In Memoriam
Douglas Adams (1952–2001)
»Genügt es nicht zu sehen, dass ein Garten schön ist, ohne dass man auch noch glauben müsste, dass Feen darin wohnen?«
VORWORT
Verdienter Respekt
Unverdienter Respekt
Polytheismus
Monotheismus
Säkularismus, die Gründerväter und die Religion Nordamerikas
Die Armut des Agnostizismus
NOMA
Das große Gebetsexperiment
Die Neville-Chamberlain-Schule der Evolutionsanhänger
Kleine grüne Männchen
Die »Beweise« des Thomas von Aquin
Das ontologische Argument und andere A-priori-Argumente
Das Argument der Schönheit
Das Argument des persönlichen »Erlebnisses«
Das Argument der Heiligen Schrift
Das Argument der bewunderten religiösen Wissenschaftler
Pascals Wette
Bayes’sche Argumente
Die höchste Form der Boeing 747
Natürliche Selektion als Bewusstseinserweiterer
Nicht reduzierbare Komplexität
Die Anbetung der Lücken
Das anthropische Prinzip: die planetare Version
Das anthropische Prinzip: die kosmologische Version
Zwischenspiel in Cambridge
Die darwinistische Zwangsläufigkeit
Unmittelbare Vorteile der Religion
Gruppenselektion
Religion als Nebenprodukt von etwas anderem
Psychologisch für Religion disponiert
Bitte leise treten, Sie trampeln auf meinen Memen herum
Cargo-Kulte
Hat unser Moralgefühl einen darwinistischen Ursprung?
Eine Fallstudie über die Wurzeln der Moral
Wozu soll man gut sein, wenn es keinen Gott gibt?
Das Alte Testament
Ist das Neue Testament wirklich besser?
Liebe deinen Nächsten
Der ethische Zeitgeist
Und was ist mit Hitler und Stalin? Waren das nicht Atheisten?
Fundamentalismus und die Unterwanderung der Naturwissenschaft
Die dunkle Seite des Absolutismus
Glaube und Homosexualität
Glaube und die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens
Der große Beethoven-Trugschluss
Wie »Mäßigung« im Glauben den Fanatismus fördert
Körperliche und seelische Misshandlung
Zum Schutz der Kinder
Ein Erziehungsskandal
Noch einmal Bewusstseinserweiterung
Der Religionsunterricht als Teil der literarischen Kultur
Binker
Trost
Inspiration
Die Mutter aller Burkas
ANMERKUNGEN
PERSONENREGISTER
SACHREGISTER
Das Buch
Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins hat nach Das egoistische Gen erneut ein Buch geschrieben, das bestehende Weltbilder grundsätzlich in Frage stellt. In diesem leidenschaftlichen Plädoyer für die Vernunft zieht er gegen die Religion zu Felde: Der Glaube an eine übernatürliche Macht kann keine Grundlage für das Verständnis der Welt sein und schon gar keine Erklärung für ihre Entstehung. Wenn wir Kritik an den Religionen zum Tabu erklären, laufen wir Gefahr, von Fundamentalisten jedweder Couleur dominiert zu werden. Der Glaube an ein göttliches Wesen ist vielfach die Ursache von Terror und Zerstörung, wie die Weltgeschichte von der Inquisition bis zu den Anschlägen auf die Twin Towers zeigt. Ein wichtiges Buch, das zu einem brennend aktuellen Thema eindeutig und überzeugend Position bezieht.
Der Autor
Richard Dawkins, 1941 in Nairobi geboren, ist Evolutionsbiologe. Seit 1995 hat er den eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhl für Public Understanding of Science an der Universität Oxford inne. Sein erstes Buch, Das egoistische Gen, 1978 auf Deutsch erschienen, war international ein Bestseller und gilt als Standardwerk der Evolutionsbiologie.
Von Richard Dawkins ist in unserem Hause außerdem erschienen:
Geschichte vom Ursprung des Lebens
Ich versuche nicht, mir einen persönlichen Gott vorzustellen; es reicht aus, wenn man voller Staunen vor dem Aufbau der Welt steht, so weit sie unseren unzureichenden Sinnen gestattet, sie einzuschätzen.
