Robert Brack · Die siebte Hölle
A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins
William Shakespeare
Jerzy Pakula ist immer noch auf der Verliererstraße. Seine schäbige Buchhandlung im Hamburger Stadtteil St. Georg wirft nicht genug Profit ab. Als Marek, ein Freund aus der polnischen Heimat, ihm ein Geschäft vorschlägt, ist er mehr als skeptisch. Denn Marek unterhält nicht nur Beziehungen zu zwielichtigen Gestalten der Hamburger Unterwelt und der polnischen Exilantenszene, sondern er zockt und trinkt. Doch 5 000 schnell verdiente Mark sind nicht zu verachten. Der Auftrag lautet, zwei tschechoslowakische Oldtimer aus den 30er Jahren von Hamburg nach Lissabon zu überführen.
Zur gleichen Zeit befindet sich Major Kronstad von der Warschauer Kriminalpolizei in Lissabon. Seine Frau, eine renommierte Psychologin, hat ihn in der portugiesischen Metropole zurückgelassen, um an einem Kongress in Paris teilzunehmen. Kronstad absolviert pflichtbewusst sein touristisches Besichtigungsprogramm und beginnt sich zu langweilen. Eine unvorhergesehene Damenbekanntschaft bringt nicht nur sein Gefühlsleben durcheinander, sondern weckt auch seine kriminalistische Neugier.
Währenddessen macht sich Tadeusz Estreicher ebenfalls von Hamburg aus auf den Weg nach Lissabon. Der ewige Exilant, Kosmopolit und Anarchosyndikalist ist als letztes lebendes Mitglied der „Föderation der Gruppen der Anarchisten-Kommunisten von Polen und Litauen“ zu einem Vortrag auf dem Kongress der Internationalen Arbeiter-Assoziation eingeladen. Die Arbeit mit dem versprengten Häufchen aufrechter Genossen wirkt geradezu verjüngend auf den alten Revoluzzer.
Im letzten Teil seiner Trilogie um Polen und polnische Exilanten führt Robert Brack noch einmal die Schicksale seiner Protagonisten zusammen, die, ob unfreiwillig oder absichtlich, Teil einer internationalen Verschwörung profitgieriger Betrüger werden.
Robert Brack
Die siebte Hölle
PENDRAGON
Die Hauptpersonen
Marek
möchte um jeden Preis glücklich sein, aber seine Geliebte
Anna
nutzt ihn schamlos aus, da helfen nicht einmal die guten Ratschläge seines Freundes
Jerzy Pakula
dessen Glück leider auch nicht von Dauer ist, obwohl
Tina
den Beruf gewechselt hat; dagegen streitet
Tadeusz Estreicher
für das Glück der ganzen Menschheit, das leider nicht zu dem Plan von
Jonas Hagström
gehört, denn er denkt genauso wie
Marianne Fichte
nur an den persönlichen Vorteil, der den aufrechten
Major Kronstad
nie interessiert hat, während der verwahrloste
João
wie alle anderen zum Opfer des unfassbaren
Stalski
wird, – unberührt von allem giert eine überaus menschliche
Ratte
nicht nur nach dem Besitz zweier legendärer
Tatra-Limousinen.
Prolog
Eine grell strahlende dicke Glühbirne unter einem verbeulten Metallschirm hing an einem schwarzen Kabel von der hohen Scheunendecke fast bis zur Erde herunter, wurde von einem Luftzug erfasst und begann, leicht hin und her zu pendeln. Ihr breiter Lichtkreis bewegte sich zitternd in der Mitte des großen Raums über den strohbedeckten Boden. Eine fette Ratte huschte unter einen Strohballen in eine dunkle Ecke.
Der Mann, der den verrotteten Lichtschalter betätigt hatte, knipste seine Taschenlampe aus und zog an dem schmutzigen Seil, das von der Scheunendecke herabhing. Die grell strahlende Lampe glitt langsam und ruckartig nach oben und tauchte das Scheuneninnere in ein hässliches weißes Licht. Zur rechten Seite des Mannes waren einige Boxen abgeteilt, in denen irgendwann einmal Kühe gestanden haben mussten. Zu seiner Linken stapelten sich uralte Strohballen. Einige waren heruntergefallen, andere auseinandergeplatzt.
Der Mann band das Seil an einen rostigen Nagel, den er vor vielen Jahren einmal in einen Balken geschlagen hatte und schlurfte dann träge durch das Stroh. Er setzte sich auf einen Ballen und schob seinen verbeulten Filzhut in den Nacken. Der Mann trug eine uralte Arbeitshose, die einmal dunkelblau gewesen sein musste, inzwischen aber von unzähligen schwarzen und grauen Ölflecken übersät war. Über seinen schmächtigen Oberkörper hatte er einen dicken braun gelb gemusterten Wollpullover gezogen, seine Füße steckten in ausgelatschten Armeestiefeln.
Er schnaufte laut und kurzatmig. Er war nicht mehr der Jüngste, das merkte er jeden Tag. In ein paar Monaten würde er 70 werden – falls er es bis dahin schaffen sollte. Eigentlich glaubte er nicht daran. Es war ihm ohnehin nicht wichtig. Seit seine Frau gestorben war und die Kinder in den Westen gegangen sind, spürte er täglich die Einsamkeit um sich herum wachsen. Als alter Mann, der auf einem allein gelegenen Bauernhof lebte und sich noch nicht einmal vom Pfarrer überreden ließ, in die Stadt zu ziehen, war er an diesem Schicksal natürlich selbst schuld. Aber was konnte er schon dafür, dass er immer älter wurde? Er starrte auf seine Arme, die auf seinen Oberschenkeln lagen. Trotz des Schmutzes konnte man das Zickzack-Muster erkennen, in dem der Pullover gestrickt war. Damals, als seine Frau ihm ihr Werk überreicht hatte, weigerte er sich, ihn anzuziehen. Er fand das Muster wirklich lächerlich. Das hatte sie zum Weinen gebracht, aber er war bei seiner Meinung geblieben. Nachdem sie gestorben war, fiel ihm der Pullover eines Tages wieder in die Hände, als er in seinem Kleiderschrank herumwühlte. Er zog ihn an und seitdem trug er ihn jeden Tag – außer sonntags, wenn er in die Kirche ging.
