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Aimee Friedman

Aus dem Amerikanischen

von Catrin Frischer

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1. Auflage 2016

© 2016 by Aimee Friedman

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung von SCHOLASTIC INC.,

557 Broadway, New York, NY 10012 USA.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Two Summers.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe by

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Catrin Frischer

Lektorat: Christina Neiske

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

Umschlagillustration: © Gettyimages/AleksandarNakic;

Shutterstock/oneinchpunch

MI • Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-19737-7
V001

www.cbj-verlag.de

Für meine Familie – die beste in jedem Universum

Im unendlichen Raum müssen selbst die unwahrscheinlichsten Ereignisse irgendwann geschehen … Dort gibt es Menschen mit deinem Aussehen, Namen und deinen Erinnerungen, die jede nur erdenkliche Lebensentscheidung von dir durchexerzieren.

Max Tegmark

Ich verliere mich in Möglichkeiten.

Emily Dickinson

Prolog

Montag, 3. Juli, 19:37 Uhr

Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiund

Ich starre auf die Zeitanzeige meines Handys und zähle stumm die Sekunden, aus 19:37 wird langsam 19:38. Mein Herz schlägt im selben Rhythmus, scheint mir.

Zweiunddreißig, dreiunddreißig …

»Summer, lass das«, befiehlt mir meine beste Freundin, Ruby Singh. Ich gucke zu ihr rüber. Ihr Blick ist auf die Straße gerichtet, aber sie errät trotzdem, was ich mache. »Das bringt uns auch nicht schneller ans Ziel«, sagt sie.

»Weiß ich doch«, behaupte ich mit glühenden Wangen. Ich rutsche auf dem Beifahrersitz herum und lasse das Telefon von einer verschwitzten Hand in die andere wandern.

Fünfundvierzig, sechsundvierzig, siebenund …

Die Sache ist die, ich wünschte, ich hätte Kontrolle über die Zeit und könnte sie ganz nach Belieben schneller oder langsamer laufen lassen. Minuten und Stunden sind für mich irgendwas Flatterhaftes, nicht Greifbares. Den größten Teil meines zweiten Oberstufenjahres (das erst letzte Woche zu Ende ging) bin ich mit hängender Zunge zu spät zur Schule gekommen. Aber wenn ich mal am Samstagabend zu einer Party eingeladen war, was echt selten vorkam, bin ich immer peinlich früh aufgetaucht. Ich krieg’s einfach nicht gebacken.

An diesem schwülen Sommerabend bin ich schon wieder kurz davor, den Kampf zu verlieren. Ich reiße mich vom Display meines Handys los und riskiere einen Blick auf die Straße vor uns, die noch immer total verstopft ist. Die roten Rücklichter glimmen wie Glühwürmchen.

»Ich verpasse meinen Flug«, murmele ich, und Angst macht sich in meinem Bauch breit.

Ich bin ja selbst schuld. Schließlich war ich diejenige, die den Koffer zwei Mal packen und endlos über jedes Kleidungsstück schwafeln musste. Und ich war diejenige gewesen, die mit meiner Mutter einen riesigen Streit angezettelt hatte, als wir gerade aus dem Haus gehen wollten, sodass ich unter Tränen Ruby anrufen und sie bitten musste, mich zum Flughafen zu fahren.

»Tust du nicht«, sagt Ruby energisch und wechselt die Spur. Dabei rutschen die geknüpften Freundschaftsarmbänder an ihren Handgelenken hoch und runter. »Nicht, solange ich das in der Hand habe. Und ich meine es ernst, steck das Handy weg. Ist der Akku nicht gleich leer?«

»Ja«, gestehe ich seufzend ein. Ich fummele an meinen eigenen geknüpften Armbändern herum – die beiden, die Ruby für mich gemacht hat, trage ich immer – und gucke dann schnell noch mal auf mein Handy.

Achtundfünfzig … neunundfünfzig …

Ehe die Minute voll ist, lasse ich das Telefon in die pralle Tasche vom Whitney Museum vor meinen Füßen fallen. Ich hätte das Handy nicht mitnehmen sollen, in Europa kann ich damit sowieso nichts anfangen. Aber es fehlt mir jetzt schon wie ein Körperteil, das amputiert worden ist. Ob Mom mir wohl eine Nachricht schickt und sich entschuldigt? Oder wartet sie vielleicht darauf, dass ich zuerst schreibe? Diesen Gedanken schiebe ich beiseite.

