Cover

HERMANN SIMON

ZWEI WELTEN,
EIN LEBEN

Vom Eifelkind zum Global Player

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Hermann Simon, geboren 1947, international gefragter Managementvordenker, erfolgreicher Unternehmer und Pricing-Spezialist, entdeckte sein Interesse an Preisen schon als Kind: in der elterlichen Landwirtschaft und auf dem Schweinemarkt. Seine Lebensgeschichte beginnt typisch auf einem deutschen Bauerndorf - und mündet sehr ungewöhnlich in eine große Wirtschaftskarriere.

Als Entdecker der »Hidden Champions«, der unbekannten Weltmarktführer, hat er in wenigen Jahrzehnten selbst die international erfolgreichste deutsche Beratung aufgebaut: Simon-Kucher & Partners mit Sitz in Bonn ist heute der Weltmarktführer für Preismanagement – vertreten an 36 Standorten in Europa, den USA, Asien, Südamerika, Kanada, Australien … Und nebenbei hat die Firma Anfang der 1990er-Jahre auch die Bahncard erfunden.

Hermann Simon, der Wanderer zwischen den Welten, erzählt in seiner Autobiografie lebensnah von seinem Weg in die Topliga des Managements. Eine persönliche Lebensund eine beeindruckende Erfolgsgeschichte.

Vita

Hermann Simon, Jahrgang 1947, zählt als erster und einziger Deutscher zu den »Thinkers50«, den 50 führenden Managementdenkern der Welt. Im deutschsprachigen Raum gilt er, der Entdecker des »Hidden Champions«-Konzepts, als der einflussreichste lebende Managementvordenker.

Hermann Simon war Professor für Marketing an den Universitäten Bielefeld und Mainz, bevor er – nach Stationen in Harvard und Stanford, an MIT und INSEAD, der Keiō University in Tokio und der London Business School – 1985 Simon-Kucher & Partners gründete. Heute ist das Beratungsunternehmen, dessen CEO er bis 2009 war, der Weltmarktführer für Preismanagement.

Simon ist international gefragter Vortragsredner sowie Autor zahlreicher Bücher, die in 26 Sprachen übersetzt wurden. Bei Campus erschienen unter anderem »Hidden Champions – Aufbruch nach Globalia« (2012, 3. Auflage) und »Preisheiten« (2015, 2. Auflage).