Die Ratte raschelte nervös in ihrer Ecke. Der Blick des alten Mannes glitt über den Boden in die Mitte des Raums. Dort spannten sich zwei große schwarze Plastikplanen über zwei hintereinanderstehende, langgestreckte, stromlinienförmige Körper. Schwerfällig stand er auf und schlurfte hinüber. Dann begann er die Planen abzudecken.
Darunter kamen zwei blitzende, mächtige Metallkörper zum Vorschein. Es waren zwei langgestreckte alte Limousinen. Mit ihren seltsamen Heckflossen sahen sie aus wie riesige Fische aus grauer Urzeit. Der eine Wagen war schwarz, der andere bis auf die breiten, altmodischen Reifen vollkommen weiß. Sie standen mit den Frontscheinwerfern zueinander in der Mitte der Scheune. Aus einer Holzkiste, die neben den Autos stand, holte der Mann einen Lappen hervor, schüttelte ihn aus und begann dann damit, die schwarze Karosserie zu putzen, obwohl sie das nicht nötig hatte. Das Metall glänzte ohnehin. Aber es machte dem alten Mann Spaß, mit dem weichen Tuch über die geschwungenen Formen des Automobils zu streichen. Er putzte die drei vorderen Scheinwerfer, wischte langsam über den breiten, sanft geschwungenen Kotflügel, über das langgestreckte, nach hinten leicht abfallende Dach und ließ seine Hand vorsichtig über den Kühlerrost im Heck gleiten. Ehrfürchtig wischte er über die Heckflosse und stellte sich vor, wie schön es wäre, wieder einmal den Klang des Achtzylindermotors hören zu können, das gleichmäßig tiefe Brummen einer vollkommenen Maschine.
Leider hatte er keinen Tropfen Benzin mehr. Das war schon grotesk. Hier in seiner Scheune, mitten auf dem Land, standen zwei wertvolle Oldtimer, zwei Tatra-Limousinen, die in den 30er-Jahren in der Tschechoslowakei gebaut worden waren – zwei Legenden der Automobilgeschichte –, und er besaß keine Benzingutscheine mehr, um die Tanks zu füllen. Aber selbst wenn er sich welche besorgt hätte – die Tankstellen in Piotrków Trybunalski, der nahegelegenen kleinen Wojewodschaftshauptstadt, hatten nie genug Benzin. Man musste jedes Mal aufs neue Schlange stehen. Und wenn er eines vermeiden wollte, dann das Abenteuer, mit einem dieser langgestreckten Luxusschlitten in der Schlange vor der Tankstelle zu stehen, zwischen all den winzigen Fiat Polski. Die Zeiten, wo er Spaß daran gehabt hatte, mit einem der Tatras durch die Gegend zu brausen und aufzufallen, waren lange vorbei. Alt wie er war, würde er heute nur lächerlich wirken. Also beließ er es dabei, seine mächtigen Lieblinge zu pflegen und zu streicheln.
Draußen pfiff der Herbstwind um die Scheune. Der alte Mann ging nun zu dem weißen Wagen und putzte auch hier wieder den imaginären Staub von der Karosserie. Seine Frau hatte den Weißen am liebsten gemocht. Weil seine Karosserie abgerundeter gebaut war und er dadurch organischer wirkte. Sie nannte ihn „den großen Walfisch“, obwohl beide Wagen annähernd gleich groß gebaut waren. Mit ihm hatten sie früher Spritztouren durch die Volksrepublik unternommen und sich überall bewundern lassen. Einmal waren sie sogar bis nach Bulgarien ans Schwarze Meer gefahren.
Aber das war sehr lange her.
Der alte Mann öffnete die Fahrertür. Sie ging nicht, wie bei heutigen Autos üblich, nach vorne auf, sondern nach hinten – während die hinteren Türen nach vorne aufgingen. Er setzte sich auf die breite Vorderbank, auf der drei Erwachsene bequem nebeneinander sitzen konnten und umfasste mit beiden Händen das große Lenkrad. Dann starrte er regungslos durch die Windschutzscheibe und dachte an die Zeit, als er noch jung gewesen war.
Langsam sank sein Kopf auf das Lenkrad, und er döste ein.
Den Wind, der durch die Ritzen im Dach pfiff, hörte er nicht. Auch nicht die Regentropfen, die draußen immer dichter fielen und das Geräusch eines Motors, das sich langsam näherte.
Der Fiat parkte mitten in einer großen Pfütze vor dem Scheunentor. Seine Scheinwerfer strahlten das Tor an. Die drei Männer, die ausstiegen, bekamen nasse Füße und fluchten. Zwei von ihnen trugen Taschenlampen, der dritte, der größer und dünner war als die beiden anderen untersetzten Gestalten, hatte eine Brechstange in der Hand.
„Was willst du denn mit der Eisenstange, Sławek?“, fragte der eine Untersetzte, der eine Mütze auf dem Kopf trug.
„Die Tür aufmachen“, antwortete der, den sie Sławek nannten, mürrisch.
Der mit der Mütze lachte. „Einmal pusten genügt, und die Bruchbude fällt zusammen.“
„Halt den Mund!“, sagte Sławek.
„Moment mal“, zischte plötzlich der Dritte und blieb vor dem Tor stehen. Er deutete auf die schmalen Lichtstreifen, die durch ein paar Ritzen in der Wand fielen. „Da drinnen ist Licht!“
Die Männer blieben schlagartig stehen. Sie standen da wie drei Wachsfiguren.
