Maarten 't Hart
Gott fährt Fahrrad
oder
Die wunderliche Welt
meines Vaters
Aus dem Niederländischen von
Marianne Holberg
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Die Übersetzung erschien mit freundlicher Unterstützung des Nederlands Literair Produktie- en Vertalingenfonds.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage März 2012
ISBN 978-3-492-95404-4
© 1979 Maarten t'Hart
Titel der niederländischen Originalausgabe:
»De aansprekers«, Uitgeverij De Arbeiderspers, Amsterdam 1979
© der deutschsprachigen Ausgabe:
2003 Piper Verlag GmbH, München
Erstausgabe: Arche Verlag AG, Zürich-Hamburg 2000
Umschlag: semper smile, München
Umschlagmotiv: The Gallery Collection/Corbis
Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Du wanderst lange durch die Stadt allein,
Blickst auf zu stillen Dächern in den Straßen,
Am Himmel kannst du gleich die Sterne fassen.
Da ist’s für einen Augenblick: Das Sein,
Als käme niemals jener eine Tag,
An dem du stiller sein wirst als im Schlaf.
Doch Vögel rauschen auf die Dächer nieder,
Und um die Ecke kommt ein alter Mann.
Auf dem Hafenkai
Während der Feiertage im Dezember begann ich, von Schiffen zu träumen, die sich lautlos vom Kai entfernten, bevor ich hätte an Bord gehen können. Wenn ich aufwachte, wußte ich, daß mit mir irgend etwas nicht stimmte, aber was es war, konnte ich nicht sagen. Jeden Abend, kurz nach acht, wurde ich unruhig, und die Schiffe trieben mich auf die Straße, wo ich dann mindestens eine Stunde lang herumlief. Dieses Herumlaufen brachte weder Klarheit darüber, was mich beschäftigen mochte, noch die geringste Vorstellung dessen, was mir fehlte. Ich hatte das absurde Gefühl, daß ich es nur herausbekommen könnte, wenn ich, mit dem Geruch von Mehl und Teeröl in der Nase, wieder einen Hafenkai entlanggehen würde.
Einen Tag nach dem Jahreswechsel besuchte ich meine Mutter, um ihr ein gutes neues Jahr zu wünschen. Ich kam am späten Nachmittag bei ihr an, aß mit ihr und wunderte mich über das nagende Glücksgefühl. Alles schien unverändert, das machte mich glücklich, die Uhr tickte mit derselben Nachdrücklichkeit wie früher, und jeden Augenblick konnte die Tür aufgehen, um meinen Vater hereinzulassen. Beim Eintreten würde er sagen: »Alldieweil wir in diesem Zustand leben …«
Er hatte diesen Satz nie zu Ende gesprochen, und ich hatte auch nie nach dem Schluß gefragt, nicht weil ich nicht neugierig darauf gewesen wäre, sondern weil ich meinte, daß ich ihn im voraus sagen konnte: Alldieweil wir in diesem Zustand leben, müssen wir uns in das Unvermeidliche fügen. Das Wort »leben« hatte er gebraucht. Daß er tot war, daran konnte ich mich einfach nicht gewöhnen.
»Ich will noch mal eben nach draußen«, sagte ich nach dem Essen.
»Bei diesem Wetter?« fragte meine Mutter.
»Es ist trocken«, sagte ich.
»Ja, aber es ist furchtbar kalt.«
Doch sie hielt mir schon die Tür auf, sie winkte mir sogar nach, obwohl ich am selben Abend zurückkehren würde, und ich war mutterseelenallein auf der Straße, an einem Sonntagabend. Der Tag nach Neujahr wurde von vielen Leuten anscheinend noch als Feiertag angesehen, denn in den Häusern sah ich Menschen um festlich gedeckte Tische sitzen, auf denen sich das Kerzenlicht im Silberbesteck spiegelte. Schon nachdem ich an drei solchen Häusern vorbeigekommen war, spürte ich, wie meine Stimmung sich besserte. Wenn ich an 365 Häusern vorbeiginge, in denen so gefeiert wurde, bestand die Aussicht, daß ich ein ganzes Jahr lang verschont bleiben würde von Träumen, in denen Schiffe ohne mich wegfuhren, vor allem wenn ich über diesen Häusern den Turm der Grote Kerk sehen konnte. Die Turmuhr schlug ruhig und gleichmäßig, während ich auf dem Deich entlangging, und es kam mir vor, als könnte ich jeden einzelnen Schlag riechen. Das lag vielleicht nur daran, daß ich bei jedem Schlag tief einatmete. Schon hier hing der Geruch von Mehl und Teeröl in der Luft, gleich, auf dem Hafenkai, würde ich ihn geradezu fühlen können.
Eines der Häuser auf dem Deich war mit Lämpchen rund um den Fensterrahmen geschmückt; zwischen den Lichtern hindurch blickte ich in ein Zimmer, in dem nur ein junger Mann und ein junges Mädchen zu sehen waren, obwohl der Tisch für mehrere gedeckt war. Das Mädchen trug ein rotes Kleid, das ihr bis zu den Füßen reichte. Sie stand auf Armeslänge entfernt von dem Jungen, ihre Hände ruhten auf seinen Schultern, und abgesehen davon, daß sie ihn mit ihren Händen berührte, blickten sie sich nur an, beide so ineinander versunken, daß ich fast melancholisch davon wurde. Es sah aus, als sei sie in dem roten Kleid größer als er, und doch war es umgekehrt.
»Als ob sie aus dem Himmel herabgekommen wäre«, murmelte ich beim Weitergehen, und Schauer liefen mir über den Rücken, weil ich noch immer diese zarten, warmen Blicke vor mir sah.
