In einer stürmischen Vollmondnacht schlägt ein Blitz in eine jahrhundertealte Eiche ein, und eine Sternschnuppe fällt vom Himmel. Im gleichen Moment wird ein wunderschöner Schimmel mit einem kleinen schwarzen Stern auf der Stirn geboren.
Es war ein schöner, aber noch nicht übermäßig heißer Frühsommertag. Doch Carolin Baumgarten, genannt Caro, war gerade so warm, als wäre es ein heißer Augustnachmittag – das lag allerdings nicht am Wetter, sondern daran, dass sie den ganzen Weg von der Bushaltestelle in Grünstadt bis zum Eishockeystadion gerannt war. Ihr Freund, Ferdinand Reifenbach, hatte dort gerade Eishockey-Training – und Carolin hatte fest versprochen, dabei zu sein.
„Puh!“, ächzte Carolin völlig außer Atem, als sie schließlich das Eisstadion erreichte. „Jetzt aber nichts wie rein!“ Sie schnaufte kurz durch, dann drückte sie die Eingangstür auf. Herrlich kühle Luft schlug ihr entgegen. Carolin eilte gleich hinüber zur Tribüne und setzte sich auf den Platz, auf dem sie schon häufiger gesessen hatte, wenn sie Ferdi beim Training zuschaute. Aufmerksam spähte sie über die Eisfläche, auf der zahlreiche Jungs in dick gepolsterten Schutzanzügen und mit Helmen herumkurvten. Derjenige mit der Rückennummer 26 schnappte sich gerade den Puck, trickste geschickt einen Gegenspieler aus, schob die Scheibe blitzschnell zwischen dessen Beinen hindurch und hatte dann freie Bahn. Mit einem gekonnten Dribbling steuerte er nun direkt auf das gegnerische Tor zu. Und zack! Der Spieler hämmerte den Puck am Torwart vorbei über die Torlinie. Treffer! Der Spieler riss die Arme in die Höhe und jubelte. Carolin auch, denn hinter der Nummer 26 des Torschützen verbarg sich Ferdi.
„Super, Ferdi, klasse!“, schrie Carolin lauthals. Ihr Herz schlug vor Stolz und Freude ein klein wenig schneller.
Wenige Sekunden später flitzte Ferdi schon wieder über das Eis. Das Eishockeyspielen war für ihn das, was für Carolin das Reiten war. Absolute Hingabe und Leidenschaft. Wenn Ferdi Kufen unter den Füßen hatte, war er glücklich und zufrieden. Genau so erging es Carolin, wenn sie auf dem Rücken ihres wunderschönen mondhellen Araberhengstes über die Felder und Wiesen ritt.
Carolin steckte ihre Hände in die Jackentasche, ertastete etwas und stutzte. Mit der rechten Hand zog sie ein paar Karotten heraus. „Carolin Baumgarten, du wirst auch immer zerstreuter“, sagte sie kopfschüttelnd zu sich selbst und konnte sich ein Schmunzeln dabei nicht verkneifen. Die Karotten waren eigentlich für ihr Pferd Sternentänzer gedacht gewesen, aber die Zeit hatte für einen Abstecher auf ihren geliebten Reiterhof Lindenhain heute einfach nicht mehr gereicht.
„Hallo, Carolinchen!“
Lächelnd drehte Carolin den Kopf in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Nur ein einziger Mensch durfte sie „Carolinchen“ nennen, und das war Ferdi. „Hi, Ferdi!“
Das Training war zu Ende. Bevor sich Ferdi mit den anderen Spielern auf den Weg in die Umkleide machte, zog er den Handschuh aus und gestikulierte mit der Hand durch die Luft.
„Alles klar!“, nickte Carolin, die auch ohne Worte begriffen hatte, dass er damit zehn Minuten Wartezeit anzeigen wollte. Nach einer Weile stand sie auf, verließ die Tribüne, stellte sich neben den Ausgang des Eisstadions und beobachtete, wie ein Spieler nach dem anderen herauskam.
Dann endlich erschien Ferdi. Seine hellblonden Haare waren noch feucht, seine Wangen gerötet, seine wasserblauen Augen strahlten freudig, als er Carolin erblickte. „Hi, Caro, da bin ich!“ Er stellte seine große Eishockeytasche neben ihr ab und drückte ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange.
