Cover

»Wer den autoritären Populismus verstehen will, muss dorthin schauen, wo aus kleinen Menschen große Menschen werden – auf die Kindheit.«

Herbert Renz-Polster

Überall in der westlichen Welt macht sich der Rechtspopulismus breit. Die Gaulands, Le Pens und Wilders’ blasen zum Angriff auf den Kern der Demokratie. Wie konnte diese neue, fanatische Kälte nur entstehen?

Deutschlands bekanntester Kinderarzt und Familienexperte macht sich auf eine kluge Spurensuche. Er wird fündig: in den Kinderzimmern. In jedem, der nach Abgrenzung, Härte und neuen Autoritäten schreit, entlarvt Herbert Renz-Polster ein verunsichertes, in seinem Drang nach menschlicher Anerkennung allein gelassenes Kind. Ein bestimmter autoritärer Erziehungsstil geht in allen Kulturen einher mit Anfälligkeit für populistische Botschaften.

Zwingend zeigt dieses Buch: Wer rechte Tendenzen verstehen und verhindern will, der muss eben doch auf die unglückliche Kindheit schauen. Hier liegt unsere gesellschaftliche Verantwortung – das Familienklima von heute wird das politische Klima von morgen sein. Erziehung ist kein Privatvergnügen.

Eine überzeugende gesellschaftliche Analyse, bei der das leise Frösteln nicht ausbleibt.

Herbert Renz-Polster

ERZIEHUNG
PRÄGT
GESINNUNG

WIE DER WELTWEITE RECHTSRUCK
ENTSTEHEN KONNTE – UND WIE WIR
IHN AUFHALTEN KÖNNEN

Kösel

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Copyright © 2019 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Weiss Werkstatt, München

Covermotive: © shutterstock / ra2studio

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Redaktion: Dr. Peter Schäfer, Gütersloh

ISBN 978-3-641-23689-2
V003

www.koesel.de

Meiner über 90-jährigen Mutter,
die den Irrsinn der autoritären Unterwerfung
als Schülerin auf einem Nazi-Internat erlebt hat.

INHALT

Zum Geleit:
Wozu ein pädagogisch-politisches Buch?

Des Pudels Kern ist die Erziehung

1 Nur etwas für Abgehängte?

Welchen Nerv die Populisten wirklich treffen

2 Je härter die Kindheit, desto härter die Politik

Landkarten der kindlichen Not

3 Vergiftetes Innenleben, feindliche Außenwelt

So ticken Rechtspopulisten

4 Unter der Lupe: die autoritäre Innenwelt

Die tieferen Emotionen der rechten Bewegung

5 Erziehungsfronten: begleiten oder begrenzen?

Weltbilder prägen Kinderbilder

6 Lebenslang abhängig

Wie die Furcht vor der Freiheit entsteht

7 Wie funktionieren Beziehungssprachen?

Politische Bildung beginnt auf dem Wickeltisch

8 Von der Last zerbrochener Bindungen

Der Kern der autoritären Haltung

9 Die autoritäre Haltung im Wandel

Von der Nazidiktatur bis zur Globalisierung

10 Auf dem Prüfstand: Stimmt die Theorie?

Statistiken offenbaren Kindheitsmuster

11 Geteiltes Deutschland?

Erziehen und wählen in Ost und West

12 Die Kinderzimmer der Anderen

Kindheitsmuster international

13 Wer hat Angst vor der AfD?

Wir sollten unsere Fortschritte nicht unterschätzen

14 Mit Bildung gegen Rechts?

Das Bildungsversprechen auf dem Prüfstand

15 Migration, Religion, Integration

Wie wir die Herausforderungen unserer Zeit lösen

Zum Schluss: Kindheit wagen!

Wo wollen wir eigentlich hin?

Danksagung

Literatur

Anmerkungen Und Quellennachweise

ZUM GELEIT:
WOZU EIN PÄDAGOGISCH-POLITISCHES BUCH?
Des Pudels Kern ist die Erziehung

Wir erleben einen Schock auf Raten. Da steht eine neue Strenge im Raum, ein roher Ton, den wir uns noch vor wenigen Jahren nicht hätten träumen lassen. Worte wie diese von Alexander Gauland sind ein Angriff auf den Anstand: »Wir müssen die Grenzen dichtmachen und dann die grausamen Bilder aushalten. Wir können uns nicht von Kinderaugen erpressen lassen.« Als Erklärung dient Techniksprech: »Einen Wasserrohrbruch dichten Sie auch ab.«1

Am weitesten hat sich die neue Kälte in den USA ausgebreitet. Dort regiert jetzt einer, der einmal das Grauen der Sandkästen unserer Kinderjahre war. Jetzt ist er der Held einer halben Nation von Amerikanern – einer Nation, die einmal das beliebteste Land der Erde war. Auch er, Donald Trump, brüstet sich mit Eiseskälte: »Ich werde Waterboarding wieder einführen. Und ich werde verdammt viel schlimmere Dinge als Waterboarding einführen.«2

Diese armen Tröpfe, die hat es immer gegeben. Unsere Eltern hatten sich vielsagend angeschaut, kurz geseufzt und dann beruhigende Worte für uns gefunden, etwa solche: »Weißt du, er hat doch keine Freunde. Da ist niemand für ihn da, wenn er nach Hause kommt.« Mit diesen oder ähnlichen vernünftigen elterlichen Argumenten munitioniert, hat man einen Bogen um die Spielverderber gemacht. Und sich vielleicht für sie geschämt und über sie getuschelt.

Heute können wir keinen Bogen mehr um diese Kinder machen. Immer öfter greifen sie nach der Macht und gestalten die Welt. Es hat sich eingebürgert, ihren Aufstieg als eine Reaktion auf äußere Umstände zu sehen. Auf wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Krisen.

Ich zeige in diesem Buch, dass solche Deutungen zu kurz greifen – ohne eine tiefere Erklärungsebene fehlt der Ereigniskette das entscheidende Glied. Als nach der Wende der rechte Mob durch Hoyerswerda und anderswo zog, waren es die »fehlenden Arbeitsplätze«, die den Ausbruch von Hass und Ausgrenzung erklären sollten. Heute, bei Vollbeschäftigung, verweist man auf den »Globalisierungsstress«, wenn Rechtspopulisten das Heft in die Hand nehmen.

