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Verführung pur erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH
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Veröffentlicht im ePub Format im 12/2012 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: readbox, Dortmund
ISBN 978-3-86494-896-1
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1. KAPITEL
Seth Chandler lehnte am Mast der José Gaspar und lüpfte seine Augenklappe. Missmutig blickte er sich unter der wilden Horde Piraten um, die sich auf dem Hauptdeck tummelten. Er wusste aus dem Stehgreif mindestens tausend Orte, an denen er in diesem Moment lieber wäre, und an erster Stelle stand sein Büro, wo sich die Arbeit auf dem Schreibtisch türmte.
Außer ihm befanden sich schätzungsweise fünfundsiebzig weitere Piraten und ein paar Piratenbräute an Bord des Schiffes. Alle hatten sich aufwendig kostümiert und schwangen johlend ihre Rumflaschen, während das Schiff in die Tampa Bay einlief.
Ursprünglich hatte Seth einen Schauspieler engagiert, der sein Unternehmen beim jährlichen Gasparilla-Festival vertreten sollte, doch der war leider zwei Stunden vorher abgesprungen. Und mit dem Namen seiner Firma auf der Sponsorenliste konnte Seth unmöglich riskieren, die Piratenrolle an irgendeinen x-beliebigen Mitarbeiter zu delegieren.
Er hatte wohl oder übel selbst zur Augenklappe greifen müssen. Schließlich wurde dieser ganze Zirkus von Fernsehkameras begleitet, und somit stand der Ruf des Unternehmens auf dem Spiel. Nein, Seth hatte gewiss nicht jahrelange Arbeit investiert, um sich alles durch einen peinlichen Auftritt ruinieren zu lassen.
Da war es allemal sicherer, wenn er die Sache selbst übernahm. Und diese sogenannte Sache bestand darin, eine von den wartenden Frauen am Strand zu entführen und für einen Tag zu verwöhnen. Derjenige Pirat, der seinen Job am besten machte, sollte in den Abendnachrichten erscheinen. Der Werbeeffekt war also durchaus verlockend.
Gerade deshalb war dieses alberne Festival viel zu wichtig, als dass Seth sich getraut hätte, in letzter Minute jemand anders für die Piratenrolle zu engagieren. Nicht auszudenken, was geschehen könnte, wenn sich sein Ersatzmann vor den Kameras danebenbenahm oder gar die entführte Piratenbraut versehentlich fallen ließ. Derartige Ausrutscher zogen bekanntlich langwierige Schadensersatzprozesse nach sich.
So war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich barfuß, mit bloßem Oberkörper und mit einem Theaterdolch bewaffnet ins Getümmel zu stürzen. In letzter Minute war er an Bord der José Gaspar gesprungen.
Trotzdem wünschte er, sein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein hätte einmal ausgesetzt, denn als das Schiff die kleine Hafeninsel umrundete und Kurs auf die Bucht nahm, standen dort unzählige Frauen, die sich freiwillig als Entführungsopfer anboten. Seth konnte sich für einen sonnigen Samstagnachmittag wahrlich angenehmere Dinge vorstellen, als den Piratenclown für eine kichernde Frau zu spielen.
Doch nun war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen. Also suchte er die Reihen der Wartenden nach einer geeigneten Kandidatin ab, mit der er auf seine Yacht fliehen und einige Stunden durch die Bucht schippern würde. Zunächst schloss er sämtliche Touristinnen aus, die sich allein dadurch entlarvten, dass sie im Februar einen String-Bikini trugen. Zwar waren die Temperaturen in Florida selbst um diese Jahreszeit sommerlich, aber keine einheimische Frau würde deshalb gleich zum Bikini greifen.
Und Seth wollte auf gar keinen Fall mit einer halb nackten Frau im Arm in den Abendnachrichten erscheinen. Entsprechend würde er sich eine Kandidatin wählen, die genug anhatte, um ihn nicht wie einen ekligen Lüstling dastehen zu lassen.
Außerdem reichte ihm schon, dass er halb nackt war. Sich zu allem Überfluss noch eine praktisch unbekleidete Frau an die nackte Brust zu drücken könnte selbst für ein Musterbeispiel an Selbstbeherrschung zu viel werden.
Er betrachtete die Menge der Wartenden und hoffte, eine möglichst unverfängliche Piratenbraut zu entdecken. Ein großmütterlicher Typ wäre ideal für seine Zwecke und eine ausgezeichnete Werbung für Chandler Enterprises. Seth würde sie mit auf seine Yacht nehmen und sie abends zum Essen ausführen.
Eine gestandene reifere Frau für einen Nachmittag und Abend zu unterhalten sollte doch eine Kleinigkeit für einen Mann sein, den man normalerweise hinzuzog, wenn über internationale Fusionen verhandelt wurde, der Fachzeitungen und Wirtschaftsliteratur in zwölf Sprachen las und ausreichend Kapital angehäuft hatte, um sich und seiner Armee von Mitarbeitern ein Leben in Wohlstand zu sichern.
Während das Schiff vor der wartenden Menge in Position ging, rückte Seth seine Augenklappe wieder zurecht, nahm den Dolch zwischen die Zähne und machte sich bereit zum Absprung.
Wäre doch gelacht, wenn er diese Entführungsgeschichte nicht hinbekäme!
Mia Quentin kämpfte sich durch eine Traube von Bikinischönheiten nach vorn. Sie wollte in der ersten Reihe stehen, wenn die Piraten an Land stürmten. Immerhin war dies hier ihre vorerst letzte Chance auf so etwas wie ein Abenteuer. Voller Ungeduld und mit einem Wagemut, der ihr sonst eher fremd war, brannte sie darauf, von einem wilden Piraten entführt zu werden.
