Chancen und Risiken der digitalen Bildungsrevolution
Die Zukunft der Bildung ist digital. Wie wir lernen, verändert sich einschneidend, unsere Schulen und Hochschulen werden auf den Kopf gestellt. Big Data erfasst das Bildungssystem, und auch die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind gravierend. Anhand zahlreicher Beispiele aus aller Welt zeigen Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt, was auf uns zukommt. Sie schildern, welche neuen Chancen sich jedem von uns bieten, warnen aber auch vor den Gefahren der Datenkrake, des gläsernen Lerners und der Übermacht der Algorithmen. Ein augenöffnendes Buch, das klarmacht: Eine Debatte über die digitale Bildungsrevolution ist in Deutschland längst überfällig.
Die Autoren
Kaum jemand in Deutschland hat wohl einen besseren Überblick über die Chancen und Risiken des digitalen Lernens als Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt. Jörg Dräger, geboren 1968, ehemaliger Hamburger Wissenschaftssenator und heute Vorstand der Bertelsmann Stiftung, gilt als ausgewiesener Bildungsexperte. Der Buchautor – 2011 erschien bei der DVA Dichter, Denker, Schulversager – ist ein gefragter Redner und Impulsgeber zur Zukunft der Bildung. Ralph Müller-Eiselt, Jahrgang 1982, ist mit Internet und sozialen Medien aufgewachsen. Er forscht für die Bertelsmann Stiftung, wie der digitale Wandel unsere Gesellschaft verändert, und twittert (@bildungsmann) und bloggt (digitalisierung-bildung.de) über die Bildung von morgen.
»Ein drängenderes, schlüssigeres, besser recherchiertes Buch zum Thema Bildung ist lange nicht erschienen.«
Münchner Merkur
Jörg Dräger | Ralph Müller-Eiselt
DIE DIGITALE
BILDUNGSREVOLUTION
Der radikale Wandel des Lernens und
wie wir ihn gestalten können
Deutsche Verlags-Anstalt
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
4., aktualisierte Auflage 2018
Copyright © 2015 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Typografie und Satz: DVA/Brigitte Müller
Gesetzt aus der Sabon
Grafiken: Peter Palm, Berlin
ISBN 978-3-641-17258-9
V004
www.dva.de
INHALTSVERZEICHNIS
DIE REVOLUTION KOMMT – EIN VORWORT
AUFTAKT
1 DIE SPIELREGELN ÄNDERN SICH
Wie Digitalisierung die Bildung revolutioniert
2 DER DRUCK STEIGT
Warum eine Bildungsrevolution notwendig ist
SZENEN
3 HARVARD FÜR ALLE
Wie Zugang zu Wissen weltweit wirklich wird
4 PASSEND FÜR JEDEN
Wie maßgeschneidertes Lernen möglich ist
5 QUALITÄT OHNE QUAL
Wie spielerisches Lernen zum Erfolg führt
6 WEQ SCHLÄGT IQ
Wie vernetztes Lernen Vorteile schafft
7 ORIENTIERUNG FÜR ORIENTIERUNGSLOSE
Wie Algorithmen durch den Bildungsdschungel weisen
8 PERFEKTES PAAR
Wie Traumkandidat und Traumjob zusammenfinden
AUSBLICK
9 DER GLÄSERNE LERNER
Wie wir Bildungsdaten nutzen und schützen müssen
10 KEIN STEIN BLEIBT AUF DEM ANDEREN
Wie radikal sich unser Bildungssystem ändern wird
11 AUSSITZEN IST KEINE LÖSUNG
Was jetzt zu tun ist
DANK
ANMERKUNGEN
LITERATURVERZEICHNIS
DIE REVOLUTION KOMMT – EIN VORWORT
Ein Schüler erhält täglich einen auf ihn persönlich zugeschnittenen Lernplan, den ein Rechenzentrum am New Yorker Broadway über Nacht erstellt. Ein Investmentbanker erklärt seiner Cousine in selbstgedrehten Videos die Mathematik und wird im Netz zum ersten Popstar der Bildungsszene. Eine Universität arbeitet mit Software, die für jeden Studierenden die optimalen Fächer ermittelt, inklusive der voraussichtlichen Abschlussnoten. Ein Konzern lässt seine Bewerber in einem virtuellen Restaurant Sushi servieren, weil das Computerspiel ihren beruflichen Erfolg vorhersagt. Das ist die digitale Zukunft des Lernens. Wir sind ihr auf unseren Recherchereisen begegnet; in den USA, Asien und Lateinamerika haben wir gesehen, welch radikaler Wandel sich ankündigt, technologisch und pädagogisch. Und wir haben eine Idee davon bekommen, wie Internet und Big Data nicht nur das Bildungssystem, sondern auch eine Gesellschaft von Grund auf verändern.
Manche vergleichen digitales Lernen mit der Erfindung des Buchdrucks, sehen darin das Potenzial, Wissen zu demokratisieren und gute Bildung weltweit jedem zugänglich zu machen. Andere fürchten einen Tsunami, der Schulen und Hochschulen zu zerstören droht. Egal wer recht hat, eines ist gewiss: Die digitale Bildungsrevolution hat bereits begonnen und wird nicht aufzuhalten sein. In Deutschland, dem Land der Reformpädagogik und des Humboldtschen Bildungsideals, war davon allerdings lange wenig zu spüren. Noch immer liegen die Schulen bei der Nutzung von Computern im internationalen Vergleich weit zurück. Doch während lange Skepsis oder gar Ablehnung die pädagogische Debatte dominierten, hat sich die Debatte in den vergangenen drei Jahren deutlich weiterentwickelt. Wir diskutieren nicht mehr über das Ob, sonder das Wie der digitalen Bildung. Bundesregierung, Kultusminister, Eltern-, Lehrer- und Unternehmensverbände und nicht zuletzt die Presse – alle haben das Thema für sich entdeckt. Positions- und Strategiepapiere, Förderprogramme, Konferenzen, Digitalgipfel: Digitales Lernen ist in so kurzer Zeit in den bildungspolitischen Blickpunkt geraten wie lange kein Thema zuvor. Jetzt kommt es auf die praktische Umsetzung an.