INHALT

VORWORT

1. WURZELN

Aus Raum und Zeit

Durch Jahrhunderte

Westen, Warschau und Rückkehr

Europa: Schicksal und Patria Nostra

Eifel

Das Band der Sprache

2. DIE WELT, IN DER ICH AUFWUCHS

Gruß aus dem Mittelalter

Aus der »Heimat Erde«

Acht Jahrgänge, eine Klasse

Entscheidung am Morgen

Gymnasium

Grenzen sprengen

3. JAHRE DES DONNERS

Der geplatzte Traum

Luftwaffe

Tödliche Kerze

Die Banalität der Bombe

Absturz

Über den Wolken – später

4. VOM ERNST DES LEBENS

Studienjahre sind keine Herrenjahre

Assistentenzeit

Forschung

Venia Legendi

5. ZAUNGAST DER POLITIK

Politik im Blut

Sturm auf die Donauhalle

Gegen die Notstandsgesetze

Bundestagswahl 1969

Politischer Student

Heimspiel

Kampf gegen Windräder

Stiftungen

Kleine Wahlhilfe

6. HINAUS IN DIE WELT

Goin’ to Massachusetts – ans MIT

Fontainebleau

Japanische Episode

Ans Ende der Welt – Papua-Neuguinea

Das große Schweineschlachten

Der entlegenste Ort

Die »Kinder« von Papua

Die Missionare

Zwei Jahreswechsel an einem Tag

If you’re going to San Francisco

Comin’ back to Massachusetts – nach Harvard

Südafrika

Business-School-Netzwerke

7. UNIVERSITÄT UND WASSERSCHLOSS

Seh’n wir uns nicht in dieser Welt …

Schlossherr

Schloss Gracht und seine Netzwerke

Zu Gast bei Johannes Gutenberg

Deutsche Marketingwissenschaft international

Autorenschaft

Aufsichtsrat

Verlockende Angebote

8. DER PREISE SPIEL

Preisheiten

Der Schweinepreis

Der Preis als Wegbegleiter

Pretium

Am Anfang der Preis

Preismacht

Vormarsch der Preise

Mein Weg zum Preis im Überblick

9. HIDDEN CHAMPIONS

Einheit von Person und Aufgabe

Fokussierte Zielstrebigkeit

Furchtlosigkeit

Vitalität und Ausdauer

Inspiration von anderen

Internationale Ausgaben der Hidden-Champions-Bücher

10. AUF ADLERS FLÜGELN

Mühsam nährt sich das Eichhörnchen

Preisrat

Vision und Führung

Internationalisierung

Geistkapital versus Finanzkapital

Jenseits der Kommandobrücke

Auf fremden Feldern

Traveling Poet

11. BEGEGNUNGEN

Peter Drucker

Herman the German

Ted Levitt

Joseph Kardinal Höffner

Philip Kotler

Marvin Bower

Hans Riegel

Tomohiro Nakada

Yang Shuren

Miky Lee

12. STERNSTUNDEN

Von der Unfähigkeit zu prognostizieren

Wiederkehr jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger

Erscheinung eines Ahnen

Überfahrt nach Afrika

Nine Eleven

Moskauer Nächte

Ruhigstellung

Wenn die Erde bebt

Im Jahre Vierzigtausend

13. SCHULE DES LEBENS

Rückendeckung wertschätzen

Sich heute nicht sorgen

Gesundheit leben

Bodenständig bleiben

Keep it simple stupid: das KISS-Prinzip

Ambivalent führen

Zeit rationieren

Juristen meiden

Kleine Weisheiten

EPILOG

ANMERKUNGEN

1. Wurzeln

2. Die Welt, in der ich aufwuchs

3. Jahre des Donners

4. Vom Ernst des Lebens

5. Zaungast der Politik

6. Hinaus in die Welt

7. Universität und Wasserschloss

8. Der Preise Spiel

9. Hidden Champion

10. Auf Adlers Flügeln

11. Begegnungen

12. Sternstunden

13. Schule des Lebens

Epilog

REGISTER

VORWORT

Die gefühlte Mitte des Lebens soll einer amerikanischen Publikation zufolge bei 18 Jahren liegen. Das heißt, grob gerechnet kommen dem Menschen die ersten zwei Jahrzehnte subjektiv genauso lange vor wie der Rest seines Lebens. Für mich persönlich kann ich diese Hypothese tendenziell bestätigen. Bis kurz vor meinem 20. Geburtstag lebte ich in einem kleinen Dorf in der Eifel. Das war meine erste Welt, in der die Zeit sehr langsam verging. In den folgenden 50 Jahren änderte sich mein Leben radikal. Es spielte sich in der großen, weiten Welt ab, die ich später »Globalia« nannte. In dieser meiner zweiten Welt verflog die Zeit immer schneller, sodass ich den Eindruck habe, in meiner ersten und in meiner zweiten Welt etwa gleich lange gelebt zu haben.

»Zwei Welten, ein Leben« soll diese Spannung zum Ausdruck bringen. Meine Entwicklung vom Eifelkind zum Global Player war mir nicht in die Wiege gelegt. Es lag ihr auch kein Plan zugrunde. Vielmehr entstand sie Schritt für Schritt. Glück und Zufälle spielten eine große Rolle. Immer wieder gab es Weggabelungen, an denen sich mir eine Chance bot. Meistens habe ich zugegriffen, wobei die Ermunterung meiner Frau Cäcilia oft eine entscheidende Rolle spielte. »Natürlich machst du das«, lautete ihr Urteil, und dann geschah es so. Auch meine Kinder Jeannine und Patrick spielten mit, wenn wir sie durch die Welt schleppten oder der Vater ständig auf Achse war. Ich danke allen dreien für ihren unschätzbaren Beitrag zu dem, was ich werden durfte.

In den frühen Jahrzehnten meiner beruflichen Karriere orientierte ich mich primär an der westlichen Welt, vor allem an Amerika sowie an europäischen Business-Schools. Aber schon in den achtziger Jahren zeitigte ein Aufenthalt in Japan prägende Wirkungen. Später wurden asiatische Länder, insbesondere China, Korea und Japan, für mich zunehmend interessant und wichtig. Asien entwickelte sich zu einer späten Liebe.

Trotz meiner Rolle als Global Player bin ich meiner Eifelheimat eng verbunden geblieben. Ich glaube sagen zu können, dass ich meine Wurzeln nicht verloren und meine Bodenständigkeit behalten habe. Wann immer ich der globalen Industriegesellschaft entfliehen will, kehre ich zurück in mein Heimatdorf, lebe in unserem alten Bauernhaus und werde wieder zum Eifelkind. Die Polarität von Eifelkind und Global Player schien auch zu meinem 70. Geburtstag im Februar 2017 durch. Meine Familie bereitete mir zwei Überraschungen, die mich emotional sehr berührten. Die erste war für das Eifelkind, nämlich ein Auftritt von drei Gesangvereinen aus meiner Heimat mit 70 Sängern. Die zweite sprach den Global Player an. Es waren 25 Videobotschaften von Weggefährten aus zwölf Ländern. Global Player und Eifelkind sind für mich nicht unvereinbar, sondern die zwei Seiten meines Lebens.

Hermann Simon, im Sommer 2018

1. WURZELN

Aus Raum und Zeit

Wer hat sich nicht schon die Frage gestellt: »Woher komme ich?« Die Antwort auf diese Frage hat eine räumliche und eine zeitliche Dimension. Ich komme aus einem bestimmten Raum und einer bestimmten Zeit. Das Bauernhaus, in dem ich das Licht der Welt erblickte, liegt fern der großen Zentren im früheren »Sibirien Preußens«, weit draußen in der Eifel. Diese herbe Landschaft hat mich geprägt und markante Spuren in mir hinterlassen. Bis heute erkennen Kundige diese Herkunft an meiner Sprache. Oft frage ich Menschen, denen ich zum ersten Mal begegne, woher sie stammen und wo sie aufgewachsen sind. In einem Interview antwortete der ehemalige Finanzminister Theo Waigel auf die Frage »Wie gelang es Helmut Kohl, Staatsgäste für sich einzunehmen?« wie folgt: »Das war eine Kunst. Er fragte: Wo kommst du her, was haben deine Eltern gemacht, wie ist dein Leben verlaufen?«.1 Die Frage der räumlichen Wurzeln eines Menschen interessiert mich, weil ich selbst räumlich verwurzelt bin. Wenn ich mich für einige Stunden oder Tage aus der globalen Industriegesellschaft ausklinken will, kehre ich an den Ort meiner Kindheit zurück.