Heute fühlte sie sich beinahe gefährlich ungestüm und leichtsinnig.
Sie steckte sich eine rote Hibiskusblüte hinters Ohr und strich ihr langes braunes Haar glatt. Hoffentlich fand sich unter diesen Piraten jemand, der ihr kunstvolles Outfit einem String-Bikini vorzuziehen wusste. Die Bikinis der anderen Frauen waren teilweise so knapp, dass man glauben mochte, sie wären aus Zahnseide geknotet.
Doch Mia war überzeugt davon, dass ihr langer, farbenfroher Sarong und das schwarze Seidentop auf den wahren Kenner verführerischer wirkten als eine übertriebene Zurschaustellung nackter Haut.
Andererseits waren ihre Kenntnisse in Sachen Verführung eher spärlich, da sie sich seit drei Jahren konsequent von Abenteuern – und Männern – ferngehalten hatte. In letzter Zeit hatte sie geradezu zölibatär gelebt, weil sie ihren Großeltern beweisen wollte, dass sie nicht in die Fußstapfen ihrer Mutter trat, die daheim in dem Ruf stand, ein Männer verschlingender Vamp zu sein. Und während ihre Mutter jedem halbwegs attraktiven Surfer hinterhergelaufen war, hatte sie Mias Kindheit größtenteils verpasst.
Aber heute Abend war Mia wild entschlossen, sich von all den Beschränkungen freizumachen, unter denen sie in ihrer Heimatstadt Twin Palms lebte. Sie hatte sich ein paar Tage Urlaub erkämpft, bevor sie sich am Montag wieder dem Ernst des Lebens stellte. Dann musste sie zur Bank gehen und um eine Verlängerung der Hypothek für den kleinen Souvenirladen der Familie bitten.
Doch zuvor wollte sie einmal ein paar Stunden an sich und nicht ausschließlich an das Wohl der Familie denken. In den vergangenen Monaten war ihr schmerzlich bewusst geworden, dass sie sich aus lauter Angst, die geliebten Großeltern zu schockieren, mehr und mehr von der Außenwelt abgekapselt hatte.
Inzwischen hatte sie vollkommen verlernt, wie man überhaupt Vergnügen und Zerstreuung hatte. Diese Erkenntnis war ihr besonders erschreckend klar geworden, als in der vergangenen Woche ein Vertreter ins Geschäft kam und Warenmuster vorstellte. Unter den diversen Scherzartikeln für Touristen war ein wassergefüllter Kugelschreiber mit einer schwimmenden Comicfigur gewesen, die bei einer bestimmten Drehung des Schreibers ihre Badehose verlor. In dem Moment war Mia aufgegangen, dass sie seit Jahren keinen nackten Mann mehr gesehen hatte.
Wahrscheinlich hatte sie sich deshalb fest vorgenommen, ihre wenigen Tage in Tampa zu nutzen, um sich endlich mal wieder zu amüsieren. Denn wenn sie die Verlängerung der Hypothek erst einmal durchgeboxt hatte, würde sie ihre Arbeitsstunden verdoppeln müssen, um die Raten zu zahlen. Dies war also ihre letzte Chance, Arbeit und familiäre Verpflichtungen vorübergehend zu verdrängen und das Leben zu genießen.
Sie hoffte inständig, dass die Auswahl an Piraten sie nicht enttäuschen würde. Sollte sie an diesem Wochenende die Gelegenheit bekommen, einen echten nackten Mann zu sehen, würde sie jedenfalls nicht weggucken. Das stand für sie fest.
Mit dem kleinen Opernglas, das sie klugerweise eingesteckt hatte, wollte sie gerade einen genaueren Blick auf die Männerhorde an Bord der José Gaspar werfen, als sie neben sich eine Stimme vernahm.
“In diesem Aufzug haben Sie hier keine Chance”, sagte die mindestens siebzigjährige Frau. Ihr weißes Haar war modisch kurz geschnitten, und sie trug ein langes grünes Strandkleid, das in der Mitte von einem Gürtel gehalten wurde, den sie in diesem Moment löste. “Sie müssen schon ein bisschen Bein zeigen.”
Mit diesen Worten schob sie den Frotteestoff vorn auseinander und legte ein Paar Beine frei, die so manche Frau in Mias Alter grün vor Neid machen konnten. Mia musterte sie bewundernd und hoffte, in fünfzig Jahren mit ähnlich fantastischen Beinen aufwarten zu können. Für heute war sie allerdings optimistisch, der Konkurrenz gewachsen zu sein.
Und das musste sie auch, denn schließlich hatte sie sich fest vorgenommen, sich von einem aufregenden Piraten entführen und anschließend verführen zu lassen.
“Tja, ich gebe zu, dass Ihre Beine ein echter Hingucker sind”, gestand Mia. “Aber ich glaube, mein Kostüm erlaubt mir nicht, so viel Haut zu zeigen.”
Die ältere Dame blickte an Mia hinab. “Mal sehen”, sagte sie und machte sich ohne die geringste Scheu an dem Knoten des Sarongs zu schaffen. “Sie müssen nur hier ein bisschen ziehen und das Ganze zur Seite drehen. So, das hätten wir.” Mit wenigen Handgriffen hatte sie dafür gesorgt, dass sich seitlich ein langer Schlitz auftat, der den Blick auf Mias sonnengebräunte Beine freigab.