„Licht?“, fragte der mit der Mütze. „Wieso ist da Licht?“
„Hörst du was? Ich höre nichts“, sagte der andere.
„Haltet den Mund, ihr Idioten!“, flüsterte Sławek.
Er machte ein paar Schritte durch den Schlamm nach vorne und versuchte durch einen Spalt in der Scheunenwand zu spähen.
„Was ist da los? Sag mal, was ist da los?“, flüsterte der mit der Mütze hastig.
Sławek sah nichts außer ein paar übereinandergestapelte Strohballen.
„Ich seh nichts.“
„Vielleicht sollten wir lieber wieder gehen?“, sagte der Dritte. „Ich bin schon ganz nass.“
„Halt den Mund, Tomek!“, sagte Sławek.
„Ich will wieder ins Auto“, murmelte Tomek.
Der mit der Mütze tippte Sławek auf die Schulter. „Vielleicht versuchen wir’s morgen noch mal?“
„Blödsinn!“, sagte Sławek. Er drehte sich um und richtete seine Taschenlampe auf Tomek. „Du machst die Tür auf!“
„Hör mal“, sagte Tomek zögernd, „ich … Du blendest mich.“
„Ich leuchte jetzt auf die Tür“, sagte Sławek, „und du machst sie auf.“
Der Lichtkegel der Taschenlampe richtete sich auf die kleine Tür, die in das große Scheunentor eingelassen war. An der Tür befand sich ein eiserner Riegel.
„Der Riegel ist zurückgeschoben“, flüsterte Tomek. „Da ist jemand drin.“
„Mach die Tür auf und sag guten Abend, wenn du jemanden siehst. Also los!“
Tomeks Hand zitterte im Schein der Taschenlampe, als er den nassen glitschigen Riegel anfasste und die Tür nach außen aufzog. Dann spähte er vorsichtig hinein. Sławek gab ihm einen Stoß und er taumelte in die Scheune.
„Guten Abend“, sagte er.
Aber es war keine Menschenseele zu sehen.
„Blödmann!“, zischte Sławek, der ihm rasch gefolgt war.
„Niemand da“, stellte Tomek fast enttäuscht fest.
Hinter ihm trat endlich auch sein Kumpel mit der Mütze ein. Sein Blick fiel auf die beiden Limousinen und er sagte: „Oh!“
Sławek ließ seinen Blick durch die Scheune schweife n und suchte jede Ecke nach etwas Verdächtigem ab. Irgendwo raschelte eine Ratte. Sonst war es ruhig.
„Oh!“, wiederholte der mit der Mütze. „Seht mal.“
„Die sind aber verdammt groß!“, sagte Tomek.
„Wunderschön“, sagte der mit der Mütze, „die sind ja wunderschön.“
„Ja, ja“, murmelte Sławek mürrisch, „könnt ihr nicht mal den Mund halten?“
„Wie zwei Fische auf Rädern“, flüsterte Tomek und trat ein paar Schritte auf die beiden Autos zu, die mit dem Heck zu ihnen standen.
„Warum zum Teufel ist das Licht an?“, fragte Sławek.
Tomeks Hand glitt langsam und ehrfürchtig über die Heckflosse des weißen Tatra, dann über das sanft geschwungene blitzsaubere Dach nach vorn. Er beugte sich zur Beifahrertür hinunter und blickte ins Wageninnere. Dann schrie er leise auf.
„Was ist denn los?“, rief Sławek ärgerlich.
„Da sitzt einer drin, hinterm Steuer!“
Sławek umschloss mit beiden Händen fest die Eisenstange und hastete zur Fahrertür des weißen Tatra. Der andere mit der Mütze folgte ihm. Beide blickten zugleich durch die Fahrertür auf den alten Mann, der über das Lenkrad gebeugt eingenickt war.
„Das ist der Besitzer“, sagte Sławek, „er schläft.“
„Was jetzt?“, fragte der mit der Mütze.
Sławek sah ihn ratlos an.
Auf der anderen Seite kicherte Tomek albern.
„Die Tür ist falschrum eingebaut“, sagte er.
Der mit der Mütze blickte finster zu ihm hinüber: „Der Idiot ist immer noch betrunken.“
Immer noch kichernd öffnete Tomek die Beifahrertür. Dann beugte er sich nach unten und stützte sich auf die Sitzbank.
„He!“, rief Sławek.
Aber es war schon zu spät. Tomek kroch so weit in den Wagen hinein, bis sein Gesicht direkt vor dem des schlafenden alten Mannes war. Der Alte war so zusammengesackt, dass sein Gesicht Richtung Beifahrertür gerichtet war. Tomek holte tief Luft, hätte beinahe laut losgelacht und schrie dann so laut er konnte: „Buuuh!“ Dabei zog er eine fürchterliche Grimasse.
Der alte Mann riss die Augen auf und zuckte wie von einem Stromschlag durchpeitscht nach oben. Seine Gesichtszüge verzerrten sich vor Entsetzen.
„Buuh!“, schrie Tomek noch lauter.
Schlagartig entwich alles Blut aus dem Gesicht des alten Mannes. Er blinzelte kurz, schloss die Augen und fiel kraftlos auf das Lenkrad.
Tomek gluckste vor Freude und rutschte rückwärts aus dem Auto heraus. Dann richtete er sich auf und rief: „Ich habe ihn bewusstlos gemacht. Er …“
Weiter kam er nicht. Die Faust von Sławek, der um den Wagen herumgehastet war, traf ihn an der Schläfe, und er taumelte zu Boden.
Auf der anderen Wagenseite riss der mit der Mütze die Fahrertür auf.
„Er ist ohnmächtig“, stellte er fest.
Sławek kam wieder um den Wagen herum.
„Zieh ihn raus“, sagte er, „ich nehm dann seine Beine.“
Der mit der Mütze zog den alten Mann an den Armen aus dem Wagen. Sein schmächtiger Körper war nicht besonders schwer. Sławek fasste ihn an den Beinen.