Komme ich auch aus der Zeit? Mein Eintritt in die Welt ereignete sich an einem Montag, dem 10. Februar 1947, um 2 Uhr. Den Status eines Sonntagskindes verpasste ich um zwei Stunden. Wie jedes Lebewesen bin ich Glied einer unendlichen Kette von Vorfahren. Jeden von uns gibt es nur, weil diese Kette niemals abgerissen ist. Dieser Gedanke ist natürlich nicht neu. Schon Seneca sagte: »Beruft man sich auf die Vergangenheit, so gibt es niemanden, der nicht aus einer Zeit stammte, vor der es überhaupt nichts gibt. Vom ersten Ursprung der Welt bis in unsere Zeit erstreckt sich unsere Ahnenreihe.« Der Historiker Michael Wolffson widmet das Buch zur Geschichte seiner Familie den »Ahnen – sie prägen uns mehr, als wir ahnen«.2 Sebastian Kleinschmidt schreibt in der FAZ, inspiriert von einem Gedicht von Ulrich Schacht: »Woher wir kommen, das ist mehr als eine historische oder genealogische Frage. Sie hat etwas Philosophisches. Und da man nicht weiß, was man letztlich darauf antworten soll, spürt man das Irritierende daran. Etwas Rätselhaftes, zutiefst Unbestimmtes ist in das Fundament unserer Existenz gegossen.«3 Unsere Gene transportieren die geronnenen Entwicklungen und Erfahrungen der endlos zurückreichenden Ahnenreihe. Wir kommen aus der Tiefe der Zeit. Erziehung und Umfeld schaffen auf dieser Grundlage Prägungen, die uns lebenslang begleiten.

Menschen in anderen Kulturen glauben an umfassendere Verbindungen in die Vergangenheit. Auf einer Indienreise las ich in einem Buch über Reinkarnation, dass die Seelen von Verstorbenen aus dem Wartezustand zwischen zwei Leben bevorzugt in die nächstgeborenen Kinder der eigenen Familie zurückkehren. Die Seelen zögen es vor, in der Familie zu bleiben. Die Reinkarnationslehre erklärt Ängste im jetzigen Leben aus Erfahrungen früherer Leben. Wer Angst vor Wasser hat, sei in einem früheren Leben ertrunken. Ich habe Angst vor Wasser, vor allem vor tiefem Wasser. Ich kann nicht gut schwimmen. Doch ist die Zahl derer, die ertrunken sind, nicht viel geringer als die Zahl derer, die Angst vor tiefem Wasser haben?4 Die Theorie von der Rückkehr der Seelen in die eigene Familie brachte mich auf einen seltsamen Gedanken. Der Letzte aus unserer Familie, der vor meiner Geburt die Welt verlassen hatte, war in der Tat ertrunken. Und zwar im Schwarzen Meer. Nachdem er Jahre lebensbedrohlicher Gefahren in Russland überstanden hatte, schien er endlich gerettet. Er war in Sewastopol an Bord eines Schiffes gegangen, das die deutschen Soldaten in Sicherheit bringen sollte. Doch dann wurde das Schiff von russischen Granaten getroffen und sank. Das geschah im Mai 1944. Erst acht Jahre später erfuhren wir von diesem tragischen Ende. Im Jahre 1952 erreichte uns die Nachricht vom Suchdienst des Roten Kreuzes, dass ein Kamerad meinen Onkel Jakob Simon beim Besteigen des Schiffes, das anschließend versenkt wurde, gesehen hatte. Jakob Simon wurde für tot erklärt, und es wurde seiner in einer Trauerfeier in der Eifel gedacht. Er war der letzte Familienangehörige, der vor meiner Geburt starb.

Doch es kam noch mehr heraus. Später erinnerte sich Cäcilia, meine Frau, mit der ich in Indien meine Gedanken zu Reinkarnation und Angst vor dem Wasser geteilt hatte, an ein fast 150 Jahre zurückliegendes Ereignis: »Dein Onkel Jakob ist nicht der einzige aus eurer Familie, der ertrank. Hast du vergessen, was deinem Urgroßvater in Paris widerfahren ist?« Mein Urgroßvater Andreas Nilles stammte aus Lothringen, das bis 1871 zu Frankreich gehörte. Er bekam eine Stelle als Briefträger in Paris und zog mit seiner Frau dorthin. Kurz nach der Geburt des ersten Sohnes Johannes am 18. November 1875 wurde er überfallen und in die Seine geworfen, wo er ertrank. Seine Witwe zog zu ihrer Familie nach Lothringen zurück, das seit dem Krieg von 1870/71 wieder zu Deutschland gehörte.

Zwei Familienangehörige, die ertranken, und ich, der Nachfahre, der Angst vor tiefem Wasser hat. Ist das Zufall? Ich weiß es nicht. Ich kann nicht sagen, dass ich an Reinkarnation glaube. Aber ich kenne viele Asiaten, die davon überzeugt sind. Und welche Gründe soll es geben, diese Lehre für weniger plausibel zu halten als den christlichen Glauben an ein Leben nach dem Tod?

Später las ich ein weiteres Buch über das Leben danach und die Reinkarnation, The Tibetan Book of the Dead, bearbeitet von Robert Thurman.5 Es fiel mir bei einem Besuch der Bibliothek meines langjährigen Freundes Professor Pil Hwa Yoo in Seoul, der Hauptstadt Südkoreas, ins Auge. Pil Yoo ist Betriebswirt mit einem MBA der Northwestern University und einem Doktorgrad der Harvard Business School. Doch seine wahre Liebe gilt der Philosophie. Er spricht sechs Sprachen und hat alle bedeutenden Philosophen im Original gelesen. Robert Thurman bin ich nur einmal begegnet, aber diese Begegnung hat Eindruck hinterlassen.