Zufrieden richtete sich die Dame wieder auf und zwinkerte Mia zu. “Wer so viel zu bieten hat wie Sie, sollte es auch zeigen.”
Mia war sich weniger sicher, dass sie wirklich viel zu bieten hatte, aber die andere Frau hatte unbestreitbar ein Händchen, was aufreizenden, aber unaufdringlichen Stil betraf. Außerdem fühlte es sich gut an, wie die warme Februarbrise über Mias Schenkel strich.
“Danke”, sagte sie lächelnd, doch da hatte sich die lebhafte ältere Dame bereits weiter nach vorn durchgekämpft, während das Piratenschiff ein Stück weiter an der Pier festmachte.
Mia folgte ihr durch die Menge. Bei diesem Spiel hieß es “jede gegen jede”, und Mia wollte sich auf keinen Fall von einer der Bikinischönheiten um ihr Abenteuer bringen lassen. Die vergangenen Jahre hatte sie sich jedes Vergnügen versagt und ihre Tage zwischen Muschelkettchen und Bilderrahmen aus Treibholz gefristet. Wie es aussah, würde sich daran auch in nächster Zeit nichts ändern, deshalb konnte dies ihre letzte Chance sein, etwas Aufregendes zu erleben.
Anschließend würde sie wieder ganz die gewissenhafte Enkelin sein, die sich um den Souvenirladen der Großeltern kümmerte. Sie war ihr Leben lang pflichtbewusst und anständig gewesen, immer darauf bedacht, den aufmerksamen Nachbarn der Kleinstadt keinen Anlass zum Tratsch zu geben. Doch heute wollte sie sich eine Pause gönnen, für ein paar Stunden Anstand und Vernunft vergessen und sich von einem sexy Piraten entführen lassen. Und um das zu erreichen, war sie bereit, richtig forsch und verwegen ans Werk zu gehen.
Weder eine attraktive Großmutter noch eine dieser Badenixen konnten sich ihr in den Weg stellen!
“Hast du schon die richtige Braut für dich entdeckt?”, fragte der Pirat direkt neben Seth. Es war Patrick O'Keefe, der die “Gasparilla-Crew” anführte und der heute im selben Tonfall sprach wie die Darsteller in Mantel-und-Degen-Filmen. Pat war ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, der mittlerweile im Ruhestand lebte. Daher konnte er auch problemlos die Zeit erübrigen, sich um die Organisation des Festivals zu kümmern.
Seth kletterte auf die Reling und mühte sich, mit einem möglichst heiteren “Aye, Aye!” zu antworten, konnte jedoch nicht gänzlich verbergen, wie wenig Lust er hatte, bei diesem Zirkus mitzumachen. “Ich habe schon die ideale Kandidatin gefunden.”
Pat klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken und lotste eine weitere Handvoll Piraten an die Reling.
Ein Aufschrei ging durch die Menge, als die Männer vor dem Tagungszentrum von Tampa anlegten. Die Fernsehkameras fuhren näher heran, um die Ankommenden zu filmen, und drängten die wartenden Frauen auseinander. Seth behielt währenddessen sein Entführungsopfer im Auge: eine ältere Dame in einem offenen grünen Strandkleid und darunter einem passenden Badeanzug.
Das war umso leichter, als sie deutlich aus der Masse der halb nackten Sonnenanbeterinnen hervorstach. Außerdem folgte ihr eine hübsche Frau dicht auf den Fersen, die einen leuchtend bunten langen Seidensarong trug und eine riesige rote Blume im Haar hatte.
Hübsch? Nein, diese Brünette war nicht hübsch, sondern umwerfend. Sie hatte fantastische Beine und auch sonst alles, wovon ein Pirat nur träumen konnte. Der Geschäftsmann in ihm aber würde den Teufel tun, sich mit einer atemberaubenden Schönheit filmen zu lassen, die aussah, als käme sie direkt von den Dreharbeiten zu einer Carmen-Verfilmung. Für seine Werbezwecke war sie entschieden zu schön, zu rassig und zu sexy – leider.
Dennoch konnte er sich zumindest erlauben, sie ein wenig aus der Entfernung zu bewundern. Ihr braunes Haar fiel fast bis zur Mitte ihres Rückens, und vom Boot aus konnte Seth ihre schlanke, sonnengebräunte Taille sehen. Ihrem leicht südländischen Teint nach zu urteilen, musste es unter ihren Vorfahren Italiener oder Lateinamerikaner gegeben haben.
Der Stoff ihres Rocks wirkte sehr dünn, und wahrscheinlich war er durchscheinend, wenn man ihn im Gegenlicht sah. Bei jedem Schritt gab der Schlitz den Blick auf ihre sagenhaften Beine frei.
“Du gehst als Erster an Land”, rief Patrick O'Keefe ihm zu. “Ich verlasse mich darauf, dass du die Mannschaft anführst.”
Nun gab es kein Entrinnen mehr. Für einen Moment war Seth versucht, seinen Entführungsplan zu ändern und die schöne Carmen anstelle der Großmutter zu seiner Piratenbraut zu machen. Er hätte nichts dagegen gehabt, diese fantastischen Beine aus nächster Nähe zu inspizieren.
Im Grunde war das auch verständlich, wenn man bedachte, dass er seit mehr als vier Monaten mit keiner Frau mehr zusammen gewesen war. Zu jenem Zeitpunkt hatte Margo die Beziehung zu ihm aufgekündigt, allerdings nicht, ohne vorher nochmals die Liste seiner schlimmsten Verfehlungen herunterzubeten: Er sei arbeitswütig, erfolgsbesessen, unfähig, eine richtige Beziehung zu führen, und so weiter. Wer wollte ihm da verübeln, wenn er sich nun von ein Paar sagenhaften Beinen hinreißen ließ?
