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1953 warnte Thomas Mann die Deutschen in seiner berühmten Hamburger Rede davor, jemals wieder nach einem »deutschen Europa« zu streben. Im Zuge der Euro-Krise ist nun jedoch genau das Realität geworden: Die stärkste Wirtschaftsmacht des Kontinents kann notleidenden Euro-Staaten die Bedingungen für weitere Kredite diktieren – bis hin zur Aushöhlung der demokratischen Mitbestimmungsrechte des griechischen, italienischen, spanischen – letztlich auch des deutschen Parlaments.
Welche Folgen die umstrittene deutsche Sparpolitik für die europäische Machtlandschaft hat, welche Lösungen im Konflikt zwischen Europaarchitekten und Nationalstaatsorthodoxen möglich sind und wie sich die Imperative der Krisenbewältigung und der Demokratie angesichts des Europa-Risikos versöhnen lassen – diesen Fragen geht Ulrich Beck in diesem leidenschaftlichen Essay nach. Er kommt zu dem Ergebnis, daß wir endlich einen Europäischen Gesellschaftsvertrag brauchen, einen Vertrag für mehr Freiheit, mehr soziale Sicherheit und mehr Demokratie – durch Europa.
Ulrich Beck, geboren 1944, ist Professor em. für Soziologie in München. Er lehrt derzeit in Harvard und an der London School of Economics. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt Nachrichten aus der Weltinnenpolitik (es 2619) und (zusammen mit Elisabeth Beck-Gernsheim) Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter (2011).
Das deutsche Europa
Neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise
Suhrkamp
Umschlagabbildungen: Firecatcher/© Polity Press
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Originalausgabe
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von
Willy Fleckhaus: Bureau Johannes Erler
eISBN 978-3-518-73795-8
www.suhrkamp.de
Vorwort
Einleitung: Deutschland vor der Entscheidung über Sein oder Nichtsein Europas
I. Wie die Euro-Krise Europa zerreißt – und verbindet
1. Die deutsche Sparpolitik spaltet Europa: Die Regierungen stimmen zu, die Bevölkerungen dagegen
2. Von den Erfolgen der Europäischen Union
3. Die Blindheit der Ökonomie
4. Europäische Innenpolitik: Der nationalstaatlich geprägte Begriff des Politischen ist anachronistisch
5. Die Krise der Europäischen Union ist keine Schuldenkrise
II. Europas neue Koordinaten der Macht: Wie es zum deutschen Europa kommt
1. Das bedrohte Europa und die Krise des Politischen
2. Die neue Machtlandschaft Europas
3. »Merkiavelli«: Zögern als Zähmungstaktik
III. Ein Gesellschaftsvertrag für Europa
1. Mehr Freiheit durch mehr Europa
2. Mehr soziale Sicherheit durch mehr Europa
3. Mehr Demokratie durch mehr Europa
4. Die Machtfrage: Wer setzt den Gesellschaftsvertrag durch?
5. Ein Europäischer Frühling?
Anmerkungen
Für Elisabeth
Wird man in Griechenland wieder mit der Drachme bezahlen oder gar in Deutschland mit der D-Mark, wenn Sie dieses Bändchen in Ihren Händen halten? Oder werden Sie über solch düstere Szenarien lächeln, weil die Krise längst überwunden wurde und das politische Europa gestärkt daraus hervorgegangen ist? Daß man solche Fragen überhaupt stellt, daß man derart im Nebel der Ungewißheit herumstochert, sagt viel aus über den flüchtigen Zustand Europas und das Risiko, ihn begreifen zu wollen.
Jeder weiß es, aber es auszusprechen heißt ein Tabu brechen: Europa ist deutsch geworden. Niemand hat das intendiert, doch angesichts des möglichen Zusammenbruchs des Euro ist die Wirtschaftsmacht Deutschland in die Position der entscheidenden politischen Großmacht Europas »hineingeschlittert«. Der englische Historiker Timothy Garton Ash schrieb dazu im Februar 2012:
»Im Jahr 1953 hielt Thomas Mann in Hamburg eine Rede vor Studenten, in der er diese beschwor, sie sollten nicht nach einem ›deutschen Europa‹, sondern nach einem ›europäischen Deutschland‹ streben. Diese Formel wurde in den Tagen der Wiedervereinigung endlos wiederholt. Heute aber erleben wir eine Variation, die nur wenige vorhergesehen haben: ein europäisches Deutschland in einem deutschen Europa.«1
Wie konnte das passieren? Was sind die Folgen? Welche Zukünfte drohen, welche locken? Das sind Fragen, die ich in diesem Essay diskutieren werde.