Es geschah in der Alpine University, dem Weiterbildungszentrum von McKinsey in Kitzbühel. Ich kam um etwa 20 Uhr dort an, hatte noch nichts gegessen und ging ins Restaurant. Dort saß einsam ein Gast, der wie ich spät eingetroffen war. Da ich ihn flüchtig kannte, fragte ich, ob ich mich zu ihm setzen dürfe. Er hieß mich willkommen, wir aßen gemeinsam und kamen ins Gespräch. Nach etwa einer Stunde, es dürfte kurz nach 21 Uhr gewesen sein, betrat ein weiterer Besucher das Gastzimmer und gesellte sich zu uns. Da er Amerikaner war, wechselten wir ins Englische. Meine beiden Tischgenossen entdeckten schnell Gemeinsamkeiten, und es entspann sich eine Diskussion, die bis nach Mitternacht währte. Ich war dabei mehr Zaungast als aktiver Diskutant. Nur ab und zu stellte ich eine Frage. Die beiden waren Reinhold Messner und Robert Thurman. Nach einem Unfall, bei dem er ein Auge verlor, ging Robert Thurman Anfang der sechziger Jahre nach Tibet und wurde der erste buddhistische Mönch mit westlichen Wurzeln. Während dieser Zeit studierte er zusammen mit dem Dalai Lama, mit dem er bis heute eng befreundet ist. Nach Amerika zurückgekehrt gab er sein Mönchtum auf und wurde Professor für buddhistische Studien an der Columbia University in New York. Zusammen mit dem Schauspieler Richard Gere gründete er das Tibet House in New York. Die bekannte Schauspielerin Uma Thurman ist seine Tochter.

Mit Reinhold Messner, der eng mit Tibet und dem Himalaya verbunden ist, und Robert Thurman trafen zwei verwandte Seelen aufeinander. Und so lauschte ich ihrer Diskussion über Reinkarnation und buddhistische Lehre. Das von Thurman bearbeitete und herausgegebene Tibetan Book of the Dead vermittelt detaillierte Vorstellungen darüber, wie die Übergänge von früheren zu neuen Leben aussehen. Komme ich also aus der Tiefe der Zeit? Ich weiß es heute genauso wenig wie vor 20 Jahren. Doch seltsam sind manche Dinge schon. Warum habe ich Angst vor dem Wasser? Selbst hatte ich nie bewusste Angsterlebnisse, die mit Wasser zu tun haben. Und warum erschien mir mein Onkel Jakob, den ich nie gesehen habe, in ungewohnter Klarheit im Traum?

Durch Jahrhunderte

Unsere Vorstellung vom Raum ist konkreter als unsere Vorstellung von der Zeit. »Was ist die Zeit?«, rätselte schon Augustinus von Hippo und fand als Antwort nur: »Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, aber soll ich sie einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.« Albert Einstein war pragmatischer und definierte einfach: »Zeit ist, was die Uhr anzeigt.« Heinrich Heine mahnte Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die »Elemente von Raum und Zeit schwankend geworden sind. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit.« Henri Bergson zufolge begreifen wir nur den Raum, nicht jedoch die Zeit. Den Raum beschreiben wir als kurz, lang, weit, hoch oder ähnlich. Genauso die Zeit: Wir sprechen von der Kürze des Lebens, von langen Zeiträumen, von weit zurückliegenden Ereignissen oder sagen »es ist höchste Zeit«. In unserer Sprache werden Raum und Zeit mit den gleichen Adjektiven belegt. Der Mathematiker Kurt Gödel sagte: »The world is a space, not a time.«6 Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson versteht Raum und Zeit als eine Art Einheit, wenn er sagt: »Das Gefühl des Seins ist nicht unterschieden von Raum und Zeit und strömt offenbar aus derselben Quelle, aus der Leben und Dasein quillt.«7 Am pointiertesten aber hat Karl Valentin den Zusammenhang von Raum und Zeit auf einen Nenner gebracht: »Ich weiß nicht mehr genau, war das gestern, oder war’s im vierten Stock?« Jedenfalls verwundert es nicht, dass sich mir der Raum, aus dem ich stamme, wesentlich konkreter darstellt als die Zeit, der ich entwachsen bin.

Meinen Weg habe ich gleichermaßen in räumlicher wie zeitlicher Dimension hinter mich gebracht. In früheren Jahrhunderten hat ein Bauer in seinem Leben vielleicht 10 000 Kilometer zurückgelegt. Er ging aufs Feld, gelegentlich in die Stadt, um Besorgungen zu machen oder seine Erzeugnisse auf dem Markt feilzubieten. Einmal im Jahr unternahm er eine Pilgerfahrt zu einem weiter entfernten Wallfahrtsort. Die Distanzen, die er zurücklegte, waren kurz. Nur wenn er in den Krieg zog oder ungewöhnliche Pilgerfahrten unternahm, überwand er größere Entfernungen. In der Summe des Lebens kamen so wenige Tausend Kilometer zusammen. Selbst der Soldat Johann Peter Forens aus meiner Heimat, der mit Napoleon durch ganz Europa zog und in vielen Kriegen kämpfte, soll in seinem Leben »nur« 14 000 Kilometer zurückgelegt haben. Die 72. Division, die ursprünglich in Trier stationiert war, und im Zweiten Weltkrieg an allen Fronten kämpfte, überwand 4 000 Kilometer zu Fuß.8