Er schloss kurz die Augen, um sich innerlich zur Räson zu rufen. Hier und heute ging es ausschließlich darum, dass sein Auftritt ein positives Licht auf die Gulf Coast Bank warf, die zu den Sponsoren des Festivals gehörte und außerdem ein Tochterunternehmen von Chandler Enterprises war. Seth konnte später darüber nachdenken, wie lange er schon ohne eine Frau in seinem Leben auskommen musste.
Jetzt würde er die attraktive ältere Dame entführen und damit eine ausgezeichnete Werbung für seine Bank machen.
Patrick warf ein paar Männern an der Pier das Bootstau zu. “Vergiss nicht, die Dame deiner Wahl bis elf Uhr heute Abend zurückzubringen”, erinnerte er Seth. “Der Lokalsender hat einen Platz in den Spätnachrichten freigehalten, und wir wollen, dass die Piratenbräute von ihrem aufregenden Tag berichten.”
Elf? Bis dahin waren es noch geschlagene sechs Stunden, und das auch nur, weil das Festival wegen eines Sturmes später als geplant begonnen hatte.
“Keine Angst”, entgegnete Seth und mühte sich vergeblich, nicht zu Carmen zu starren. “Ich werde bestimmt zeitig zurück sein.”
Patrick runzelte die Stirn. “Und du sollst vor allem dafür sorgen, dass sie sich bestens amüsiert. Falls du sie also zu früh zurückbringst, könnten wir glauben, du wärst deinen Piratenpflichten nicht nachgekommen.”
Seth nickte. Schließlich hatte er selbst ein reges Interesse daran, dass seine “Braut” vor den Kameras in höchsten Tönen von ihrer Entführung schwärmte. “Ich werde mein Bestes geben.”
Sobald das Boot vertäut war, kletterte er auf die Bootskante. Er wählte eine Position, von der aus er schnellstmöglich zu seiner Erwählten gelangen konnte – und zu der berauschenden Sirene, die direkt hinter ihr war.
Er wartete gar nicht erst ab, bis die Laufplanke ausgeklappt war, sondern sprang von Bord, wie es sich seiner Ansicht nach für einen echten Piraten gehörte.
Die anderen Piraten folgten ihm, und unter Johlen und Kreischen stürzten sie sich in die Menge der wartenden Frauen. Leider war Seth weiter von seiner ausgesuchten Kandidatin entfernt, als er zunächst gehofft hatte, doch davon ließ er sich nicht beirren. Ebenso wenig von der nordischen Schönheit, die sich ihm in den Weg stellte und ihm einen Blick zuwarf, der jeden anderen Mann schwach gemacht hätte.
Sie war wirklich beeindruckend, hatte allerdings nicht ansatzweise die Klasse wie Carmen. Seth zwinkerte ihr zu und eilte an ihr vorbei. Nichts und niemand konnte ihn von seinem Entschluss abbringen, die grün gewandete Großmutter zu entführen und den Namen seiner Bank auf die Titelseite der morgigen Zeitung zu bringen.
Doch offenbar hatte er Carmens Anziehungskraft maßlos unterschätzt. Kaum war er an der Blondine vorbei, da stand sie auch schon vor ihm. Aus der Nähe war die Frau, die er bereits vom Boot aus bewundert hatte, noch umwerfender.
Für den Bruchteil einer Sekunde war er wie vom Donner gerührt. Dann versetzte ihm die drängelnde Menge hinter ihm einen Schubs, und er fiel buchstäblich gegen sie. Einen kurzen Moment lang war Seth vollkommen überwältigt von dem Gefühl, ihren schlanken und atemberaubend wohlgerundeten Körper an seinem zu spüren. Im nächsten Augenblick trat sie einen Schritt zurück.
Seth war heiß und ganz und gar erfüllt von einem unbeschreiblichen Verlangen, diese fantastische Frau gleich noch einmal an sich zu pressen.
Aber sein Verstand mahnte ihn wie durch einen dichten Nebel, dass dies nicht die Frau war, die er zu entführen geplant hatte. Verdammt!
Sein Mund war plötzlich so trocken, dass er nicht einmal eine Entschuldigung zustande brachte. Er stand stumm da, während sie ihn mit ihren katzengrünen Augen musterte. Ganz langsam ließ sie ihren Blick über sein Gesicht, seine Brust und seinen Bauch wandern. Und dann formten sich ihre vollen roten Lippen zu einem zufriedenen Lächeln.
Das Schicksal war heute wahrlich unfair zu ihm. Bei so viel Versuchung musste selbst der standhafteste Mann schwach werden. Und was sprach schließlich dagegen, dass er sie für ein paar Stunden mit auf seine Yacht nahm und all seine guten Vorsätze vergaß? Warum sollte er nicht einfach ihrer offensichtlichen Aufforderung nachkommen?
Er streckte die Arme nach ihr aus und ignorierte für zwei Sekunden, was ihm sein Verstand aus einem beständig dichter werdenden Nebel meldete.
Bis ihm eine Kamera über den Fuß rollte und ein Mikrofon direkt vor seiner Nase auftauchte.
Mist.