»So sollten sie nun für immer stehenbleiben«, sagte ich leise, »vielleicht gelingt es ihnen dann, immer glücklich zu sein.« Sagte ich das, weil ich am Haus von Thijs Loosjes vorbeiging? Daran dachte ich aber gar nicht; mir wurde erst bewußt, daß ich gerade an seinem Haus vorbeiging, als er in der offenen Tür erschien und mich sofort erkannte.
»Gratuliere mir«, sagte er. »Heute ist es fünfzig Jahre her, daß ich ihr den Ring an den Finger gesteckt habe. Ich bin auf dem Weg zu ihr. Das wird gefeiert heute abend, du verstehst, so zu zweit.«
Ich schüttelte ihm die Hand und fragte: »Warum zu zweit? Kommt niemand aus der Familie?«
»Alle tot, wir sind noch die einzigen, weil …«
»Ja, ja«, unterbrach ich ihn, »ich verstehe«, denn ich wollte nicht hören, was er sagen wollte, und lief weiter, während er seine Haustür abschloß.
Ich beschleunigte meinen Schritt. Was schon den ganzen Tag über gedroht hatte, passierte merkwürdigerweise, als ich den Hafen erreichte. Es begann, leicht zu regnen. Aber ich lief ruhig weiter, ohne mir irgendeiner Gefahr bewußt zu sein. Ich ging zur Mitte des Hafenkais, der abschüssig angelegt war, damit das Wasser, das bei Flut manchmal hinaufkroch, von selbst zurückfloß, wenn der Mond anderswo Flut verursachte.
Hier war jetzt Flut, das sah ich, aber das Wasser würde heute nicht weiter steigen. Zwischen dem Rand des Kais und der Wasseroberfläche waren bestimmt noch anderthalb Meter. Ich ging unbekümmert weiter, obwohl ich merkte, daß das Gehen schwieriger wurde, weil der Regen auf den Steinen gefror. Ich mußte allmählich immer langsamer gehen, um nicht auszurutschen. Das störte mich nicht, denn weit und breit war kein Mensch zu sehen. Der Hafenkai gehörte mir allein, und das würde bei Glatteis auch so bleiben. Kein Mensch würde sich jetzt noch hinauswagen. Dieser Gedanke machte mich auf einmal so glücklich, daß ich einen Hüpfschritt probierte, dort, mitten auf dem Kai. In diesem einen so kurzen Augenblick, in dem ich keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, wußte ich schon, daß ich einen Fehler gemacht hatte, und bereitete mich auf einen gefährlichen Sturz vor. Alle meine Muskeln spannten sich; ich hob meine Arme, aber ich stürzte nicht, als ich den Boden wieder berührte, ich schwankte nur merkwürdig mit dem ganzen Körper, so daß jedes Bewußtsein dafür, wohin Glieder und Kopf normalerweise gehören, für ein paar Sekunden verlorenging. Als ich wieder einigermaßen wußte, wo mein Kopf war, merkte ich, daß ich noch immer aufrecht stand, jedoch auf dem Kai in Richtung Wasser glitt. Das war ein ganz angenehmes Gefühl, vor allem weil es so langsam ging. Es mußte jetzt spiegelglatt sein. Ich hob einen Fuß, um einen Schritt zu tun, aber dadurch machte mein Körper eine erneute Bewegung, die schon fast ein Fallen war. »Du lieber Himmel«, murmelte ich. Ich glitt weiter auf das Wasser zu und mußte nun wohl wirklich etwas unternehmen, sonst würde ich wahrhaftig in dem kalten, stinkenden Maaswasser verschwinden. Ich wagte noch einmal den Ansatz zu einem Schritt, hob dabei meinen rechten Fuß sowenig wie möglich, stellte aber sofort fest, daß dies schlichtweg unmöglich war. Ich versuchte, mich zu retten, indem ich mich weiterschob, und das gelang auch, ich kam vorwärts, glitt aber gleichzeitig schneller auf den Rand des Kais zu.
In diesem Augenblick kam zum erstenmal so etwas wie Panik in mir auf; mir wurde klar, daß ich ganz einfach dazu verurteilt war, ins Wasser zu gleiten, und daß ich nichts mehr dagegen tun konnte. Ich wies diesen Gedanken sofort von mir; das wäre doch zu verrückt, ich war mitten auf dem Hafenkai und glitt zwar langsam abwärts, aber ich mußte doch wohl noch in der Lage sein, mich aus dem Bann der spiegelglatten Oberfläche der Straße zu lösen.
Während ich noch darüber nachdachte, hörte ich plötzlich das Geräusch eines fallenden Körpers. Ich sah auf der anderen Seite des Wassers eine dunkle Gestalt auf der Straße liegen. Er – oder war es eine Sie, ich konnte es nicht erkennen – versuchte aufzustehen und fiel wieder hin. Die Bewegungen hatten etwas Possierliches, etwas, das zum Lachen einlud, aber ich konnte dieses Lachen nicht zustande bringen, ich war eigentlich nur neidisch, weil die Gestalt dort lag, dort, wo der Hafenkai nicht so abfiel wie hier. Dennoch brachte sie mich auf eine Idee. Wenn ich mich jetzt auch einfach fallen ließe oder mich, besser gesagt, auf die Steine setzte, würde ich dadurch womöglich vermeiden, weiter abzurutschen? Vielleicht könnte ich sogar auf Händen und Füßen zum Bürgersteig vor den Häusern kriechen, wo ich weitgehend in Sicherheit wäre. Ich könnte mich dort jederzeit an einem Fenstersims festhalten, ich würde vielleicht sogar gehen können. Aber schnell wurde deutlich, daß ich mich nicht einmal auf das Pflaster setzen konnte, und außerdem stellte ich fest, daß jede Bewegung, die ich machte, lediglich bewirkte, daß ich schneller auf das Wasser zuglitt.