So wie die industrielle Revolution weit mehr als Produktionsprozesse verändert hat, wird die digitale Revolution nicht nur Lernprozesse, sondern auch gesellschaftliche Strukturen verändern. Wenn bisher Abgehängte Zugang zu günstiger und guter Bildung erhalten, wenn Können mehr zählt als Titel, wenn soziale Netzwerke für die Karriere wichtiger sind als persönliche Beziehungen, dann geraten bisherige Eliten unter Druck: Internet-Unis öffnen Harvard für alle, zwanzig Minuten Computerspielen verhilft zu attraktiven Jobs, Onlineplattformen machen Kindergärtnerinnen zu Millionären. Das führt zu einer faireren Gesellschaft. Wer motiviert ist und Einsatz zeigt, wer bereit ist zum lebenslangen Lernen, wer die Hilfe von Fachcommunities zu nutzen weiß, dem steht die Welt offen. Das war schon Wilhelm von Humboldts großes Ziel, er wollte »Bildung für alle« als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben.
Wir sehen in der Digitalisierung des Lernens eine große Chance. Sie rückt den Einzelnen in den Mittelpunkt, seine Talente ebenso wie seine Probleme. Digitale Hilfsmittel schaffen Zeit für das Wesentliche; eine Lehrerin erzählt, dank Lernvideos und Computerprogrammen könne sie nun endlich Kinder statt Standardwissen unterrichten.
Uns geht es nicht darum, die digitale Bildung gegen die analoge auszuspielen, sondern darum, beide Welten sinnvoll miteinander zu verbinden. Die Digitalisierung kann weder sämtliche Probleme des Bildungssystems lösen noch alle Inhalte und Fähigkeiten vermitteln, die Schüler und Studenten auf ihrem Weg durchs Leben brauchen. Empathie und Interesse, Vertrauen und Moral – vieles, was eine Persönlichkeit ausmacht, wird auch in Zukunft mehr durch Menschen als durch Maschinen vermittelt. Bildung ist zu einem wichtigen Teil Beziehungsarbeit – dafür sind Tablets weniger geeignet. Doch digitales Lernen kann dazu beitragen, dass jeder die Möglichkeit erhält, sein Wissen zu erweitern und so seine persönlichen Talente zu entfalten. Das ist unsere Überzeugung.
Den großen Chancen stehen auch große Risiken gegenüber. Digitale Bildung birgt nicht nur Humboldts Ideal, sondern auch den Schrecken George Orwells: Es werden Unmengen an Daten erfasst und ausgewertet, Menschen zu Objekten von Algorithmen und Wahrscheinlichkeiten gemacht. Der Lerner wird gläsern und hinterlässt im Netz unauslöschliche Spuren. Im schlimmsten Fall fördert die Digitalisierung nicht mehr Gerechtigkeit, sondern schafft mehr Ungerechtigkeit. Wenn bildungsferne junge Menschen das Internet und ihre elektronischen Geräte nicht sinnvoll nutzen, wenn Lerndaten zweckentfremdet und missbraucht werden, dann droht die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft weiter zuzunehmen.
Gerade im Bewusstsein dieser Risiken sind wir alle gefordert, den digitalen Wandel aktiv zu gestalten. Die Unsicherheit angesichts der bevorstehenden Veränderungen ist nachvollziehbar. Ebenso die Sorge traditioneller Bildungsinstitutionen, an Bedeutung zu verlieren. Schule, Hochschule und Weiterbildung bekommen eine Konkurrenz aus dem Netz, die Teile ihres heutigen Angebots überflüssig macht. Denn so wie die Digitalisierung binnen weniger Jahre Industrie und Handel revolutioniert hat, wird sie auch das Bildungswesen umwälzen.
Uns als Autoren betrifft und fasziniert das Thema dieses Buches auf unterschiedliche Weise. Den einen als Wissenschaftsmanager und Vorstand der Bertelsmann Stiftung, der sich für ein faires und leistungsfähiges Bildungssystem einsetzt. Der zudem als Vater erlebt, wie die eigenen Kinder die digitale Welt für sich erschließen. Und der im Freundeskreis beobachtet, wie die größten Kritiker nach einigen Diskussionen Lern-Apps und Nachhilfevideos für ihren Nachwuchs entdecken und selber ihre Freizeit mit Onlinevorlesungen verbringen. Für den anderen ist digitales Lernen und Arbeiten ein selbstverständlicher Bestandteil seines Alltags. Er ist mit dem Internet aufgewachsen, lebt vernetzt und mobil, löst Probleme am liebsten im Team. Viele seiner Berliner Freunde sind Start-up-Gründer und Laptop-Arbeiter. Fast wäre er auch einer geworden, befasst sich jetzt aber als Experte der Stiftung mit den Chancen und Risiken der Digitalisierung.