Schlagartig herrschte wieder Klarheit in seinem Kopf, und der Vernunftmensch in ihm regte sich – trotz seines Herzpochens und der Hitze, die seinen Körper durchströmte. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen. War er nicht immer stolz darauf gewesen, dass in seinem Leben die Firma an erster Stelle stand? Seine ganze Familie hatte in Chandler Enterprises und die Gulf Coast Bank investiert, weil sie ihm vertrauten. Sie verließen sich darauf, dass Seth zum Denken seinen Kopf benutzte und nicht seinen … na ja, sie vertrauten ihm halt.
Er schluckte und wandte sich der Frau in dem grünen Frotteekleid zu, die neben Carmen stand. Hier ging es ums Geschäft, und deshalb würde er die ältere Dame entführen. Sein unerwartetes Verlangen nach der attraktiven Brünetten konnte ihm heute nichts als Schwierigkeiten einbringen.
Seth wandte sich ein Stück zur Seite, um in echter Piratenmanier die weißhaarige Dame zu schultern und auf seine Yacht zu verschleppen, doch ehe er wusste, wie ihm geschah, kitzelte ihm eine rote Hibiskusblüte die Nase.
Diese Carmen hatte es irgendwie geschafft, ihre Arme um seinen Hals zu schlingen. Sie schien buchstäblich an ihm zu kleben. Die kümmerlichen Reste seines Verstandes bäumten sich vergebens auf und meldeten ihm, dass die gegenwärtigen Umstände gar nicht zu seinem Plan passten. Aber bevor er eine Chance gehabt hatte, sich aus der Umklammerung zu befreien, waren die Fernsehkameras wieder genau vor ihm.
In diesem Augenblick begann sein Entführungsopfer, das offenbar nicht erwarten konnte, entführt zu werden, lauthals zu schreien.
2. KAPITEL
Mia hätte mühelos auch einen zweiten Anfall gespielter Panik vor den Kameras von Kanal 10 gemimt, doch glücklicherweise schien ihr Pirat den Wink endlich zu verstehen.
Dabei war sie für eine Weile tatsächlich in Sorge gewesen, ihr halb nackter Don José könnte sich womöglich für die attraktive Großmutter neben ihr entscheiden. Gut, dass Mia im letzten Moment eingefallen war, wie wirksam ein ohrenbetäubendes Kreischen vor laufenden Kameras sein konnte. Das hatte ihn endgültig davon überzeugt, dass er mit ihr viel mehr Spaß haben konnte.
Und ihrem Piraten war gar nichts anderes übrig geblieben, als sie in seine Arme zu heben und sie an seine Brust zu pressen. Ihr Sarong rutschte auseinander, und ihr entblößter Schenkel berührte seinen Oberarm. Mia genoss es und drückte sich noch dichter an ihn. Ihr Busen war nur durch einen Hauch Seide von seiner Brust getrennt. So nah war sie viel zu lange keinem Mann mehr gewesen, weshalb kaum verwunderlich war, dass sie schon ein wohliges Kribbeln im Bauch verspürte. Ihr Abenteuer hatte begonnen, und es fühlte sich großartig verwegen an.
Sie winkte und lachte ausgelassen für die Kameras, als ihr siedend heiß einfiel, dass irgendjemand in Twin Palms garantiert die Fünfuhrnachrichten sehen würde. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich Klatsch in der Kleinstadt verbreitete, würden ihre Großeltern spätestens um fünf nach fünf glauben, Mia hätte sich von ihnen abgewandt und einem Leben in Sünde und Lasterhaftigkeit verschrieben.
Reflexartig vergrub sie das Gesicht an der Schulter ihres Entführers und flüsterte: “Bringen Sie uns hier weg, schnell!”
Er umfasste sie noch fester. “Na, wie finde ich denn das? Erst inszenieren Sie Ihre eigene Entführung, und jetzt wollen Sie auch noch den Fluchtverlauf bestimmen?”
Seine Stimme war tief und warm, und Mia fühlte, dass er sich das Lachen verkneifen musste. Dennoch wandte er sich mit ihr im Arm um und begann sich einen Weg durch die Menge der Zuschauer zu erkämpfen.
“Ich möchte lieber nicht in die Abendnachrichten”, erklärte sie ihm und staunte, mit welcher Leichtigkeit er sich mit ihr auf den Armen bewegte. Der Mann musste Bärenkräfte und eine enorme Kondition haben. Ganz zu schweigen von dem Muskelspiel, das sie auf ihren Hüften fühlte und das sie reichlich durcheinanderbrachte.
“Dabei hatte ich doch tatsächlich geglaubt, Sie wollten unbedingt in die Nachrichten. Ihr Auftritt war jedenfalls wie für die Kameras gemacht.” Er blickte über die Schulter zurück und vergewisserte sich, dass die Fernsehleute ihnen nicht folgten.
“Mein Auftritt galt nicht den Kameras, sondern Ihnen.”
Sie hatte sich fest vorgenommen, heute alles zu wagen, und von diesem Plan wollte sie keinen Millimeter weichen, auch wenn ihr Pirat ihr entschieden gefährlicher werden könnte als der harmlose Junge im Streifenshirt, den sie sich anfangs ausgeguckt hatte.
Andererseits sollte sie nicht vergessen, dass er kein echter Pirat war. Schließlich verfügte im achtzehnten Jahrhundert kein Mann über ein Aftershave, dessen Duft alle Frauen auf der Stelle dahinschmelzen ließ.
“Wirklich? Das ganze Theater war allein für mich?” Seth verlangsamte das Tempo, da sie mittlerweile das Tagungscenter und die johlende Menge hinter sich gelassen hatten. “Heißt das etwa, Sie kennen mich, Carmen? Das würde mich wundern, denn wenn wir uns schon einmal begegnet wären, hätte ich Sie ganz gewiss nicht vergessen.”