„Cooles Spiel heute, Ferdi!“, lobte Carolin und war mächtig stolz auf den Freund.
„Danke, Carolinchen“, freute sich Ferdi. „Das Trainingscamp in den letzten Ferien hat sich echt voll gelohnt.“ Ferdi schulterte seine Riesentasche. „Aber jetzt hab ich erst mal einen Bärenhunger. Hast du Lust, wollen wir was essen gehen?“, fragte er, fasste Carolin an der Hand und zog sie mit sich Richtung Stadtzentrum.
Wenig später saßen Carolin und Ferdi nebeneinander in einem Café in Grünstadt. Ferdi bestellte einen doppelten Schinkenkäsetoast, Carolin eine Eisschokolade.
„Hast du denn gar keinen Appetit?“, fragte Ferdi, als die Bedienung mit der Bestellung wieder abgezogen war.
„Nee, ich hab zu Hause schon was gegessen.“ Carolin blies die Backen auf. „War Grundvoraussetzung, neben der Hausi natürlich.“
„Wofür denn?“
Carolin stöhnte. „Dafür, dass ich überhaupt noch weg durfte. Meine Mam ist gerade wieder voll auf dem strengen Trip. Du sollst deine Hausaufgaben machen, Schatz! Du verbringst zu viel Zeit mit deinen Freunden und vor allem mit deinem Pferd, Schatz! Und so weiter“, machte sie ihre Mutter nach.
„Tja!“ Ferdi konnte ihren Frust mitfühlen. „Mütter haben manchmal so Anfälle.“
„Dabei hat sie gar keinen Grund dafür“, beklagte sich Carolin. „Es gab keinerlei besonderen Vorfälle. Außer nicht ganz so hitverdächtigen Noten.“
Kurz darauf servierte die Bedienung den Toast und die Eisschokolade.
„Ausgerechnet jetzt“, seufzte Carolin und schnappte sich die Eisschokolade.
Ferdi nahm eine Toasthälfte in die Hand. „Warum?“
„Weil doch Sanne, die Stute von meiner Großmutter Helena von Borken, demnächst ihr Fohlen auf die Welt bringen wird. Du weißt schon, das Fohlen, das mir gehören soll! Und da würde ich natürlich wahnsinnig gern die Geburt miterleben wollen.“
„Aber das Gestüt von deiner Oma ist doch ohnehin in Norddeutschland“, wandte Ferdi ein.
„Stimmt“, erwiderte Carolin und saugte an dem Strohhalm. „Schon, aber ich würde halt gern hinfahren und dabei sein.“
Ferdi nahm die zweite Toasthälfte. „Dann mach doch! Norddeutschland ist schließlich nicht aus der Welt. Außerdem fährst du ja zu deiner Großmutter, so viel kann deine Mam da doch gar nicht dagegen haben.“ Er überlegte kurz, beugte sich dann nach vorn und legte seine Hand auf Carolins Arm. „Weißt du was, Carolinchen? Ich komm mit!“
Carolin saugte heftiger am Strohhalm. Auf einmal schnalzte sie den Halm mit der Zunge weg. „Au ja!“, sprudelte sie freudig los. „Das ist eine geniale Idee! Wir fahren zusammen. Du begleitest mich. In etwa vierzehn Tagen soll es so weit sein.“
„Cool!“ Ferdi legte seinen Toast zurück auf den Teller. „Wir fahren mit dem Zug, wohnen auf dem Gestüt deiner Oma, das wird klasse. Und wir verbringen richtig viel Zeit zusammen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich reite auch mit aus, versprochen.“
„Und wir erleben zusammen die Geburt von dem Fohlen“, sagte Carolin aufgeregt und verdrehte schwärmerisch die Augen „Das wird megagenial! Ich freu mich jetzt schon voll drauf.“
Nach dem Essen und einem kleinen Spaziergang verabschiedete sich Carolin von Ferdi und stieg in den Bus zurück nach Lilienthal, wo sie mit ihrer Familie lebte. Ferdi wohnte schon seit einiger Zeit in Grünstadt, wo sich auch die Privatschule befand, die er besuchte. Aufgekratzt saß Carolin am Busfenster und ließ die Felder draußen an sich vorbeiziehen.