Dabei sollte uns der Blick in die Geschichte doch eigentlich warnen: Die Hinweise auf die äußeren Umstände, auf die Krisen und Verführungen bringen uns nicht weiter. Es war nicht »die Weltwirtschaftskrise«, die einen Hitler an die Macht gebracht hat. Es waren Menschen mit einer klar definierten inneren Haltung. Mit klar artikulierten, autoritären Überzeugungen. Dieser Spur zu folgen hat uns als Gesellschaft gutgetan.

Woher kommen diese Haltungen? Die Frage ist heute so brisant wie damals. Welche Erfahrungen und Prägungen bringen Menschen dazu, dass sie sich ausgerechnet solchen politischen Ideologien unterwerfen? Ausgerechnet solchen Ratgebern und Anführern? Was musste schiefgehen, damit nun ausgerechnet das schlimmste Mobber-Kind auf dem Spielplatz über Krieg und Frieden auf dieser Welt entscheiden darf?

Diese Geschichte beginnt dort, wo wir Menschen klein und abhängig sind: in der Kindheit. In der Kindheit bildet sich der seelische Maßstab, der entscheidet, mit welcher Gesinnung wir einmal durch das Leben gehen werden. In der Kindheit erfahren wir, ob es im menschlichen Miteinander um Macht und Überlegenheit geht – oder aber um Vertrauen und Zusammenarbeit. In der Kindheit bilden wir das soziale Vermögen aus, mit dem wir der Welt und ihren Krisen begegnen.

Dieses Kindheitsvermächtnis will ich in diesem Buch beschreiben. Ich werde die emotionalen und sozialen Einflüsse benennen, die unsere späteren politischen Überzeugungen prägen. Ich werde darlegen, dass die Kindheit im Grunde ein Tanz um die gleichen Fragen ist, die wir auch in der Politik stellen: Bin ich sicher? Bin ich anerkannt? Habe ich eine Stimme? Ich werde zeigen, wie an diesen Fragen der Kompass geeicht wird, mit dem wir später die politische Arena betreten.

Wenn ich die Linien zwischen Erziehungserfahrungen und der späteren politischen Haltung nachzeichne wird auch klar werden, wie wichtig dieses Verständnis für unser aktuelles Zusammenleben ist. Noch nie war Deutschland eine vielfältigere Nation, noch nie trafen so viele biografische, soziale und kulturelle Prägungen aufeinander, Menschen mit und ohne DDR-Erfahrung, Menschen mit deutscher und ausländischer Familiengeschichte, Menschen christlichen Glaubens, aber auch Menschen, die sich zu anderen oder gar keiner Religion bekennen, um nur wenige Beispiele zu nennen. Was uns als Gesellschaft zusammenhalten kann, lässt sich besser verstehen, wenn wir uns damit beschäftigen, wie all diese Menschen als Kinder waren (oder sind).

Und noch ein Wort zu Person, Handlung und Ort

Rechtspopulismus ist ein weltweites Phänomen, und dieses Buch dreht sich vor allem um die Entwicklungen in Deutschland. Dass in diesem Buch immer wieder der Name Donald Trump fällt, ist unvermeidlich, manche der rechtspopulistischen Haltungen und Überzeugungen lassen sich an dieser lebenden Karikatur tatsächlich am besten illustrieren. Ansonsten aber will ich den Auftritt des groß gewordenen Sandwerfers eher tief hängen. Dieser Akteur ist gewiss nicht die politische Krankheit, die die Welt befallen hat – er ist ihr Symptom, und kein Amtsenthebungsverfahren und keine Neuwahlen werden daran etwas ändern.3 Ja, selbst wenn Donald Trump sich plötzlich einen roten Ball auf die Nase setzen und sagen würde: »Bätsch – ist doch alles nur Spaaaaaaaß« – das, wofür er steht, wäre noch immer unter uns und zwischen uns. Und es würde tagtäglich neu entstehen.

Und damit wären wir bei den Schauplätzen dieser Geschichte. Wir werden die verschiedenen rechtspopulistischen Szenen um uns herum kennenlernen (auch die in den neuen Bundesländern), aber auch andere europäische Länder in den Blick nehmen. Gar nicht so selten werden wir aber auf die USA eingehen müssen, die täglich ein Stückchen weiter von der Weltgemeinschaft wegdriften, indem sie mit vielen politischen Entscheidungen dem Fundamentalismus und Egoismus ein Denkmal setzen. In keinem traditionell westlichen Land steht die autoritäre Rechte auf einem tieferen und breiteren Boden – wo, wenn nicht dort, könnten wir ihren Wurzelgrund besser studieren?

Zu diesem Aspekt noch ein persönliches Wort hinterher: Ich habe mit meiner Familie sieben Jahre in den USA gelebt und gearbeitet, unsere vier Kinder haben dort einen großen Teil ihrer Kindheit verbracht, und ja, die Frage, warum ausgerechnet dieses großartige Land in Sachen Rechtspopulismus führend ist, lässt uns auch aus diesem Grund nicht los.