Heute reisen wir je nach Verkehrsmittel 30 bis 150 Mal schneller als unsere Vorfahren. Zu Fuß schafft man rund 5 Kilometer pro Stunde, ein Auto fährt in dieser Zeitspanne 100 Kilometer, ein Hochgeschwindigkeitszug 300 Kilometer und ein modernes Düsenflugzeug überwindet in derselben Zeit 900 Kilometer. Die Entfernung zwischen Frankfurt am Main und dem Wallfahrtsort Santiago de Compostela beträgt 2 045 Kilometer. Wer als Pilger 30 Kilometer pro Tag schafft, braucht ohne Ruhetage für diese Strecke 68 Tage. Die Flugzeit beträgt zweieinhalb Stunden. Das ist 1/652 der 68 Tage des Fußpilgers. In wenigen Tagen legen wir Distanzen zurück, für die früher ein Leben benötigt wurde. Heute fliege ich zu einem Vortrag nach Beijing, bin in zwei Tagen wieder in Frankfurt und habe 15 578 Kilometer überwunden. Oder ich reise in etwa 20 Stunden nach Sydney, das sind in einer Richtung 16 501 Kilometer. Meine schnellste Reise um die Welt absolvierte ich in sieben Tagen (Frankfurt – New York – San Francisco – Seoul – Frankfurt), in der Summe 27 922 Kilometer. Die in meinem Leben zurückgelegten Distanzen summieren sich auf mehrere Millionen Kilometer. Das hätte in früheren Zeiten für viele Generationen, ja für Jahrhunderte ausgereicht. Mein Weg hat mich in Kilometern oder Meilen gemessen – metaphorisch gesprochen – durch viele Jahrhunderte geführt. Einen ähnlichen Gedanken bringt der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk, der als wichtigster polnischer Gegenwartsautor der jüngeren Generation gilt, zum Ausdruck: »Wer viel reist, der lebt mehrere Leben.«9

Von der räumlichen zur zeitlichen Dimension meines Weges: In dem kleinen Eifeldorf, in das ich hineingeboren wurde, war die Welt nicht viel anders als im Mittelalter. Und wenn ich den Zustand von damals mit heute vergleiche, dann hat sich in den Jahrzehnten, die ich erleben durfte, mehr geändert als früher in Jahrhunderten. Mein bisheriger Weg führte mich also nicht nur in Kilometern durch Jahrhunderte. Auch das Ausmaß des Wandels hätte bei herkömmlichen Änderungsgeschwindigkeiten für viele Jahrhunderte ausgereicht. Mein Gefühl ist, dass sich die Welt zwischen 1947 im Eifeldorf und dem 21. Jahrhundert in Globalia weitaus stärker geändert hat als beispielsweise die Welt zwischen 1650 und 1850 und vermutlich auch stärker als zwischen 1850 und 1950. Man kann selbstverständlich nicht ausschließen, dass jede Generation, die nach dem Ende des Mittelalters lebte, ihre eigene Ära als die Zeit der größten Änderungen empfand.

In Kapitel 2 gehe ich näher auf diesen Wandel ein und versuche eine objektivere Messung. Die Aussage, dass ich in Raum und Zeit durch Jahrhunderte »gereist« bin, erscheint nicht vermessen. Dabei handelt es sich nicht um eine persönliche Errungenschaft meinerseits, vielmehr haben manche Angehörige meiner Generation weit größere metaphorische Distanzen überwunden. Ein Beispiel ist Mohed Altrad, der als Beduinenjunge in der syrischen Wüste geboren wurde und sein genaues Geburtsdatum nicht kennt. Insofern weiß er nicht, wie alt er ist. In Frankreich wurde er zum Milliardär und in die Ehrenlegion aufgenommen. Er sagt: »Ich wuchs ähnlich auf wie Abraham, der ein Beduine war und nur die Wüste kannte. Wenn mich die Leute fragen, wie alt ich bin, so antworte ich ›3 000 Jahre‹.«10 Er drückt damit aus, dass er in seinem Leben eine Entwicklung durchlaufen hat, für die die Geschichte Jahrtausende brauchte.

Westen, Warschau und Rückkehr

Die Frage nach der Herkunft führt zwangsläufig zu den Eltern. Meine Mutter Therese Nilles wurde 1911 im saarländischen Hemmersdorf nahe der Grenze zu Lothringen, das damals zum Deutschen Reich gehörte, geboren. Mein Vater Adolf Simon erblickte 1913 in dem kleinen Dorf Hasborn in der Eifel das Licht der Welt. Beide Eltern sind also Kinder des deutschen Westens. Wie lernten sie sich kennen? Ein Aufeinandertreffen unter normalen Umständen wäre angesichts der Entfernung der beiden Dörfer von 130 Kilometern sehr unwahrscheinlich gewesen. Geheiratet wurde fast nur innerhalb des Dorfes oder zwischen umliegenden Dörfern. Dass ein Ehepartner von weit her in ein Eifeldorf kam, war äußerst selten. Wie so oft erwies sich der Zweite Weltkrieg als der große Würfelspieler und Beeinflusser von Lebenswegen. Meine Mutter hatte beim Roten Kreuz eine Ausbildung als Hilfsschwester absolviert. Zu Beginn des Krieges wurde sie eingezogen. Ihre erste Station war das Hotel Schulz in Unkel am Rhein, ein schönes, klassizistisches Haus, direkt am Rhein gelegen. Dieses Hotel wurde 1939 in Vorbereitung auf den Frankreichfeldzug zum Lazarett umfunktioniert. Nach Zwischenstationen in Metz – die Sanitätsversorgung rückte mit dem Angriff auf Frankreich nach Westen vor – und Wiesbaden erfolgte 1941 ihre Versetzung nach Warschau, wo sie drei Jahre blieb. Dorthin verschlug es auch den Sanitätsgefreiten Adolf Simon. Sie arbeiteten im selben Lazarett am damaligen Rotkreuzplatz in Warschau. So lernten sich die Kinder des Westens, Therese Nilles und Adolf Simon, weit im Osten, mehr als 1 200 Kilometer von ihrer Heimat entfernt, kennen. Irgendwann muss es zwischen den beiden gefunkt haben. Ohne dieses Zusammentreffen gäbe es mich nicht.