Die öffentliche Debatte wird gegenwärtig fast ausschließlich vom Blick der Ökonomie bestimmt, was leicht absurd erscheint, wenn man sich daran erinnert, wie die Ökonomen selbst von der Krise überrascht wurden. Das Problem dabei ist: Der ökonomische Blick übersieht, daß es sich nicht nur um eine Krise der Wirtschaft (und des wirtschaftlichen Denkens) handelt, sondern insbesondere um eine Krise der Gesellschaft und des Politischen – und des vorherrschenden Verständnisses von Gesellschaft und Politik. Nicht ich tanze also auf dem fremden Terrain der Ökonomie, sondern die Ökonomie hat die Gesellschaft vergessen, von der sie handelt.
Meine Absicht ist es, in diesem Essay eine neue Interpretation der Krise vorzuschlagen. Ich möchte versuchen, den Meldungen, die man jeden Tag in den Fernsehnachrichten sieht oder auf den Titelseiten der Zeitungen liest, auf den Grund zu gehen und sie auf ihre Zusammenhänge hin zu befragen. Die Lesart, die ich anbiete, gründet auf dem Bezugsrahmen meiner Theorie der Risikogesellschaft. Diese Perspektive auf eine außer Kontrolle geratene Moderne, die ich in den entsprechenden Büchern vorgestellt habe, soll im Folgenden mit Blick auf die Krise Europas und des Euro weiterentwickelt werden.
Um die Krise zu bewältigen, brauchen wir nach einer verbreiteten Auffassung mehr Europa. Dieses Mehr an Europa findet aber immer weniger Zustimmung in den Gesellschaften der Mitgliedsstaaten. Ist eine Vollendung der politischen Union unter diesen Voraussetzungen überhaupt denkbar? Eine gemeinsame Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik? Oder hat man im Zuge der politischen Einigung die entscheidende Frage, die nach einer europäischen Gesellschaft, zu lange ausgeblendet und damit die Rechnung ohne den Souverän gemacht, den Bürger?
Put society back in! Vergeßt nicht die Gesellschaft! In der Finanzkrise die Machtverschiebungen und die neue Machtlandschaft Europas sichtbar zu machen – das ist das Ziel dieses Essays.
Ulrich Beck
August 2012
»Heute entscheidet der Deutsche Bundestag über das Schicksal Griechenlands«, höre ich Ende Februar 2012 in den Radionachrichten. An diesem Tag wird über das zweite »Hilfspaket« abgestimmt, das an Sparauflagen und die Bedingung gekoppelt ist, daß Griechenland Einschnitte in seine Haushaltsouveränität hinnimmt. Klar, so ist das, sagt die eine Stimme in mir. Die andere fragt fassungslos: Wie ist das möglich? Was heißt das eigentlich, wenn eine Demokratie über das Schicksal einer anderen Demokratie abstimmt? Gut, die Griechen brauchen deutsches Steuergeld, aber die Sparmaßnahmen kommen doch einer Aushöhlung der Selbstbestimmung des griechischen Volkes gleich.
Irritierend war damals allerdings nicht nur der Inhalt der Aussage, sondern auch die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Sachverhalt in Deutschland hingenommen wurde. Hören wir noch einmal hin: Das deutsche Parlament – nicht das griechische – entscheidet über das Schicksal Griechenlands. Ergibt ein solcher Satz überhaupt einen Sinn?