Und das ist – dies als Nachtrag für die zweite Auflage dieses Buches – im Jahr 2020 noch immer so. Die Schizophrenie ist sogar noch offensichtlicher geworden. Die USA erleben ihr zehntes wirtschaftliches Boomjahr in Folge. Das kalte, autoritäre, ausgrenzende Denken aber greift weiter um sich. Im November 2016, kurz vor seinem Wahlsieg, lagen die Zustimmungswerte für Donald Trump bei 37 Prozent. Heute, nach drei Jahren Lügenmarathon, Idiotie, Hetze, ja sogar Aufruf zu Gewalt gegen Andersdenkende, liegen sie bei 43 Prozent. Die Zahl der Hassverbrechen in den USA steigt an, seit Donald Trump in den Wahlkampf zog. Noch einmal: Wir müssen diese Schizophrenie besser verstehen.
Und das gilt auch für Deutschland, inzwischen ebenfalls in seinem zehnten wirtschaftlichen Boomjahr – im Osten wie im Westen. Trotzdem entstehen immer tiefere Gräben. Gräben? Ach was, Abgründe. Bei den rechtspopulistischen Wählern stehen 70 Prozent Männer 30 Prozent Frauen gegenüber. Bei der Europawahl im Mai 2019 kam die AfD in den westlichen Bundesländern auf unter neun Prozent der Stimmen – in den östlichen Bundesländern auf das 2,5-fache. Das 2,5-fache! Schaut man noch genauer hin, so erreichte die AfD bei den unter 25-Jährigen in den westlichen Bundesländern um die vier Prozent. Für die Wähler dieser Altersgruppe ist sie dort eine Splitterpartei. In den östlichen Bundesländern dagegen war sie bei den Jungwählern zumeist die beliebteste Partei. Fünfmal häufiger gingen hier die Stimmen nach rechts außen. Fünfmal häufiger.
Die Landkarte ist aber noch krasser: Bei den weiblichen Wählerinnen in den westlichen Bundesländern kommt die AfD gerade einmal auf 2,9 Prozent. Bei den ostdeutschen Männern zwischen 45 und 60 Jahren auf 32,4 Prozent. Auf elfmal so viel.* Um diese Zahlen besser zu verstehen, habe ich dieses Buch geschrieben.
Dass der Blick auf die äußeren Umstände dafür nicht ausreicht, auch das haben die letzten Jahre bestätigt. Nach der aufwendig durchgeführten Studie »Die andere deutsche Teilung« aus dem Jahr 2019 gibt es keinen einzigen äußeren Faktor, der erklären könnte, woher dieser Graben kommt. Alle sozioökonomischen Indikatoren greifen zu kurz – von Einkommen über Beruf, Schichtzugehörigkeit, Erwerbsstatus bis hin zu Bildungsniveau. Die einzige erklärende Variable findet sich bei Persönlichkeitsfaktoren. Rechtspopulistisch Geneigte stammen aus Gruppen mit den immer gleichen Persönlichkeitsmerkmalen: Wut, Angst und einem diffusen Gefühl von Enttäuschung. Wo kommen diese Gefühle her?
Äußere Faktoren jedenfalls können sie nicht erklären.**
Dies ist deshalb weder ein Buch über einzelne Länder noch über bestimmte Personen oder Politiker. Die Geschichte, um die es mir geht, dreht sich um die Kinder – und die Kindheiten, die sie erleben. Wollen wir aus dieser Krise unserer Gesellschaften etwas lernen, so darf uns diese Geschichte nicht loslassen: Wie gehen wir mit denen um, die unserer Macht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind?

1 NUR ETWAS FÜR ABGEHÄNGTE?
Welchen Nerv die Populisten wirklich treffen

Du bist ein Killer, du bist ein König.4

Fred C. Trump (1905–1999),
US-amerikanischer Unternehmer

Jahrelang bläute Fred Trump seinem Sohn Donald das oben stehende Motto ein. Die Botschaft: Nur wer mörderisch drauf ist, hat etwas zu sagen. Am 20. Januar 2017 wurde der im wahrsten Sinne groß denkende Donald Trump in Washington, D. C. tatsächlich zu einer Art König ausgerufen. Die nach wirtschaftlichen Standards erfolgreichste Gesellschaft der Welt hat damit einen Menschen an ihre Spitze gestellt, der rücksichtslosen Egoismus als Lebensmaxime sieht, der Verlierer verachtet und das Wort Gemeinschaft nicht kennt. Der mächtigste Mensch der Erde, der mit dem Druck seines Zeigefingers die halbe Menschheit auslöschen kann, ist heute ein Mann, der hemmungslos lügt und jeden erniedrigt, der sich ihm in den Weg stellt. Einer, der sich unter Größe nur eines vorstellen kann, nämlich Überlegenheit: »Ich könnte mitten auf der Fifth Avenue stehen und jemanden erschießen, und ich würde keine Wähler verlieren.«5

Man hat einmal geglaubt, solche Führer könnten allenfalls durch Erbfolge an die Macht gelangen. Die gab es vielleicht in den Adelshäusern des Mittelalters (die Regierungsgeschäfte haben dann diskret andere geführt). Aber das stimmt nicht. Herr Trump wurde, genauso wie die rechtspopulistischen Führer in Italien, Ungarn oder Polen, demokratisch gewählt. Von freien Bürgern moderner Informations-, Wissens- und Technologiegesellschaften.

Die Narren führen die Regierungsgeschäfte also heute nicht nur selbst – sie setzen dabei Forderungen um, die in der Bevölkerung einen breiten Halt haben, in ihrer ganzen Brutalität. Als die US-amerikanische Regierung über Monate hinweg Kinder, darunter sogar Säuglinge, an der mexikanischen Grenze gezielt von ihren Eltern trennen ließ, um sie zur Abschreckung in eingezäunte Anlagen oder in Pflegefamilien zu bringen, gaben die Zustimmungswerte für den Präsidenten nicht nach: »Ich habe geweint, ich habe gebettelt«, so die Worte von Esteban Pastor aus Guatemala, der an der mexikanischen Grenze mit seinem eineinhalbjährigen Jungen geschnappt wurde. »Keiner konnte mir etwas sagen.« Nur das wusste der besorgte Vater, der in den USA Geld für die Behandlung seines kranken Sohnes verdienen wollte: Sein Sohn befand sich »irgendwo in Texas«.6 Was um alles in der Welt erklärt diese menschliche Verelendung?

Etwas weniger dramatisch, aber ebenso tief greifend haben sich die Gesellschaften Europas verändert. Die neue Klasse der Wutbürger hat die Stammtische zuerst auf die Straßen gestellt, dann in den Deutschen Bundestag. In manchen Gegenden Deutschlands kann die AfD mehr Anhänger hinter sich scharen als jede andere Partei. Ja, unter den Männern in den neuen Bundesländern ist sie sogar die beliebteste Partei. Und sie treibt auch die Konservativen vor sich her, die nun über so ziemlich jedes Stöckchen springen, das ihnen von rechts hingehalten wird. Über Koalitionen zwischen konservativen und rechtsextremen Parteien verliert man heute kaum mehr ein Wort. Viele der östlichen Mitgliedsländer der EU sind auf dem direkten Weg zurück in den autoritären Nationalstaat. Bürger, die noch vor einer Generation die Demokratie mit Tränen begrüßt hatten, sehen zu, wie vor ihren Augen die freie Justiz und die freie Presse abgeschafft werden.