„Halt, warte!“, sagte er dann.
Mit geübter Hand durchsuchte er die Hosentaschen des Alten und zog einen Schlüsselbund hervor.
„Da rüber!“, kommandierte er dann und machte eine entsprechende Kopfbewegung.
Sie trugen ihn zu den Strohballen, nahmen einmal Schwung und warfen den kraftlosen Körper in hohem Bogen über die Ballen hinweg in das dahinterliegende Heu.
„He!“, rief Tomek ihnen zu, als er wieder aufgestanden war.
„Halt den Mund, du Schwachkopf“, fuhr Sławek ihn harsch an.
Tomek blickte ihn ratlos an.
„Was nun?“, fragte der mit der Mütze.
„Mach das Tor auf“, sagte Sławek. „Holt die Kanister mit dem Benzin. Na los, macht schon!“
Die beiden untersetzten Männer gingen nach draußen.
Sławek setzte sich in die weiße Limousine und probierte die Schlüssel aus. Einer passte. Dann stieg er in den schwarzen Tatra ein. Auch hier passte ein Zündschlüssel.
Hastig füllten sie das Benzin in die beiden Tanks, während der Wind durch das geöffnete Scheunentor hereinpfiff und die dicke Glühbirne, die von der Decke hing, hin und her pendeln ließ.
Schließlich war es so weit. Die Motoren, die jahrelang nicht mehr in Betrieb gewesen waren, starteten reibungslos. Sie brummten tief und melodiös vor sich hin.
Zuerst fuhr Sławek im Rückwärtsgang vorsichtig den weißen Tatra nach draußen. Dann folgte sein Kumpel mit der Mütze im schwarzen Wagen. Im Vorwärtsgang hatte er es leichter, das Fahrzeug hinauszumanövrieren. Der Regen platschte auf die beiden Autos, die nun im Schein der Scheunenlampe nass glänzten wie zwei vorsintflutliche Reptilien.
Die drei Männer wuchteten das Scheunentor zu und setzten sich auf die Fahrersitze.
Der besoffene Tomek musste den Fiat steuern. Er tuckerte unsicher hinter den Limousinen her, die in Sekundenschnelle von der schwarzen Nacht verschluckt wurden.
In einer Ecke der Scheune raschelte es. Die Ratte wagte sich wieder aus ihrem Versteck hervor. Neugierig trippelte sie durch die leere Scheune und hüpfte über die Strohballen ins Heu. Dort entdeckte sie den Körper des alten Mannes. Er bewegte sich nicht. Die Ratte huschte näher heran, bis sie mit ihrer spitzen Schnauze ganz nah an seinem Gesicht angelangt war. Die Ratte hatte keine Angst mehr vor ihm. Der alte Mann atmete nicht mehr. Der alte Mann war tot.
1
Der Mann mit dem Lech-Wałęsa-Bärtchen starrte wie gebannt auf die flinken Finger der Blondine auf der anderen Seite des Tisches. In einem Halbkreis legte sie die Karten vor die Männer, die sich um den schmalen grünen Tisch in der zweiten Etage des Kasinos an der Reeperbahn drängten. Die Blondine ließ ihren Blick gelegentlich hochnäsig über die Gesichter der Männer gleiten. Obwohl sie eine schiefe Nase und schlaffe Pausbäckchen hatte, konnte sie sich das erlauben. Sie war die Königin des Black-Jack-Tisches. Die Karten, die durch ihre Finger glitten, entschieden über 100 Mark mehr oder weniger in den Brieftaschen der Spieler. Manchmal gewann einer der Männer, aber keiner schien über sein Glück wirklich erfreut zu sein. Es war harte Arbeit. Und meistens gewann sie.
Der Mann, der eine entfernte Ähnlichkeit mit dem polnischen Arbeiterführer hatte, war bereits dazu übergegangen, mit 50-Mark-Chips zu setzen, aber auch die gingen zur Neige. Als er den letzten verloren hatte, gab er es auf. Mit kleineren Chips wollte er sich nicht abgeben. Das war nicht professionell. Noch weniger professionell war es allerdings, an einem Abend in kürzester Zeit 1350 Mark zu verspielen. Der Mann, der kleiner war als die meisten Anwesenden – wenn man einmal von einigen Asiaten absah –, zuckte mutlos mit den Schultern, drehte sich um und ging zur Bar. Auch an der Bar war es eng. Überhaupt war es in diesem ganzen Kasino sehr eng, obwohl es mehrere Stockwerke besaß. Das lag an den vielen Spielautomaten, die überall herumstanden. Wenn man zu viel getrunken hatte, konnte es vorkommen, dass man zwischen all den gleich aussehenden Maschinen nicht mehr den Weg nach draußen fand. Einmal war ihm das schon passiert. Seitdem trank er weniger – jedenfalls hier im Kasino. In diesem Stockwerk gab es die verrückten Automaten zum Glück nicht. Stattdessen musste man sich zwischen Menschenleibern hindurchzwängen. Er schaffte es, zwischen einem muskulösen Afrikaner und einem schmächtigen Asiaten einen Platz an der Bar zu ergattern.
Der bullige Glatzkopf hinter dem Tresen kannte ihn.
„Na, Marek, was darf’s denn sein?“, fragte er und sah ihn schief an.
Marek wusste, dass der Glatzkopf ihn nicht leiden konnte. Trotzdem war er froh darüber, dass er ihn mit Namen ansprach. Jeder fühlt sich an einem Ort zu Hause, wo er mit Vornamen angesprochen wird. Wer in einem fremden Land lebt und sich dessen Sprache mühsam angeeignet hat, der achtet auf solche Dinge. Denn jede noch so kleine Freundlichkeit nährt die Illusion, dass man sich eines Tages vielleicht mal wieder irgendwo heimisch fühlen wird. Den Namen des Barmanns kannte Marek nicht, aber darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht.