Dennoch war ich noch nicht wirklich beunruhigt, schon deshalb, weil das Gleiten, wenn ich mich nicht bewegte, so langsam geschah, daß es kaum zu spüren war. Ich hatte den Eindruck, daß ich länger als eine Minute für einen Pflasterstein brauchte, und es waren noch so viele Pflastersteine zwischen mir und dem Rand des Kais, daß ich noch Meere von Zeit zu haben schien. Genug Zeit jedenfalls, um in Ruhe darüber nachzudenken, wie ich mich aus diesem doch recht unangenehmen Zustand befreien konnte.
»Ach, natürlich nicht allzu unangenehm«, sagte ich halblaut, aber ich schluckte die letzten Worte hastig herunter, denn sogar das Sprechen erhöhte die Geschwindigkeit des Gleitens. Bevor ich endgültig im Wasser verschwand, würde doch bestimmt jemand kommen, um mir zu helfen, oder jemand würde aus einem der erleuchteten Fenster wenigstens einen Blick nach draußen werfen. Genug Häuser hier und viele, viele Fenster. Hinter diesen Fenstern wurde gefeiert, und ich konnte mich plötzlich nicht mehr darüber freuen, daß ich nicht dabei war. Es kam mir vor, als sei alles besser als dieses unvermeidliche Gleiten, sogar ein Essen mit vielen Menschen und Gelächter und Geplauder, sogar mit Ansprachen. Aber worüber regte ich mich auf? Bevor ich im Wasser landete, würde bestimmt eine Unebenheit im Pflaster oder ein rauher Stein kommen, der das Gleiten bremste. Und fiele ich auch ins Wasser: Na, wenn schon. Ich konnte doch schwimmen.
Ich blickte aufs Wasser; Ölflecken zwinkerten mir zu. Das wirkte keineswegs beruhigend auf mich. Es mochte zwar Flut sein, dennoch würde ich nicht so einfach aus dem Wasser wieder auf den Kai gelangen können, da der Abstand zwischen Wasseroberfläche und Kai zu groß war. Und wenn es doch glücken sollte, würde ich wieder mit dem spiegelglatten Kai konfrontiert werden. Natürlich könnte ich zur gegenüberliegenden Seite schwimmen, aber dort war der Kai mindestens einen Meter höher, dort würde ich schon gar nicht hochklettern können.
Aufs neue überfiel mich Panik, und ich zitterte plötzlich. Nur daß das Gleiten so ungeheuer langsam vor sich ging, hielt mich noch auf den Beinen, und die Panik wich einer merkwürdigen, fast glückseligen Klarheit in meinem Kopf, die jeden Augenblick – das war mir sehr wohl bewußt – in tiefste Verzweiflung umschlagen konnte. Aber nein, das war doch zu verrückt, das konnte doch nicht sein, außerdem hatte ich noch nie so etwas gehört: Mann gleitet von Kai und ertrinkt in eiskaltem Wasser. Wenn ich in einem Auto säße, wäre es etwas anderes, aber das hier gab es wirklich nicht, das wäre ungerecht. Ich war nur ein Spaziergänger, der sich kurz die Füße hatte vertreten wollen, ein Grübler, der mit einem kleinen Spaziergang seinem Sinnieren ein Ende hatte machen wollen.
Ich war jetzt drei Steine weiter auf das Wasser zugerutscht, und mir schien, daß die Turmuhr auf der anderen Seite schneller lief, als ich glitt. Auch die dunkle Gestalt bemühte sich noch immer aufzustehen, und ein ganzes Stück weiter, auf der Höhe der Brücke über den Hafen, war eine andere Gestalt auf dem Pflaster zu sehen. Kroch sie? Oder lag sie nur da? Sie war weit weg, und es war dunkel, so daß ich es nicht erkennen konnte. Zudem wurde meine Aufmerksamkeit von dem hellen Licht angezogen, das plötzlich aus einem gar nicht so weit von mir entfernten Fenster kam. Ich meinte eine Gestalt am Fenster zu sehen, die aufmerksam in meine Richtung blickte. Jetzt würde sicher bald Hilfe kommen. Und wenn ich um Hilfe rufen würde? Ich öffnete schon den Mund und atmete tief ein, merkte aber plötzlich, daß ich dadurch noch schneller glitt, und schloß meinen Mund daraufhin so vorsichtig wie möglich. Außerdem wollte ich auch gar nicht um Hilfe rufen, sonst würde es noch so aussehen, als sei etwas nicht in Ordnung. Ich glitt nur so dahin, und zwar so langsam, daß es Stunden oder, na ja, Minuten dauern würde, bis ich im Wasser verschwände.
Daß jetzt aber auch niemand, niemand auftauchte, um mir zu helfen. Ich habe den ganzen Hafenkai für mich allein, dachte ich bitter. Es wurde Zeit, daß etwas geschah, die Kälte machte mir zu schaffen. Vor allem war mein bloßer Kopf durch den Regen, der auf meinem üppigen Haar zu Eis geworden war, so kalt geworden, daß es schmerzte. Außerdem schlugen mir seit einiger Zeit die Zähne aufeinander.
Wieder wurde die Klarheit in meinem Kopf von einem Gefühl der Verzweiflung getrübt. Und wieder vermochte ich, die Panik durch eine Sturzflut von Gedanken zu beschwören, worin Erinnerungen einen immer größeren Teil einnahmen. Es fehlte nur noch, daß ich mein Leben wie einen Film an mir vorüberziehen sah. So weit würde es natürlich nicht kommen.