Und auch in Europa schart man sich in den neuen GA-Bewegungen (great again) hinter Anführern, die Karikaturisten überfordern und Psychiater sprachlos machen. Und ihre Ideologien? Die drehen sich alle um dieselben Themen: die Bedrohung durch andere – durch Flüchtlinge, durch die angeblich korrupten politischen »Eliten« oder durch die angeblich gleichgeschaltete »Lügenpresse«. Man stilisiert sich als Opfer, das wieder zu alter Stärke finden müsse. Ausgerechnet im Osten Deutschlands, wo zuvor im Namen der Freiheit Mauern niedergerissen wurden, demonstriert man jetzt gegen »Andersgläubige«.

Wir erleben – das ist für mich noch bezeichnender – den Aufstieg einer politischen Garde, die nicht lachen kann – bei den Gaulands, den Orbans, den Wilders’, den Le Pens oder den Kaczyńskis wird gegrollt.

Und mit diesem Groll werden Grenzen überschritten, die noch vor kurzem undenkbar gewesen wären. Im Jahr 2016 gab Beatrix von Storch von der AfD auf Facebook bekannt, dass Waffengewalt gegen Flüchtlinge möglich sein müsse – selbst gegen flüchtende Frauen und Kinder.7

Noch einmal: Was treibt diese Bewegung an?

Wohlfeile Antworten …

Landauf, landab werden Argumente zusammengetragen, die den Erfolg der populistischen Strömungen erklären sollen: die radikale Globalisierung, die damit einhergehende kulturelle Verunsicherung, die Verschärfung der Ungleichheit, die unzureichende Bildung der Abstiegsbedrohten. Ja, sogar die »Werte« werden in Stellung gebracht. Die durch die Globalisierung aus ihren Angeln gehobene Gesellschaft zwinge ihren Bürgern einen Wertekonflikt auf: Soll ich die Modernisierung der Gesellschaft mittragen – oder igele ich mich im Althergebrachten ein? Hinter dem Protest, so die gängige Annahme beidseits des Atlantiks, stehen die prägenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der letzten Jahre: Da werden die von der Globalisierung »Abgehängten« von politischen Verführern eingesammelt und gegen die jetzige offene und tolerante Gesellschaft gehetzt.

… und wohlfeile Vorschläge

Auch bei den Vorschlägen zur Therapie ist man sich einig. »Bessere Bildung« steht jetzt ganz oben auf der Liste der Maßnahmen, die wir in Europa ergreifen müssen, damit wir uns nicht mit Trump anstecken. Das ist Konsens bei allen Kommentatoren und in allen Parteien.

Und natürlich sollten wir die Auseinandersetzung mit den Rechtsgeneigten auch auf der moralischen Ebene suchen (das bietet sich schon deshalb an, weil die »guten Werte« nach allgemeiner Einschätzung bei denen zu finden sind, die den Rechtspopulismus ablehnen).

Ja, inzwischen herrscht sogar bei einem Thema Einigkeit, das noch vor wenigen Jahrzehnten Anlass für heftigen Zwist gab: Die Regierungen müssten etwas gegen die Ungleichheit in der Gesellschaft tun, um den sozialen Zusammenhalt nicht zu gefährden. In dem Chor, der dazu aufruft, stehen heute Linke, Sozialdemokraten und Gewerkschaftler Seite an Seite mit denen, die bisher eher auf die allgemein stimulierende Wirkung der Ungleichheit gepocht hatten, wie etwa die Weltbank, die OECD oder der Internationale Währungsfonds.

Gute Erklärungen sind nicht genug

Schon die seltsamen Koalitionen und abrupten Sinnesänderungen zeigen an, mit welch heißer Nadel gerade gestrickt wird. Sollte nicht eigentlich die unsichtbare Hand des Marktes für mehr Wohnraum sorgen? Und die Ungleichheit – war die nicht bis gestern noch etwas Unverzichtbares, weil sie doch die Menschen zu mehr Leistung, Kreativität und Innovation anspornt? Und mancher fragt sich auch das: Warum braucht es ausgerechnet einen prolligen Multimilliardär wie Donald Trump, damit wir darüber reden?

Aber geschenkt – die Themen sind trotzdem wichtig. Nur: Die Erklärungen, auf denen diese Vorschläge beruhen, greifen zu kurz. Bei Umfragen bezeichnen regelmäßig etwa vier von fünf AfD-Anhängern ihre wirtschaftliche Lage als gut bis sehr gut.8 Und auch bei der Bundestagswahl 2017 kam die weit überwiegende Mehrzahl der AfD-Wähler aus ganz normalen, bürgerlichen Verhältnissen. Ja, manche Soziologen sehen die AfD so sehr in Mittelschichtsmilieus verwurzelt, dass sie den Rechtspopulismus gar als einen »Aufstand der Etablierten« bewerten.9 Auch den meisten Amerikanern, die Trump gewählt haben, hat es weder an Bildung noch an bezahlbarem Wohnraum gefehlt. Die Trump-Wähler gehören im Durchschnitt in ihren Gemeinden nicht zu den Armen, und zu den Ärmsten schon gar nicht. Im Gegenteil: Trump hatte bei den Wahlen im Jahr 2016 in allen Einkommensschichten eine Mehrheit – nur nicht bei den Ärmsten.

Auch beim Bildungsgrad geht die Formel »Rechtspopulisten müssen Dummköpfe sein« nicht auf. Die AfD-Anhänger hierzulande kommen aus allen Bildungsschichten, und gerade in Deutschland findet das rechtspopulistische Programm in nicht unerheblichem Ausmaß auch bei Akademikern und Hochqualifizierten Anklang. Auch in den USA lag das Bildungsniveau der Trump-Wähler nicht nennenswert unter dem der Clinton-Wähler. Unter den weißen US-Amerikanern mit College-Abschluss hat sich sogar die Mehrheit für Trump entschieden.