Das Auto ruckelt ein Stück vor. Verstohlen werfe ich einen traurigen Blick auf die kaputte Uhr an Rubys Armaturenbrett, die ewig blinkend 12 Uhr anzeigt. Um mich abzulenken, wühle ich in meiner Tasche herum und vergewissere mich, dass ich alles Nötige dabeihabe: Kaugummi und Zeitschriften fürs Flugzeug. Den dicken Hochglanzreiseführer. Einen Ausdruck von Dads E-Mail mit seiner Adresse und den Telefonnummern. Meine tolle neue Kamera. Meinen Pass.

Ich hole das dunkelblaue Büchlein hervor und spüre ein aufgeregtes Kribbeln, als ich die frischen, ungestempelten Seiten durchblättere. Ich war noch nie im Ausland. Als ich zu der Seite mit meinem Foto komme, runzele ich die Stirn. Mein aschblondes Haar ist wellig, mein Lächeln schief und das eine graublaue Auge ist ein ganz klein wenig größer als das andere. Mit sieben habe ich zum ersten Mal ein Picasso-Gemälde gesehen, eine Frau mit umgekrempelten Gesichtszügen – mit der hatte ich mich irgendwie verwandt gefühlt. Ich sei irre, hatte Ruby gesagt, als ich diesen Gedanken mit ihr geteilt hatte.

»Irre!«, sagt Ruby jetzt mit ungläubiger Stimme. »Hab ich tatsächlich schon wieder recht gehabt?«

Blinzelnd schaue ich auf und stelle fest, dass wir schnell vorankommen. FLUGHAFEN verheißt das Ausfahrtschild vor der Windschutzscheibe. Erleichterung überschwemmt mich wie eine warme Welle und ich quietsche begeistert. Das mache ich nur selten, aber diese Situation verlangt geradezu danach.

»Du hast einfach immer recht«, stelle ich fest. Meine beste Freundin wirft mir ein Lächeln zu. Donner grollt über uns, als sie auf die Ausfahrt zusteuert, und wir zucken beide ein bisschen zusammen.

Eigentlich ist nicht überraschend, dass ein Gewitter aufzieht, die Luft ist schon den ganzen Tag schwer und feucht – Mückenwetter. Ich liebe den Sommer, und das nicht nur, weil ich Summer heiße. Ich mag es, wenn frisch gemähtes Gras meine nackten Fußsohlen kitzelt. Und ich mag leichte Baumwollkleider. Wassereis mit Gefrierbrand. Und den rauchigen Duft vom Grill, wenn es dunkel wird. So ein magisches Gefühl, als ob nichts unmöglich wäre, spannt sich wie eine Brücke zwischen Juni und August. Als ob einfach alles passieren könnte.

Bislang hat dieser Sommer mehr Magie – ja, sogar mehr Mögliches – verheißen als sonst. Aber jetzt, als sich dicke Wolken über uns zusammenziehen, beschleichen mich düstere Vorahnungen.

»Und wenn das nun ein böses Omen ist?«, frage ich Ruby und zwirbele meine Haare nervös zu einem unordentlichen Knoten.

Die ersten Rollbahnen kommen in Sicht und Ruby in ihren Plateausandalen gibt Gas. »Du und deine Omen«, sagt sie abfällig.

Ein weiteres Donnerkrachen lässt mich erschauern. Ich weiß, es ist albern, an Zeichen und Vorboten zu glauben. Aber für unentschlossene Menschen wie mich ist Aberglaube manchmal ganz hilfreich – so sind wir aus dem Schneider, die Entscheidung wird uns abgenommen.

Ruby fährt vor dem wuseligen Terminal D vor, doch ich verspüre nicht die erwartete Vorfreude. Mit unsicheren Fingern löse ich den Sicherheitsgurt. Die ersten Regentropfen klatschen auf die Windschutzscheibe.

»Und wenn nun …«, beginne ich. Plötzlich ist meine Kehle trocken und mein Kopf voller Zweifel.

»Das sind deine drei Lieblingswörter«, sagt Ruby und nimmt ihren mittlerweile wässrigen Eiskaffee aus dem Getränkehalter. Sie war gerade mitten in ihrer Schicht im Café, als ich sie vorhin angerufen habe. Sie musste eine Ausrede für den Geschäftsführer erfinden, damit sie abhauen konnte, aber vorher hat sie noch Getränke für uns beide zusammengerührt. Meinen Eiskaffee hab ich schon unter Tränen geschlürft, als wir losgefahren sind.