Diese unterschiedlichen Blickwinkel haben uns ermutigt, die digitale Bildungsrevolution gemeinsam zu beschreiben. Wir wollten Hintergründe, Ausmaß und Folgen aufzeigen und Lösungsansätze entwickeln, wie sie sich gestalten und beherrschen lässt. Wir wollten neugierig machen, auch in Deutschland eine Debatte über die Zukunft der Bildung anstoßen, damit der Digitalisierung mit weniger Angst und mehr Optimismus begegnet wird. Und wir wollten die politisch und institutionell Verantwortlichen überzeugen, den Wandel anzuführen statt ihn nur geschehen zu lassen. Dass das Thema unseres Buches seit der ersten Auflage im Spätsommer 2015 so stark an Dynamik gewonnen hat, freut uns insofern sehr. Für die dritte Auflage haben wir alle wesentlichen Zahlen und Daten aktualisiert und das abschließende Kapitel behutsam ergänzt.
Das Buch folgt einem dreiteiligen Aufbau: Im Auftakt beschreiben wir die Vorboten der Revolution, berichten von ungewöhnlichen Reformern ebenso wie vom steigenden Veränderungsdruck in Bildung und Gesellschaft. Es folgen sechs Szenen. Sie erzählen davon, was digitale Bildung bereits ermöglichen kann und was sie noch ermöglichen wird. Im dritten Teil, dem Ausblick, setzen wir uns mit den Gefahren von Big Data auseinander, zeigen auf, wo sich die größten systemischen Veränderungen im Bildungswesen ankündigen, und skizzieren, was jetzt zu tun ist. Fast jedem Kapitel haben wir Beispiele aus der Praxis vorangestellt: Fallstudien aus aller Welt berichten über Menschen, die den digitalen Wandel schon (er-)leben. Manche der beschriebenen Initiativen mögen sich bald ändern oder von anderen abgelöst werden; ihr grundlegendes Prinzip aber wird bestehen bleiben und steht für langfristige Entwicklungen, die wir darstellen und analysieren. Die Digitalisierung der Bildung ist noch jung, es gibt nur wenige empirische Befunde oder gar Langzeituntersuchungen. Umso wichtiger erscheint uns die Beschreibung und Einordnung dessen, was heute schon passiert.
Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt im Oktober 2018
AUFTAKT
1 DIE SPIELREGELN ÄNDERN SICH
Wie Digitalisierung die Bildung revolutioniert
»Die größte Gefahr für unser Geschäft ist, dass ein Tüftler irgendetwas erfindet, was die Regeln in unserer Branche vollkommen verändert, genauso wie Michael [Dell] und ich es getan haben.«1
Bill Gates
»School of One hat die Spielregeln vollkommen verändert.«2
Dominick D’Angelo, Schulleiter der David A. Boody Schule
Zugang für alle
Silicon Valley im Herbst 2011. Stanford gilt als eine der besten Universitäten der Welt. Wer hier studiert, der hat es geschafft. Nur jeder zwanzigste Bewerber wird aufgenommen, weniger als an irgendeiner größeren Hochschule in den USA. Zu den Stanford-Absolventen gehören Vordenker des Silicon Valley wie William Hewlett und David Packard oder die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin. Die Studiengebühren liegen bei bis zu 55000 US-Dollar im Jahr, dafür erhalten die Studenten Zugang zu den klügsten Professoren – und ein Netzwerk fürs Leben. So innovativ das Umfeld der Hochschule in Kalifornien ist, so traditionell funktioniert die akademische Welt: Gelehrt und gelernt wird ganz klassisch in Hörsälen oder in der Bibliothek.
Im Jahr 2011 wagen die beiden Professoren Sebastian Thrun und Peter Norvig Unerhörtes. Statt nur auf dem Campus bieten die beiden ihren Kurs »Einführung in die künstliche Intelligenz« auch im Internet an – kostenlos, mit Videos und Übungsaufgaben. Thrun, im niederrheinischen Solingen geboren, hat zu diesem Zeitpunkt nicht nur eine Professur in Stanford, sondern leitet auch die sagenumwobene Forschungsabteilung »Google X«, in deren Labor Roboter frei herumlaufen und Kühlschränke selbständig Lebensmittel nachbestellen. Nun will sich Thrun zusammen mit seinem Kollegen in der Onlinelehre ausprobieren. Was als Experiment beginnt, wird am Ende eine Welle auslösen, die manche als »digitalen Tsunami« bezeichnen.
Zunächst nur über einen akademischen Fachverteiler bekannt gemacht, geht das Angebot eines kostenlosen Stanford-Kurses in Windeseile um die Welt. »Die E-Mail verbreitete sich wie ein Virus, es haben sich an jedem Tag 5000 weitere Teilnehmer angemeldet«, erinnert sich Thrun an seinen ersten Massive Open Online Course (MOOC).3 Früher als geplant muss die Plattform geschlossen werden, nachdem sich mehr als 160000 Menschen aus 190 Ländern eingeschrieben haben. Über drei Monate hören sie dieselben Vorlesungen, erhalten dieselben Übungsaufgaben und absolvieren dieselben Prüfungen wie die Studenten auf dem Campus, nur eben ausschließlich online und ohne einen Cent dafür zu bezahlen. Ein Computer übernimmt die Korrektur der Übungen, Fragen und Probleme können in Diskussionsforen erörtert werden. Auch für die höchst selektiv ausgewählten Studierenden der Stanford University entsteht so ein neues Angebot: Viele von ihnen bevorzugen die Internetvariante gegenüber der üblichen Vorlesung.