Albert Einstein
Der Junge lag auf dem Bauch im Gras, das Kinn auf die Hände gestützt. Plötzlich überwältigte ihn eine eindringliche Wahrnehmung: verworrene Halme und Wurzeln, ein Wald im Kleinformat, eine Wunderwelt der Ameisen und Käfer, ja sogar – auch wenn er die Einzelheiten zu jener Zeit nicht kannte – der Milliarden Bodenbakterien, die lautlos und unsichtbar die Ökonomie dieses Mikrokosmos in Gang hielten. Der Miniaturwald der Wiese schien anzuschwellen, eins zu werden mit dem Universum und dem verzückten Geist des Jungen, der darüber nachdachte. Er deutete sein Erlebnis unter religiösen Gesichtspunkten, und das führte ihn schließlich zum Priesterberuf. Als anglikanischer Geistlicher ordiniert, wurde er als Kaplan an meiner Schule zu einem Lehrer, den ich mochte. Anständigen, liberalen Geistlichen wie ihm ist es zu verdanken, dass niemand jemals behaupten konnte, mir sei die Religion mit Gewalt eingetrichtert worden.F2
Zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort hätte auch ich dieser Junge sein können; ich hätte unter dem Sternenhimmel gestanden, berauscht von Orion, Cassiopeia und Großem Wagen, die Augen voller Tränen über die unhörbare Musik der Milchstraße, den Kopf schwer von den nächtlichen Düften der Frangipani- und Trompetenblumen in einem afrikanischen Garten. Warum die gleichen Empfindungen meinen Kaplan in die eine Richtung führten und mich in die andere – diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Eine geradezu mystische Reaktion auf Natur und Universum ist unter Naturwissenschaftlern und Rationalisten weit verbreitet. Sie hat nichts mit einem Glauben an Übernatürliches zu tun. Zumindest als Junge wusste mein Kaplan wahrscheinlich (genau wie ich) nichts von den letzten Zeilen in Darwins On the Origin of Species by Means of Natural Selection (Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl), von jener berühmten Passage über die »bewachsene Uferstrecke«, »mit singenden Vögeln in den Büschen, mit schwärmenden Insekten in der Luft, mit kriechenden Würmern im feuchten Boden«. Wäre sie ihm bekannt gewesen, er hätte sich diese Passage sicher zu eigen gemacht und wäre dann vielleicht nicht zum Priesterberuf gelangt, sondern zu Darwins Standpunkt, dass alles »durch Gesetze hervorgebracht wird, welche fort und fort um uns wirken«:
Carl Sagan schrieb in Pale Blue Dot (Blauer Punkt im All):
Sagan rührt in allen seinen Büchern an den Nerv des transzendenten Staunens, das die Religionen in den letzten Jahrhunderten für sich monopolisiert haben. Das Gleiche strebe auch ich mit meinen Büchern an. Deshalb höre ich häufig, ich sei ein tief religiöser Mensch. Eine amerikanische Studentin schrieb mir, sie habe ihren Professor gefragt, was er von mir halte. Darauf habe er erwidert: »Sicher, seine eigentliche Wissenschaft ist mit der Religion nicht vereinbar, aber er gerät ins Schwärmen über die Natur und das Universum. Für mich ist das Religion.« Aber ist »Religion« hier das richtige Wort? Ich glaube nicht. Der Physik-Nobelpreisträger (und Atheist) Steven Weinberg formulierte die gleiche Ansicht ausgezeichnet in seinem Buch Dreams of a Final Theory (Der Traum von der Einheit des Universums):
In einem hat Weinberg sicher recht: Wenn das Wort »Gott« nicht völlig nutzlos werden soll, sollte man es so gebrauchen, wie die Menschen es im Allgemeinen verstanden haben: als Bezeichnung für einen übernatürlichen Schöpfer, »den anzubeten für uns angemessen ist«.