»Und wenn nun wahr ist, was meine Mom gesagt hat?« Ich denke daran, wie meine Mutter und ich uns in der Küche angegangen sind – an die Schärfe ihrer Worte und die Wut- und Sorgenfurchen auf ihrer Stirn. Unbehaglich rutsche ich auf meinem Sitz herum und lausche dem nahen Dröhnen der startenden und landenden Flugzeuge. »Vielleicht ist das hier ein Fehler …«

»Okay. Nein.« Ruby schüttelt den Kopf, ihr seidiges schwarzes Haar wischt dabei über ihre gebräunten Schultern. »Das ist kein Fehler. Es ist dein Schicksal.« Ruby reißt ihre stark geschminkten Augen auf und guckt mich so eindringlich an, dass ich das Gefühl bekomme, sie stößt mich gleich aus dem Auto. »Denk nicht an deine Mutter. Das wird der beste Sommer, den du je erlebt hast, Summer.« Sie kichert und ich muss einfach lächeln. Ich spüre, wie ich mich entspanne. »Du findest einen hinreißenden französischen Freund«, sie zieht die Augenbrauen hoch, »und Hugh Tyson verblasst in der Erinnerung.«

Ich lache, heiß kriecht mir die Röte über den Nacken. Natürlich muss Ruby ausgerechnet jetzt auf meinen hoffnungslosen Langzeitschwarm anspielen. Ich denke an Hugh, seine graugrünen Augen, die leichte Bräune seiner Haut. Seine Brillanz, die ihn wahrscheinlich als Jahrgangsbesten abschließen lassen wird. Und daran, dass ihm nicht mal bewusst ist, dass es mich gibt.

»Der Aufenthalt in einem anderen Land wird mich nicht schlagartig für die männliche Bevölkerung wahrnehmbar machen«, merke ich an.

Ruby seufzt. Meine beste Freundin – mit ihrem überbordenden Selbstbewusstsein und der kurvenreichen Figur – kennt die Bedeutung des Wortes »unerwidert« nicht. Sie hatte schon drei So-gut-wie-Freunde (an dieser Stelle muss erwähnt werden: das sind drei mehr, als ich je gehabt habe), und letzte Woche hat sie mir verkündet, sie habe vor, sich diesen Sommer »in echt« zu verlieben. Ich bin klug genug, mir selbst nicht so unrealistische Ziele zu setzen.

Trotzdem verspüre ich einen zaghaften Hoffnungsschimmer. Das reicht, um meine Mom-Sorgen vorläufig zu zerstreuen. Ich stopfe meinen Pass wieder in die Tasche zurück, die ich mir über die Schulter hänge.

»Aber danke.« Ich lehne mich über den Schalthebel und ziehe sie heftig an mich. Ihr vertrautes blumiges Parfum steigt mir in die Nase. »Hab dich lieb mal zwei.«

»Hab dich lieb mal zwei«, sagt Ruby auch. Diesen Satz haben wir damals in der ersten Klasse erfunden, da haben wir uns nämlich kennengelernt. Ich habe noch ein paar andere gute Freundinnen, aber nur Ruby ist beinahe wie eine Schwester für mich. Plötzlich bekommt die Vorstellung, ohne sie zu diesem Abenteuer aufzubrechen, etwas Beängstigendes. Wie soll ich das alles bloß allein überleben?

»Geh«, sagt Ruby und macht sich von mir frei. Sie nickt Richtung Terminal. »Sims mir, wenn du – oh, das wirst du da nicht können.«

»Ich rufe an«, verspreche ich. »Und maile. Und gucke auf Instagram. Bedenklich oft.«

Ich höre Ruby lachen, als ich die Autotür aufmache und ins Bordsteingetümmel trete. Privatwagen und Taxis halten hier, die Türen stehen offen wie Mäuler, während Leute mit Gepäck hantieren und sich Abschiedsgrüße zurufen. Kalter Regen trommelt mir auf Beine und Füße, und ich bereue, nur Shorts und Flipflops zu T-Shirt und Kapuzenjacke angezogen zu haben. Ich ziehe den Reißverschluss der Jacke hoch, renne zum Kofferraum und hieve meinen Koffer raus, um ihn zu den Glasschiebetüren des Terminals zu zerren.

Dann bleibe ich stehen und werfe schnell einen Blick zurück. Ich verspüre den Drang, nach der Kamera zu greifen und ein Foto von Rubys Auto im Regen zu machen. Mein letzter Eindruck vor der Abreise. Aber da fährt Ruby schon los, die Scheibenwischer klacken. Und ich weiß auch ohne auf die Uhr zu gucken, dass ich mich beeilen muss. Also hole ich tief Luft und betrete den neongrellen Flughafen.