Am Ende bestehen 23000 Studierende die Abschlussprüfung und erhalten ein Zertifikat. Das sind mehr Menschen, als Thrun in seinem ganzen Professorenleben im Hörsaal hätte erreichen können. Das eigentlich Tsunamihafte an seinem Onlineseminar ist aber nicht die Zahl der Teilnehmer, sondern der Angriff auf die traditionelle Bildungselite: Unter den 248 Studierenden mit der Spitzennote ist kein Einziger aus Stanford. Der Beste von ihnen belegt im Abschlussexamen lediglich den 413. Platz. 412 Menschen aus aller Welt, die es nicht nach Stanford geschafft haben, sind der vermeintlichen Elite überlegen.
Sebastian Thrun erkennt dieses Potenzial und gründet die Internet-Uni Udacity. Der Name ist Botschaft und Programm zugleich: Hochschule (university) kombiniert mit Wagemut (audacity). Für sein Projekt gibt Thrun sogar seine gut bezahlte Professur in Stanford auf, und später auch seinen Forschungsposten bei Google: »Ich will die Universitätslandschaft revolutionieren. Nicht nur in Amerika, sondern weltweit. Das System hat sich seit hunderten von Jahren kaum erneuert. Es ist ... ein elitäres System, das Bildung für einen kleinen Kreis von Privilegierten in den Industriestaaten anbietet. Das wollen wir ändern, und damit werden wir Geschichte schreiben.«4
Was in der Bildung noch als kühne Zukunftsvision gilt, ist in anderen Lebensbereichen schon selbstverständliche Realität. Die Digitalisierung revolutioniert Branchen und Märkte ebenso wie unser Konsumverhalten. Der Klick vom Sofa ist bequemer als der Gang in den Laden, die Auswahl größer und die Lieferung in der Regel kostenfrei. Seitdem sich Filme und Musik einfach, günstig und längst auch legal im Internet herunterladen oder streamen lassen, verschwinden Videotheken und CD-Läden. Auch Buchhandlungen haben es schwer, zunehmend wird heutzutage über Amazon oder andere Onlineplattformen bestellt. Selbst staatlich reglementierte Branchen wie das Taxigewerbe hat die Digitalisierung erfasst. Waren die Fahrer jahrzehntelang bei der Auftragsvermittlung auf die Taxizentrale und deren Konditionen angewiesen, sorgen mittlerweile Apps wie mytaxi für ein neues Vertriebsmodell: Fahrgäste und Taxifahrer finden unkomplizierter, schneller und günstiger zueinander.
Während der digitale Wandel die Spielregeln in der Wirtschaft bereits verändert hat und weiter verändern wird, scheinen die Hierarchien in unserer Gesellschaft wie erstarrt. Trotz aller Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts, trotz aller Aufstiegsmöglichkeiten – die Oberschicht und Teile der gehobenen Mittelschicht bleiben im Großen und Ganzen unter sich. Diese Abschottung hat vor allem mit unserem Bildungssystem zu tun: Exzellente Schulen sind rar, der Zugang zu den Hochschulen ist streng reguliert, die Kosten – zumindest im Vergleich mit einer vergüteten Ausbildung – hoch. Und auch der Grundstein für persönliche Netzwerke, die später den Weg in gute Jobs ebnen, wird oft auf dem Universitätscampus gelegt. Gesellschaftlicher Aufstieg bleibt noch die Ausnahme. Über den Bildungserfolg entscheidet meist nicht, was in den Köpfen der Kinder steckt, sondern Portemonnaie, Ehrgeiz und Bildungshintergrund der Eltern.
Ideen wie die Internet-Universität von Sebastian Thrun machen Druck auf eine starre Gesellschaft, in der sich sozialer Status weitgehend vererbt. So liegt im digitalen Wandel die Chance auf eine echte Demokratisierung des Bildungssystems. Bisher exklusive Angebote werden über wenige Mausklicks für jeden Interessierten zugänglich. Hohe Kosten und strenge Auswahlverfahren sind dann keine unüberwindbaren Hindernisse mehr. Wer Fähigkeit, Ehrgeiz und Ausdauer hat, egal ob er aus Berlin-Neukölln oder den Armenvierteln Kalkuttas kommt, wird Wege zu Bildung und Aufstieg finden. Die Digitalisierung eröffnet einer verhinderten Elite die Möglichkeit, sich bislang abgeschottete Arbeitsmärkte zu erschließen, und Ländern wie Deutschland, den wachsenden Mangel an Fachkräften zu kompensieren. Diese Entwicklung birgt auch Gefahren: Der online ausgebildete Buchhalter, Grafiker oder Übersetzer aus Indien arbeitet für einen monatlichen Lohn, den sein Kollege in Deutschland am Tag verdienen möchte. Lohndumping und eine Abwärtsspirale der Arbeitsbedingungen sind ernste Herausforderungen.
Allerdings: Kostenlose Onlinevorlesungen von Eliteuniversitäten wie Stanford oder Harvard allein werden unsere Gesellschaftsordnung nicht verändern. Diese Angebote sind für die breite Masse zu anspruchsvoll, setzen sie doch ein hohes Bildungsniveau voraus. Der freie, kostenlose Zugang ist eben nur ein erster Schritt, um Aufstiegschancen für alle Realität werden zu lassen. Was außerdem fehlt, ist ein individualisiertes Bildungsangebot, das nicht nur den schlauesten Köpfen der Welt ermöglicht, das Beste aus sich herauszuholen.