Ich blickte wieder über den Kai, ich blickte wieder auf die Ölflecken, die mir zulachten und so seltsam schön in dem spärlichen Schein der Straßenlaternen aufleuchteten, ich blickte wieder zu den Gestalten auf der anderen Seite, die sich jetzt tatsächlich beide bewegten und unendlich langsam aufeinander zugingen, so langsam, daß man sie für eine der Duckdalben halten konnte, die hier und auf der anderen Seite in regelmäßigen Abständen entlang der Kaimauer aus dem Wasser ragten.
Duckdalben! Das war es. Warum hatte ich daran nicht eher gedacht? Ich konnte mich doch ganz vorsichtig vorwärtsschieben. Ich tat das sofort, noch bevor meine Gedanken an einem Punkt angekommen waren, der Problemlösung genannt werden konnte. Ich ließ mich sogar absichtlich schneller hinabgleiten, um so schnell wie möglich zu der Duckdalbe zu gelangen, die am nächsten stand. Ich schob mich vorwärts, so schnell, daß ich die Zeiger der Turmuhr einholte und sie plötzlich aus meinem Gesichtsfeld verschwanden, weil meine Beine fort waren und meine Hände das Pflaster berührten und entsetzlich weh taten. Ich fiel und glitt gleichzeitig ziemlich schnell auf das Wasser zu, schaffte es aber, meine Bewegung noch etwas abzubremsen und sogar ein wenig zu korrigieren, so daß ich schließlich genau bei der Duckdalbe landete. Meine Füße kamen, gegen den Pfahl gedrückt, zum Stillstand, mein Hinterteil nahm die gemauerte Kante des Kais in Besitz, nur meine Hände waren noch hinter mir. Ich wagte nicht, sie nach vorn zu holen, denn ich nahm an, daß sie bluteten. Allerdings hob ich sie etwas hoch, und so saß ich da, heftig zitternd und noch immer mit den Zähnen klappernd.
Ja, ich war unbestritten etwas besser dran, aber es schien, als könne ich nichts tun außer weinen. Doch das ließ sich gerade noch vermeiden, ich fühlte nur ein schmerzhaftes Prickeln in den Augenwinkeln, ich schluckte kurz und riß mich zusammen. Ich richtete mich auf. Ich drückte meine Fußsohlen fest gegen die Duckdalbe, und ich hatte das Gefühl, daß ich meine Füße nie mehr von diesem Platz würde fortnehmen können.
Was konnte ich jetzt noch tun? Ich wußte es nicht. Aufstehen konnte ich nicht, das war sicher. Ich mußte wohl so sitzen bleiben, auch wenn ich einen Krampf in den Waden bekam und auch wenn mein Hinterteil auf dem Kai festfror. Aufgetautes Wasser drang in meine Hose und stieg hoch, als es sich erwärmte. Meine Zähne klapperten so laut, daß ich erwartete, die beiden Leute auf der anderen Seite würden zu mir herübersehen. Die Turmuhr schlug einmal, halb acht, und in der gähnenden Lücke zwischen den Häusern gegenüber, einer Straße, näherte sich ein Auto, das fast lautlos und unbarmherzig langsam heranglitt. Die beiden Scheinwerfer waren genau auf mich gerichtet, aber ich konnte mich hinter der Duckdalbe verstecken, so daß der Lichtstrahl sich links und rechts von mir teilte. Auch auf der Brücke ging jemand, das sah ich, und er ging, als sei nichts los.
Fürchtete ich mich jetzt, oder würde ich meine Angst umgehen können, indem ich auf sie wartete? Auf jeden Fall war ich plötzlich wütend auf mich selbst. Was war das für eine lächerliche Mystik zu meinen, ich könnte hier auf diesem Hafenkai eine Lösung für meine Probleme finden? Dadurch wäre ich beinahe in dem eiskalten Wasser bis auf die Haut naß geworden. Würde ich denn niemals klüger werden? Ich hatte überhaupt keinen Grund gehabt, auf diesem spiegelglatten Kai spazierenzugehen, das stand fest, aber inzwischen saß ich zitternd auf der Kaikante und wußte nicht, was tun. Vielleicht war es sogar möglich, aufzustehen und wegzugehen, aber ich traute mich nicht mehr. Tatsächlich zeigte sich jetzt doch, daß das Gleiten, gegen das ich nichts hatte tun können, mich zu Tode erschreckt hatte. Ich war vollkommen machtlos gewesen, und wenn da keine Duckdalbe gestanden hätte, läge ich jetzt in diesem eiskalten Wasser zwischen den lächelnden Ölflecken. Auf einmal hatte ich das Gefühl, daß alles miteinander zusammenhing, die Schiffe, die Machtlosigkeit und die Duckdalbe; ja, ich würde jetzt bald aufwachen. Ich hatte eine Decke zuwenig, und deshalb zitterte ich so. Ach, solange ich zitterte, war ja noch alles in Ordnung. Wenn man zittert, produziert der Körper Wärme, um die Körpertemperatur konstant zu halten. Wenn das Zittern aufhört, spürt man plötzlich keine Kälte mehr, man döst ein, und die eigene Temperatur sinkt, bis man tot ist.