Auf einmal erschien vor ihrem inneren Auge ein pechschwarzes Fohlen. „Silbersternchen“, murmelte Carolin ergriffen und erinnerte sich daran, als Sternentänzers Sohn auf Lindenhain in einer wilden, stürmischen Vollmondnacht geboren wurde. Es war ein erhebender, unvergesslicher Moment gewesen. „Du warst so süß, so goldig und standest zuerst ganz wackelig auf deinen dünnen Beinchen“, sagte sie ganz leise. Das war lange her. Inzwischen war aus dem süßen Fohlen ein herrlicher Hengst geworden, der mit ihrer Freundin Annit kreuz und quer durch die Welt reiste.
Carolin drückte ihre Nase gegen die Scheibe. Wie gern wäre ich auch bei der Geburt von meinem Sternentänzer dabei gewesen!, dachte sie wehmütig. Doch sie hatte den herrlichen Schimmel mit dem kleinen schwarzen Keilstern auf der Stirn erst kennengelernt, als er schon ausgewachsen war.
Als der Bus schließlich Lilienthal erreichte, war Carolins Sehnsucht nach Sternentänzer so groß, dass sie beschloss, noch einen kurzen Abstecher nach Lindenhain zu machen. Kurzerhand schwang sie sich auf ihr Fahrrad, das sie an der Bushaltestelle geparkt hatte, und radelte los. An der Einfahrt zu ihrem geliebten Reiterhof blieb Carolin stehen und schaute sich um.
Bei der Koppel blieb ihr Blick hängen. Dort stand er, ihr prächtiger weißer Araberhengst. Doch Sternentänzer war nicht nur wunderschön, sondern er verfügte auch über eine ganz außergewöhnliche Gabe. Eine magische Gabe. Wenn Carolin in Vollmondnächten auf dem Schimmel ausritt, konnte sie in die Zukunft schauen. Beim Anblick ihres geliebten Pferdes umspielte ein Lächeln ihre Lippen, und ein großes Glücksgefühl durchströmte ihren ganzen Körper.
Der Hengst hatte den schlanken Hals nach oben gereckt, seine dunklen, geheimnisvollen Augen sahen suchend umher, der mondhelle Schweif wehte wie eine Fahne im Wind. Carolin lief hinüber zur Weide und setzte sich auf das Gatter, ihren Lieblingsplatz.
Kurz darauf kam Sternentänzer auch schon angetrabt. Knapp vor dem Zaun stoppte er, streckte den Hals und wieherte einmal laut, dann legte er seinen edlen Kopf auf ihre Beine.
Carolin beugte sich nach vorne und streichelte die samtweichen Nüstern des Pferdes. „Mein schöner Sternentänzer! Stell dir vor, Ferdi und ich fahren zusammen zu meiner Großmutter. Zur Geburt von Sannes Fohlen. Das wird bestimmt megacool.“ Sie spielte zärtlich mit seinen Ohren. „Ich würd dich ja gern mitnehmen, aber wir reisen mit dem Zug. Und nach ein paar Tagen bin ich wieder zurück, dann reiten wir ganz viel aus, das versprech ich dir, mein Süßer.“ Liebevoll strich Carolin über Sternentänzers Hals – dabei machte ihr Herz einen kleinen Sprung vor lauter Vorfreude auf die Reise.
Als Carolin spät am Abend nach Hause kam, war sie immer noch völlig aufgekratzt. „Hallo, Mam, da bin ich wieder!“, rief sie ausgelassen, während sie die Haustür aufschloss.
Ihre Mutter, Ines Baumgarten, hatte sichtlich weniger gute Laune. Sie kam mit strenger Miene und verschränkten Armen aus der Küche. Ihre Lippen waren so schmal wie ein Strich, ihre Stirn kräuselte sich bedrohlich. „Wird ja auch höchste Zeit, mein Fräulein!“, knurrte sie ausgesprochen säuerlich. „Die anderen sitzen schon am Tisch. Wir warten nur noch auf dich.“
Mist! Zeit vergessen! Carolin schlüpfte geschwind aus ihrer Jacke und den Schuhen und beeilte sich, ins Wohnzimmer zu kommen. Dort saßen ihr Stiefvater und ihr Stiefbruder vor leeren Tellern und warteten auf sie. Carolins Mutter war in zweiter Ehe mit dem Tierarzt Dr. Sander verheiratet. Der hatte seinen Sohn Thorben mit in die Ehe gebracht.