Und die soziale Gerechtigkeit? Die These, dass die zunehmende Ungleichheit der Gesellschaften zur rechtspopulistischen Welle beiträgt, ist ernst zu nehmen (wir werden uns damit noch beschäftigen). Nur zeigt schon der Blick in die Parteiprogramme, welchen Stellenwert die Rechtsgeneigten diesem Thema selbst beimessen. Man zieht nicht gegen die Ungleichheit ins Feld – sondern gegen die Islamisierung des Abendlands, gegen »Gender-Ideologie« und natürlich gegen Flüchtlinge. Als in Österreich die Rechtspopulisten in die Regierung kamen, kassierten sie wichtige sozialpolitische Errungenschaften gleich ein. Auch die AfD fällt nicht gerade durch egalitäres Gedankengut auf, im Gegenteil – man steht gerne auf der Seite der Vermögenden und Hochgeborenen. Man lobt den Einheitssteuersatz. Und das Bankgeheimnis sei natürlich auch sehr wichtig.10 Dasselbe bei den Anhängern eines Donald Trump. Dass die Reichen heute noch größere Golfplätze und noch größere Privatjets haben, ist ihnen bekannt. Nur: Es ist ihnen egal. Sie sehen das eher als Beweis, dass diese Leute etwas richtig gemacht haben. Wenn sie jemanden hassen, dann nicht die Reichen, sondern den besitzlosen »Trash«. Steuerflüchtlinge akzeptiert man, als Problem sieht man die Armutsflüchtlinge.

Und auch das fällt auf: Nirgendwo im Westen steht der Rechtspopulismus auf breiteren Beinen als gerade in den USA – und damit ausgerechnet dort, wo man die ökonomische Krise am besten gemeistert hat.11 Auch die AfD hat sich im Grunde mitten in einer ökonomischen Boomphase etabliert, in der der Beschäftigungsstand historisch gesehen auf höchstem Niveau liegt und Richtung Vollbeschäftigung tendiert. Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag 2017 hat diese Partei selbst in Gegenden Bayerns und Baden-Württembergs gepunktet, in denen der Blick auf die ökonomische Zukunft so rosig ist wie nirgends sonst in ganz Europa. Rekordverdächtige Rassismuswerte in Deutschland lassen sich bei Befragungen in Niederbayern messen – auf die Frage: »Sollen Juden die gleichen Rechte haben wie Deutsche?« antworten dort in manchen ländlichen Gegenden 48 Prozent mit Nein.12 Die Arbeitslosigkeit liegt dort unter 3,5 Prozent.

Und beim für die rechte Bewegung so zentralen Thema »Ausländer« zeigt sich gar die perfekte Asymmetrie: Die AfD kommt dort auf ihre höchsten Zustimmungswerte, wo am wenigsten Ausländer leben. Vor einer »Islamisierung des Abendlands« fürchtet man sich weniger in Bremen (wo jeder zehnte Bürger ein Moslem ist) als vielmehr in Sachsen. Dort sind 0,48 Prozent der Bevölkerung Muslime, also jeder Zweihundertste. Und wo in Deutschland ist der Hass gegen Juden am weitesten ausgeprägt? Genau dort, wo es kaum jüdisches Leben gibt: in den ländlichen Gebieten der östlichen Bundesländer oder Bayerns.

Auch die Wähleranalyse nach Wohnvierteln zeigt Seltsames. Die Spätaussiedler, also deutschstämmige Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, stehen nach allen sozialen Indikatoren eigentlich gut da. Sie sind gut mit Arbeitsplätzen versorgt, und sie gelten als gut integriert. Und wo machen viele von ihnen ihre Kreuzchen bei den Wahlen? Bei der neuen Rechten.

Und die kulturelle Verunsicherung, die die Menschen entwurzelt haben könnte? Der »Identitätsstress«, der neuerdings als Erklärung des Rechtspopulismus die Runde macht? Der Vorschlag ist ernst zu nehmen. Schließlich verändert die Globalisierung ja nicht nur die Regeln, nach denen die materiellen Belohnungen verteilt werden. Sie schreibt auch das Buch neu, aus dem hervorgeht, wer »in« ist, wer »out«, welche Tätigkeiten wichtig und welche unwichtig sind, wer etwas gilt und wer nicht. Nur – auch die »kulturelle« Erklärung greift für sich allein zu kurz. Nicht wenige Bürger, oft sogar die überwiegende Mehrzahl, kommen mit dem kulturellen Wandel ja offenbar gut klar. Sie gestalten ihn mit oder setzen ihm eigene Ideen und Projekte entgegen. Manche erfinden sich sogar neu und schaffen sich inmitten des Wandels eine neue kulturelle Heimat. Die entscheidende Frage jedenfalls bleibt unbeantwortet, warum der Weg zur »Re-affirmation kultureller Würde«, so die Soziologin Cornelia Koppetsch, ausgerechnet zu einer Partei wie der AfD führen soll.13

Dasselbe gilt für die Wertefrage. Natürlich spiegelt sich in dem Phänomen des Rechtspopulismus auch ein gesellschaftlicher Wertekonflikt wieder. Nur: Warum schlagen sich die einen den »weltoffenen« Werten zu, die anderen aber den (angeblich) »vergangenen«?