Viel unglückselige Verwirrung ist entstanden, weil nicht zwischen der Einstein’schen Religion, wie man sie nennen könnte, und der übernatürlichen Religion unterschieden wurde. Einstein verwendete manchmal (und durchaus nicht als einziger atheistischer Naturwissenschaftler) den Namen Gottes und forderte damit bei den Anhängern des Übernatürlichen das Missverständnis geradezu heraus, denn die waren erpicht darauf, einen so bedeutenden Denker zu den Ihren zählen zu können. Die dramatische (oder hinterlistige?) Formulierung am Ende von Stephen Hawkings A Brief History of Time (Eine kurze Geschichte der Zeit), »Denn dann würden wir Gottes Plan kennen«, wird ständig falsch interpretiert. Sie verleitete die Leute zu der – natürlich falschen – Annahme, Hawking sei ein religiöser Mensch. Religiöser als Hawking oder Einstein hört sich die Zellbiologin Ursula Goodenough in The Sacred Depths of Nature (»Die heiligen Tiefen der Natur«) an. Sie liebt Kirchen, Moscheen und Tempel, und viele Passagen in ihrem Buch schreien geradezu danach, aus dem Zusammenhang gerissen und als Rechtfertigung für eine übernatürliche Religion verwendet zu werden. Sie geht sogar so weit, sich als »religiöse Naturalistin« zu bezeichnen. Liest man ihr Buch aber genau, so stellt man fest, dass sie eine ebenso überzeugte Atheistin ist wie ich.
»Naturalist« ist ein zweideutiges Wort. Ich muss dabei an den Helden meiner Kindheit denken, Hugh Loftings Dr. Dolittle (der übrigens mehr als nur einen Hauch von dem »philosophischen« Naturforscher auf der HMS Beagle an sich hatte). Im 18. und 19. Jahrhundert verstand man unter einem Naturalisten einen Naturforscher. Bei diesen Naturalisten handelte es sich seit der Zeit von Gilbert White häufig um Geistliche. Darwin selbst war als junger Mann für das geistliche Amt vorgesehen – er hoffte, das gemütliche Leben als Landpfarrer würde ihm genügend Zeit lassen, um seiner Leidenschaft für Käfer nachzugehen. In der Philosophie dagegen bedeutet »Naturalist« etwas ganz anderes: Es ist das Gegenteil von »Supernaturalist«. Julian Baggini erklärt in seinem Buch Atheism: A Very Short Introduction (»Atheismus – eine ganz kurze Einleitung«), was es bedeutet, wenn ein Atheist sich den Naturalismus zu eigen macht: »Die meisten Atheisten sind zwar überzeugt, dass es im Universum nur einen Stoff gibt und dass er physikalischer Natur ist, aber gleichzeitig glauben sie, dass aus diesem Stoff auch Geist, Schönheit, Gefühle und moralische Werte hervorgehen – kurz gesagt, das ganze Spektrum der Phänomene, die das Leben der Menschen bereichern.«
Gedanken und Gefühle der Menschen erwachsen aus den äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn. Ein Atheist oder philosophischer Naturalist in diesem Sinn vertritt also die Ansicht, dass es nichts außerhalb der natürlichen, physikalischen Welt gibt: keine übernatürliche kreative Intelligenz, die hinter dem beobachtbaren Universum lauert, keine Seele, die den Körper überdauert, und keine Wunder außer in dem Sinn, dass es Naturphänomene gibt, die wir noch nicht verstehen. Wenn etwas außerhalb der natürlichen Welt zu liegen scheint, die wir nur unvollkommen begreifen, so hoffen wir darauf, es eines Tages zu verstehen und in den Bereich des Natürlichen einzuschließen. Und wie immer, wenn wir einen Regenbogen entzaubern, wird er dadurch nicht weniger staunenswert.