Geh, hat Ruby gesagt. Ich kriege einen Adrenalinschub und schlängele mich um die Scharen von Reisenden herum, fremde Sprachen schwirren durch die Luft. Ich schaffe es tatsächlich, meine Bordkarte abzuholen und den Koffer aufzugeben, und bin ganz stolz und aufgeregt und erstaunt über meine Kompetenz. Ich bin erst ein Mal allein geflogen, nach Florida zu meinen Großeltern, übers Wochenende. Alle anderen Reisen habe ich mit Mom gemacht.

Mom. Meine Kehle schnürt sich zu und ich stolpere über einen Rollkoffer.

Ruby hat gesagt, ich soll nicht an Mom denken. Aber als ich auf die Sicherheitskontrolle zuspurte, kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich stelle sie mir in unserem stillen Haus vor, wie sie ihre Hornbrille gerade rückt und in den Regen guckt. Ob sie sich wohl wünscht, ich würde nicht bei so schlechtem Wetter fliegen? Ob sie sich wohl wünscht, wir hätten uns nicht im Streit getrennt? Oder ich wäre gar nicht abgereist?

Wieder denke ich daran, wie ich mit meinem Gepäck in die Küche gekommen bin, strahlend und auf den letzten Drücker. Ich war bereit. Mom hatte am Küchentresen gelehnt, mit gesenktem Blick und ziemlich blass. Sie hatte noch nicht mal Schuhe an. Mein Magen zog sich zusammen. Mir war klar, dass Mom nicht viel von dieser Reise hielt. Sie benahm sich total komisch, seit Dad mich eingeladen hatte. Ich hätte also so tun sollen, als würde ich dieses komische Verhalten nicht bemerken. Ich hätte einfach aus der Tür und zum Auto gehen sollen. Aber wie bei einer vernarbten Wunde, von der man die Finger nicht lassen kann, hab ich sie gefragt, was los war.

»Ich …« Sie hustete. »Nun ja, ehrlich gesagt, Summer, ich weiß nicht recht, ob du fahren solltest.« Ich spürte, wie mir das Blut in den Adern gefror. »Ich bin mir nicht sicher – ob du richtig … darauf vorbereitet bist.« Sie hustete wieder. »Ich befürchte, dass du … hängen gelassen wirst. Du weißt ja, wie er ist.«

In meinem Inneren wurde der Hebel umgelegt, von eiskalt auf kochend heiß. »Er« war mein Vater: Moms Todfeind. Ihre Wut auf ihn machte mich wütend. Ja, sie hatten sich scheiden lassen, als ich elf war – ein klarer Schnitt, wie mit dem Fleischerbeil. Dad war nach Europa gegangen, während Mom und ich in unserer langweiligen Heimatstadt Hudsonville im Bundesstaat New York geblieben waren. Und ja, seitdem war Dad eine Art geisterhafte Präsenz, er schickte nur gelegentlich eine E-Mail oder skypte ganz selten mal. Ein Mal war er nach Hudsonville zurückgekommen und hatte mich zu einem schnellen Mittagessen ausgeführt (»Wie läuft’s in der Schule? Du bist so groß geworden. Nun muss ich mich aber beeilen, Schatz«), ehe er wieder abgedüst war.

Aber ich mache meinem Vater seine Unzuverlässigkeit nicht zum Vorwurf, er ist schließlich Künstler. Ein berühmter Künstler. Nicht so berühmt, dass der Security-Typ ihn kennen würde, der mich gerade durch den Metalldetektor winkt. Aber doch so berühmt, dass seine großen, schönen, farbenfrohen Gemälde in Museen und Galerien hängen. Und so berühmt, dass er manchmal in der Zeitung erwähnt wird. Ich weiß noch, wie stolz ich war, als ich letztes Jahr seinen Namen, Ned Everett, im Kulturteil der New York Times entdeckt habe, neben einem Foto von ihm, auf dem er richtig gut aussah in seinen farbbespritzten Sachen.

Das Bild, das Dad als Künstler berühmt gemacht hat, war übrigens ein Porträt von mir, das er gemalt hat, als ich elf Jahre alt war: ein blondes kleines Mädchen mit großen Augen in einem Mohnfeld, das er sich zusammengeträumt hat. Ich habe dieses Bild noch nie persönlich gesehen, es hängt in einer Galerie in Südfrankreich.

Und zufällig bin ich gerade auf dem Weg dorthin.