„Na endlich!“, stöhnte Thorben leidend. „Mein Bauch knurrt schon so laut wie ein hungriger Tiger.“
Ines kam hinter Carolin ins Zimmer und stellte einen großen Topf auf den Tisch.
„Was gibt’s denn?“, fragte Carolin skeptisch, während sie sich an den Tisch setzte.
„Bouillabaisse.“
Carolin rümpfte die Nase. „Was ist das denn?“ Sie hasste es, wenn ihre Mutter Dinge kochte, deren Namen man kaum aussprechen konnte. In der Regel war das kein gutes Zeichen, denn Carolin aß am liebsten Hausmannskost.
Dr. Sander ging es ähnlich. Genau wie Carolin mochte er am liebsten deftige Gerichte. Daher machte er keinerlei Anstalten, sich dem Topf mit seinem Teller zu nähern.
Thorben hingegen hatte schon eine erste Schöpfkelle voll auf seinem Teller. „Mhm, echt superlecker, ich liebe Fischsuppe.“
Na toll! Carolin wurde schon beim Anblick der Fische übel, die aus der roten, dickflüssigen Soße ragten. Ablehnend verschränkte sie die Arme. „Ich ess das nicht, Mam.“
Ihre Mutter sah sie streng an. „Was anderes gibt es heute nicht. Das oder gar nichts!“
Dann lieber gar nichts! „Ich hab eh keinen Hunger“, gab Carolin trotzig zurück.
„Gib mir bitte deinen Teller, Jo.“
Dr. Sander zögerte einen Moment, dann reichte er seiner Frau mit einem ergebenen Seufzer den Teller. „Nicht viel bitte, ich bin auch gar nicht hungrig.“
Ines schüttelte den Kopf. „Ihr wisst echt nicht, was lecker ist, stimmt’s, Thorben?“
Thorben nickte inbrünstig. „Das kann man wohl sagen.“
Carolin schnappte sich ein trockenes Stück Weißbrot und biss hinein. In Gedanken war sie ohnehin noch bei ihrer Reise. Da kam ihr plötzlich ein Gedanke. „Jo, wie kann man eigentlich die Geburt eines Fohlens bestimmen? Ich meine den ganz genauen Zeitpunkt.“
Dr. Sander legte seinen Löffel zur Seite. „Ist auf Lindenhain etwa eines der Pferde trächtig?“, fragte er nach.
„Nee“, winkte Carolin ab. „Nicht auf Lindenhain. Es geht um das Fohlen von Sanne. Du weißt doch, die Stute, die auf Helena von Borkens Gestüt in Norddeutschland demnächst ihr Fohlen zur Welt bringt. Das Fohlen, das dann mir gehören soll.“
Ines sagte nichts, zog nur genervt die Augenbrauen hoch.
„Stimmt“, erinnerte sich Jo. „Müsste ja bald so weit sein.“
„In zwei Wochen, glaub ich“, gab Carolin zurück.
„Also, die Trächtigkeitsdauer bei Pferden beträgt elf Monate, genauer gesagt zwischen 320 und 360 Tagen“, erklärte Dr. Sander eifrig.
„Jo!“, fiel Ines ihm ins Wort.
Doch Dr. Sander ließ sich nicht beirren und redete weiter. „Das ist erst mal eine ziemlich weite Zeitspanne. Je näher die Geburt aber rückt, desto besser lässt sich ein genauer Termin bestimmen. Auch wenn das nicht immer ganz einfach ist und …“
„Jo“, unterbrach Ines ihn erneut, diesmal mit leicht erhobener Stimme. „Wir sind hier beim Essen und weder in deiner Praxis, Jo, noch auf deinem Pferdehof, Caro. Keine Tiergespräche beim Essen, wenn ich bitten darf!“
Manno! „Ja, schon gut“, gehorchte Carolin und widmete sich wieder ihrem Weißbrot. Ich muss, ich will und ich werde bei der Fohlengeburt dabei sein, entschied sie, während sie entschlossen in das Brot biss.