Wenn große Naturwissenschaftler unserer Zeit religiös zu sein scheinen, so stellt sich bei näherer Betrachtung ihrer Überzeugungen in der Regel heraus, dass sie es nicht sind. Für Einstein und Hawking gilt das mit Sicherheit. Martin Rees, der derzeitige Königliche Astronom und Präsident der Royal Society, sagte mir einmal, er gehe als »ungläubiger Anglikaner zur Kirche … aus Loyalität zum ganzen Stamm«. Er hat keine theistischen Überzeugungen, teilt aber mit den anderen erwähnten Wissenschaftlern den poetischen, vom Kosmos inspirierten Naturalismus. In einer kürzlich ausgestrahlten Fernsehsendung forderte ich meinen Freund, den Frauenarzt Robert Winston, ein angesehenes Mitglied der britischen jüdischen Gemeinde, heraus: Er sollte zugeben, dass sein Judentum genau diesen Charakter hat und dass er in Wirklichkeit nicht an Übernatürliches glaubt. Um ein Haar hätte er dies zugestanden, doch dann scheute er vor der letzten Konsequenz zurück. (Um ehrlich zu sein: Eigentlich sollte er mich interviewen und nicht ich ihn.)5 Als ich ihn in die Enge trieb, sagte er, nach seiner Erfahrung sei das Judentum eine gute Quelle für die Disziplin, mit der er ein strukturiertes, gutes Leben führen könne. Womöglich stimmt das, aber es hat natürlich nicht das Geringste mit dem Wahrheitsgehalt seiner Behauptungen über Übernatürliches zu tun. Viele intellektuelle Atheisten bezeichnen sich stolz als Juden und befolgen jüdische Riten; vielleicht tun sie es aus Loyalität gegenüber alten Traditionen oder ermordeten Angehörigen, vielleicht aber auch aus einer verworrenen und verwirrenden Bereitschaft heraus, die pantheistische Verehrung, die viele von uns mit Einstein als ihrem bekanntesten Vertreter teilen, als »Religion« zu bezeichnen. Sie mögen nicht gläubig sein, aber sie »glauben an den Glauben«, um eine Formulierung des Philosophen Daniel Dennett zu übernehmen.6
Zu den am häufigsten zitierten Bemerkungen von Einstein gehört der Satz: »Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.« Aber Einstein sagte auch:
Hat Einstein sich demnach selbst widersprochen? Oder kann man sich die Zitate so aus seinen Worten herauspicken, dass sie beide Seiten einer Debatte unterstützen? Nein. Einstein meinte mit »Religion« etwas ganz anders, als man normalerweise darunter versteht. Wenn ich im Folgenden den Unterschied zwischen übernatürlicher und Einstein’scher Religion genauer erläutere, sollte man im Hinterkopf behalten, dass ich nur übernatürliche Götter als Wahnvorstellungen bezeichne.
Einen Eindruck davon, was Einstein’sche Religion ist, können uns ein paar weitere Einstein-Zitate vermitteln:
Seit Einsteins Tod versuchen Religionsvertreter verständlicherweise immer öfter, Einstein für sich zu reklamieren. Einige seiner religiösen Zeitgenossen hatten ein ganz anderes Bild von ihm. Im Jahr 1940 schrieb Einstein einen berühmten Aufsatz, in dem er seine Aussage »Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott« rechtfertigte. Diese und ähnliche Formulierungen waren der Anlass für unzählige Zuschriften von religiös-orthodoxen Menschen, die vielfach auf Einsteins jüdische Abstammung anspielten. Die im Folgenden zitierten Passagen stammen aus dem Buch Einstein and Religion (Einstein und die Religion) von Max Jammer (das mir auch als wichtigste Quelle für Zitate von Einstein selbst zu religiösen Themen gedient hat). Der römisch-katholische Bischof von Kansas City sagte: »Es ist traurig, wenn man mit ansehen muss, wie ein Mann, der aus dem Geschlecht des Alten Testaments und seinen Lehren stammt, die große Tradition dieses Geschlechts leugnet.« Andere katholische Geistliche stießen in das gleiche Horn: »Einen anderen als den persönlichen Gott gibt es nicht. […] Einstein weiß nicht, wovon er redet. Er hat völlig unrecht. Manche Leute glauben, wenn sie in einem Fachgebiet ein hohes Maß an Gelehrsamkeit erreicht haben, seien sie qualifiziert, auch in allen anderen ihre Meinung zu äußern.«
Die Vorstellung, Religion sei ein richtiges Fachgebiet, auf dem man Fachkenntnisse besitzen könne, sollte nicht unhinterfragt stehen bleiben. Der zitierte Geistliche hätte die Fachkenntnisse eines anerkannten »Elfenforschers« über Form und Farbe von Elfenflügeln wahrscheinlich nicht anerkannt. Sowohl er als auch der Bischof glaubten jedoch, Einstein habe mangels einer theologischen Ausbildung das Wesen Gottes nicht verstanden. Das Gegenteil ist richtig: Einstein wusste ganz genau, was er leugnete.