Mein Herz schlägt Purzelbäume vor Aufregung, als ich die Kontrollen eilig hinter mir lasse. Ich reise nach Frankreich! Nicht nur, um mir »mein Gemälde« anzuschauen, wie ich es insgeheim nenne, sondern um endlich meinen Vater zu besuchen und tatsächlich Zeit mit ihm zu verbringen. Meine Tasche schlägt an meine Hüfte, als ich auf mein Gate zulaufe, und ich denke an die alles verändernde E-Mail, die er mir im April geschickt hat.

Mein Schatz, stand da, ich kann gar nicht glauben, dass du diesen Sommer sechzehn wirst (wo bleibt die Zeit nur?). Komm her und feiere mit mir! Wie du weißt, verbringe ich den größten Teil des Jahres in Paris, aber im Sommer bin ich in Südfrankreich, in der wunderschönen Provence. Ich habe ein großes Ferienhaus in einer kopfsteingepflasterten Straße, in dem befreundete Künstler sich die Klinke in die Hand geben. Wir können in der Sonne sitzen, Croissants essen und Neuigkeiten austauschen. Was hältst du davon?

Ungläubig und total aus dem Häuschen hatte ich auf den Monitor gestarrt. Aber dieses eine Mal in meinem Leben war ich nicht zaghaft gewesen, ich hatte nicht lange rumüberlegt. Mein Blick war in meinem Zimmer herumgewandert – über das irgendwie ständig gleiche Einerlei von Postern und Büchern – und zum Fenster raus auf die Reihe identischer Bungalows auf der anderen Straßenseite. Ich konnte entkommen. Ich konnte den Sommer – meine Jahreszeit – an einem Ort mit Kopfsteinpflaster und Croissants verbringen. Ich war mir so sicher, dass mir davon ganz schwindelig war.

Mom war natürlich nicht so leicht zu überzeugen gewesen. Zuerst hatte sie rundheraus Nein gesagt, die Vorstellung schien ihr regelrecht Angst zu machen (ich war sofort in Tränen ausgebrochen – obwohl ich eigentlich nicht viel heule, offenbar nur, wenn es um diese Reise geht). Darauf folgten Telefonate mit gedämpften Stimmen zwischen meinen Eltern – soviel ich weiß, redeten sie zum ersten Mal seit Jahren wieder miteinander –, und ich bekam mit, wie Mom sagte, ich sei noch nicht so weit, was mir einen Stich versetzte. Einige meiner Mitschüler hatten schon Touren durch Europa und Südamerika unternommen. Ruby war schon zwei Mal mit ihrer Familie in Indien gewesen. Klar, ich war schüchtern und führte ein ruhiges, behütetes Vorstadtleben. Aber Mom konnte mich doch nicht für immer in dieser Seifenblase festhalten – oder doch?

Nachdem noch eine Woche weiter am Telefon geflüstert worden war und ich mir die Fingernägel abgekaut hatte, erklärte Mom sich einverstanden, mich fahren zu lassen – aber nur, weil Dad zugestimmt hatte, mich gewissermaßen als Assistentin zu beschäftigen. »Wenn du da nicht irgendeinen Job hast, hängst du nur rum und weißt nichts mit deiner Zeit anzufangen«, hatte Mom in einem Unheil verkündenden Ton erklärt.

Es stimmte schon, seit ich dreizehn war, hatte ich jeden Sommer gearbeitet, Knie verpflastert beim Ferienlager des YMCA, Popcorn verkauft im Multiplexkino im Einkaufszentrum, und im letzten Jahr hatte ich in unserem Buchladen Between The Lines Taschenbücher in die Regale geräumt. Nun würde ich die Skizzen in Dads Atelier ordnen und online neue Pinsel für ihn bestellen. Und das klang doch ganz so, als ob ich es ohne Weiteres hinkriegen könnte. Solange ich nicht selbst etwas Künstlerisches machen musste. Ich kann nämlich nicht mal Strichmännchen zeichnen.

Verschwitzt und aus der Puste erreiche ich mein Gate. Mein Flug, Delta 022 direkt zum Flughafen Marseille, ist zum Boarding aufgerufen. Während ich verschnaufe, gucke ich aus der breiten Fensterfront auf das Rollfeld. Da steht das Flugzeug, weiß und schlank und mit Regentropfen gesprenkelt. Erleichterung und Übermut prickeln in mir. Ich hab es geschafft!

Ich stelle mich in die lange Schlange, hinter eine Mutter und ihre kleine Tochter, die sich auf Französisch unterhalten. In der Schule hab ich Spanisch (Moms Idee), aber seit April google ich französische Vokabeln. Die Mutter sagt irgendwas über den Regen – la pluie – und die Tochter kichert. Ich schlucke heftig.