“Carmen?” Hatte sie irgendetwas verpasst? Oder vernebelte ihr dieser Ausbund an Männlichkeit derart den Verstand, dass sie ihren eigenen Namen vergessen hatte?
“Nun, Sie erinnern mich an das Zigeunermädchen aus der Oper”, erklärte er. “Ich schätze, es liegt an Ihren dunklen Haaren und der roten Blume.”
“Ach so.” Mia war ehrlich erstaunt. In Twin Palms käme niemand auf die Idee, sie mit einer Opernfigur zu vergleichen, deren Name für pure Sinnlichkeit stand. Zu Hause war Mia nichts anderes als die Enkeltochter der Quentins. “Ich heiße Mia Quentin, und wir sind uns noch nie begegnet.”
Sie waren an der Pier angekommen, und ihr “Captain Kidd” bewegte sich auf seinen bloßen Füßen lautlos über die Holzplanken. “Ich bin Seth Chandler. Möchten Sie mir vielleicht erzählen, warum Sie sich schreiend zwischen mich und die Frau warfen, die ich eigentlich entführen wollte?”
Zugegeben, ganz so kühn hatte sie auch wieder nicht sein wollen. Doch in dem Moment, da sie Seth entdeckte, hatte sie gar keine andere Wahl mehr gehabt.
“Wollten Sie allen Ernstes eine Frau entführen, die mindestens doppelt so alt ist wie Sie?” Du Schreck, wie hörte sie sich denn an? “Ich meine, sie hatte fantastische Beine und alles, aber trotzdem …”
Seth stellte sie am Ende der Pier ab und lächelte. “Schon gut, wie es aussah, hatte sich meine Auserwählte sowieso für einen anderen Piraten entschieden. Ich habe vorhin gesehen, wie sie sich unserem Anführer in die Arme warf, und dem Kuss nach zu urteilen, müssen die beiden sich vorher verabredet haben.”
“Wie beruhigend.” Mia blickte unsicher auf die Reihe Luxusyachten, die an dieser Pier vertäut waren. “Ich würde mir nämlich nie verzeihen, wenn ich Ihnen den Tag verdorben hätte.”
“Haben Sie nicht.” Er sprang mit einem Satz auf die große Yacht, vor der sie standen, und streckte eine Hand nach ihr aus, um ihr hinaufzuhelfen. “Womit allerdings immer noch nicht meine Frage beantwortet wäre. Warum gerade ich?”
Sie nahm kaum wahr, was er sagte, weil ihr in diesem Moment furchtbar mulmig wurde. Was war nur in sie gefahren, sich auf dieses Abenteuer einzulassen? Wollte sie wirklich allein mit einem Wildfremden in die Bucht hinausschippern?
Seth seufzte und nickte Richtung Festland. “Falls Sie nicht zur Titelstory in den Abendnachrichten werden wollen, sollten Sie besser schnell an Bord kommen.”
Mia blickte sich um und sah einen Trupp Reporter und Kameramänner, der sich im Laufschritt der Pier näherte. Damit war ihr die Entscheidung aus der Hand genommen, und kurz entschlossen kletterte sie an Bord. “Na gut. Gegen eine kleine Tour durch die Bucht ist eigentlich nichts einzuwenden.”
Seth betätigte ein Paar Hebel und ließ den Motor an. “Denken Sie dran, geplant ist eine Vergnügungstour.” Er warf ihr ein verschwörerisches Grinsen zu, das jeden echten Piraten neidisch machen konnte. Um die Leinen zu lösen, musste er an ihr vorbei und streifte sie, wobei Mia nicht sagen konnte, ob er es absichtlich tat oder nicht. “Und ich kann mir an einem sonnigen Tag wie diesem nichts Angenehmeres vorstellen.”
Mia fragte sich immer noch, ob sie bei Sinnen war, sich auf diese Sache einzulassen. Nun ja, für den Notfall hatte sie eine Dose Pfefferspray in der Handtasche, und außerdem hatten eine Menge Leute gesehen, mit wem sie fortgegangen war. Er konnte also wohl kaum riskieren, ihr etwas anzutun. Ganz abgesehen davon hatte Mia infolge der zahlreichen Männerbekanntschaften ihrer Mutter bereits frühzeitig gelernt, Männer einzuschätzen, und dieser Vertreter seines Geschlechts hier wirkte nicht nur denkbar harmlos, sondern darüber hinaus wie jemand, der normalerweise in gehobenen Kreisen verkehrte.
Seth hatte alle Taue gelöst und setzte sich hinters Steuer. Während er die Yacht von der Pier weg lenkte, nahm er mit der anderen die Augenklappe ab.
Mia blickte zurück auf den kleiner werdenden Steg, als sie plötzlich bemerkte, dass eine der Kameras auf sie gerichtet war. Ihre aufsteigende Panik unterdrückend, wandte sie sich ab und setzte sich auf den Sitz neben Seth. Wenn die Alternative war, als entführte Piratenbraut über die Bildschirme von halb Florida zu flimmern, wollte sie lieber die Nähe zu dem Mann in Kauf nehmen, der keinen Hehl daraus machte, wie viel er sich von ihrem kleinen Ausflug versprach.
Zumindest begann die Sache langsam wirklich interessant zu werden. Mia rückte die Blume in ihrem Haar zurecht und hoffte, dass sie zwischenzeitlich nicht vollkommen vergessen hatte, wie man flirtete. Auf dem College hatte sie es jedenfalls ganz gut beherrscht – bis der Souvenirladen ihrer Großeltern vom Konkurs bedroht war und ihre Mutter es geschafft hatte, ihrem Großvater ein Magengeschwür zu verursachen.
