptur, die an der Stelle stand, wo sich mehrere Wege kreuzten. Von Magnetfeldern an Ort und Stelle festgehalten wurden die Ströme aus mehrfarbigem Sand und Stücken hiesiger Edelsteine in immer wechselnden Mustern recycelt - das Ganze glich einem Brunnen, der Steine anstelle von Wasser ausspuckte. Der Schein der untergehenden Sonne tauchte die sonnenzugewandte Seite der Edelsteine in die beeindruckenden Farben eines Regenbogens.
Sowohl der automatisierte Manager als auch der lebende Concierge seines Gebäudes würden es sehr bedauern, dass er abreiste. Er hatte seinen Aufenthalt nicht nur im Voraus mit seinen sorgsam gefälschten imperialen Credits bezahlt, sondern auch ohne zu murren das am wenigsten vorzeigbare Quartier des ganzen Gebäudes bezogen: Es lag ganz oben und auf der Schattenseite des Hauses. Er blickte aus ziemlicher Höhe auf den unvermeidlichen Wüstengarten und den mit Sand gefüllten, zur Entspannung gedachten Außenbereich herab - was für einen AAnn eine gänzlich unerwünschte Art der Unterbringung darstellte.
Er rechnete nicht damit, den Concierge zu treffen, als er auscheckte, und das war auch gar nicht nötig. Als Besucher aus einem anderen System, der aus geschäftlichen Gründen in der Hauptstadt weilte, war eine derartige persönliche Interaktion nicht nur völlig unnötig, sondern glich einer offenen Einladung zu einer spontanen Herausforderung. Flinx war daher zuversichtlich, dass der schon etwas ältere Concierge ebenso begierig darauf war, diese überflüssige Verabschiedung zu vermeiden, wie er selbst.
Daher war er ziemlich überrascht, den älteren Nye, den eine bei seiner Spezies nicht unübliche Skoliose gezeichnet hatte, direkt vor dem Eingang des Gebäudes anzutreffen, wo er sich offen einer Herausforderung durch jeden beliebigen Passanten stellte. Doch trotz des gewählten Standpunkts und der Haltung des AAnn erkannte Flinx augenblicklich, dass eine potenzielle Herausforderung nicht sehr wahrscheinlich war.
Nicht, wenn den Concierge ein halbes Dutzend bewaffneter Gesetzesvertreter umringte.
Flinx hatte schon immer hervorragende Reflexe besessen. In Drallar auf Moth war er dank dieser in der Lage gewesen, sich stets außerhalb der Reichweite der dortigen Polizei zu halten. Später, als er von einem Ende des Commonwealth zum anderen gereist war, hatten sie häufig den Unterschied zwischen Leben und Tod ausgemacht. Eine oder zwei Sekunden langsamer, eine oder drei Sekunden später unter gefährlichen Umständen, und schon hätte er nicht an der Stelle gestanden, an der er sich in diesem Moment befand.
In dem schwächer werdenden Licht der untergehenden Sonne hätte ein Mensch den nahenden Flinx leicht übersehen können - aber kein AAnn. Der Concierge war alt, aber nicht blind. Bevor Flinx auf die Anwesenheit der Gesetzeshüter reagieren und sich aus der Sichtlinie bringen konnte, hatte ihn der Ältere bereits entdeckt. Flinx drehte sich um und rannte los, doch es war zu spät.
Hätte er sich auf einer Commonwealth- oder auf einer umkämpften Welt aufgehalten, dann hätte dies sein sofortiges Todesurteil bedeutet. Doch auf der imperialen Heimatwelt waren die hiesigen Hüter von Recht und Ordnung nicht befugt, tödliche Waffen zu tragen. Solange die korrekte Etikette gewahrt wurde, erlaubten es die sozialen Konventionen, dass ein AAnn-Bürger einen anderen im Verlauf eines Konflikts erschlug, allerdings konnten die Gesetzeshüter nicht dieselben Freiheiten für sich beanspruchen. Die lähmenden Neutronenstöße, die in seine Richtung abgeschossen wurden, sollten ihn daher auch nur bewegungsunfähig machen und nicht töten. Dummerweise ähnelten sich das Nervenkostüm der Menschen und der AAnn so sehr, dass einer dieser Schüsse, wenn er denn sein Ziel erreichte, vermutlich bewirkte, dass Flinx wie jeder andere Bürger von Krrassin mit gelähmten Gliedmaßen auf dem Boden landen würde.