Im Mai 1944 heirateten sie in Hemmersdorf/Saar. Einen Tag nach der Hochzeit reiste Adolf Simon in Richtung Atlantikküste ab. In St. Nazaire erwartete ihn sein nächster Einsatz. Nur wenige Wochen später, am 6. Juni 1944, landeten die Alliierten in der Normandie und der Rückzug von der Westfront begann. Therese, jetzt mit dem Familiennamen Simon, kehrte nicht mehr nach Warschau zurück, sondern meldete sich bei der zuständigen Rotkreuz-Schwesternschaft in Darmstadt. Bereits im Juli 1944 stießen die sowjetischen Truppen bis kurz vor Warschau vor. Sie stoppten dann jedoch, da Stalin kein Interesse hatte, den polnischen Volksaufstand in Warschau zu unterstützen. Er überließ die brutale Niederschlagung des Aufstandes den Deutschen.11 In Warschau habe ich nie die Stelle besucht, an der meine Eltern seinerzeit tätig waren. Das deutsch-polnische Verhältnis steht bis heute unter dem Schatten der Geschichte. Ich habe polnische Freunde und kenne viele Polen. Von meinem ältesten polnischen Freund, dessen Familie und er selbst schwer unter den Nazis gelitten haben, weiß ich, dass er Deutsch versteht und spricht. Doch wir haben in mehr als 30 Jahren nie ein Wort in Deutsch gewechselt. In jüngerer Zeit schicke ich ihm gelegentlich deutsche Zeitungsartikel, die er auch liest. Viele Menschen aus jener Zeit sind nicht über die ihnen zugefügten Leiden hinweggekommen.

Mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Mein Vater befand sich in französischer Gefangenschaft. Meine Mutter kehrte in ihr saarländisches Dorf zurück. Da der öffentliche Verkehr zusammengebrochen war, fuhr meine Mutter mit dem Fahrrad vom Saarland in die Eifel. Eine abenteuerliche Fahrt, denn überall herrschte Chaos. Städte, Straßen und Brücken lagen in Trümmern. Unterwegs wurde sie von französischen und amerikanischen Soldaten kontrolliert. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie dunkelhäutige Menschen. Mutter erzählte, welcher Schrecken in sie fuhr, als ein amerikanischer Soldat dunkler Hautfarbe über ihr Haar strich. Doch sie kam sicher in der Eifel an. Zum ersten Mal erlebte meine Mutter das kleine Dorf und das Bauernhaus, in dem sie den Rest ihres Lebens verbringen sollte. Ob sie sich das so vorgestellt hatte, als sie sich in Warschau in den Eifler Bauernsohn Adolf Simon verliebte? Der Kontrast zwischen der agrarischen, rückständigen Eifel und dem vergleichsweise modernen, industriell geprägten Saarland war damals eklatant.

Die Familie meiner Mutter hatte ihre eigene, bewegte Geschichte hinter sich. Vor dem Angriff auf Frankreich und kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebiet ihres Heimatdorfes zur Roten Zone erklärt. »Rote Zone« bedeutete, dass alle Einwohner von Basel im Süden bis Aachen im Norden ihre Dörfer mit Mann und Maus verlassen mussten. Mit ihrem Vieh wurden sie nach Thüringen umgesiedelt. Die Familie, die eine kleine Landwirtschaft, ein Lebensmittelgeschäft und eine Stellmacherei betrieb, zog mit ihrem gesamten Haushalt und ihren Tieren nach Thüringen. Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem Beschuss der Westerplatte bei Danzig durch deutsche Kriegsschiffe (»Ab 5.45 Uhr wird zurückgeschossen«).

Im Mai 1940 griff die deutsche Wehrmacht auch unsere westlichen Nachbarn, Frankreich, die Niederlande, Belgien und Luxemburg an. Nachdem die deutschen Truppen die Rote Zone im Westen durchquert und in nur 19 Tagen bis Paris vorgedrungen waren, durften die Saarländer in ihre Heimat zurückkehren. Der Tross zog von Thüringen heimwärts. Doch zu Hause warteten böse Überraschungen. Das Haus einer Schwägerin war verschwunden. Es stand an einer engen Kurve den deutschen Panzern im Wege und wurde von der Wehrmacht einfach platt gemacht. Die Familie stand vor dem Nichts.