Ich bin ein Einzelkind, und meine Mutter und ich stehen uns sehr nahe, das ist ja oft so, wenn man zu zweit ist. Abends machen wir es uns gern mal mit Netflix auf dem Sofa gemütlich oder wir sitzen mit einem großen Becher Eis auf der Veranda und betrachten die Sterne. Mom erzählt mir dann von den Theorien, mit denen sie ihre Studenten am Hudsonville College vertraut macht. Einmal hat sie mir erzählt, dass manche Philosophen und Wissenschaftler der Meinung sind, es müsse Leben auf anderen Planeten geben – es gibt nämlich so viele Galaxien, dass es anders gar nicht möglich sein kann. Da kam mir der Gedanke, dass es für mich, wenn es auf der Erde keine Jungs gab, die mich mochten, vielleicht bei einem Jungen aus einer anderen Galaxie noch Hoffnung geben könnte. Im Grunde wünschte ich mir einen außerirdischen Freund. Wahnsinn.

Aber die liebste von Moms Theorien war mir die von den Paralleluniversen: die Vorstellung, dass irgendwo da draußen in Raum oder Zeit unendliche Versionen von uns selbst existieren. Und jede Version lebt jede mögliche Folge unserer diversen Entscheidungen aus. So eine Art kosmisches »Wähle dein eigenes Abenteuer«. Diese Vorstellung verfolgt mich, sodass mir Schauer über den Rücken laufen und der Nachthimmel mir noch riesiger vorkommt.

Diesen Sommer wird Mom ganz allein mit ihren Theorien auf der Veranda sitzen, nur unser mürrischer Kater Ro wird ihr Gesellschaft leisten. Na gut, meine Tante, Moms Zwillingsschwester, könnte gelegentlich vorbeischauen, aber normalerweise ist sie abends immer unterwegs, zu Konzerten oder ins Theater. Vielleicht hatte Moms Zögern wegen meiner Reise ja weniger mit Dad oder mir zu tun und mehr mit der Aussicht auf diese einsamen Abende.

Die Reue pulsiert in mir wie ein zweites Herz. Während ich in der Schlange aufrücke, wühle ich in meiner Umhängetasche nach dem Handy. Ich bin immer noch sauer auf Mom, aber ich sollte ihr eine Nachricht schreiben oder sie anrufen, ehe ich ins Flugzeug steige. Wenn ich an unseren letzten Wortwechsel in der Küche denke, wird mir ganz anders.

»Du willst bloß nicht, dass ich glücklich bin!«, hatte ich gebrüllt. »Ich bin so weit! Ich bin fast sechzehn!« Und vielleicht hab ich auch kindisch mit dem Fuß aufgestampft. »Warum hasst du Dad eigentlich so sehr? Er bezahlt doch, dass ich da hinfahre. Kannst du nicht mal ein bisschen nachsichtig sein?« Heiße Tränen standen mir in den Augen.

Mom hatte mich nicht getröstet. Mit blassen Lippen hatte sie geblafft: »Ich weiß, dass dein Vater dich mit diesem wahnsinnigen Angebot überwältigt hat. Aber du solltest dir klarmachen …« Sie hustete wieder. »Dass es anders sein könnte, als du erwartest. Nicht alles ist so, wie es scheint.«

Dass sie so vage war, hatte mich nur noch mehr frustriert. Ganz so, als würde es an einer Stelle am Rücken jucken, die nicht zu erreichen war. Meine Tränenschleusen hatten sich geöffnet, und ich hatte ihr vorgeworfen, sie sei ungerecht. Sie hatte gesagt, sie sei nur so, weil sie sich Sorgen mache – eine Entschuldigung, die Eltern gern anbringen, wenn sie ungerecht sind. Ich war aus der Küche gerannt, und als Ruby schließlich kam und mich abholte, habe ich das Haus verlassen, ohne mich von Mom zu verabschieden.

Jetzt sehe ich auf meinem Handy, dass zwei verpasste Anrufe und eine SMS von Mom angezeigt werden. Ich empfinde eine Mischung aus Schuldgefühlen und Triumph, vermutlich hat sie sich als Erste entschuldigt. Aber in ihrer Nachricht steht nur: Gib mir Bescheid, wenn du am Flughafen bist, okay? Kühl und emotionslos.