Wenn ich nun tatsächlich auf diese Weise umkäme? Ich mußte plötzlich an eine Krankenschwester denken, der ich vor kurzem begegnet war. Sie hatte mir erzählt, daß Menschen, die im Sterben liegen, oft desillusioniert sind und fragen: War das nun alles? War das nun das Leben? Da hatte ich gedacht, vage noch, daß man eigentlich nur Dinge tun müßte, von denen man in dem Augenblick, da man stirbt, würde sagen können: Das ist der Mühe wert gewesen. Aber so konnte man nicht leben, und doch zeigte sich nun, daß der Gedanke nicht falsch war. Nein, Todesangst war es sicher nicht gewesen, aber doch ein Schock, der dazu führte, daß ich wieder einmal aufzählte, welche Dinge mir in meinem Leben etwas wert gewesen waren. Verrückt, so vieles war geschehen, soviel wunderbare Musik hatte ich gehört, so viele Bücher hatte ich gelesen, aber das bedeutete alles nichts, verglichen mit dem, worauf es offenbar allein ankam und das sich zusammensetzte aus weißen Wolken, die hoch über mir an einem strahlendblauen Himmel dahinsegelten, und einer niedrigstehenden Sonne über dem Fluß und dem Sirren sich drehender Fahrradreifen und der Stimme meines Vaters hinter mir, während ich auf dem kleinen Brett saß, das er eigens für mich an der Stange seines Fahrrads befestigt hatte. Und was es nun zu etwas so Besonderem machte, mehr als alles andere, kann ich nicht sagen, vielleicht war es die Bewegung, vielleicht der Duft des Sommerabends, vielleicht das glückselige Gefühl völliger Sicherheit, weil mein Vater mich mit seinem riesigen Körper beschützte, vielleicht weil ich die Illusion hatte zu lenken, denn ich durfte den Fahrradlenker festhalten, auf jeden Fall aber seine Stimme, mit der er lauthals sang: »Ach Väterchen, ach Väterchen, kommst du wieder nach Haus.«
Angenommen, es gäbe doch einen Himmel. Gott, würde ich dann fragen, wenn ich dorthin käme, darf ich wieder und bis in alle Ewigkeit vorn bei meinem Vater auf dem Fahrrad sitzen und auf dem Deich fahren? Aber wenn mein Vater nun etwas ganz anderes im Himmel tun wollte? Ach nein, das ist nicht möglich, er müßte auch davon überzeugt sein, daß dies das Wichtigste in seinem und meinem Leben gewesen ist. Man konnte es nie wieder zurückholen oder vielleicht doch, aber dann in einer Art, bei der die Rollen vertauscht sind: nicht ich vorn, sondern mein Sohn vorn und ich dahinter. Es schien auf einmal, als könnte ich die wegfahrenden Schiffe in diesem Bild mit unterbringen, aber nein, das war nicht möglich, denn der Deich war nun von hohen Wohnhäusern gesäumt, so daß die niedrigstehende Sonne über dem Fluß von dort aus nicht mehr zu sehen war, und wenn es sich nicht genauso wiederholen ließe, hatte es keinen Sinn. Außerdem: Warum sich nach einem Sohn sehnen? Warum sollte ich jemanden diesem Leben aussetzen, dem man ohnmächtig ausgeliefert war, um das man nicht gebeten hatte, das einem vielmehr geschah? »Und eines Abends bist du da, denn eine Frau ließ dich entgleiten ihrem müden Schoß.«7 Aber gegen einige Dinge konnte man sich wehren, nein, nicht gegen das Ende, das war immer dasselbe: »Und eines Abends bist du nicht mehr da«, aber gegen alles, was dazwischen lag. Man mußte immer wieder versuchen, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen oder es in der Hand zu behalten, mußte immer wieder vermeiden, daß man geschoben, manipuliert, gelenkt wurde. Es reichte vielleicht schon, die Illusion zu haben, man könne selbst lenken.
Ich zitterte noch immer. Aber die Kälte machte mir nicht mehr viel aus. Zwar spürte ich, wie angespannt meine Muskeln noch immer waren, wie trocken meine Kehle war. Nachher im Bett würde ich bestimmt merken, wie furchtbar ich mich erschrocken hatte, aber darum brauchte ich mir jetzt keine Sorgen zu machen, ich sollte jetzt erst einmal versuchen, dieses Bett zu erreichen. Ich betastete den Boden. Noch immer spiegelglatt. Natürlich: Die ganze Zeit über war kein Mensch vorbeigekommen, ein sicherer Beweis, daß der Hafenkai völlig unbegehbar war, falls ich den Beweis überhaupt brauchte. Aber ich spürte, daß ich ihn brauchte, weil ich mich sonst für einen Schwächling gehalten hätte, einen Angsthasen, der nichts wagt und sich nichts zutraut. Das Auto auf der gegenüberliegenden Seite hatte ja auch angehalten, mitten auf dem Kai. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, und in dem Wagen saßen sicher Leute und warteten auf bessere Wetterverhältnisse. Plötzlich erinnerte ich mich, daß mein Vater einmal mit dem Streufahrzeug der Gemeinde, das bei Glätte eingesetzt wurde, von demselben Kai ins Wasser gerutscht war. Er hatte herunterspringen können, natürlich, ihm konnte nichts passieren, aber der Fahrer war ertrunken.
Ich beugte mich nach vorn. Ich blickte ins Wasser, als erwartete ich, daß ich das Streufahrzeug noch sehen könnte. Aber ich sah nichts anderes als die unvermeidlichen Ölflecken, die ich jetzt haßte, wie schön ich sie auch fand. Wie farbenfroh waren diese Flecken, wie glänzten sie in ihrer fließenden Bewegung! Sie lagen jetzt tiefer, denn das Wasser sank. Ja, es stand schon viel niedriger, und ich beugte mich weiter vor, um besser sehen zu können. Es konnte in einer halben Stunde noch nicht so tief gesunken sein, es mußte die ganze Zeit schon niedriger gestanden haben, ich sah es jetzt nur genauer, weil ich näher war. Da gab es etwas Wichtiges zu sehen, aber was? Nein, nicht diese Flecken, nicht diese Duckdalbe, die so dunkel aus dem Wasser aufragte, nicht die feucht glänzende Kaimauer, nicht das Schiff, das weiter hinten vertäut lag. Aber was war denn sonst da? Könnte ich nur näher herankommen! Aber das war unmöglich. Die Duckdalben waren durch Querbalken verbunden, die jetzt freilagen, weil das Wasser gesunken war. Ich könnte mich, genau wie früher als Kind, herunterlassen, bis ich auf dem Querbalken stünde. Und das tat ich jetzt auch, nicht weil ich das Spiel aus meiner Kinderzeit wiederholen wollte: über den Querbalken zu laufen, weil es so gruselig war, sondern weil ich wissen wollte, was da zu sehen war und was mein Gehirn sich weigerte zu registrieren.