Nachdem Mia ihr Studium an der Universität von Miami abgebrochen hatte und nach Twin Palms zurückgekehrt war, hatte sie das Ausgehen und Flirten gänzlich aufgegeben. Sie hatte wahrlich andere Sorgen und hielt es für wichtiger, ihren Großeltern die Existenzgrundlage zu erhalten. Doch als sich die finanzielle Situation einigermaßen stabilisiert hatte und sie eigentlich Zeit und Gelegenheit gehabt hätte, mal wieder mit jemandem auszugehen, wurde ihr klar, dass ihre Großeltern jedes Mal in blanke Verzweiflung gerieten, wenn sie von jemand anderem als dem Nachbarjungen eingeladen wurde.
Frankie war zwar kein Junge mehr, sondern inzwischen der Hafenmeister von Twin Palms und ein wirklich netter Kerl, aber mehr eben auch nicht. Also hatte Mia den Gedanken an ein aufregendes Privatleben auf Eis gelegt. Bis jetzt.
“Meinen Sie tatsächlich, dass das hier eine Vergnügungstour wird?”, fragte sie ihren Piraten heraufordernd. “Wenn ja, darf ich wohl davon ausgehen, dass Sie sich damit abgefunden haben, mich entführen zu müssen.”
Seth drehte den Motor höher und manövrierte sie durch den dichten Verkehr der Boote, die in den Hafen wollten. Offenbar waren sie die Einzigen, die vom Festival wegwollten.
“Kommt darauf an”, antwortete er. “Bekomme ich irgendwann eine Antwort auf meine Frage von vorhin?”
Hatte er sie etwas gefragt? Mia hatte Schwierigkeiten mit dem Denken, solange er sie mit seinen dunklen Augen ansah. Ohne die Augenklappe wirkte sein Blick beinahe bohrend, und ihr wurde heiß.
“Welche Frage?”
Er schüttelte lächelnd den Kopf und steuerte die Yacht aufs offene Meer hinaus. “Die Frage, was dieses Theater sollte. Warum waren Sie so versessen darauf, ausgerechnet von mir entführt zu werden, wenn wir uns doch gar nicht kennen?”
“Ach, die Frage!” Mia spielte im Kopf diverse Antwortmöglichkeiten durch, bevor sie sich für die Wahrheit entschied. “Ich bin auf der Suche nach einem Abenteuer, und da fand ich es passend, mich von einem Piraten verschleppen zu lassen.”
Sie wartete ab, wie er reagieren würde. Warf er sie direkt über Bord, weil er ihr Ansinnen zu aufdringlich fand? Oder würde er wütend und beleidigt sein, weil sie ihn ungefragt für ihre Pläne eingespannt hatte?
Als sie die letzten entgegenkommenden Boote hinter sich gelassen hatten, drehte er den Motor noch weiter auf, und sie schossen mit voller Fahrt übers Wasser. Der Wind zerzauste ihr Haar, und Wasser sprühte ihr ins Gesicht, doch Mia wollte wenigstens versuchen, ihren Entführer davon zu überzeugen, dass ihre Vorstellung von Abenteuer vielleicht auch für ihn reizvoll sein könnte.
“Tja, ich sollte Ihnen wohl besser gleich gestehen, dass ich kein echter Pirat bin”, warnte er sie und achtete darauf, keine Welle auszulassen, sodass das Wasser um sie herum aufstob. “Ich fürchte, ich eigne mich nicht sonderlich für wilde Abenteuer.”
Das glaubst aber auch nur du, dachte Mia, stand auf und hielt das Gesicht in den feinen Sprühregen, der ihre Haut kitzelte. Sie brauchte dringend ein wenig Abkühlung, da ihr jedes Mal heiß wurde, wenn sie Seth auch nur einen flüchtigen Seitenblick zuwarf.
Dennoch verflogen ihre anfänglichen Bedenken zusehends, und sie fühlte sich mit jeder Minute mutiger. Sie würde ihm schon zeigen, wie gut gerade er sich für wilde Abenteuer eignete!
Verschmitzt lächelnd raffte sie ihren Sarong zusammen und wrang den dünnen Stoff aus. “Wer immer Sie auch sein mögen, Seth Chandler, für einen aufregenden Bootsausflug kann ich mir keinen besseren Kandidaten vorstellen als Sie.”
Um ihn herum war nichts als Wasser, und dennoch fühlte Seths Mund sich an, als wäre er kurz vorm Austrocknen. Er sollte besser nicht die winzigen Wasserperlen ansehen, die auf Mia Quentins gebräunten Schenkeln glitzerten. Andererseits war er außerstande, den Blick abzuwenden, als sie den geblümten Stoff raffte und ihre Beine praktisch vollständig entblößte, um ihren Sarong auszuwringen.
Er wollte etwas sagen, hatte aber Mühe, die Worte über seine außergewöhnlich trockenen Lippen zu bringen. “Sie wissen gar nicht, wer ich bin.”
Sie zuckte mit den Schultern, was in ihrer leicht vorgebeugten Haltung gefährlich verführerisch wirkte. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er ein Stück roter Seide unter ihrem schwarzen Top aufblitzen sehen.
“Sie sind Seth Chandler, der Pirat, der vorgibt, keiner zu sein. Was muss ich noch wissen?”, fragte sie und richtete sich wieder auf.