Marek bestellte ein Bier und einen Wodka. Als der Schnaps vor ihn gestellt wurde, griff er gierig danach, aber der Glatzkopf legte seine breite Hand über das Glas.
„Erst will ich die Mäuse sehn“, sagte er kalt.
„Was soll das?“, fragte Marek verärgert. „Ich hab doch Geld.“
„Das ist ja schön, dass du’s hast. Dann gib’s mal her. Wir wissen doch beide, wie schnell es flöten geht, das gute Geld.“
„Ich hab doch aufgehört zu spielen.“
„Na klar, um so besser. Also her damit!“
„Wo ist denn das Bier?“
„Dauert noch, kannst’s aber ruhig schon bezahlen.“
„Ich zahle erst, wenn das Bier da ist!“, sagte Marek störrisch.
Der Glatzkopf stöhnte, griff nach dem Glas unter dem Zapfhahn, ließ es lieblos volllaufen und stellte es neben den Wodka. Der Schaum lief das Glas herunter und bildete eine Pfütze auf der Theke.
Marek begutachtete das Bierglas. Dann deutete er mit dem Zeigefinger auf 0,4-Marke.
„Sie haben nicht genug eingeschenkt“, sagte er.
Der Barmann sah ihn erstaunt an. „Was ist los?“
„Sie haben nicht bis zur Marke eingeschenkt. Da – 0,4 Liter, das ist noch nicht genug.“
„Du hast wohl den Arsch offen, du Polacke, he?“
„Ich bezahle dafür und möchte korrekt bedient werden.“ Mareks Stimme klang fast entschuldigend.
Der Glatzkopf sah ihn stirnrunzelnd an. Er nahm das Bierglas und hielt es noch mal unter den Zapfhahn – so lange, bis aller Schaum verschwunden und das Glas randvoll war. Dann knallte er es auf den Tresen und hielt die nasse Hand auf.
„Es ist zwar nicht richtig so“, sagte Marek, „aber ich zahle trotzdem.“
Er legte einen 20-Mark-Schein hin.
„Das wollte ich dir auch geraten haben“, murmelte der Barmann, griff nach dem Schein und ging zur Kasse.
Als er zurückkam, knallte er das Wechselgeld auf die Theke und hob drohend den Zeigefinger. „Komm mir nicht mehr auf die Tour, Polacke. Ist das klar?“
„Danke schön“, sagte Marek und steckte das Geld ein.
Es war nicht das erste Mal, dass man ihn schlecht behandelte. Aber er hatte sich vorgenommen, sich nichts bieten zu lassen. Kapitalismus bedeutete schließlich, dass man alles bekam, was man wollte, solange man bezahlen konnte. Der Wahlspruch „Der Kunde ist König“ war einer seiner Lieblingssätze. Deshalb bin ich schließlich in den Westen gekommen, dachte er, um König zu sein. Leider gab es noch einen anderen Spruch, und der lautete: „Geld regiert die Welt“. Und an das Geld ranzukommen, fiel Marek noch immer verdammt schwer.
Das Bier tropfte vom Glas auf seinen teuren Anzug und die modern gemusterte Weste, die er darunter trug.Er nahm einen tiefen Zug aus dem Bierglas, dann kippte er den Wodka nach.
„He, Marek!“ Eine Hand landete auf seiner linken Schulter und blieb dort liegen. Marek drehte sich um und blickte in ein grinsendes Gesicht, das von blonden Locken eingerahmt wurde. Es war ein hübsches Jungengesicht und passte überhaupt nicht zum übrigen Körper, der in einem Trainingsanzug steckte und durch intensives Bodybuilding verunstaltet worden war.
„Hallo, Piet“, sagte Marek und sah den Blondschopf skeptisch an. Piet hieß eigentlich Piotr und kam aus Bydgoszcz. Aber seit er im Westen war und seine Haare blond gefärbt hatte, nannte er sich Piet.
Unter seiner halboffenen Trainingsjacke trug er ein T-Shirt. Darauf stand in flammenden Buchstaben „Heavy Metal“.
„Na, Marek, mal wieder im Lotto gewonnen?“
„Ich hab nicht gewonnen, auch nicht im Lotto.“
„Oh, Mann, schade. Hast du trotzdem ein bisschen Geld über?“
„Geld?“
„Nur so fünf Mark für’n Bier. Ich hab einen Höllendurst.“
„Du kannst einen Schluck von mir haben.“
„Na hör mal, ich will dir doch dein Bier nicht wegtrinken.“
„Dann musst du verdursten.“
„Bist pleite, was? Na ja, es trifft uns alle mal. Die Alte saugt dich aus, he? Du bist viel zu gutmütig, weißt du das, Alter? So wie die aussieht, ich meine, wenn ich so ’ne Braut hätte – Mann, das Geld würde nur so fließen.“
„Quatsch“, sagte Marek, „das ist Quatsch.“
„Wieso ist das Quatsch? Ein guter Rat ist das, kein Quatsch.“
„Es ist ein schlechter Rat, weil ich sie nämlich heiraten will.“
Der Blonde lachte und tätschelte Marek mitleidig die Schulter. Marek versuchte die Hand abzuschütteln.
„Du bist ein echter Komiker, Marek.“
„Wieso bin ich ein Komiker?“
„Die Alte nimmt dich aus. Du bezahlst die doppelte Miete, weil sie sich zu fein ist, dir deinen Haushalt zu führen, und du willst sie auch noch heiraten.“
„Was ist denn daran so unnormal?“
Frauen kosten Geld, dachte Marek. Das hatte er schon in seiner Jugend bitter erfahren.