Ein amerikanischer römisch-katholischer Anwalt, der für die ökumenische Koalition arbeitete, schrieb an Einstein:
Ein New Yorker Rabbiner sagte: »Einstein ist zweifellos ein großer Wissenschaftler, aber seine religiösen Ansichten sind denen des Judentums diametral entgegengesetzt.« »Aber«? Warum aber und nicht und?
Der Präsident einer historischen Gesellschaft in New Jersey legte in seinem Brief die Schwäche des religiösen Geistes so gnadenlos bloß, dass es sich lohnt, ihn zweimal zu lesen:
Was für ein entsetzlich entlarvender Brief! Jeder Satz trieft von intellektueller und moralischer Feigheit. Weniger kriecherisch, dafür aber noch erschreckender war der folgende Brief, geschrieben vom Gründer der Calvary Tabernacle Association in Oklahoma:
In einem Punkt haben alle diese theistischen Kritiker recht: Einstein war nicht einer der Ihren. Er reagierte mehrmals sehr ungehalten auf die Vermutung, er sei ein Theist. Aber was war er dann? Ein Deist wie Voltaire oder Diderot? Oder ein Pantheist wie Spinoza, dessen Philosophie er bewunderte? »Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit den Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.«
Führen wir uns noch einmal die Terminologie vor Augen. Ein Theist glaubt an eine übernatürliche Intelligenz, die das Universum erschaffen hat und die immer noch gegenwärtig ist, um das weitere Schicksal ihrer ursprünglichen Schöpfung zu beaufsichtigen und zu beeinflussen. In vielen theistischen Glaubenssystemen ist dieser Gott eng in die Angelegenheiten der Menschen eingebunden. Er erhört Gebete, vergibt oder bestraft Sünden, greift durch das Vollbringen von Wundern in die Welt ein, zürnt über gute oder schlechte Taten und weiß, wann wir sie begehen (oder auch nur daran denken, sie zu begehen). Ein Deist glaubt ebenfalls an eine übernatürliche Intelligenz, aber deren Tätigkeit beschränkt sich darauf, die Gesetze aufzustellen, denen das Universum unterliegt. Der deistische Gott greift später nie mehr ein und interessiert sich sicher nicht gezielt für die Angelegenheiten der Menschen. Pantheisten schließlich glauben überhaupt nicht an einen übernatürlichen Gott, sondern benutzen das Wort »Gott« als Synonym für die Natur, für das Universum oder für die Gesetzmäßigkeiten, nach denen es funktioniert.
Deisten unterscheiden sich von Theisten darin, dass der Gott der Deisten keine Gebete erhört, sich nicht für Sünden oder Beichte interessiert, unsere Gedanken nicht liest und uns nicht mit launischen Wundern in die Quere kommt. Im Gegensatz zu den Pantheisten halten die Deisten Gott dennoch für eine Art kosmische Intelligenz, während er für die Pantheisten ein metaphorisches oder poetisches Synonym für die Gesetze des Universums darstellt. Pantheismus ist aufgepeppter Atheismus, Deismus ist verwässerter Theismus.
Man kann mit Fug und Recht davon ausgehen, dass berühmte Einstein-Zitate wie »Gott ist raffiniert, aber boshaft ist er nicht«, »Gott würfelt nicht« oder »Hatte Gott eine Wahl, als er das Universum erschuf?« pantheistisch sind, aber nicht deistisch und mit Sicherheit nicht theistisch. »Gott würfelt nicht« kann man übersetzen mit »Der Zufall ist nicht der Kern aller Dinge«. »Hatte Gott eine Wahl, als er das Universum erschuf?« bedeutet: »Hätte das Universum auch auf andere Weise beginnen können?« Einstein benutzte den Begriff »Gott« in einem rein metaphorischen, poetischen Sinn. Das Gleiche gilt für Stephen Hawking und die meisten anderen Physiker, die gelegentlich in die Sprache religiöser Metaphern verfallen. Paul Davies liegt mit seinem Buch The Mind of God (Der Plan Gottes) irgendwo zwischen dem Einstein’schen Pantheismus und einer seltsamen Form von Deismus – und wurde dafür mit dem Templeton-Preis ausgezeichnet (einem sehr großen Geldbetrag, der alljährlich von der Templeton Foundation vergeben wird, meistens an einen Naturwissenschaftler, der bereit ist, etwas Nettes über die Religion zu sagen).