Personalisierung für jeden
Berlin und Montevideo im Herbst 2014. Mathematik ist für viele ein Horror, kaum ein Schulfach teilt Klassen so sehr in Abgehängte und Überflieger. Egal ob Bruchrechnen, binomische Formeln oder Integrale – wer einmal den Anschluss verpasst hat, holt selten wieder auf. Der reguläre Unterricht kann da kaum gegensteuern: Die Aufgaben so lange zu wiederholen, bis jeder sie verstanden hat, würde den Besseren in der Klasse nicht gerecht werden. Wer Glück hat, dem zahlen die Eltern einen Nachhilfelehrer. Für die anderen aber bleibt Mathe ein ewiges Zahlenrätsel. Dabei sind diese Kenntnisse für viele Studien- und Berufsfelder eine Grundvoraussetzung. Wer hier schon in der Schule nicht mitkommt, dem sind auch im späteren Leben viele Türen verschlossen.
Arndt Kwiatkowski ist 53 Jahre alt, Vater von vier Kindern, und auf seinem Abschlusszeugnis stand in Mathematik ein befriedigend. Er gehört zu den Menschen, die aus der Not eine Tugend machen – und aus der Tugend dann eine Geschäftsidee. Das ist so, als er 1997 die Internetplattform Immobilienscout24 gründet, weil er nach etlichen Umzügen genau weiß, wie langwierig und kompliziert die Suche nach einer neuen Wohnung ist. Und das ist so, als er 2008 in Berlin das Online-Mathelernsystem bettermarks an den Start bringt, weil er auch Kindern von weniger zahlungskräftigen Eltern die Chance auf Nachhilfeunterricht geben will: »Wenn meine Eltern mich nicht so intensiv betreut hätten, wäre ich in Mathe aus der Kurve geflogen ... Das hat mich zu dem Gedanken geführt: Was ist eigentlich mit denen, die eine solche Betreuung durch das Elternhaus oder Nachhilfe nicht bekommen können?«5 Die Idee von bettermarks: Ein persönlicher Mathecoach für jeden – in Form einer Lernsoftware, die mit dem Schüler kommuniziert und ihn da abholt, wo er gerade im Stoff steht.
Bettermarks funktioniert wie ein interaktives Mathebuch. Die Themen werden erklärt und mit Rechenbeispielen anschaulich gemacht. Im Unterschied zum gedruckten Buch führt die Software jeden Schüler nach seinem Können und seinem Tempo auf einem ganz persönlichen Lernpfad durch die Aufgaben. Zu Beginn wird der individuelle Leistungsstand erfasst, anschließend wählt das Programm aus über 100000 Übungen die jeweils passenden aus. Je nach Lernfortschritt werden die Lektionen anspruchsvoller. Macht der Schüler beim Lösen der Aufgaben einen Fehler, erklärt das System die einzelnen Rechenschritte und analysiert somit auch die Wissenslücken. »Wir wollen systematischen Wissensaufbau ermöglichen«, sagt Kwiatkowski.6 Zugleich können die Kinder so aus ihren Fehlern lernen: »Der Schüler erhält bei jedem Aufgabenschritt eine Rückmeldung und bekommt bei Fehlern genau die Dinge, die er eigentlich vertiefen müsste, als Übungsserie angeboten.«7 Nicht mehr der Schüler muss sich ans Lehrbuch anpassen, sondern das Lernprogramm passt sich an den Schüler an.
So auch beim Bruchrechnen in einer sechsten Klasse einer Berliner Grundschule. Sowohl Max, der schon immer Schwierigkeiten in Mathematik hatte, als auch Paula, die seit jeher ein Mathefan ist, gehen mit bettermarks ihren persönlichen Lernweg. Max gerät bei der Addition von Brüchen ins Stocken:
. Er tippt in das freie Feld:
.
Das Lernsystem erkennt den Fehler und gibt Max einen Hinweis: »Addiere nicht Zähler und Nenner. Bilde den Hauptnenner.« Er ist unsicher und lässt sich einen weiteren Tipp anzeigen: »Bei gleichem Nenner darfst du die beiden Zähler auf einen Bruchstrich schreiben.« Da klickt es bei Max. Nach ein paar Übungen fühlt er sich sicherer. Seine Mitschülerin Paula hingegen ist lange vor ihm fertig. Bevor sie sich langweilt, kann sie selbständig und in ihrem Tempo mit anderen, vertiefenden Aufgaben fortfahren. Bettermarks vermeidet beides: Unter- und Überforderung, Langeweile und Lernstress. Die Lehrerin kann mit Hilfe der Lernsoftware bereits vor der Unterrichtsstunde die Hausaufgaben jedes Schülers kontrollieren und so erkennen, wer noch Unterstützung braucht. Beim Kürzen von Brüchen hatten viele Schwierigkeiten, deshalb beschließt die Lehrerin, das Thema mit der gesamten Klasse zu wiederholen.