„Sie sitzt zu Hause, feilt sich die Nägel, und du schaffst den Zaster ran. Nennst du das normal? Das ist doch nicht normal. Umgekehrt wäre es normal, würde ich sagen.“
„Warum soll ich mir die Nägel feilen?“
Der Blonde lachte und tätschelte Marek im Nacken herum. „Du bist ein echter Clown, Marek, das mag ich an dir, du bist ein Clown. Wie wär’s jetzt also mit ’nem Bier?“
„Das war mein letztes Geld.“
„Du hast doch einen Zwanziger gehabt. Hast du doch, oder?“
„Hast du mich beobachtet?“, fragte Marek zornig. „Bist du ein Spitzel?“
„He, immer langsam, ich hab’s doch nur zufällig gesehen.“
„Zufällig brauch ich das Geld aber noch!“
„Ich geb’s dir nachher zurück.“
„Was heißt das, nachher?“
Der Blonde senkte die Stimme und rückte näher an Marek heran.
„Hör mal, wir gehn heute noch auf Tour, hast du das vergessen?“
„Ich kann nicht mit, ich hab keine Zeit.“
„Komm, komm, komm“, sagte der Blonde. „Was redest du da für einen Scheiß?“
Marek schüttelte die Hand ab, die schon wieder auf seiner Schulter lag.
„Das ist kein Scheiß. Ich kann nicht. Basta.“
„Marek, ich kann das doch nicht alleine machen, das weißt du selbst.“
„Ich hab Anna versprochen, sie noch zu besuchen.“
„Sie hat dich ganz schön unter der Fuchtel, deine Anna.“
„Willst du mich beleidigen? Hau ab, Mensch!“
„Was sie wohl sagt, deine Anna, wenn du total pleite zu ihr kommst? Da wird sie sich aber drüber freuen, was?“
„Halt den Mund, du Arschloch!“
Piet griff nach Mareks Bierglas. „Wenn du nicht einen Haufen Scheinchen in der Hand hast und schön damit rumwedelst, dann kannst du sehen, wo du bleibst. Da hängt sich deine kleine Anna aus dem Fenster und lacht sich einen anderen an.“
„So ist sie nicht! Gib mir mein Bier her!“
Marek riss ihm das Glas aus der Hand. Der Rest des Biers schwappte auf seine Hose.
„Sieh dir das an, sieh dir das an!“, rief Marek. „Was wird sie wohl dazu sagen? Die ganze Hose ist verdorben!“
„Das gute Stück“, höhnte der blonde Piet.
„Wenn’s erst trocken ist, stinkt alles nach Bier.“
„Die ganze Welt stinkt, Mann. Wenn du bloß nach Bier stinkst, hast du direkt noch Glück gehabt.“
„Jetzt muss ich die Hose in die Reinigung bringen“, jammerte Marek.
„Das ist ja mal was Nettes, das sie für dich tun kann. Wie günstig!“
Von wegen, dachte Marek, das bin ja immer ich, der waschen gehen muss. Sie will ja eine Waschmaschine, ohne Waschmaschine will sie nicht waschen. Aber eine Waschmaschine ist gar nicht so billig.
„Sie wäscht doch für dich?“
„Klar“, sagte Marek, „klar wäscht sie für mich. Sie ist eine gute Hausfrau.“
„Jede Wette“, sagte Piet genüsslich. „Man hört ja wahre Wunderdinge von ihr.“
„Was soll das denn heißen?“
„Dass sie trotz all der vielen Hausarbeit noch genug Zeit findet, sich jeden zweiten Tag vom Friseur frisch aufdonnern zu lassen und mit ihren Freundinnen –“
„Du bist nur neidisch“, fiel Marek ihm ins Wort. „Wenn du nicht so neidisch wärst, würdest du nicht so einen Mist erzählen.“
Piet grinste. „Klar bin ich neidisch, bei genauerer Betrachtung, ich meine, wenn ich sie genauer betrachte …“
„Halt die Klappe!“, sagte Marek müde.
„Pass auf“, sagte Piet, „ruf sie an und erklär ihr, dass du noch zu tun hast. Du kannst dich nicht davor drücken. Hagström macht dir die Hölle heiß. Und wenn du jetzt schon andauernd pleite bist, wie soll das dann erst werden, wenn er dich rausschmeißt?“
Marek nickte stumm.
„He!“, sagte Piet. „Mach nicht so ein Gesicht. Ich bestell uns noch zwei Bier und du gehst telefonieren, okay?“
Marek zuckte mit den Schultern und machte sich auf die Suche nach einem Telefon. Im Kasinofand er keins, also ging er nach draußen in eine Telefonzelle. Über die Bürgersteige auf der Reeperbahn wälzten sich Menschenmassen. Es war Freitagabend und eine ganze Reihe von Autobussen hatte die abendlichen Vergnügungstouristen ausgespuckt. Marek schaute durch die verschmierte Scheibe der Telefonzelle und wunderte sich, dass die Leute alle so gut gelaunt waren. Mitten in der Nacht. Es war immerhin schon ein Uhr. Hatten die keine Probleme?, fragte er sich. Hatten die alle Geld und waren glücklich verheiratet?
Er wählte die Nummer von Anna und hörte das Tuten im Hörer. Es tutete immer wieder. Sie nahm nicht ab. Vielleicht war sie schon schlafen gegangen, überlegte er. Aber das wäre das erste Mal, dass sie nicht auf ihn gewartet hätte. Meistens sah sie fern. Es gab ja neuerdings Fernsehsender, die die ganze Nacht hindurch sendeten. Anna konnte sich jeden Unsinn ansehen. Manchmal dachte er, dass sie ihr halbes Leben vor dem Fernseher verbrachte. Er hatte nichts dagegen. So wusste er jedenfalls, wo sie war. Aber was war heute mit ihr los? Sie nahm tatsächlich nicht ab. Marek spürte, wie seine Hand zu zittern begann. Sie kann doch unmöglich ausgegangen sein, dachte er. Mitten in der Nacht, ganz allein …
Jemand polterte an die Tür der Telefonzelle. Marek hing den Hörer ein, vergaß die Groschen einzustecken und öffnete die Tür.