Was Einstein’sche Religion ist, möchte ich mit einem weiteren Zitat von Einstein selbst zusammenfassen:
In diesem Sinne bin auch ich religiös, allerdings mit der Einschränkung, dass »unserer Vernunft nicht zugänglich« nicht bedeutet: »für immer und ewig unzugänglich«. Indes, ich nenne mich lieber nicht »religiös«, weil diese Bezeichnung missverständlich ist – auf verhängnisvolle Weise missverständlich, weil für die allermeisten Menschen »Religion« das »Übernatürliche« impliziert. Sehr schön hat es auch Carl Sagan formuliert: »Wenn man mit ›Gott‹ die Gesamtheit der physikalischen Gesetze meint, die das Universum beherrschen, dann gibt es natürlich einen Gott. Doch dieser Gott ist emotional unbefriedigend. […] Es hat nicht viel Sinn, zum Gravitationsgesetz zu beten.«
Amüsant ist dabei, dass Sagans letzte Aussage schon von Reverend Dr. Fulton J. Sheen vorweggenommen wurde, einem Professor an der Catholic University of America, der sie 1940 im Rahmen eines wütenden Angriffs auf Einsteins Ablehnung eines persönlichen Gottes vorbrachte. Sheen fragte sarkastisch, ob irgendjemand bereit wäre, sein Leben für die Milchstraße zu opfern. Offenbar glaubte er, dies sei ein Argument nicht für, sondern gegen Einstein, denn er fügte hinzu: »Seine kosmische Religion hat nur einen Fehler: Er hat dem Wort einen Buchstaben zu viel gegeben – den Buchstaben ›s‹.« In Wirklichkeit sind Einsteins Überzeugungen alles andere als komisch. Dennoch würde ich mir wünschen, dass die Physiker das Wort »Gott« nicht mehr in ihrem speziellen metaphorischen Sinn verwendeten. Der metaphorische oder pantheistische Gott der Physiker ist Lichtjahre entfernt von dem eingreifenden, wundertätigen, Gedanken lesenden, Sünden bestrafenden, Gebete erhörenden Gott der Priester, Mullahs, Rabbiner und der Umgangssprache. Beide absichtlich durcheinanderzubringen ist in meinen Augen intellektueller Hochverrat.
Mein Titel, Der Gotteswahn, bezieht sich nicht auf den Gott Einsteins und der anderen aufgeklärten Naturwissenschaftler aus dem vorigen Abschnitt. Deshalb musste die Einstein’sche Religion gleich zu Beginn aus dem Weg geräumt werden, enthält sie doch erwiesenermaßen beträchtliches Verwirrungspotenzial. Von jetzt an ist in diesem Buch nur noch von übernatürlichen Göttern die Rede. Am vertrautesten unter diesen Göttern ist meinen Lesern wahrscheinlich Jahwe, der Gott des Alten Testaments. Auf ihn werde ich in Kürze zurückkommen. Doch zuvor muss ich mich noch mit einer weiteren Frage auseinandersetzen, die sonst das ganze Buch überschatten würde: den guten Manieren.
Durch das, was ich zu sagen habe, werden religiös orientierte Leser sich möglicherweise beleidigt fühlen, und auf den nachfolgenden Seiten zu wenig Respekt vor ihrem ganz persönlichen Glauben entdecken (vielleicht auch vor dem Glauben, den andere hegen). Es wäre bedauerlich, wenn sie wegen einer solchen Beleidigung nicht weiterlesen würden, und deshalb möchte ich hier von Anfang an etwas klarstellen.