Gerade einmal 400 Schulen nutzen hierzulande bettermarks für den Unterricht. In Uruguay hingegen ist das Matheprogramm bereits ein fester Bestandteil des Bildungssystems: Die Regierung hat beschlossen, dass an allen öffentlichen Schulen mit der Lernsoftware aus Berlin gearbeitet werden soll. Schließlich ermöglicht das Programm den Lehrern, auf jeden in der Klasse mit maßgeschneiderten Übungen einzugehen. Selbst bei der Hausaufgabenkontrolle hilft die Software, weil sie aufzeigt, wo ein Schüler Probleme hat. »Uruguay ist das Finnland Südamerikas«, sagt Arndt Kwiatkowski, »da könnten wir uns in Deutschland in puncto individueller Förderung mit Hilfe von Lernsoftware doch ein Beispiel nehmen.«8
»One size fits all« war gestern. Heute möchte jeder sein individuell zugeschnittenes Wunschprodukt, und das zum gewohnt günstigen Preis der Massenfertigung. In dieser Personalisierung des Angebots liegt – weit mehr noch als im einfacheren Zugang – die revolutionäre Kraft des digitalen Wandels. Erst die Möglichkeit, effizient und kostengünstig zugleich auf persönliche Bedürfnisse eingehen zu können, hat die Marktlogik in vielen Branchen grundlegend verändert. Massenhaft günstig und individuell zugeschnitten – das ist die Zauberformel der Digitalisierung.
So wurde das Ende der klassischen Musikindustrie noch nicht durch den massenhaften Download von CDs besiegelt, sondern erst durch die individuellen Einkaufsmöglichkeiten. Bei iTunes muss niemand mehr ein komplettes Album erwerben, sondern nur noch für seine Wunschtitel bezahlen. Auch die bequeme Bestellung und Lieferung allein hätten nicht ausgereicht, um Amazon zu einem ernsthaften Konkurrenten für den Einzelhandel mit versiertem Personal zu machen. Das konnte nur gelingen, weil der Onlinehandel auch die Kernkompetenz des Fachgeschäfts kopiert hat: Amazon schlägt uns Bücher oder DVDs vor, die uns gefallen könnten, erinnert uns an Batterien, wenn wir ein elektronisches Gerät kaufen, oder empfiehlt uns die passende Kartusche für den Drucker zu Hause.
Big Data, die Analyse riesiger Mengen an Nutzerdaten, erlaubt gleichzeitig individuelle Beratung und günstige Massenlogistik. Nach diesem Prinzip arbeitet auch Google, um trotz 5,5 Milliarden Suchanfragen pro Tag persönlich zugeschnittene Informationen zu liefern. So kann der gleiche Suchbegriff zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, je nachdem was Google aufgrund unseres Surfverhaltens über uns weiß. Die Stichworte »Hilton Paris« führen eine gut situierte ältere Dame vermutlich auf die Homepage einer Hotelkette und liefern einem pubertierenden Teenager Schlagzeilen über ein blondes It-Girl. Dass Onlineplattformen so viel über uns wissen, sorgt bei vielen Menschen für großes Unbehagen, an unserer Internetnutzung ändert sich allerdings nur selten etwas. Die digitalen Errungenschaften haben einen Preis, dessen Höhe uns heute noch gar nicht klar ist – und den wir trotzdem in Kauf nehmen.
Im Bildungswesen ist von der digitalen Personalisierung noch wenig zu spüren. Lange gab es für die Kinder der Oberschicht den Privatlehrer, heute sind es Elite-Internate, die eine individuelle Lernbetreuung versprechen. Für alle anderen bleibt Schulbildung von der Stange – je nach Bedarf und Budget ergänzt um den teuren Nachhilfelehrer. Dieses Schema setzt sich an den Universitäten fort. Wer sich die persönliche Betreuung in Oxford oder Stanford leisten kann, schaut einer erfolgversprechenden Zukunft entgegen. Weniger klar sind die Aussichten der Studenten an deutschen Massenhochschulen. Zwar schafft der Nachwuchs aus der Mittelschicht dank seines sozialen Umfelds meist den steinigen Weg durchs Studium und in den Beruf, doch Kinder aus bildungsfernen Familien bleiben häufig auf der Strecke. Für Chancengerechtigkeit und Aufstieg genügt es eben nicht, Bildung allen zugänglich zu machen – sie muss auch auf die Bedürfnisse des Einzelnen eingehen.
Die in der analogen Welt widersprüchlichen Anforderungen »Zugang für alle« und »Personalisierung für jeden« können durch die Digitalisierung miteinander versöhnt werden. Noch sind Beispiele wie das von bettermarks die Ausnahme, doch sie zeigen, wohin der Weg führt. Was lange ein Privileg der sozial Bessergestellten war, wird in Zukunft auch der breiten, bisher benachteiligten Masse geboten sein. Die digitale Personalisierung wird unser Bildungssystem radikal verändern. Die Frage ist nicht wie, die Frage ist nur wann.
Gezahlt wird mit Daten
New York im Jahr 2013. In einem Loft mitten in Manhattan sitzt Jose Ferreira in Jeans und abgewetztem Pulli. Er ist ein Bildungsreformer ohne Professorentitel. Ferreira hat einen MBA von Harvard, bei Goldman Sachs gearbeitet und den Präsidentschaftskandidaten John Kerry beraten – nun möchte er die Welt verändern: »Eine Milliarde Kinder weltweit wachsen mit nur minimalen Kenntnissen in Lesen, Schreiben und Rechnen auf. Ich will [dieses] Problem für die Menschheit lösen. Ein für alle Mal.«9 Ferreira will Bildung so gestalten, dass jeder Schüler und jeder Student zur richtigen Zeit die richtigen Dinge auf die richtige Weise lernt. Dafür braucht er vor allem Daten, Daten und Daten, ganz nach dem Prinzip: »In order to teach John, you got to know John.« Mit Hilfe von Big Data will er über jeden so viel wie möglich erfahren, um mit diesem Wissen und einer sich anpassenden Lernsoftware den Unterricht zu personalisieren. Denn im Gegensatz zu den meisten Lehrern in großen Klassen oder erst recht den Professoren in Vorlesungen mit hunderten Zuhörern hat eine Software kein Problem, jedes Detail zu jedem Schüler oder Studenten zu erfassen, zu behalten und zu nutzen.