Mit der freien Hand zwirbele ich die Armbänder an meinem Handgelenk. Was soll ich antworten? Der Akku wird immer schwächer, wahrscheinlich ist er gleich leer. Vielleicht sollte ich einfach im gleichen Ton zurückschreiben: Bin da, steige jetzt ein. Ruby würde das bestimmt empfehlen. Aber eigentlich will ich sagen: Ich wünschte, wir hätten uns nicht gestritten, Mom, und bitte sag mir, es ist in Ordnung, dass ich nach Frankreich fahre, denn ehrlich gesagt, habe ich ein bisschen Angst. Okay?

Ehe ich irgendwas schreiben kann, merke ich, dass die französische Mutter und ihre Tochter in der Schlange ein ganzes Stück aufgerückt sind, und ich beeile mich, die Lücke zwischen uns zu schließen. In diesem Moment sehe ich einen gewaltigen Blitz am Himmel über dem Rollfeld zucken. Ich schnappe nach Luft, wie ein Pfeil schießt die Angst durch mich hindurch. Um mich herum schnappen alle anderen genauso nach Luft. Omen, Omen, Omen, denke ich.

Hast du das gesehen?, schreibe ich Mom mit zitternden Fingern.

Nein, was denn?, schreibt sie sofort zurück. Ob sie das Telefon wohl die ganze Zeit in der Hand gehalten und gewartet hat? Was soll das denn?

Hudsonville ist über zehn Meilen vom Flughafen entfernt, es könnte also sein, dass das Gewitter da noch gar nicht angekommen ist. Die Leute am Gate murmeln alle irgendwas und gucken aus dem Fenster. Es knistert in den Lautsprechern, und die Airline-Angestellte verkündet ruhig, dass alle Passagiere einsteigen sollen, die Wetterverhältnisse würden die Flugsicherheit nicht beeinträchtigen. Mein Magen krampft sich zusammen und ich umklammere das Handy. Ich will Mom nicht beunruhigen, indem ich schildere, was ich beobachtet habe. Und wenn die Verhältnisse wirklich gefährlich wären, würde die Fluggesellschaft den Flug doch wohl streichen, oder? Damit beruhige ich mich.

Was weiß ich denn? Ich bin ja noch nicht mal sechzehn.

Ich versuche Ruby zu imitieren – die unerschütterliche, reife Ruby –, recke das Kinn und gehe weiter. Die Schlange bewegt sich jetzt schneller.

Nichts, schreibe ich an Mom. Meine Finger sind ein bisschen ruhiger. Bin da, steige jetzt ein.

Sicheren Flug!, schreibt Mom sofort. Ruf mich gleich an, wenn du landest.

Ich studiere ihre Worte eingehend. Wünscht sie mir einen »sicheren« Flug, weil sie von dem Blitz weiß? Oder interpretiere ich da zu viel hinein, weil ich nach einem Grund suche … Wofür? Nicht ins Flugzeug zu steigen? Das ist verrückt. Auch ohne Moms Billigung, selbst mit meinen anhaltenden Zweifeln und der Nervosität, selbst mit dem Gewitter will ich diese Reise unbedingt machen. Ich werde fliegen.

Die französische Mutter rückt vor, sie nimmt ihre Tochter auf den Arm. Ich sehe, wie sie dem Angestellten die Bordkarten reicht und durch die offene Tür zum Flugzeug geht. Das kleine Mädchen beäugt mich vorsichtig über die Schulter ihrer Mutter hinweg.

Jetzt bin ich dran.

Aufregung durchzuckt mich, als ich mit gezückter Bordkarte einen Schritt vor mache, das Telefon halte ich immer noch in der anderen Hand. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Dann summt mein Handy. Ein Anruf.

Ich halte inne und schaue aufs Handy. Das muss Mom sein. Oder Ruby.

Aber nein. Auf dem Display steht: Unbekannt.

Ich zögere.

Wer kann das sein? Hat sich jemand verwählt? Ruft Mom von einem anderen Anschluss an?

Soll ich rangehen? Oder es ignorieren?

Eine Entscheidung ist gefordert. Und ich kann mich nie entscheiden.

Summ, summ, summ, summ.

Ein behäbiger Mann mit einem Koffer schnaubt laut und geht um mich herum. Er lässt seine Bordkarte scannen und geht durch die offene Tür. Noch mehr Leute ziehen an mir vorbei. Ich bleibe reglos stehen, wie ein Pfahl, den man in einen Fluss gerammt hat.

Summ, summ, summ, summ.