Draußen stand ein zorniger Mann mit Anzug, Krawatte und wirren Haaren.
„Wollen Sie da drin übernachten?“, fragte er.
„Bitte sehr“, sagte Marek gedankenverloren und hielt ihm die Tür auf. Der zornige Mann trat schnaufend in die Zelle.
Als Marek zu Piet zurückkam, gab der ihm einen aufmunternden Klaps auf die Schulter:
„Na, alles abgeklärt?“
„Ja, ja.“
„Siehst du, wenn der Mann Geld verdienen geht, muss die Frau kuschen. Das ist ganz natürlich. Apropos Geld – da sind noch zwei Biere zu zahlen.“
Marek gab ihm einen Zehner und Piet gab ihn dem Barmann.
„Wo ist denn mein Bier?“, fragte Marek.
„Oh, Mensch“, sagte Piet und versuchte betroffen zu wirken, „ich dachte, du kommst nicht mehr. Es hat so lange gedauert. Bevor’s schal wurde, hab ich’s lieber selbst getrunken.“
„Es hat nicht lange gedauert“, sagte Marek verbissen. „Du schuldest mir ein Bier!“
Aber kaum hatte er es gesagt, war es auch schon wieder vergessen. Marek dachte an Anna. Wo zum Teufel war sie? Und vor allem – mit wem?
„Du kriegst dein Geld wieder“, sagte Piet. „Aber jetzt lass uns gehn, es wird Zeit.“
In Piets verrostetem Honda Civic, Modell 81, fuhren die beiden von der Reeperbahn aus Richtung Nordosten. Vor einigen Tagen hatten sie auf ihrer Tour die Stadtrandgebiete im Norden von Hamburg abgegrast, in dieser Nacht war Farmsen an der Reihe.
In einer Siedlung mit mehrstöckigen Mietshäusern aus Backstein suchten sie sich eine kleine Straße und fuhren sie langsam ab. Am Straßenrand und auf kleinen Parkplätzen vor den Häusern standen zahlreiche Autos. Die beiden Männer fuhren langsam die Straße entlang und begutachteten die Modelle. Piet deutete auf einen weißen Golf, der unter einer Laterne stand.
„Nummer eins“, sagte er.
Sie fuhren weiter, bis sie in einer Parkbucht einen dunklen VW Passat entdeckten.
„Nummer zwei.“
Dann erreichten sie den Wendehammer, drehten um und fuhren zügig zurück. Am Anfang der Straße parkten sie ihren Wagen unauffällig in der dunkelsten Ecke, die sie finden konnten, aber so, dass sie im Notfall sofort auf die breitere Hauptverkehrsstraße einbiegen konnten.
Piet schaltete den Scheinwerfer aus und sah seinen Beifahrer an. „Alles klar?“
Marek nickte und griff nach dem Müllsack zu seinen Füßen. Auf dem Armaturenbrett vor ihm lag ein Notizblock, an dem mit einem Faden ein Bleistift angebunden war. Er nahm ihn in die Hand, besah sich den Bleistift und stellte befriedigt fest, dass er gut gespitzt war. Für alle Fälle hatte er noch einen anderen Bleistift in der Hosentasche, falls ihm die Spitze abbrechen würde. Einmal, als er einen Kugelschreiber dabeigehabt hatte, war ihm die Tinte ausgegangen. Er hatte keinen Ersatzschreiber eingesteckt, und ausgerechnet in dieser Nacht hatten sie jede Menge „Kandidaten“ entdeckt. Hätte Piet nicht zufällig noch einen Filzstift in seinem Handschuhfach gefunden, wäre aus der lukrativsten Nacht des letzten Monats nichts geworden. Seitdem achtete Marek darauf, dass sein Handwerkszeug in Ordnung war. Genauso wichtig wie das Schreibzeug war das Klebeband mit den darauf gekritzelten Nummern, das er aus dem Sack hervorholte und seinem Partner reichte.
Piet drehte sich zur Rückbank um und nahm eine andere Tüte, die dort herumlag. Im Gegensatz zu dem Sack von Marek war diese Tüte völlig leer.
Sie stiegen aus.
Piet beugte sich noch mal in den Wagen und holte unter dem Fahrersitz eine große Zange hervor, die er sich in den Hosenbund schob.
Nachdem er die Wagentür fast geräuschlos geschlossen hatte, blickte Marek nervös um sich. Hohe Bogenlampen strahlten die verlassene Straße an, die sich leicht gekrümmt zwischen den Mietshäusern entlangzog. Die Luft war dunstig und man konnte keine Sterne am Himmel erkennen. Rechts und links wuchsen am Rand der Vorgärten oder der kleinen Parkplätze üppige Sträucher und verstellten den Blick auf die Fenster im Erdgeschoss der Wohnhäuser. Das war ganz günstig. In keinem der Fenster brannte ein Licht. Marek fand es immer wieder erstaunlich und komisch zugleich, sich vorzustellen, dass sich in allen Wohnungen nur schlafende Menschen befanden. Tief atmende oder schnarchende Menschen, Tausende von Träumern, eine Armee der Ohnmächtigen.
„Willst du Wurzeln schlagen oder kommst du jetzt?“, fragte Piet.
„Ich komm schon.“
„Hier, nimm die Tüte.“
Sie gingen die Straße entlang und blickten immer wieder um sich. Als sie bei dem weißen Golf angekommen waren, schlug Marek seinen Notizblock auf und kritzelte mit dem Bleistift den Namen der Straße darauf. Dann kniete er sich nieder und schrieb die Nummer des Nummernschildes ab.