Jose Ferreira und sein Start-up-Unternehmen Knewton haben nicht nur eine Vision, sondern auch das nötige Geld, sie umzusetzen. Für sein Geschäftsmodell »Individuelle Bildung für alle im Tausch gegen Daten von jedem« hat er mehr als 150 Millionen US-Dollar Venture-Capital eingesammelt. Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt. Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird erfasst. »Jeden Tag sammeln wir tausende von Datenpunkten von jedem Schüler«, sagt Ferreira stolz.10 Diese Daten werden analysiert und zur Optimierung der persönlichen Lernwege genutzt. Komplexe Algorithmen schnüren individuelle Lernpakete für jeden einzelnen Schüler, deren Inhalt und Tempo sich fortlaufend anpassen, bei Bedarf im Minutentakt.
Das Prinzip Knewton funktioniert, weil schon mehr als zehn Millionen Menschen weltweit die Software nutzen. Je mehr, desto besser. Denn das System stellt Bezüge zwischen dem Verhalten Einzelner und dem von tausenden anderen her. Bis zu zehn Millionen Mal können die Datenmodelle verfeinert werden – pro Tag. Knewton kann so ableiten, welche Aufgabe zu wem am besten passt. Und nicht nur das: Schon heute berechnet Knewton zuverlässig die Wahrscheinlichkeiten richtiger und falscher Antworten sowie die Note, die ein Schüler am Ende eines Kurses erreichen wird. Eines Tages braucht es wohl keine Prüfungen mehr – der Computer weiß bereits, welches Ergebnis herauskommen wird.
Messbare Erfolge gibt es an der Arizona State University: Die Abschlussquote in einem durch Knewton aufbereiteten Mathematikkurs konnte um 17 Prozent gesteigert, die Abbruchrate sogar um mehr als die Hälfte gesenkt werden. Laut Universitätsleitung wären der Hochschule ohne Knewton allein Studiengebühren in Höhe von zwölf Millionen US-Dollar entgangen. Die 100 US-Dollar pro Student, die die Universität für die Nutzung der Technologie an Knewton zahlt, sind dagegen eine Lappalie.
Doch Programme wie Knewton haben auch eine Schattenseite: Unsere zukünftigen Lernwege werden aus den Erfahrungen von Millionen Nutzern berechnet. Wir werden auf die Trampelpfade anderer geschickt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu uns passen. Was jedoch, wenn nicht? Dann werden wir Opfer der falschen Vorhersage eines Algorithmus. In jedem Fall drohen unser kompletter Lernweg, unsere Stärken und Erfolge, aber auch unsere Schwächen und Misserfolge für immer in der digitalen Welt zu kursieren. Ein Arbeitgeber könnte so – zumindest theoretisch – Jahrzehnte später feststellen, ob ein Bewerber schon in der achten Klasse Probleme in Englisch oder Mathematik hatte. Dagegen wirkt das auf Facebook hochgeladene Partyfoto harmlos.
Knewtons Sammelleidenschaft übertrifft andere Big-Data-Firmen bei weitem. »Google bekommt zehn Datenpunkte pro Suche – wir jedoch bekommen einhunderttausendmal mehr Daten pro Nutzer«, sagt Ferreira.11 Das immense Wissen über Menschen, das Knewton hortet, macht Angst. Das Optimieren von Lernwegen mag eine solch gigantische Datensammlung rechtfertigen, ebenso gerechtfertigt ist allerdings die Frage: Was passiert zukünftig mit diesen persönlichen Informationen? Hier ist sich Jose Ferreira mit seinen Kritikern einig: »Big Data in der Bildung ist ein heißes Eisen. Und es wird noch heißer.«12
Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts, ein hoch gehandelter Rohstoff. So wie ohne Öl ganze Industrien zusammenbrächen, sind Informationen über das Leben und Verhalten des Einzelnen der Schmierstoff für das System der digitalen Personalisierung. Die Knewtons dieser Welt versprechen persönliche Vorteile im Tausch gegen Zugang zu persönlichen Informationen. Die optimierte, auf den Einzelnen zugeschnittene Bildung hat ihren Preis – Transparenz und die Gefahr des Kontrollverlusts über die eigenen Daten und die Spuren, die jeder von uns im Netz hinterlässt.