Am nächsten Tag huschte Carolin gerade noch rechtzeitig vor Unterrichtsbeginn ins Klassenzimmer. Lina Schniggenfittich, ihre beste Freundin und Banknachbarin, war schon da und offenbar leicht nervös. Denn sie fischte immer wieder nach einer ihrer langen Haarsträhnen, wickelte diese bis zum Anschlag um den Finger und ließ sie wieder los, um dann mit einer neuen Strähne gleich wieder von vorne anzufangen. Dabei ächzte sie so laut, als würde sie einen Hindernislauf absolvieren.
Carolin ließ sich auf ihren Stuhl fallen. „Puh, das war knapp! Ich hab heute voll verpennt. Den Wecker ausgeschaltet und weitergeschlafen.“
„Ich hab heute Nacht überhaupt kein Auge zugetan“, berichtete Lina. „Ich bin so was von nervös.“
Carolin holte ihr Mäppchen und einige Hefte aus der Tasche. „Wieso das denn?“
„Ich hab doch meine Zwischenprüfung bald“, stieß Lina hervor. Sie nahm nun schon seit einiger Zeit Unterricht bei ihrer Großmutter Ami, die als Hexe und Heilerin arbeitete. Eines Tages sollte Lina ihre Nachfolge antreten, doch dazu musste sie noch sehr viel lernen und zudem auch etliche Prüfungen schaffen.
„Wo und wann genau ist die Prüfung denn nun?“, erkundigte sich Carolin. „Weißt du das schon?“
„Keine Ahnung!“
„Und was ist, wenn du sie geschafft hast?“
„Keine Ahnung!“
„Und was passiert, wenn du sie nicht schaffst?“
„Mann, Caro!“, motzte Lina. „Was weiß denn ich? Ich hab echt keinen blassen Schimmer.“ Sie funkelte Carolin mit ihren schönen grünen Augen an. „Und ich will jetzt lieber gar nichts davon hören, okay! Lass uns einfach über was anderes sprechen.“
Okay! Wenn du meinst … „Wir besuchen meine Großmutter“, plapperte Carolin drauflos.
„Wie?“ Überrascht ließ Lina von der nächsten Haarsträhne ab.
„Ferdi und ich, wir fahren zu Helena von Borken auf das Gestüt. Wir wollen bei der Geburt des Fohlens dabei sein“, verkündete Carolin überschwänglich.
„Aha“, machte Lina trocken. „Und deine Mutter ist mit deinen Plänen einverstanden?“
„Na ja“, begann Carolin kleinlaut. Wohlweislich hatte sie beim Pläneschmieden das Thema Ines erst mal völlig außen vor gelassen.
„Und Ferdi kann auch einfach so die Schule und sein Eishockey schwänzen“, mahnte Lina weiter.
„Ähm!“ Auch darüber war nicht gesprochen worden.
„Aha, und wann genau geht’s los? Und wie willst du die Reise überhaupt finanzieren? Wie lange bleibt ihr? Und wie kommt ihr vom Bahnhof zum Gestüt?“
„Ähm …“
„Super!“ Lina zog eine Grimasse. „Merke schon, alles bestens durchdacht und vorbereitet. Dann gute Reise, euch beiden!“
„Guten Tag, die Herrschaften!“ Gernot Feldbusch kam schwungvoll ins Klassenzimmer. Der junge Geografielehrer hatte eine Vorliebe für hautenge Shirts, die seinen beträchtlichen Bauch knapp umhüllten. Fast immer hatte er eine schwarze Tasche aus Hochglanzleder dabei. In diese Tasche fasste er nun und holte einen Stapel Papier heraus. „Dann packt doch mal alle Bücher weg, wir schreiben eine kleine Klassenarbeit über den Stoff der letzten Stunde.“
„Oh nee!“ Lina rollte mit den Augen. „Ich hab null Ahnung.“
„Ich auch“, murmelte Carolin und nagte besorgt an ihrer Unterlippe. Eine schlechte Note konnte sie gerade gar nicht gebrauchen. „Vielleicht wird’s ja nicht so schlimm“, hoffte sie dann noch halblaut.