Genau 50 Jahre später besuchte ich mit meiner Mutter und ihrer Schwester, meiner Patentante, das romantische Städtchen Unkel am Rhein, wo Mutter den Kriegsbeginn erlebt hatte. In Vorbereitung des Krieges war das bekannte Rheinhotel Schulz zusammen mit einem angrenzenden kirchlichen Erholungsheim in ein Lazarett umgewandelt worden. Wie bereits erwähnt, war meine Mutter im Jahr 1939 als Krankenschwester dorthin versetzt worden. Das Hotel betreten wir durch einen steinernen Torbogen, der innen liegende Hof strahlt Ruhe und Geborgenheit aus. Direkt am Rhein gelegen geht der Blick von der Terrasse ungehindert zum Drachenfels und zum Rolandsbogen, ein wunderschönes Panorama. Dies scheint genau die Perspektive zu sein, die viele Maler des 19. Jahrhunderts für ihre romantischen Bilder des Drachenfels’ und der davor liegenden Insel Nonnewerth genutzt haben.

Der jungen Dame am Empfang erzählen wir von den Geschehnissen im September 1939. Sie ist interessiert und weiß für ihr Alter erstaunlich gut Bescheid. Noch besser kennt sich die Kellnerin, die uns den Kaffee serviert, aus. Schon älter und in Unkel aufgewachsen, erklärt sie uns, dass der Hotelbesitzer von damals noch lebe und 88 Jahre alt sei. Mutter erinnert sich an ihn.

Ein seltsames Schiff, das an diesem Tag den Rhein flussabwärts fährt, berührt uns. Auf dem zur Bühne umfunktionierten Deck spielt eine Kapelle Musik und Lieder aus der Zeit des Kriegsbeginns. Einzelne Soldaten in militärischen Uniformen verschiedener Epochen stehen auf dem Schiff, als hielten sie Wache. Kalt läuft es mir den Rücken herunter, die Erinnerung scheint sich zu materialisieren. Doch das Schiff ist Schauplatz einer Theateraufführung, die in Verdun, in Bitburg, auf dem Rhein und in Bonn spielt. Bertolt Brecht hatte seine Ballade vom toten Soldaten ursprünglich mit Blick auf den Ersten Weltkrieg geschrieben, die modernen Veranstalter haben den Stoff um einen Weltkrieg nach hinten verschoben. In Brechts Ballade wird ein im Ersten Weltkrieg in Verdun gefallener und dort in kaiserlicher Uniform beerdigter Soldat ausgegraben, um wieder in einen Krieg, diesmal den Zweiten Weltkrieg, entsandt zu werden. Er fällt erneut und findet seine nächste Ruhestätte – jetzt in Wehrmachtsuniform – auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, der durch den umstrittenen Besuch des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und von Bundeskanzler Helmut Kohl am 8. Mai 1985 zu weltweiter Bekanntheit gelangt war. Wieder lässt man dem Soldaten keine Ruhe, gräbt ihn aus, verpasst ihm nun eine Bundeswehruniform, um ihn in einen neuen Krieg zu schicken. Sein letztes Wegstück bis Bonn legt er auf besagtem Schiff zurück. In Bonn, am Alten Zoll, hoch über dem Rhein, findet der Soldat in der umstrittenen Ballade seine endgültige Ruhestätte.

Diese Darbietung hielt ich für einen beachtenswerten Kunstgriff, der Räume und Zeiten in einer denkwürdigen Weise in Beziehung setzte. Eine interessante Begleiterscheinung des Geschehens war, dass sich seinerzeit sowohl der Bonner Oberbürgermeister als auch der Bitburger Bürgermeister gegen das Theaterprojekt gesträubt hatten. Warum eigentlich? Beide Bürgermeister verloren auch prompt vor den Gerichten, vor die sie gezogen waren. Und so saß ich – genau 50 Jahre später, am 1. September 1989 – mit meiner Mutter und meiner Patentante auf der Terrasse des Hotels Schulz und konnte erleben, wie in dieser Theaterinszenierung Zeit und Raum zusammenflossen. Hätte etwas verschiedener sein können als die Welt am Rhein im September 1939 und im September 1989? Wieder stieg in mir der Gedanke auf, dass zwischen diesen Daten nicht 50 Jahre, sondern Jahrhunderte lagen.

Europa: Schicksal und Patria Nostra

Die Schicksale meiner Familie spiegeln die Irrungen und Wirrungen Europas im 19. und 20. Jahrhundert wider. Mein Urgroßvater arbeitete und starb in Paris. Mein Großvater wurde dort geboren. Die saarländische Familie lebte abwechselnd unter der Herrschaft Frankreichs, Deutschlands und zeitweise des Völkerbundes.12 Meine Mutter wartete als Kind im Dom von Metz, bis ihre Mutter die Einkäufe erledigt hatte. Der Großvater väterlicherseits fing sich im Ersten Weltkrieg in Bessarabien eine Malaria ein.13 In St. Gabriel bei Wien studierte mein Onkel Johannes Nilles Theologie und wurde 1935 zum Priester geweiht. Anschließend ging er für 53 Jahre als Missionar ins ferne Papua-Neuguinea. Meine Eltern verschlug es im Zweiten Weltkrieg nach Polen. In Warschau, wo sie im selben Lazarett arbeiteten, lernten sie sich kennen. Zwei Onkel kämpften in Russland, einer von ihnen überlebte den Krieg nicht. Mein Vater wurde 1944 nach St. Nazaire am Atlantik versetzt. Ein Bruder von Mutter und ein angeheirateter Onkel dienten unter Rommel in Nordafrika. Sie trafen später in der amerikanischen Gefangenschaft auf einer Farm im Bundesstaat Kentucky aufeinander. Sicherlich hat diese mit unserem Kontinent und den Nachbarländern so eng verwobene Familiengeschichte einen wesentlichen Anteil daran, dass ich ein überzeugter Europäer geworden bin. Ich teile nicht die etwas skeptische Einstellung des französischen Philosophen Bruno Latour, der sagt: »Europa, das ist, was ich nur zögerlich das europäische Vaterland nenne.«14 Europa ist unser »Patria Nostra« – oder wir haben kein Vaterland.