Nach einer verbreiteten Vorstellung, die in unserer Gesellschaft nahezu unter allen – auch den nicht religiösen – Menschen anerkannt wird, ist religiöser Glaube gegenüber Beleidigungen besonders empfindlich, weshalb man ihn mit einer besonders dicken Mauer des Respekts schützen sollte. Dieser Respekt gehört demnach in eine ganz andere Liga als der Respekt, den jeder Mensch jedem anderen entgegenbringen sollte. Das hat Douglas Adams in einer Stegreifrede in Cambridge kurz vor seinem Tod so gut formuliert, dass ich seine Worte gar nicht oft genug wiederholen kann:
Für diesen übermäßigen Respekt unserer Gesellschaft für die Religion möchte ich ein Beispiel nennen, das große praktische Bedeutung hat. Wer in Kriegszeiten den Wehrdienst verweigern will, hat es am leichtesten, wenn er religiöse Gründe anführt. Ein großartiger Moralphilosoph, der in einer preisgekrönten Doktorarbeit ausführlich die Übel des Krieges offenlegt, hat es unter Umständen vor dem Prüfungsausschuss dennoch schwer, als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden. Wenn man dagegen erklärt, ein Elternteil oder beide seien Quäker, bekommt man kaum noch Gegenwind, ganz gleich, wie schlecht man argumentieren kann und wie wenig man über die Theorie des Pazifismus oder sogar über das Quäkertum weiß.
Steht am einen Ende des Spektrums der Pazifismus, so finden wir am anderen einen kleinmütigen Widerwillen dagegen, Kriegsparteien mit religiösen Namen zu benennen. In Nordirland werden die Katholiken beschönigend zu »Nationalisten« und die Protestanten zu »Loyalisten«. Selbst das Wort »Religionen« wird zu »Gemeinschaften« entschärft. Der Irak versank als Folge der amerikanisch-britischen Invasion 2003 in einem sektiererischen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten. Es ist eindeutig ein religiöser Konflikt, aber der Independent sprach am 20. Mai 2006 sowohl in der Titelschlagzeile als auch im ersten Leitartikel von »ethnischer Säuberung«. »Ethnisch« ist in diesem Zusammenhang ein Euphemismus. Was wir im Irak erleben, ist eine religiöse Säuberung. Sogar die ursprüngliche Verwendung des Begriffs im früheren Jugoslawien ist nachweislich eine Beschönigung der religiösen Säuberung unter Beteiligung orthodoxer Serben, katholischer Kroaten und muslimischer Bosnier.8
Ich habe schon früher darauf aufmerksam gemacht, welche Vorrechte die Religion bei Medien und staatlichen Institutionen in öffentlichen Diskussionen über Ethik genießt.9 Jedes Mal, wenn es zu einer ethischen Kontroverse über Sexualität oder Fortpflanzung kommt, kann man darauf wetten, dass Religionsvertreter verschiedener Glaubensrichtungen in einflussreichen Gremien sowie in Rundfunk- oder Fernsehdiskussionen an hervorgehobener Stelle mitreden. Damit will ich nicht sagen, dass wir die Ansichten dieser Leute um jeden Preis zensieren sollten, aber warum rollt die Gesellschaft ihnen den roten Teppich aus, als hätten sie eine ähnliche Fachkenntnis wie beispielsweise ein Moralphilosoph, ein Familienanwalt oder ein Arzt?
Ein weiteres Beispiel für die Bevorzugung der Religion: Am 21. Februar 2006 urteilte der Oberste Gerichtshof der USA in Übereinstimmung mit der Verfassung, eine Kirche in New Mexico sei von einem Gesetz ausgenommen, das alle anderen befolgen müssen und das den Konsum halluzinogener Drogen verbietet.10 Mitglieder des Centro Espirita Beneficiente Unioao do Vegetal glauben, sie könnten Gott nur dann begreifen, wenn sie Hoasca-Tee trinken, der das verbotene Betäubungsmittel Dimethyltryptamin enthält. Wohlgemerkt: Es reicht, dass sie glauben, die Droge verbessere ihr Verständnisvermögen. Beweise mussten sie nicht beibringen. Umgekehrt gibt es viele Beweise, dass Haschisch bei Krebskranken während der Chemotherapie die Übelkeit und andere Beschwerden lindert. Dennoch urteilte der Oberste Gerichtshof 2005 – wiederum in Übereinstimmung mit der Verfassung –, alle Patienten, die aus medizinischen Gründen Cannabis nehmen, seien ein Fall für Verfolgung durch die Bundesbehörden (und das sogar in den wenigen Bundesstaaten, in denen diese spezielle Therapieform gesetzlich zugelassen ist). Immer wieder ist Religion die Trumpfkarte. Man stelle sich vor, die Mitglieder eines Kunstvereins würden vor Gericht vorbringen, sie »glaubten«, sie könnten mit einer bewusstseinserweiternden Droge die Werke des Impressionismus oder Surrealismus besser verstehen. Erhebt aber eine Kirche einen vergleichbaren Anspruch, gibt das oberste Gericht eines Staates ihr Rückendeckung. Eine solche Macht hat die Religion als Talisman.