Der feuchte Stoff lag so eng an ihren Beinen, dass Seth ganz anders wurde. Er konnte kaum verstehen, was sie sagte, weil er wie benommen vor Verlangen war.
“Tja, ich schätze, viel mehr müssen Sie wirklich nicht wissen.”
“Arbeiten Sie für die Gulf Coast Bank?” Sie setzte sich wieder auf den Sitz neben ihm und betrachtete gleichmütig das breite Armaturenbrett.
Er überlegte. Arbeitete er für die Bank? Verdammt, die Bank gehörte Chandler Enterprises, ja, sie war nur eines von mehreren Unternehmen, die ihm gehörten. Aber vielleicht wusste sie sowieso schon, wer er war, und wollte es ihm nur nicht verraten.
Als er nicht gleich antwortete, zeigte sie auf seine Piratenkluft mit dem Firmenemblem. “Na ja, die Bank sponsert das Festival, deshalb dachte ich, wenn Sie mitmachen, sind Sie vielleicht ein Angestellter.”
Seth betrachtete sie eingehend. Seine Erfahrungen als Geschäftsmann hatten ihm eine ziemlich gute Menschenkenntnis eingebracht, und er war sicher, auf Anhieb erkennen zu können, wenn jemand mit etwas hinterm Berg hielt. Doch in Mias Gesicht sah er nichts als Offenheit und Ehrlichkeit. Sie hatte also wirklich keine Ahnung, wer er war, und das war irgendwie reizvoll.
Die Frauen, mit denen er bislang ausgegangen und zusammen gewesen war, hatten sich vor allem von seinem Geld angezogen gefühlt, weshalb er sich schon des Öfteren gefragt hatte, ob sie sich eigentlich mit ihm oder mit seinem Scheckbuch verabredeten.
Aber Mia hatte sich eindeutig von ihm entführen lassen und nicht von Chandler Enterprises. Natürlich war das Ganze ein Spiel, doch trotzdem war sie hier und erinnerte ihn mit jeder ihrer verführerischen Gesten daran, wie lange er schon keinen Sex mehr gehabt hatte.
Ein verantwortungsbewusster Mann hätte in seiner Lage selbstverständlich sofort gesagt, wer er war. Andererseits hatte Seth sein Maß an Verantwortungsbewusstsein für die Woche bereits übererfüllt und durfte sich eine kurze Pause gönnen. Außerdem interessierte ihn, was die nächsten Stunden mit Mia bringen würden.
“Ich arbeite unter anderem für die Bank. Ich springe immer dann ein, wenn jemand für spezielle Projekte gesucht wird und sie niemand anders haben, der den Job erledigen kann.”
“Sie meinen, Sie sind der Mann fürs Grobe?”
“Ungefähr so, ja.” Das war zwar eine ausgemachte Lüge, aber Seth wollte ihr weder erzählen, wer er war, noch was er tat. Er lenkte das Boot auf Kurs nach Süden und das Gespräch ebenfalls in eine andere Richtung. “Und was tun Sie, wenn Sie sich nicht gerade unbescholtenen Männern an den Hals werfen?”
“Nun, wenn ich nicht gerade über harmlose Männer herfalle, helfe ich meinen Großeltern mit ihrem Geschäft”, antwortete sie lächelnd. Die Hibiskusblüte hielt nicht mehr recht in ihrem feuchten Haar. Mia nahm sie heraus und spielte ein wenig damit. “Allerdings handelt es sich dabei nur um eine vorübergehende Unterbrechung meiner eigentlichen Tätigkeit. Ich bin Künstlerin. Oder besser gesagt: Ich will Künstlerin werden.”
“Und was für eine Künstlerin sind Sie oder wollen Sie werden?” Er lehnte sich zurück und sah sie interessiert an.
“Hauptsächlich male ich. Hin und wieder versuche ich mich in der Bildhauerei, aber eher nur zum Spaß. Mein Talent liegt eindeutig mehr in der Malerei, sei es in Öl, Aquarell oder was auch immer.” Sie blickte von ihrer Blume auf. “Wohin fahren wir überhaupt?”
Seth hatte das Gefühl, dass sie nicht über sich sprechen wollte. Oder wollte sie nur nicht über ihre Kunst sprechen?
“Nach Egmont Key, das heißt, natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist”, antwortete er, wollte sich aber nicht vom Thema abbringen lassen. “Was für Bilder malen Sie? Landschaften? Menschen?”
“Alles, allerdings bin ich keine Realistin. Meine Arbeiten sind meist farbenfroher und lebendiger als die Wirklichkeit.”
“Das überrascht mich nicht.” Er sah auf ihren Sarong und die leuchtend rote Blume. “Sie sehen aus wie ein Mensch gewordener Orchideengarten. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass dieser Tag wesentlich bunter werden wird, als mein gegenwärtiges Leben sonst ist.”
“Was wohl auch an dem Entermesser und der Augenklappe liegen dürfte.” Sie schlug die Beine übereinander, sodass ihr Fuß nur wenige Zentimeter von seinem Schenkel entfernt war.
Wahrscheinlich wäre es maßlos übertrieben, sie in seine Arme zu reißen und fest an sich zu pressen, aber genau danach stand ihm im Augenblick der Sinn. Ja, sein Verlangen, sie zu berühren, war so überwältigend, dass er ein paar Mal tief durchatmen musste, ehe er etwas sagen konnte.
“Nein, das liegt einzig und allein an Ihnen. Mein Alltag ist gewöhnlich von Schwarz-Weiß dominiert, und eine farbenprächtige Frau wie Sie ist mir noch nie begegnet.”