Machen wir ein kleines Gedankenexperiment. Nehmen wir an, die Deutschen würden darüber abstimmen, ob Griechenland jetzt (also im Sommer 2012) den Euro verlassen soll. Das absehbare Ergebnis wäre: »Akropolis Adieu!«2 Nehmen wir ferner an, über dieselbe Frage würden in einem Volksentscheid auch die Griechen abstimmen. Das wahrscheinliche Ergebnis wäre eine deutliche Mehrheit (laut Umfragen vom Mai 2012 von etwa 85 Prozent) für den Verbleib im Euro.3
Wie wäre das Gegeneinander der Entscheidungen nationaler Demokratien aufzulösen? Welche Demokratie setzt sich durch? Mit welchem Recht? Mit welcher demokratischen Legitimation? Oder spielen hier die Erzwingungsmittel der Ökonomie die Schlüsselrolle? Wäre letztlich die Vorenthaltung von Krediten der entscheidende Machthebel? Oder verliert Griechenland, das Ursprungsland der Demokratie, mit dem Gewicht seiner Schulden möglicherweise sein Recht auf demokratische Selbstbestimmung?
In was für einem Land, in was für einer Welt, in was für einer Krise leben wir eigentlich, wenn eine solche Entmündigung einer Demokratie durch eine andere kein Aufsehen erregt? Dabei untertreibt die Formel »Heute entscheidet der Deutsche Bundestag über das Schicksal Griechenlands«. Es geht längst nicht mehr nur um Griechenland. Es geht um Europa. »Heute entscheidet Deutschland über das Sein oder Nichtsein Europas« – dieser Satz bringt die geistige und politische Situation der Zeit auf den Punkt.
Die Europäische Union hat 27 Mitgliedsländer, Regierungen, Parlamente; sie hat ein Parlament, eine Kommission, einen Gerichtshof, eine Außenbeauftragte, einen Kommissionspräsidenten, einen Ratspräsidenten und so weiter und so fort. Aber die Finanz- und Euro-Krise hat das wirtschaftsmächtige Deutschland in die Position der entscheidenden Großmacht in Europa katapultiert. In knapp siebzig Jahren ist das nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust moralisch und materiell in Trümmern liegende Deutschland vom gelehrigen Schüler zum Lehrmeister Europas aufgestiegen. Im Selbstverständnis der Deutschen gilt »Macht« allerdings nach wie vor als schmutziges Wort, das gern durch »Verantwortung« ersetzt wird. Nationale Interessen bleiben diskret verborgen hinter großen Worten wie »Europa«, »Frieden«, »Zusammenarbeit« oder »ökonomische Stabilität«. Wer die Machtformel »deutsches Europa« in den Mund nimmt, bricht dieses Tabu. Noch schlimmer wäre es zu sagen: Deutschland übernimmt die »Führung« Europas.4 Sagen könnte man hingegen: Deutschland übernimmt »Verantwortung« für Europa.
Doch die Krise Europas spitzt sich zu, und Deutschland sieht sich vor die historische Entscheidung gestellt: entweder die Vision des politischen Europa gegen alle Widerstände neu zu beleben; oder aber die Politik des Durchwurstelns und die Zähmungstaktik des Zögerns beizubehalten – und zwar »bis daß der Euro uns scheidet«. Deutschland ist zu mächtig geworden, um sich den Luxus leisten zu können, keine Entscheidung zu treffen.
Daß dieser »Augenblick der Entscheidung« gekommen ist, wird in der deutschen Öffentlichkeit selten zur Sprache gebracht, sehr wohl allerdings in den Kommentaren ausländischer Beobachter. So argumentiert zum Beispiel der italienische Journalist und Schriftsteller Eugenio Scalfari: »Wenn Deutschland eine Finanzpolitik betreibt, die den Euro scheitern läßt, dann wären die Deutschen für das Scheitern Europas verantwortlich. Das wäre die vierte Schuld nach den Weltkriegen und dem Holocaust. Deutschland muss jetzt seine Verantwortung für Europa übernehmen.«5
Niemand sollte daran zweifeln: In einem »deutschen Europa« würde Deutschland für ein Scheitern des Euro und der EU verantwortlich gemacht werden.
Im Gegensatz zu historischen Reichen und Imperien, die ihren Ursprung in Mythen oder heldenhaften Siegen hatten, wurde die Europäische Union aus der Agonie des Krieges und als Antwort auf den Horror des Holocaust geboren. Heute ist es nun die existentielle Bedrohung durch die Finanz- und Euro-Krise, die den Europäern bewußtmacht, daß sie nicht in Deutschland, Frankreich, Italien usw., sondern in Europa leben. Und in dem Maße, wie Staatsbankrott, Wirtschaftskrise und der Niedergang der Arbeitsmärkte auf infolge der Bildungsexpansion gestiegene Erwartungen treffen, erfährt auch die »Generation Krise« ihr europäisches Schicksal.