Seine Flucht wurde noch erschwert durch Pips Versuche, sich aus seinem engen Anzug zu befreien, um ihn zu verteidigen. Er musste irgendwie versuchen, ihre Existenz geheim zu halten. Nur weil es so aussah, dass er an die städtischen Vollzugsbeamten verraten worden war, hieß das noch lange nicht, dass diese ihn auch als verkleideten Menschen enttarnt hatten. Es war viel wahrscheinlicher, dass der Concierge oder der automatisierte Manager entdeckt hatten, dass er mit gefälschten imperialen Credits bezahlt hatte. Oder vielleicht hatte auch einer der Wartungsarbeiter des Gebäudes etwas Belastendes in seinem Gepäck entdeckt, obwohl er sein Quartier mit den individualisierten Sicherheitsmaßnahmen des Baus gesichert hatte. Zwar handelte es sich nur um wenige Dinge von unscheinbarer Größe, doch er hatte tatsächlich einige persönliche Habseligkeiten mitgebracht, deren Ursprung er nicht verheimlichen konnte. Gewisse Objekte, die eindeutig nicht von einer AAnn-Welt stammten, wären ausreichend, um eine weitere Untersuchung zu rechtfertigen.
Zwar beherrschte er die AAnn-Sprache gut genug, um diese Dinge ausreichend erklären zu können, doch wenn ihn die Gesetzeshüter wegen Geldfälscherei festnähmen, wäre er selbst mit gut gewählten Worten nicht in der Lage, seine Freiheit wiederzugewinnen. Vermutlich würde man ihn zum Verhör mitnehmen. Gefangen in seiner cleveren Verkleidung könnte er seine wahre Identität nur so lange geheim halten, bis man ihn mit dem ersten medizinischen Scanner untersuchte. Dieses Risiko konnte er unmöglich eingehen - daher rannte er, so schnell er konnte. Der Verlust seiner persönlichen Besitztümer schmerzte ihn nicht so sehr. Ungeachtet ihres Wertes ließen sich solche leblosen Objekte jederzeit ersetzen.
Er war ein guter Läufer und in hervorragender Verfassung. Doch der Anzug verlangsamte ihn, der Versuch, Pip zu zügeln, erschwerte seine Bemühungen zusätzlich, und die AAnn waren von Natur aus begnadete Renner. Ohne den Simanzug hätte er ihnen entkommen können, zumindest nach einer längeren Strecke. Allerdings stand es außer Frage, den Anzug auszuziehen - da hätte er genauso gut kapitulieren können. In der imperialen Hauptstadt hätte ein enttarnter Mensch keine Chance, auch nur die erste Nacht zu überleben. Der Anzug diente schließlich nicht nur dazu, eine visuelle Anonymität zu gewährleisten, er maskierte außerdem noch seinen klar erkennbaren menschlichen Geruch.
Schon hörte er, dass sie näher kamen, zischend und einander Ermutigungen zurufend. Wenn er in einen Park oder in ein Gebäude rannte, würden sie das Gebiet rasch abriegeln, oder ein Bewohner könnte ihn auffliegen lassen. Es gab eigentlich nur eine Option.
Er hielt an und stellte sich ihnen.
Mit halb geschlossenen Augen kanalisierte Flinx sein Talent und versuchte eine Projektion. Diese Technik hatte er früher schon öfters eingesetzt, und zwar sowohl bei Menschen als auch bei anderen empfindungsfähigen Wesen und sogar bei niederen Tieren. Während die bewaffneten Verfolger auf seine bewegungslose Gestalt zurannten, bemühte er sich, Furcht in ihre Richtung zu projizieren und ihren fremdartigen reptilienartigen Verstand mit einem zarten, aber beunruhigenden Gefühl der Panik zu ummanteln.