In anderen Branchen ist der gläserne Kunde schon Realität. So ist beispielsweise die Generali im Begriff, für ihre Krankenversicherten einen verhaltensbasierten Tarif einzuführen. Wer persönliche Daten zu Fitness, Ernährung und Lebensstil preisgibt, kann einen Teil seiner Beiträge sparen. In den USA wird eine gesunde Lebensführung schon länger belohnt. Die Krankenversicherung UnitedHealthcare etwa bietet ihren Kunden einen Preisnachlass an, wenn sie mit Hilfe von Schrittzählern oder Smartphone-Apps nachweisen können, täglich eine bestimmte Anzahl von Schritten gegangen zu sein.13
Vergünstigungen gegen totale Transparenz und Überwachung – dieser Trend ist auch bei Autoversicherungen zu beobachten. Längst sind die neuesten Modelle von Volkswagen, Mercedes oder BMW zu fahrenden Großcomputern geworden, die unablässig Daten sammeln. Die können Versicherer auch zur Überwachung des Fahrverhaltens nutzen – und einen sicheren Fahrstil mit günstigeren Beiträgen belohnen. In den USA und Großbritannien sind solche Telematik-Tarife bereits etabliert. Das Prinzip dahinter: »Pay as you drive«. Autofahrer können damit bis zu 30 Prozent Prämie sparen. In Deutschland halten die Sondertarife nun auch Einzug: Die Sparkassen DirektVersicherung bietet seit Januar 2014 ihren Kunden einen Tarif an, der bei gutem Fahrstil einen Rabatt von fünf Prozent auf den nächsten Jahresbeitrag ermöglicht. Wer sich stets an die Verkehrsregeln hält, kann Geld sparen, für notorische Raser aber dürfte es bald teurer werden.14
Was bei der Autoversicherung vielleicht noch halbwegs fair erscheint, kann bei Bildung und Gesundheit schwerwiegende Folgen haben. Wenn hier nicht nur individuell steuerbares Verhalten, sondern auch persönliche Anlagen oder Eigenschaften zu negativen Konsequenzen führen, ist das mit unserem sozialstaatlichen Anspruch an eine gerechte Gesellschaft nicht mehr vereinbar. So sollte weder eine Krankenversicherung jemanden mit höheren Beiträgen belasten, in dessen Familie es schwere Krankheiten gegeben hat, noch eine Hochschule einen Bewerber trotz Abitur wegen seiner bereits im Studium gescheiterten Geschwister ablehnen. Diese Beispiele zeigen: Ohne die Souveränität über unsere eigenen Daten werden die Verheißungen maßgeschneiderter Produkte und Dienstleistungen schnell zu Makulatur.
Deutschland braucht die digitale Bildungsrevolution
Sebastian Thrun, Arndt Kwiatkowski und Jose Ferreira sind Revolutionäre: Ihre Bildungsangebote können unsere Gesellschaft grundlegend verändern. Man mag die Digitalisierung gut finden oder nicht – einen Stopp-Knopf, mit dem sie sich aufhalten lässt, gibt es nicht. Film- oder Musikindustrie, Zeitungen und Handel sind nur einige Beispiele dafür, wie alte Giganten verschwinden und neue Player entstehen.
In den Schulen und Hochschulen allerdings hat sich an der Art, wie wir lernen, seit Jahrhunderten wenig verändert. In einem einmaligen Kraftakt hat der preußische Reformer Wilhelm von Humboldt Anfang des 19. Jahrhunderts versucht, eine »Bildung für alle« unabhängig von Stand, Beruf und Herkunft zu ermöglichen. Grundbildung, verwirklicht durch das allgemeine und einheitliche Schulwesen – das war für Humboldt Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Nicht nur die Privilegierten, sondern jeder Mensch sollte das Recht haben, sich seinem Potenzial entsprechend zu entfalten. In Humboldt lebte der Geist der Aufklärung. Er wollte freie, autonome Persönlichkeiten, die das Lernen lernen sollten, um ein Leben lang lernen zu können.15 Und er war ein Anhänger des Leistungsprinzips: Wer gut ist, kommt weiter, egal wo er herkommt.
Humboldts erstes Ziel – Bildungszugang für alle – ist heute in Deutschland weitgehend erreicht. Dass jedoch jeder die Bildung erhält, die zu seinen Fähigkeiten passt und die Selbstverwirklichung im Humboldtschen Sinne ermöglicht, ist ein unerfülltes Ideal geblieben. Die von ihm angestoßene Bildung für die Masse scheitert an der Vielfalt der Lernenden. In der Konsequenz ist unsere Gesellschaft weder chancen- noch leistungsgerecht: Bildungserfolg hängt in Deutschland immer noch erheblich vom Elternhaus ab; das politisch starke Bildungsbürgertum hält seit Jahrhunderten an einem System fest, das soziale Herkunft mehr belohnt als gute Leistung. Es ist an der Zeit, Humboldts Ideen neu aufleben zu lassen.
Die Digitalisierung hat das Potenzial, jenseits gesellschaftlicher Elitenreproduktion die soziale Mobilität weltweit zu fördern und bislang Benachteiligten neue Möglichkeiten zu eröffnen. Die Chancen dazu stehen gut. Denn jetzt trifft die Unausweichlichkeit der Digitalisierung auf die scheinbare Unveränderlichkeit der Bildung. Jetzt gibt es Menschen wie Sebastian Thrun von Udacity, Arndt Kwiatkowski von bettermarks oder Jose Ferreira von Knewton, die die alten Spielregeln verändern. »Die Demokratisierung des Wissens ist meine Mission: Wer lernen und weiterkommen will, der wird das tun können. Und zwar überall auf der Welt, unabhängig vom Geldbeutel«, sagt Thrun.16 Individuelle Selbstverwirklichung entsprechend den eigenen Fähigkeiten und Talenten, unabhängig von Stand und Herkunft – Wilhelm von Humboldt hätte an der Digitalisierung großen Gefallen gefunden.
Hierzulande ist von den Veränderungen und Visionen allerdings noch wenig zu spüren. Deutsche Vordenker wie Thrun oder Kwiatkowski reüssieren bislang eher im Silicon Valley oder in Uruguay. Dort kann man alltäglich erleben, was die Digitalisierung vorantreibt. Hohe Studiengebühren wie in den USA oder ein massiver Mangel an Schulen, Hochschulen und Lehrpersonal in Schwellenländern verlangen geradezu nach Onlinelösungen. All diese Probleme hat Deutschland glücklicherweise nicht. Kein Wunder also, dass die digitale Bildungsrevolution bei uns noch schläft. Es dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis sie erwacht. Darauf sollten wir vorbereitet sein.