Fast jeder vierte Europäer unter 25 Jahren findet keine Arbeit, zudem schlagen sich viele mit befristeten Billigverträgen durch. In Irland und Italien ist offiziell etwa ein Drittel der unter 25-Jährigen ohne Job, in Griechenland und Spanien lag die Jugendarbeitslosenquote im Juni 2012 bei jeweils 53 Prozent. In Großbritannien ist die Quote seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 von 15 auf 22 Prozent gestiegen. In Tottenham, wo die Krawalle im Jahre 2011 ihren Ausgang nahmen, kommen auf einen Arbeitsplatz 57 Stellensuchende.6
Überall wo das akademische Prekariat seine Zeltlager errichtet und seine Stimme erhebt, geht es um die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit – und die wird in Spanien, Portugal, aber auch in Tunesien, Ägypten und Israel gewaltlos und doch machtvoll vorgebracht. Die Facebook-Generation trägt diesen Protest, unterstützt von der Mehrheit der Menschen in den entsprechenden Ländern. Europa und seine Jugend eint die Wut über eine Politik, die mit unvorstellbaren Geldsummen Banken rettet, dabei aber die Zukunft der jungen Generation verspielt.
Die Krise und die Programme zur Rettung des Euro lassen die Konturen eines anderen Europa hervortreten, eines gespaltenen, von neuen Gräben und Grenzen durchzogenen Kontinents. Einer dieser Gräben verläuft zwischen Nord- und Südländern, zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten. Eine andere Grenze trennt die Euro-Staaten, die zum Handeln gezwungen sind, von den EU-Mitgliedern, die dem Euro nicht beigetreten sind und die nun zusehen müssen, wie ohne sie Schlüsselentscheidungen über die Zukunft der Union getroffen werden. Eine dritte fundamentale Kluft ist bei den Wahlen in den Schuldnerländern hervorgetreten, und sie wird nachhaltige politische Folgen haben: Die Regierenden stimmen den Sparpaketen zu, die Bevölkerungen stimmen dagegen. Sichtbar wird dabei die strukturelle Spannung zwischen einem europäischen Projekt, das von oben, von den politisch-ökonomischen Eliten vorgegeben und verwaltet wird, und dem Widerstand von unten. Die Bürger wehren sich gegen die als hochgradig ungerecht empfundene Zumutung, eine Medizin mit möglicherweise tödlichen Folgen einzunehmen. Nicht nur in Athen, sondern überall in Europa formiert sich der Widerstand gegen eine Krisenbewältigungspolitik, die – gemäß dem Motto: Staatssozialismus für die Reichen und die Banken, Neoliberalismus für die Mitte und die Armen – eine Umverteilung von unten nach oben in die Wege leitet. Was tun nun die Retter, wenn die zu Rettenden nicht gerettet werden wollen? Jedenfalls nicht auf die auch von ihren eigenen Regierungen für »alternativlos« erklärte Weise?
Ein weiteres Paradox: Wir erleben leidenschaftliche Debatten und Machtkämpfe – und am Ende gibt es nur Verlierer. In Deutschland sind die Menschen wütend, weil »Deutsches Steuergeld für die Pleite-Griechen« verschwendet wird, wie die Bild-Zeitung aufwieglerisch titelte (in dieses Horn stieß auch der Stern mit dem mittlerweile berühmt-berüchtigten Cover mit der Aphrodite von Milos, die der Welt den Stinkefinger zeigt). In den Krisenstaaten wiederum sehen sich viele als Verlierer, weil die deutsch-europäische Sparpolitik ihnen die Existenzgrundlage raubt – und zugleich auch ihre Würde. So werden die Menschen in den einzelnen Mitgliedsstaaten auf populistische Weise gegeneinander ausgespielt, und sie erkennen nicht, daß sie alle gemeinsam die Opfer der Finanzkrise und der untauglichen Versuche sind, sie zu bewältigen.
Künftig wird es in Europa also viele Europas geben. Eines davon ist das Europa von unten7