Wurde es aber doch! Nur mit Mühe und Not schaffte sie es, die Fragen so einigermaßen zu beantworten.
Als der Geografielehrer die Arbeiten wieder einsammelte, lehnte sich Carolin zurück und verschränkte die Arme. „So, die einzige Hoffnung, die ich jetzt noch habe, ist, dass der Feldbusch überfallen und ihm seine Tasche weggerissen wird“, stöhnte sie.
„Vergiss es!“, grinste Lina. „Zeig mir den Dieb, der scharf auf diese olle Tasche ist.“
„Dann hoff ich, dass die Tasche in eine Pfütze fällt und alle Arbeiten bis zur Unkenntlichkeit verschmutzt werden. Oder dass sich der Feldbusch ganz plötzlich dafür entscheidet, auf große Weltreise zu gehen, und nie wiederkommt. Oder …“
„Caro!“ Lina legte den Arm um die Freundin. „Gib’s auf!“
„Ich weiß“, seufzte Carolin. „Dann bleibt nur eins: Ich muss versuchen, meiner Mutter den Reiseplan irgendwie zu verklickern, bevor wir die Arbeit zurückbekommen.“
Auf dem Heimweg übte Carolin, wie sie ihre Mutter wohl am besten überzeugen konnte. „Mam, Ferdi und ich, wir wollen zu meiner Großmutter nach Norddeutschland fahren. Die freut sich schon so … ja …“, sagte sie vor sich hin. Ist doch eigentlich nichts dabei, wenn man mit seinem Freund seine Oma besuchen möchte. Ist doch echt kein großes Ding! Das muss Mam einfach erlauben. „Ja“, sprach sich Carolin noch einmal Mut zu, bevor sie in den Ahornweg bog. Es gibt keinen Einwand. Die Reiterferien mit Lina und Jennifer hat Ines ja auch erlaubt. Und da waren wir drei Mädels allein mit drei Pferden unterwegs. Deutlich gefährlicher also als ein Trip zu seiner Oma! Carolin stellte ihr Rad ab, lief zur Haustür und sperrte auf. Am besten, ich bring’s gleich hinter mich.
„Mam!“, rief sie schon laut beim Betreten des Flurs.
„Ines ist noch nicht da“, ertönte eine Stimme aus der Küche. Eine Sekunde später tauchte Dr. Sander im Flur auf. In der Hand hielt er ein großes Stück Salami, das er höchst genüsslich verspeiste.
„Wenn Mam das sieht!“, grinste Carolin. „Diese deftigen, fetten Sachen sind ihr ja ein Dorn im Auge.“
„Ich ess ja schon ganz schnell“, gab ihr Stiefvater augenzwinkernd zurück. „Magst du mal beißen?“
„Nee danke“, kicherte Carolin.
Dr. Sander deutete in die Küche. „Ich hab mein geheimes Not-Rationslager gerade aufgefüllt. Falls du mal Hunger hast …“
„Au ja!“ Carolin schlüpfte aus ihrer Jacke.
„Ines hat angedeutet, dass sie Sushi mitbringen will.“
Carolin schüttelte sich. „Ihhh, ich hasse rohen Fisch!“
„Ich auch“, stimmte Dr. Sander ihr zu und schlenkerte das Stück Salami durch die Luft. „Aber ich hab ziemlich Kohldampf.“
Carolin bückte sich, durchsuchte Dr. Sanders Essvorräte und zog einen Schokoriegel heraus. „Nervennahrung“, sagte sie lachend und riss die Verpackung auf.
Wie zwei Diebe in der Nacht standen Carolin und Dr. Sander nun nebeneinander in der Küche und kauten.
„Ich hätte da übrigens eine Idee“, unterbrach Dr. Sander das genüssliche Schmatzen.
„Wir vergrößern unser Vorratslager“, scherzte Carolin.
„Besser“, schmunzelte Dr. Sander. „Viel besser.“
„Jetzt sag schon, Jo!“
Dr. Sander entfernte ein Stückchen Wurstpelle und beförderte es in den Mülleimer. „Es geht um das Gestüt deiner Großmutter.“
„Wie?“ Carolin stutzte und blickte ihren Stiefvater fragend an.