Als ich auf dem Querbalken stand, stellte ich, für einen Augenblick unendlich glücklich, fest, daß ich wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, denn die rauhen Balken überfroren nicht so leicht, und außerdem lag eine dünne Salzschicht darauf, die aus dem Maaswasser stammen mußte. Darauf zu stehen war einfach herrlich. Daß Stehen, einfach zu stehen, so schön sein konnte – warum hatte ich das noch nie gemerkt? Aber ich wußte immer noch nicht, was da nun so bedeutsam sein sollte. Ich stand auf dem Balken, und ich konnte sogar einen Schritt tun, ich konnte zwei Schritte tun, unglaublich, was für eine Sensation, ich konnte mich wieder fortbewegen, und das tat ich auch. Ich ging wie früher über den Balken und hielt mich an der eiskalten Kante des Kais fest. Manchmal rutschten meine Hände ab, aber das machte nichts, weil ich mich an die Kaimauer anlehnen konnte. Ich ging bedächtig über den Balken, bis ich die nächste Duckdalbe erreicht hatte. Dort ruhte ich mich einen Augenblick aus. Ich schaute aufs Wasser, wobei ich meinen Kopf drehte, denn ich hatte ihn beim Gehen der Kaimauer zugewendet. Was konnte es nur sein, das ich gesehen und nicht zu erfassen vermocht hatte? Aber auch hier sah ich nichts anderes als diese verhaßten Ölflecken. Ich wußte nicht, was ich gerade eben gesehen hatte, ich sah es jetzt auch nicht mehr.
Ich ging Schritt für Schritt über den Querbalken bis zur nächsten Duckdalbe. Kurz bevor ich sie erreichte, wurden die Scheinwerfer des Autos auf der gegenüberliegenden Seite wieder eingeschaltet. Ich hatte das Gefühl, daß sie auf mich gerichtet waren, aber das war natürlich unmöglich, denn das Auto stand. Ein Mann stieg aus, er blickte zu mir herüber, das war unverkennbar. Er sagte nichts, er stand nur da, hinter seiner geöffneten Wagentür, als wollte er sich schützen. Ich ruhte mich wieder hinter der Duckdalbe aus, die mich gleichzeitig gegen das Scheinwerferlicht abschirmte. Dann ging ich wieder weiter, jetzt etwas weniger vorsichtig, denn ich wollte nicht im Scheinwerferlicht gehen, und bei der nächsten Duckdalbe würde ich auf jeden Fall aus dem Lichtkegel heraussein. Dort angelangt, ruhte ich mich nicht aus, ich ging so schnell wie möglich weiter, gejagt von dem unbeweglichen Lichtstrahl der beiden Scheinwerfer und der reglosen Gestalt. Ja, weiter ging es, bis ich die Stelle an der Brücke erreichte, wo der Kai nicht mehr zum Wasser hin abfällt. Dort stemmte ich mich hoch, im Rücken eine Duckdalbe, für den Fall, daß ich zurückrutschen würde.
Es war immer noch glatt, stellte ich fest, sehr, sehr glatt. Aber hier machte es nichts aus, hier konnte ich mich ruhig hinsetzen und mich gleiten lassen, denn ich würde nur von der Kaikante wegrutschen. Bevor ich mich jedoch abstieß, blickte ich zurück aufs Wasser und wußte plötzlich, was ich da vorher gesehen hatte: diesen Querbalken. Mir wurde klar, daß ich mich, ohne zu wissen, was ich tat und warum ich es tat, auf diesen Querbalken gestellt hatte und über den Querbalken bis zu dieser Stelle gelaufen war, ohne Absicht, ohne Vorsatz. Ich war darüber so verblüfft, daß ich vergaß, mich abzustoßen, und langsamer, als ich wollte, glitt ich auf die Häuser zu. Wie sehr ich auch mit aller Kraft versuchte, mich dagegen zu wehren, die Angst von vorher kam doch wieder hoch, weil ich so machtlos war, so ausgeliefert diesem spiegelglatten Pflaster, das mir zwar als Rutschbahn in die richtige Richtung diente, mir aber nicht die Freiheit ließ, meine Fahrt zu verlangsamen oder zu beschleunigen, auch wenn ich mich mit den Händen von den Steinen abstieß. Denn meine Hände rutschten auch ab. Aber ach, das machte nichts. Ich erreichte die Häuser und war, indem ich mich an einer der Fassaden festhielt, wirklich imstande, mich aufzurichten. Ich stand einen Augenblick still, dicht an das Haus gepreßt. Ich hätte es umarmen mögen, wenn das möglich gewesen wäre.
Dann schob ich mich langsam bis zur Ecke, während wieder diese ruhigen Glockenschläge erklangen. Als ich gerade um die Ecke herum war, blickte ich auf. Die Straßenlaternen brannten, aber es war, als verbreiteten sie kein Licht. Und dennoch konnte ich etwas sehen, das mir fast den Atem nahm. So weit das Auge reichte, sah ich Bewegungslosigkeit: Menschen, die mitten auf der Straße standen oder auf den Bürgersteigen und sich nicht bewegten. Autos, die ebenfalls auf der Straße standen, mit aufgeblendeten Scheinwerfern, aber ohne Lebenszeichen. Es war, als sei alles vollkommen erstarrt oder als sei die Zeit in einem winzigen Augenblick angehalten worden. Doch nein, etwas wie Bewegung gab es, oben an den Kuppeln der Straßenlaternen. Lautlos liefen Regentropfen an den Lampen herunter, die beim Herabfallen kurz aufglänzten und wieder in der Nacht verschwanden, eine unhörbare Flut von Tropfen, die mir die Kraft gaben, mich weiterzuschieben, mich zu wehren gegen diesen völligen Stillstand, diese erschreckende Bewegungslosigkeit. Ich schob mich vorwärts, als einziger, der sich zu bewegen wagte, ohne Angst, dabei zu fallen.