Währenddessen machte Piet sich am Tankschloss zu schaffen. Er zog seine schwere Zange aus dem Hosenbund und setzte an. Mit einer raschen kräftigen Drehung war die Sache schon erledigt: Es knackte kurz und das Schloss war kaputt. Er drehte den Tankverschluss ab, klebte den Klebestreifen mit der Nummer eins darauf und warf ihn in seine Plastiktüte. Dann schnippte er einmal ungeduldig mit den Fingern und Marek, der jetzt neben ihm stand, griff in seinen Sack und holte einen anderen Tankdeckel hervor. Dann reichte er ihm einen kleinen Schlüssel.
Piet setzte den Deckel auf die Tanköffnung, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn nach rechts und zog ihn wieder ab. Das war alles. Sie gingen weiter.
Bei „Kandidat Nummer zwei“, dem dunklen Passat in der Parkbucht, wiederholte sich das gleiche Spiel. Marek notierte die Nummer, Piet tauschte das Schloss aus und klebte die Nummer zwei auf den Deckel, den er in die Tüte fallen ließ.
Als das erledigt war, gingen sie zügig zu ihrem eigenen Wagen zurück, stiegen ein und fuhren eine Straße weiter. Dort entdeckten sie nur ein geeignetes Objekt, einen roten Audi 80. Die gleiche Prozedur: Piet wechselte den Tankverschluss aus, Marek schrieb Straßennamen und Autonummer auf. Außer dem kurzen Knacken des aufbrechenden Schlosses war nichts zu hören. War alles erledigt, sah man nur zwei Männer mit zwei Tüten in der Hand die Straße entlanglaufen.
Auf diese Weise klapperten sie noch einige Straßen ab. Es waren immer die gleichen Automodelle, nach denen sie Ausschau hielten. Schließlich hatten sie acht Wagen präpariert. Das sollte für diese Nacht genügen.
Sie stiegen in ihren Honda und fuhren Richtung Hauptverkehrsstraße. Als sie darauf einbogen, fuhr ein Taxi vorbei, sonst war es ruhig.
„He“, sagte Piet und deutete nach vorn, wo am Straßenrand ein schwarzer Audi 80 unter einer Laterne geparkt war. „Den nehmen wir noch mit und dann machen wir Schluss für heute.“
„Lass es lieber bleiben, hier kommen zu viele Autos vorbei“, sagte Marek.
„Quatsch, wo denn? Siehst du jemanden? Ist doch weit und breit nichts zu sehen.“
„Es ist zu hell hier.“
„Den nehmen wir noch und dann ist Schluss, klar?“ Piet steuerte den Honda bereits rechts an den Straßenrand.
„Na gut, meinetwegen.“
Sie stiegen aus. Marek blickte ängstlich nach rechts und links. Die Straße war vierspurig, jeden Moment konnte ein Auto vorbeikommen, und sie standen direkt im Lichtschein einer Straßenlaterne.
Piet zog die Zange aus dem Hosenbund. Marek kniete sich vor dem Kofferraum nieder, um die Nummer zu notieren. Kaum war er in die Knie gegangen, hörte er, wie Piet zischte: „Oh, verdammt, Scheiße!“
Marek blickte über die Schulter und erstarrte. Aus einer Seitenstraße bog ein Streifenwagen auf die Vierspurige und kam langsam näher. Marek verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Er sah, wie Piet zu seinem Wagen hastete, und dachte, dass es bestimmt verdächtig wirken würde. Aber es war ohnehin zu spät. Die Polizisten im Streifenwagen hatten sie gesehen und gaben Gas. Piet schien zu merken, dass er zu wenig Zeit haben würde, um mit dem Auto zu flüchten, und wandte sich nach rechts. Während Marek sich mühsam aufrappelte, rannte er bereits über die breite Straße auf die andere Seite. Der Streifenwagen hielt an. Marek rannte ebenfalls los.
„Halt, bleiben Sie stehen!“
Marek rannte wie ein Besessener den Bürgersteig entlang. Hinter sich hörte er Schritte. Er blickte kurz über die Schulter und sah, dass nur einer der Polizisten hinter ihm her war, während der andere Piet verfolgte. Marek bog in eine Seitenstraße ein, rannte an einer Hecke entlang und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, sich zu verstecken. Er lief nach rechts in einen kleinen Weg, der zwischen zwei Mietshäusern hindurchführte und hastete dann über einen glitschigen nassen Rasen. Er rutschte und wäre beinahe hingestürzt. Das Keuchen des Polizisten hinter ihm kam näher. Marek verfluchte seine teuren Stiefeletten mit den Ledersohlen, die auf dem feuchten Gras keinen Halt fanden. Das Keuchen kam noch näher, er versuchte auszuweichen, scharf nach links abzubiegen – und rutschte aus. Er fiel zu Boden und der Polizist über ihn. Auch er hatte das Gleichgewicht verloren. Marek rollte sich zur Seite, griff mit traumwandlerischer Sicherheit nach einem Stein, der vor seiner Nase lag und holte aus. Der Stein knallte mit voller Wucht gegen den Hinterkopf des Beamten. Der Mann seufzte und blieb liegen. Marek stellte erstaunt fest, dass der Polizist sehr jung war. Er sah nicht älter als 20 aus. Marek fühlte Mitleid. Einen kurzen Moment packte ihn die Angst, er könnte ihn erschlagen haben, aber dann merkte er, dass er noch atmete und leise stöhnte. Dann sah er die Pistole. Ohne darüber nachzudenken, knöpfte er die Schutzkappe des Halfters auf und zog die Waffe heraus. Dann stand er auf und griff nach dem Müllsack, den er beim Hinfallen verloren hatte. Er warf die Pistole hinein und lief davon, kreuz und quer zwischen den Mietshäusern hindurch.
Irgendwann fand er einen Nachtbus, fuhr in die Innenstadt und trottete nach Hause. Den Müllsack mit den Tankdeckeln und der gestohlenen Pistole deponierte er in der Küche unter der Spüle. Als er todmüde ins Bett fiel, dachte er nur, dass es ihm scheißegal war, ob sie diesen Idioten Piotr eingelocht hatten oder nicht.