„Du wolltest doch zur Geburt des Fohlens hinfahren, das war doch deine Ansage?“
„Ähm … ja!“, bestätigte Carolin.
„Ich würde mir das Gestüt auch gerne mal anschauen, würde mich sehr interessieren“, redete Dr. Sander weiter. „Und deswegen hab ich mir überlegt, dass wir doch alle hinfahren könnten, die ganze Familie.“
Carolin machte große Augen, als hätte ihr Stiefvater eben von Elefanten im Ballettunterricht erzählt. Mit allem hätte sie gerechnet, aber ganz bestimmt nicht damit!
„Du, ich, Ines, Thorben, wir vier machen einen kleinen Familienausflug daraus. Das wär doch was, was meinst du?“ Dr. Sander sah Carolin erwartungsvoll an. „Wann hast du gesagt, ist es so weit? In vierzehn Tagen?“
Carolin schluckte den letzten Bissen Schokoriegel hinunter, der sich noch in ihrem Mund befand. Was soll ich jetzt sagen? Einerseits eine super Idee, andererseits hab ich doch schon alles mit Ferdi ausgemacht.
In diesem Moment wurde die Haustür aufgeschlossen. Ines kam herein, und Carolin konnte sich um eine Antwort drücken. Zumindest erst einmal.
„Huhu!“, rief Ines vergnügt. „Es hat ein wenig länger gedauert, weil ich beim Sushiholen anstehen musste.“
Carolin und Dr. Sander wechselten schnelle Blicke, sagten aber nichts.
Ines stellte ihre beiden Papiertüten auf dem Tisch ab. „Wer mag was?“
Carolin hob abwehrend die Hände. „Ich hab superviel Hausi auf und gar keinen Hunger.“ Bevor ihre Mutter etwas entgegnen konnte, packte Carolin rasch ihre Schultasche und lief nach oben in ihr Zimmer.
Dort warf sie die Tasche aufs Bett, fuhr sich mit beiden Händen durch ihre kurzen kastanienbraunen Haare und tigerte nervös im Zimmer auf und ab. Mist! Ich hab doch schon alles mit Ferdi klargemacht, dachte sie in einem Moment. Im nächsten Moment hörte sie Linas Stimme: „Und wann geht’s los? Und wie willst du die Reise finanzieren? Und wie kommt ihr zum Gestüt?“ Lina hat ja recht! Wir haben noch gar nichts organisiert, da gibt es noch so viel zu planen. Mit Jo und Mam wäre alles viel, viel einfacher. Aber jetzt hab ich es mit Ferdi doch schon verabredet … Ferdi! Ich muss es ihm sagen.
Hektisch kramte Carolin ihr Handy aus der Schultasche und wählte Ferdis Nummer. Es klingelte. Einmal, zweimal, dreimal … dann sprang die Mailbox an. „Mist!“ Carolin beendete den Anruf.
In diesem Augenblick klopfte es an ihrer Zimmertür.
„Herein!“
Dr. Sander betrat den Raum und lehnte sich gegen die Wand. „Ich habe eben mit Ines gesprochen. Sie findet die Idee von der Reise gar nicht schlecht. Aber natürlich nur unter der Voraussetzung, dass wir nicht den ganzen Tag im Pferdestall verbringen. Originalton Ines.“
„Cool!“, befand Carolin mit gemischten Gefühlen.
„So ein Gestüt wollte ich schon lange mal besichtigen.“ Er rieb sich die Hände. „Bestimmt sehr lohnenswert, die Pferdezucht zu sehen. Ich bin schon gespannt.“
„Ich auch“, erwiderte Carolin.
„Das werden ein paar recht interessante Tage“, meinte Dr. Sander.
„Du kannst dann auch gleich das neugeborene Fohlen untersuchen, ob es auch ganz gesund ist.“
„Mach ich“, versprach Dr. Sander. „Obwohl es sicher fähige Kollegen vor Ort gibt.“
Nun ließ sich Carolin doch von seiner Vorfreude anstecken. „Vielleicht können wir ja gleich eine ganze Woche bleiben? Dann kann ich die ersten Tage von meinem Fohlen live miterleben.“