Noch mehr Ungereimtheiten

Was ich damit nicht sagen will, ist, dass die ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte bei den politischen Verwerfungen keine Rolle gespielt hätten. Natürlich spielt es für die Meinungsbildung eine Rolle, wenn die Reichweite der Löhne sinkt. Natürlich spielt es eine Rolle, wenn der Traum vom Aufstieg nicht mehr greift. Nur, für sich allein können diese Entwicklungen die Ausbreitung rechter, autoritärer Strömungen nicht erklären. Kurz, ob wir nun ökonomische Gründe beleuchten, soziale Gründe benennen oder kulturelle Rahmenbedingungen ins Feld führen, um den Rechtspopulismus zu erklären – immer bleibt ein Missing Link offen. Für das Erstarken des Rechtspopulismus braucht es einen tieferen Grund: »Der moderne Populismus braucht keine bedrängten oder gar verelendeten Massen. Es braucht keine Not, um Furcht zu säen.«14

Wie dringend wir zu diesem tieferen Grund vorstoßen müssen, lässt sich an ein paar Zwischenfragen zeigen:

Aber auch da haben wir den Grund noch nicht erreicht. In den letzten Jahrzehnten ist mit der neuen Rechten eine der größten Protestbewegungen der Nachkriegszeit entstanden. Eine veritable soziale Bewegung, die die Zukunft neu gestalten will. Nur: Welche Themen stehen dabei zentral? Es gibt ja tatsächlich eine Vielzahl von Problemen, die die alten Wohlstandsgesellschaften des Westens plagen und auf eine dringende Antwort warten. Sie sind beschrieben, über sie herrscht auch in der – nicht gerade von Konsens geprägten – Welt der Wissenschaft praktisch Einigkeit. Das ökologische Dilemma gehört dazu: Wie kann ein von beständigem Wachstum abhängiges Wirtschaftsmodell in einer Welt mit begrenzten Ressourcen und begrenzten Selbstheilungskräften funktionieren? Das soziale Dilemma gehört dazu: Wie kann dafür gesorgt werden, dass Gesellschaften nicht auseinanderbrechen, wenn die wirtschaftliche Belohnung immer satter bei immer weniger Gewinnern landet? Wie kann eine Welt in Ordnung bleiben, wenn sie Kriegs- und Fluchtursachen nicht konsequent bekämpft?

Für die neuen Protestbewegungen sind das alles keine Themen. Im Gegenteil – sie werden gezielt ausgeklammert. Internationaler Interessensausgleich – ein Unwort. Klimawandel – den gibt es doch gar nicht! Erinnert sich noch jemand daran, dass vor nur einem Jahrzehnt unser ganzes wirtschaftliches System an einem seidenen Faden hing? Ausgelöst durch einen unregulierten Finanzkapitalismus? Dass bis heute nicht geklärt ist, wer das nächste Mal die Rechnung bezahlt, ja, wie eine ähnliche Krise überhaupt verhindert werden kann? Statt diese realen Probleme aufzugreifen, dreht sich die Diskussion um die immer gleiche Auswahl von Themen: die gefährlichen Andersdenkenden (früher die Juden, derzeit die Muslime), die gefährlichen Eindringlinge (derzeit: »die Migranten« oder auch »die Mexikaner«), die gefährliche Konkurrenz aus anderen Ländern. Oder die Kriminellen.

Gegenstand der Diskussion (und Anfeindung) ist ausschließlich das, was sich durch Härte, Bestrafung und Ausgrenzung angeblich lösen lässt. Alles andere verbleibt als weiße Flecken auf der Landkarte. Themen wie Mitmenschlichkeit, Kooperation, Interessensausgleich oder die Gestaltung der Gemeinschaft gar sind schlichtweg inexistent. Es gibt kein Miteinander von Verschiedenem, nur ein Gegeneinander. Ich gegen dich. Christen gegen Muslime, Weiße gegen Schwarze. Mein Land gegen dein Land, das wahre Volk gegen die Volksverräter. Wie von einem mächtigen Magneten bewegt, zieht es die Diskussionen und politischen Vorschläge immer in das gleiche Raster: zu Konkurrenz, Abwehr und Kontrolle. Die Strenge verdrängt die Fürsorge.

Identitäten statt Realitäten

Betrachten wir die Inhalte des Protests, so zeigt sich ein erstes Grundmuster. Bei den so laut und emotional geäußerten Forderungen geht es gar nicht um die Realität – es geht um Identität. Und wie. Bei AfD, Lega Nord und Co verspricht man nicht einmal, die realen Probleme des Alltags anzugehen. Das Wohnraumproblem in den Städten etwa, oder den Fachkräftemangel in der Pflege. Stattdessen geht es um die Probleme dort draußen an den Grenzen. Bis heute lassen sich AfD- oder Trump-Anhänger durch Fragen nach der realen Lebenssituation (zum Beispiel nach Einkommen, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, eigene Erfahrungen mit Kriminalität) praktisch nicht identifizieren. Erst wenn Ängste und Vertrauenswerte ebenfalls abgefragt werden, bekommen die Lager Kontur. So äußern in Umfragen 90 bis 95 Prozent der AfD-Wähler, sie sähen die »deutsche Sprache und Kultur« bedroht, und sie hätten vor allem Angst vor dem Islam und vor Kriminalität – jeweils fast doppelt so hohe Werte wie beim Rest der Befragten.15

Dazu passen auch die Befunde der vergleichenden Sozialwissenschaft. In ihren Befragungen erweist sich die reale Lebenssituation des einzelnen ein um das andere Mal als ein allenfalls schwacher Hinweis darauf, ob er oder sie rechtspopulistisch denkt oder nicht.16 Auch in Großbritannien hatte ein überraschend großer Teil derer, die endlich raus aus diesem Saftladen namens EU wollten, eigentlich genug Saft in der Pulle. Der Schlachtruf hieß nirgendwo: »I want my money back« – er hieß: »I want my country back« – die Welt soll wieder so werden wie damals.17 Kurz: Das Feeling ist entscheidend.