Besuchszeit
Ich war nicht einen Augenblick auf den Gedanken gekommen, daß ich die Gardinen nicht richtig zugezogen hätte. Ich lag zufrieden und schläfrig da und schaute zu, wie sich die kaum wahrnehmbaren Sonnenflecken an der Zimmerdecke bewegten. Wenn ich die Augen fast ganz schloß, verwandelten sich die Flecken in schillernde Wassertropfen, als berührte die erste Morgensonne betaute Spinnweben. Und wenn ich meine Augen ganz schloß, war es, als hörte ich Wasser plätschern. Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich nicht die Sonnenflecken an der Decke, sondern einen senkrechten Lichtstreifen an der Wand, der sich bewegte. War die Gardine nicht ganz zugezogen? Oder hatte sie an einer Stelle einen Riß, so daß die Sonne durch den Spalt auf die Wand scheinen konnte? Ich würde vielleicht dahinterkommen, wenn ich die Gardine bewegte, aber dazu müßte ich über den Maulwurfshügel aus Decken hinweglangen, und dann würde sie vielleicht aufwachen. Es war besser, das friedliche blonde Lockenhaar – das einzige, was aus den Decken heraussah – in Ruhe zu lassen. Wie immer wunderte ich mich, daß sie unter den Decken nicht erstickte, daß sie nur so und nicht anders schlafen konnte. Auch wunderte ich mich, daß sie so schnell eingeschlafen war. So war es immer: Ich war hellwach und sie besonders schläfrig – gegen jede Regel. Und ebenfalls gegen die Regel war es, daß ich immer glücklich war. Nichts von der Traurigkeit, von der Aristoteles spricht und die für alle Tiere, außer für den Hahn, gelten soll. O nein, seit mindestens zwanzig Minuten war es, als seien Vergangenheit und Zukunft aufgehoben, als könnte ich auf einmal mit gereinigten Sinneswerkzeugen einer großen Misteldrossel lauschen – sie rief weit weg im Wald, viermal, immer wieder dasselbe – und die Sonnenflecken an der Decke betrachten, die sich sacht bewegten, weil die Gardine von einem Luftzug berührt wurde. Das Gewimmel dieser hellen Flecken – das ist das »sinnend zarte Spiel«1 aus dem Gedicht von Obe Postma, dachte ich.
Dann hörte ich, wahrscheinlich weil ich für einen Augenblick vergaß, der einsamen großen Sängerin und einem noch viel weiter entfernt klagenden Kleiber zu lauschen, das Geräusch von Schritten, und mir wurde bewußt, daß ich dieses Geräusch schon die ganze Zeit über gehört hatte. Leise, schlurfende Schritte, die man nicht hören sollte. Sie wurden durch das zarte junge Gras und durch die Tannennadeln gedämpft, sie schlichen um unser Haus, waren hinter der Diele auf dem Hof zu hören, und ich merkte, wie mein Herz, gerade zur Ruhe gekommen, wieder zu hämmern begann und wie ich tief einatmete. Wer mochte jetzt, zur Mittagszeit, ums Haus streifen? Warum sollte ich Angst haben? Nein, das Haus war nicht abgeschlossen, aber es war doch undenkbar, daß jemand hier am hellichten Tag mitten in den Wäldern der Maatschappij van liefdadigheid, sieben Kilometer von Vledder entfernt, das Bedürfnis hatte, einen Bauernhof, der als Zweitwohnung eingerichtet war, zu überfallen! Ich langte über den Maulwurfshügel, zog die Gardine ein wenig beiseite, setzte mich auf und schaute nach draußen. In dem sonnigen Gemüsegarten sah ich die aufmerksamen Augen eines Polizisten, die vielleicht schon lange durch die nicht richtig zugezogenen Gardinen gespäht hatten. Der Polizist hielt seine Mütze in der Hand, und er stand da, als ob er nicht nur schaute, sondern auch lauschte. Er sah mich, er mußte mich schon die ganze Zeit gesehen haben, und ich wurde rot. Ich ließ die Gardine zurückfallen, und im selben Augenblick kam Bewegung in den Maulwurfshügel. Ich sagte erschreckt und erstaunt: »Polizisten.«
»Geh doch eben und frag, was sie wollen«, sagte sie nüchtern, und ich war schon aus dem Bett, zog hastig meine Hose an und rannte barfuß zur Tür.
Als ich sie öffnete, stand dort ein anderer Polizist, der mich freundlich anlachte und sagte: »Guten Tag, Meneer, ich störe Sie wohl in Ihrem Mittagsschlaf?«
»Ich war gerade aufgewacht.«
»Na gut! Dürfen wir Sie etwas fragen?«
Der andere Polizist kam hinzu, kratzte sich hinterm Ohr und setzte seine Mütze auf, und diese beiden Gesten beruhigten mich plötzlich. Die Verlegenheit der beiden war mindestens so groß wie meine.
»Ja, wissen Sie …«, sagte der erste Polizist und sah hilflos seinen Kollegen an.