Exemplarisch für schwere Zeiten stehen auch die zahlreichen Schicksalsschläge, die meine Vorfahren getroffen haben. Vier von acht Kindern meines Urgroßvaters väterlicherseits starben bei der Geburt oder in jungem Alter, ebenso ein Zwillingsbruder meines Vaters. Ein Onkel kam 1940 als Zwanzigjähriger bei einem Eisenbahnunglück ums Leben. Vier Jahre später ertrank sein Bruder – wie berichtet – im Schwarzen Meer. Mein Eifeler Großvater stürzte mit 75 Jahren von der Scheune und erlag seinen Verletzungen. Auch in der Familie meiner Mutter schlug das Schicksal vielfach zu. Nicht nur ertrank mein Urgroßvater in der Seine: drei Geschwister der Mutter überlebten ihre frühe Kindheit nicht. Derartige Katastrophen in Folge gab es in vielen Familien. Kindersterblichkeit, Kriege und Unfälle forderten einen hohen Tribut. Ist es Zufall oder Vorsehung, dass gerade die Ahnenkette, der ich selbst entstammte, nicht abriss?

Eifel

Nach Rückkehr meines Vaters aus der Gefangenschaft im September 1945 ging meine Mutter in die Eifel, für immer. Sie zog in ein Bauernhaus, in dem drei alte Menschen lebten – meine Großeltern Johann und Margarete Simon und eine unverheiratete Großtante. Alle drei waren damals um die siebzig. Meine Großeltern hatten sieben Kinder, von denen nach dem Krieg noch fünf lebten. Alle hatten das Haus verlassen und standen insofern für die Fortführung der kleinen Landwirtschaft nicht zur Verfügung. Obwohl in meiner Gegenwart nie darüber gesprochen wurde, müssen sich meine Großeltern große Sorgen über ihr Alter und die Betriebsnachfolge gemacht haben. So blieb meinem Vater, der vor dem Krieg als Milchkontrolleur im Hunsrück gearbeitet hatte, keine Wahl, als in sein Elternhaus zurückzukehren und Bauer zu werden. Obwohl er in den dreißiger Jahren zwei Semester die Landwirtschaftsschule in Wittlich besucht hatte, wurde er Zeit seines Lebens kein begeisterter Landwirt. Aber seine Generation hatte nach dem Krieg wenige Optionen. Herkunft, Familientradition und ökonomische Zwänge erlaubten es nicht, eigene Wege zu gehen. Die Pflicht, die Eltern nicht allein zu lassen und im Alter für sie zu sorgen, stand der Verwirklichung alternativer Lebenspläne im Wege.

Jedenfalls brachte mein Vater, immerhin schon 32 Jahre alt, aus dem Krieg eine Frau mit. Das dürfte für meine Großeltern ein Lichtblick gewesen sein. Für die Familie und das Dorf war die neue Frau allerdings sehr ungewöhnlich. Sie kam von weither, sprach einen anderen Dialekt und hatte mit ihren Jahren in Warschau und an anderen Plätzen eine gewisse Welterfahrung. Die Frauen aus der Nachbarschaft kannten nur ihr Dorf. Manche hatten auch einige Jahre als Mägde in anderen Dörfern oder in Bürgerhaushalten der Städtchen Wittlich und Manderscheid gedient. Doch Mutter bereute den Umzug in das kleine Eifeldorf Hasborn nie. Obwohl das nahe gelegen hätte, sprach sie mit den Leuten des Dorfes kein Hochdeutsch, sondern ihren saarländischen Dialekt, den die Eifeler gerade noch verstehen. Denn beide Dialekte gehören zur sogenannten moselfränkischen Sprachgruppe. Moselfränkisch war einst das offizielle Idiom des mächtigen Erzstiftes Trier, eines Staates, dessen Bischof zu den sieben Kurfürsten des deutschen Reiches gehörte. Die Kurfürsten wählten den Kaiser.

Moselfränkisch ist der einzige Dialekt, der bis heute in der Europäischen Union eine offizielle Staatssprache ist, nämlich in der luxemburgischen Variante. Eifler, Luxemburger und Saarländer (dort gibt es allerdings eine Sprachgrenze) können sich in ihren Dialekten verständigen. Welch seltsame Vorteile das zeitigen kann, verdeutlicht die folgende Geschichte. Der spätere Staatsminister im Auswärtigen Amt, Alois Mertes, stammte aus Gerolstein in der Eifel und beherrschte den Eifler Dialekt perfekt. Während der Hochzeit des Kalten Krieges diente er als Diplomat in Moskau. Jeder Diplomat wusste, dass der russische Geheimdienst KGB Gespräche mithörte. In seiner Kommunikation mit dem luxemburgischen Botschafter benutzte Mertes deshalb den moselfränkischen Dialekt. Den KGB soll das zur Verzweiflung gebracht haben, da man keinen Agenten hatte, der dieses Idiom beherrschte. Es ist eben von Vorteil, viele Sprachen zu sprechen.