Das gilt sogar für die eigene Meinung zu naturwissenschaftlichen Phänomenen. Ob jemand an den Klimawandel glaubt oder nicht, hat nichts mit dem Wissenshintergrund oder der persönlichen Erfahrung zu tun – sondern vor allem mit der politischen Einstellung. Das zeigt eine Auswertung von 25 Umfragen und 171 Studien aus 56 Ländern: »Wer konservativ denkt, die Leistung von Individuen statt von Gemeinschaften betont, Hierarchien gutheißt und die freie Marktwirtschaft idealisiert, der hält die globale Erwärmung eher für unbedeutend. Geschlecht, Alter, Bildung oder Einkommen spielen kaum eine Rolle.«18

Tatsächlich stößt man selbst bei den hartgesottensten Wutbürgern auf eine überraschend große Zahl an Menschen, an deren objektiver Lebenssituation sich eigentlich wenig geändert hat – und die sich trotzdem schlecht, geschmälert oder bedroht fühlen. Sie sind nicht abgestiegen, und sie machen in ihrem Alltag auch nicht die Erfahrung, bedeutungslos oder ausgeschlossen zu sein. Im Gegenteil: Gerade die Großsprecher der Rechtspopulisten leben wie die Made im Speck, von eisigen Winden keine Spur – und doch scheint da nichts zu sein, was ihnen das Herz wärmen könnte. Die Berliner Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan bringt auf den Punkt, dass es eine Diskrepanz zwischen der eigentlichen Angst und deren Begründung gibt: »Es gibt Leute, die haben zwei Flatscreens, zwei Autos und ein Eigenheim, das sie abbezahlen können, weil sie einen sicheren Job zum Beispiel in der Sparkasse haben. Sie sind angesehen. Wenn wir sie fragen, warum sie sich bedroht fühlen, dann merken wir, dass die objektiven Parameter, die wir für Angst kennen – also die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust oder dem Verlust des eigenen Status’ – in Wahrheit gar nicht der Punkt sind.«19

Wie leicht die Sehnsucht nach Identität über die Realität triumphieren kann, zeigte sich schon im US-amerikanischen Wahlkampf 2016. Die Psycholinguistin und Ideologieforscherin Elisabeth Wehling konfrontierte damals Gruppen unentschlossener Wähler mit verschiedenen (vorgeblich auf Forschungsarbeiten einer renommierten Universität beruhenden) Szenarien. Die Prognosen zu der nach der Wahl erwartbaren wirtschaftlichen Entwicklung hatten keinen Einfluss auf die Wahlabsichten, die Probanden blieben unentschlossen. Als aber die Einschätzung der Experten vorgelegt wurde, nach einem Wahlsieg Trumps würden in Amerika wieder Werte wie Selbstdisziplin und Eigenverantwortung hochgehalten, liefen die Probanden scharenweise zu Trump über.20

Kurz: Erst wenn wir die inneren Neigungen berücksichtigen, stoßen wir auf die Klammer, die die Anhänger des Rechtspopulismus eint. Und die besteht aus den immer gleichen Themen: die vorgebliche Bedrohung von Ordnung und Sicherheit, die Angst vor »Überfremdung«, die Beschwörung der eigenen, unverschuldet in Gefahr geratenen Bedeutung. Oder, wie es der Autoritarismusforscher Jonathan Weiler in einem lesenswerten Artikel auf den Punkt bringt: Was die Anhänger eines Donald Trump oder eines Alexander Gauland von den anderen abhebt, »ist nicht ihr Einkommensniveau und auch nicht ihr Bildungsniveau. Es ist ihr stärkerer Hang zum Autoritarismus«.21

Dieses Spiel ist ernst

Hier, beim Begriff des Autoritarismus, sollten wir kurz verweilen. Denn um den Rechtspopulismus ranken sich ein paar Mythen, die das Thema letzten Endes auf Nebenschauplätze ziehen.

In manchen Kreisen werden die Rechtspopulisten als eine Art peinliche Verwandtschaft angesehen, die einfach nicht kapieren will, wie gut sie es eigentlich hat. Oder als Menschen, die nach »einfachen Lösungen« suchen, weil sie nicht verstehen können, wie kompliziert die Welt eigentlich ist. Dann wird versucht, die Ängste und Sorgen dieser einfach Gestrickten »ernst zu nehmen«. Andere sehen die Rechtspopulisten als Verführte: Sie wissen doch gar nicht, was sie tun und auf was sie sich da einlassen!22 Die einfältigste Version aber wird mit Blick auf die USA erzählt: alles halb so schlimm, ein Ausrutscher. Schuld an dem Debakel sind eigentlich die Demokraten. Oder die Russen. Oder das antiquierte Wahlsystem, das nun einmal den Flächenstaaten einen Vorteil gibt.

Alles stimmt – bis hin zu der Pointe, dass das US-amerikanische Wahlmännersystem tatsächlich einmal eingeführt worden war, um ausgerechnet den Befürwortern der Sklavenhaltung einen Vorteil zu verschaffen.

Und doch tun wir gut daran, an das zu glauben, was wir sehen. Vor unseren Augen vollzieht sich eine gesellschaftliche und menschliche Entblößung, die wir uns noch vor wenigen Jahren nicht einmal hätten ausmalen können. In keinem Traum. Und diese Entblößung ist öffentlich und demonstrativ. Nein, da wurde niemand mit falschen Versprechungen verführt, Trump hat von Anfang an den brutalen, gnadenlosen Triumphator gegeben – und für genau diese Rolle wurde er gewählt. Er hat gesagt, was er denkt und welche Gesellschaft er aufbauen will, in klaren und seiner Natur gemäßen simplen Worten. Auch dass er einen an der Waffel hat – er hat es nicht verborgen, im Gegenteil. Er hat sich nie anders gebärdet als das Mobber-Kind im Sandkasten: niederträchtig, mitleidslos, gemein. Entweder ich gewinne, oder ich greife dich an. Im ganzen Wahlkampf kein Wort der Güte, des Ausgleichs, kein Wort der Würde. Er hat gepöbelt, gehetzt, gelogen, Frauen begrapscht und damit öffentlich geprahlt, er hat sich lustig gemacht über Behinderte und praktisch jede ethnische Minderheit. Und natürlich lässt sich einwerfen, dass das »ungefähr in allem das Gegenteil ist von dem, was sich Eltern von ihren Kindern gemeinhin erhoffen«.23 Aber so und nicht anders hat er in Wirklichkeit die Macht erlangt.

Kurz: Trump hat diese Wahl gewonnen, weil er für die autoritäre Gesinnung steht. Und weil ein großer Teil der dort lebenden Menschen diese teilen.

Und wer noch vor wenigen Jahren mit Blick auf dieses Szenario den Kopf geschüttelt hat – was in den USA alles möglich ist! – der hätte nie mit einem Matteo Salvini gerechnet, nie mit einem Heinz-Christian Strache, nie damit, dass ein deutscher Bundestagsabgeordneter das Dritte Reich einmal als bloßen »Vogelschiss der Geschichte« bezeichnen würde.