»Meneer«, sagte der andere, »wir brauchen gar nicht mehr zu fragen, denn wenn es so wäre, hätten wir es längst gemerkt, es ist eine reine Formsache, der Ordnung halber müssen wir der Sache leider nachgehen.«
»Aber wir wissen die Antwort schon«, sagte der andere, »es sei denn, Sie hätten noch jemanden hier im Haus, der Ihnen Scherereien macht.«
»Noch jemanden hier? Nein.«
Mein Gesicht glühte, und ich war mir nur allzu bewußt, daß die Polizisten die ganze Zeit meine hochroten Wangen ansahen.
»Sie sind hier zu zweit?«
»Ja«, sagte ich.
»Schon lange?«
»Seit Sonntag.«
»Also sonst niemand im Haus? Oh, guten Tag, Mevrouw, ich hoffe, wir stören nicht zu sehr, aber dürften wir uns mal kurz umsehen?«
»Warum?« fragte Hanneke.
»Mevrouw, es ist eine reine Formsache, wir wissen es eigentlich schon, aber es wäre angenehm, wenn wir in unserem Bericht angeben könnten: Auch bei Inspektion der Wohnung hat sich kein Anhaltspunkt für die Anwesenheit des Schuldigen ergeben.«
Er sprach das Wort »Schuldigen« so feierlich aus, daß mir sofort ganz beklommen zumute wurde. Schuldig ist man ja immer – Leben ist Schuldigsein.
»Worum handelt es sich eigentlich?« fragte Hanneke ruhig.
»Mevrouw, das sag ich Ihnen gleich, wenn wir uns kurz umgeschaut haben – es ist so gut wie sicher, daß Sie nichts damit zu tun haben, aber es ist angenehm für uns, wenn wir das dem Kommissar schwarz auf weiß bestätigen können.«
»Na, dann kommen Sie kurz rein.«
Sie folgten uns in das kleine Bauernhaus. Der größere der beiden Polizisten, der Voyeur, stieß sich mit dem Kopf an einem Türpfosten und verlor dabei seine Mütze, die er zwar aufhob, aber nicht wieder aufsetzte. Sie gingen in aller Ruhe durchs Haus und betrachteten aufmerksam die Fußböden in den beiden Wohnräumen zur Straße hin. Sie inspizierten den Flur und die Küche, und auf der Diele stampften sie so laut mit ihren Stiefeln, daß sie das Gartenrotschwänzchen, das unter den Dachbalken brütete, aus seinem Nest verjagten, und dann hatten sie offenbar alles gesehen, was sie sehen wollten, und sagten: »Vielen Dank, wir gehen mal wieder.«
»Was ist überhaupt los?« fragte Hanneke eigensinnig.
»Mevrouw, es ist folgendes. Auf einer Weide hier in der Nähe sind drei Schafe und zehn Lämmer von einem Schäferhund totgebissen worden, und wir haben jetzt die Aufgabe, diesen Hund zu suchen, es ist bestimmt der Hund eines Urlaubers, aber hier ist kein Hund und war auch kein Hund, das ist wohl ganz offensichtlich. Wir entschuldigen uns für die Störung, aber wir waren dazu verpflichtet. Es passieren in diesen Wäldern manchmal so merkwürdige Dinge.«
Vor allem die letzten Worte ließen mich an ihrer Geschichte mit dem Hund zweifeln. Warum dieses hartnäckige Drängen darauf, das Haus zu inspizieren, wenn es allein um einen Schäferhund ging? Sie hätten doch, als sie um das Haus herumschlichen, sofort feststellen können, daß wir keinen Hund hatten. Jeder Hund mit einem Fünkchen Selbstachtung hätte angeschlagen.
»Ich habe eine Mordsangst vor Hunden, Meneer«, sagte ich. »Ich habe nie einen Hund gehabt und werde nie einen haben.«
Auf einmal sah ich das Mißtrauen in den Augen des großen Polizisten aufblitzen. Aber der andere lachte nur, und plötzlich liefen sie zu ihrem blauen Volkswagen, der ein Stück weiter auf dem Sandweg geparkt war. Wir kehrten ins Haus zurück, und ich zog schnell meine Schuhe an, denn nichts hatte mich während des Gesprächs mehr gestört, als daß ich barfuß war. Ich setzte mich hin, und Hanneke sagte: »Erst einmal Tee.«
»Es ging ihnen überhaupt nicht um den Hund.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Aber um was dann?«
»Das kann uns doch egal sein, oder?«
Daß ein so unbedeutender Vorfall einen derartig aus dem Gleichgewicht bringen kann! Wir machten nach dem Tee einen Spaziergang durch den Wald, wir sahen immer wieder die weißen Schwanzspitzen der wilden Kaninchen im Unterholz aufblitzen, wir hörten das Klopfen eines Grünspechts. Am Tümpel, der so still neben dem Fahrradweg lag, entdeckten wir die Knospen duftender Waldhyazinthen und Sonnentau, der schon in Blüte stand, aber ich konnte den Gedanken nicht loswerden, daß die beiden Polizisten etwas ganz anderes gewollt hatten. Wonach hatten sie gesucht? Hatte es etwas mit dem zu tun, was sie durch die nicht richtig zugezogenen Gardinen gesehen hatten? Aber einen Mittagsschlaf zu halten – das war doch nicht strafbar?
Als wir zum Haus zurückkamen, sahen wir eine Staubwolke auf dem Sandweg entschwinden. Vor der Staubwolke brummte der Motor eines Volkswagens. Es dämmerte schon, die Luft war klar und frisch, die Amsel sang ihr Abendlied, und unbekümmerte Schäfchenwolken hielten den letzten Glanz der Sonne an ihren Rändern fest. In dem Bauernhaus ein Stück weiter wurde Licht gemacht, und der Sandweg erschien dadurch plötzlich dunkler. Lange noch konnte ich das Brummen des Volkswagens hören; sie waren also wieder dagewesen. Warum?