»Dies ist der letzte Aufruf für Flug 022!«, spricht die Airline-Angestellte in das Mikro auf ihrem Tisch, aber sie guckt mich dabei an. Sie ist zu stark geschminkt und trägt ein enges dunkelblaues Kostüm und Schuhe mit megahohen Absätzen. »Ich wiederhole, der letzte Aufruf.«

Mein Handy summt weiter, ich sollte es stumm schalten. Es ignorieren. Der Akku ist fast leer und laut Flugplan starten wir in zwei Minuten.

Andererseits …

Was wäre wenn? Was, wenn das hier wichtig ist? Was, wenn mein Leben eine ganz andere Richtung nehmen würde, wenn ich diesen Anruf annehme?

Die Boardingfrau guckt mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mein Handy summt. Mein Herz rast. Draußen kracht der Donner.

Und ich …

TEIL EINS

Kopfsteinpflaster und Croissants

Montag, 3. Juli, 21:43 Uhr

Ich gehe nicht ran.

Mit einem Knopfdruck lasse ich das Summen verstummen und stecke das Handy in die Jackentasche. Dann trete ich vor und halte der Angestellten die Bordkarte hin. Sie lächelt mit verkniffenen Lippen. Als ich durch die Tür gehe, werfe ich einen Blick über die Schulter. Es ist keiner mehr am Gate, ich bin der letzte Fluggast.

Ich laufe durch den mit Teppich ausgelegten Korridor, meine Flipflops klatschen. Die Wände sind mit Anzeigen von FedEx vollgekleistert. THE WORLD ON TIME, steht da, immer wieder.

Ein Schritt, dann bin ich im Flugzeug. In der Kabine riecht es nach abgestandenem Kaffee, französische und englische Unterhaltungen überlagern sich. Das Bordpersonal guckt mich sauer an, eine schmuddelige junge Zuspätkommerin. Alle sitzen schon oder versuchen noch angestrengt, Handgepäck in den Fächern über den Sitzen zu verstauen. Ich bin froh, dass ich nur meine bewährte Umhängetasche dabeihabe, die ich auf dem Weg zu meinem Platz fest an mich drücke.

Oh, Mist. Ich hab den Platz zwischen dem dicken Mann, der vorhin um mich rum gegangen ist, und der französischen Mutter mit der Tochter. Mir fällt auf, dass die braunen Haare der Mutter zu einem exakten Bob geschnitten sind – wie die meiner Mutter. Und die Tochter ist dunkelblond wie ich. Nur hat die Tochter zwei sehr niedliche ordentliche Zöpfe, während meine Haare ziemlich unelegant aus dem Knoten quellen.

Ich versuche es mir auf meinem Platz bequem zu machen, lege die Beine übereinander und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke auf, während die Flugbegleiter mit den Sicherheitshinweisen anfangen. Dann dringt aus meiner Jackentasche der klagende Laut, der signalisiert, dass mein Handy verreckt ist.

Ich hole es hervor und schaue auf das leere Display. Die Neugier nagt an mir, und ich überlege, wer mich wohl eben angerufen haben mag. Selbst wenn der geheimnisvolle Anrufer eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hätte, könnte ich mir die erst anhören, wenn ich im August wieder nach Amerika komme.

Das Flugzeug fährt über die Rollbahn, erst langsam, dann immer schneller. Wenn ich den Hals recke, kann ich aus dem Fenster aufs Rollfeld schauen. Das Gewitter hat sich verzogen, die Nacht ist ruhig, der Mondschein glitzert auf den Pfützen. Komisch, wie schnell dieser Wechsel war.

»Flugbegleiter und Crew«, sagt der Kapitän durch. »Bitte bereit machen zum Start.«

Ich lehne mich zurück. Der dicke Mann neben mir stößt an meinen Ellenbogen, das kleine französische Mädchen fängt an laut zu jammern, ein Vorbote dessen, was noch kommen wird. Ist mir aber egal. Das Flugzeug befindet sich jetzt im Steigflug. Ich lasse alles hinter mir, den langweiligen Staat New York, Moms seltsames Verhalten in letzter Zeit. Mein sinnloses Schmachten nach Hugh Tyson. Meine wehmütige Beobachterrolle, wenn Ruby mühelos mit Jungs flirtet. Und vor allem meinen Wunsch, Dad besser kennenzulernen.

Die Maschinen röhren. Das Flugzeug scheint schneller zu sein als die Zeit. Als wir abheben, beflügelt das auch meine Hoffnung. Ich erinnere mich an das, was Ruby im Auto gesagt hat, und ich lächele, weil ich mir plötzlich ganz sicher bin. Das hier ist tatsächlich mein Schicksal – und das wird der beste Sommer, den ich je erlebt habe.