Populismus, Rechtspopulismus, Autoritarismus

Und an dieser Stelle müssen wir auf der letzten Strecke des Kapitels noch ein paar Begriffe klären. Dass dies überfällig ist, zeigt der Blick in die Medien, da wimmelt es von Populisten, Rechtspopulisten, Faschisten, mit ein paar »Neuen Rechten« dazwischen.

Definitionen sind auf diesem Feld tatsächlich keine leichte Sache. Schon das Wort »Populismus« hat es in sich. Es beschreibt die Tendenz, einen moralischen Unterschied zwischen dem (guten) Volk und seinen (schlechten) Eliten zu konstruieren. Weil Letztere als korrupt, selbstsüchtig und überheblich angesehen werden, gehören sie durch neue, echte Vertreter des Volkes ausgetauscht (da bieten sich dann glücklicherweise die Führer der populistischen Bewegungen an). Zum anderen aber ist der Begriff »Populismus« längst zu einem Totschlagbegriff geworden, mit dem sich alles abwerten lässt, was eben populär ist, einem selbst aber nicht in den Kram passt (»das ist mir jetzt aber doch etwas zu populistisch«). Im Jahr 2018 verhinderte Russland gar bei einer UN-Sitzung eine Einigung auf eine Waffenruhe für Syrien mit dem Hinweis, der Entwurf sei »zu populistisch«.

Noch schwieriger wird es beim »Rechts«-Populismus – schließlich sammeln sich auf der »rechten« Seite des politischen Spektrums sowohl konservative als auch reaktionäre oder auch faschistische Positionen (und das schon lange, insofern ist der Begriff der »neuen« Rechten vielleicht der wackeligste von allen).

Einig ist sich die Forschung immerhin in einem. Der Kern des Rechtspopulismus – er lässt sich quer durch die verschiedenen Länder nachweisen – ist der Autoritarismus. Darunter wird die Neigung von Menschen beschrieben, sich in ein System von Befehl und Gehorsam einzugliedern, und gleichzeitig diejenigen abzuwerten, die nicht zu dieser Ordnung gehören – andere Ethnien etwa.24 Statt von Rechtspopulismus wird in den folgenden Kapiteln deshalb oft auch vom »autoritären Populismus« oder einfach vom Rechtsautoritarismus die Rede sein.

Der autoritäre Doppeldecker

Genau diese Zweiteilung der rechtsautoritären Welt kann die Autoritarismusforschung heute gut belegen.25 Sie sieht den modernen Rechtspopulismus im Grunde als eine Art Doppeldecker:

Was beide Etagen teilen, sind Abwertung und Vorurteile gegenüber denen, die nicht zur eigenen Hierarchie gehören. Ansonsten aber herrscht in beiden Etagen eine durchaus unterschiedliche Stimmung. So ist man oben eher flexibel und pragmatisch (»Es geht übrigens an vielen Orten hart zu«, sagt da etwa ein Donald Trump zu seinem Sitznachbarn, um ihm zu erklären, warum ein Kim Jong-un trotz der von ihm angeordneten Massenexekutionen ein guter Mann sei). Unten dagegen ist man eher dogmatisch, da liest man dann gerne auch heilige Schriften, von »Mein Kampf« bis zur Mao-Bibel (das kann man sich in der oberen Etage schon deshalb sparen, weil man da doch eher an die Macht im Allgemeinen und an sich selbst im Besonderen glaubt).

IS27

USAFPÖ

US28 Typisch für den -amerikanischen Rechtspopulismus ist zudem, dass er inzwischen überraschend viele der in den sowieso nicht dünn gesäten »sozialen Dominierer« einsammelt – also Menschen, die daran glauben, dass den Überlegenen freie Bahn und aller Lohn der Welt gehört (in anderen Ländern haben diese auf soziale Dominanz Gepolten ihre Heimat oft auch in den traditionell konservativen oder marktliberalen Parteien). Kein Wunder, dass uns die Trumpsche Politik mit ihrem Hin und Her zwischen ökonomischem Nationalismus, weißer Identitätspolitik, pietistischer Retrospektive und klassischem Neoliberalismus so widersprüchlich erscheint. Dass das alles auch noch zu den narzisstischen Tagträumen des Präsidenten passen muss, macht die Sache auch nicht klarer.

Rechtspopulisten = AfD-Wähler?

So verlockend die Formel ist, sie ist falsch: Rechtsautoritäre Positionen haben ihre politische Heimat auch in anderen Parteien. Großbritannien etwa hatte lange Zeit keine dezidiert rechtspopulistische Partei – trotzdem sind rechtsautoritäre Haltungen in der Bevölkerung und in der Politik sehr weit verbreitet. Und in den USA sind rechtsautoritäre Haltungen etwa bei den Schwarzen mindestens genauso häufig wie bei den Weißen29 – sie wählen trotzdem keinen Trump. Die amtlichen Wahlergebnisse geben also das rechtsautoritäre Potenzial in einem Land nur teilweise oder verzerrt wider. Die satte Verankerung des deutschen Rechtsautoritarismus auch in den bürgerlichen Parteien zeigt sich beispielsweise in den Gesetzgebungsverfahren. Teile der CDU/CSU etwa haben sich trotz wirtschaftsfreundlicher Bekenntnisse jahrzehntelang gegen ein Einwanderungsgesetz gesträubt (»Kinder statt Inder«, manche werden sich erinnern). Bei einer Geburtenquote von durchgängig unter 1,5 kann man das schon aus mathematischen Gründen als nichts anderes denn als Ausdruck einer geschlossenen Ideologie werten. Auch das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung, das schließlich im Jahr 2000 im Grundgesetz verankert wurde, wurde von der CDU/CSU Fraktion jahrelang heftig bekämpft. Wenn es also damals nicht den rot-grünen »Unfall« gegeben hätte, dürften Eltern womöglich bis heute zuschlagen, wenn ihre Schläge dem höheren Zweck der Erziehung dienten.