Vor siebzehn Jahren wurde ich als einer unter 36 Autoren und Künstlern von der Zeitschrift New Statesman beauftragt, etwas zur Unterstützung des angesehenen Schriftstellers Salman Rushdie zu schreiben, der damals zum Tode verurteilt war, weil er einen Roman verfasst hatte. Erbost darüber, dass christliche Religionsführer und sogar einige weltliche Meinungsbildner »Mitgefühl« für die »Verletzung« und »Beleidigung« der Muslime äußerten, zog ich folgende Parallele:
Damals wusste ich noch nicht, dass etwas ganz Ähnliches sich auch im 21. Jahrhundert ereignen würde. Wie die Los Angeles Times am 10. April 2006 berichtete, strengten zahlreiche christliche Gruppen an Hochschulen in den ganzen Vereinigten Staaten Gerichtsverfahren gegen die Universitätsleitungen an, weil diese die gesetzlichen Diskriminierungsverbote durchsetzten, darunter auch das Verbot, Homosexuelle zu belästigen oder zu misshandeln. Ein typisches Beispiel war der zwölfjährige James Nixon aus Ohio: Ihm wurde 2004 gerichtlich das Recht zugebilligt, in der Schule ein T-Shirt mit der Aufschrift zu tragen: »Homosexualität ist eine Sünde, Islam ist eine Lüge, Abtreibung ist Mord. Bei manchen Dingen gibt es eben nur schwarz oder weiß.«12 Die Schulleitung hatte ihm das T-Shirt verboten – und die Eltern des Jungen klagten gegen die Schule. Ihr Standpunkt wäre durchaus vertretbar gewesen, wenn sie ihre Klage auf die im ersten Verfassungszusatz garantierte Meinungsfreiheit gestützt hätten. Aber das taten sie nicht, sondern die Nixon-Anwälte beriefen sich auf die verfassungsmäßig garantierte Religionsfreiheit. Finanziert wurde die erfolgreiche Klage vom Alliance Defense Fund of Arizona, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, »den juristischen Kampf für die Religionsfreiheit voranzubringen«.
Der Reverend Rick Scarborough, Unterstützer einer ganzen Welle ähnlicher Gerichtsverfahren, mit der die christliche Religion als juristische Rechtfertigung für die Diskriminierung der Homosexuellen und anderer Gruppen dienen sollte, bezeichnete dies als den Bürgerrechtskampf des 21. Jahrhunderts: »Die Christen gehen jetzt vor Gericht für das Recht, Christen zu sein.«13 Auch hier gilt: Würden solche Leute für die Meinungsfreiheit vor Gericht ziehen, müsste man vielleicht eine widerwillige Sympathie für sie empfinden. Aber darum geht es nicht. Das »Recht, Christ zu sein«, war in diesem Fall offenbar gleichbedeutend mit dem Recht, im Privatleben anderer Menschen herumzuschnüffeln. Das Verfahren zur Durchsetzung der Diskriminierung von Homosexuellen wird als Gegenklage gegen eine angebliche religiöse Diskriminierung aufgebaut! Und die Gerichte machen offensichtlich mit. Wer sagt: »Wenn du mir verbietest, Homosexuelle zu beleidigen, verletzt du mein Recht auf freie Vorurteile«, kommt damit nicht durch. Sagt man jedoch: »Es verletzt meine Religionsfreiheit«, dann hat man Erfolg. Worin eigentlich besteht bei genauerem Nachdenken der Unterschied? Wieder einmal ist Religion der Trumpf, der sticht.
An das Ende dieses Kapitels möchte ich eine Einzelfallstudie stellen, die besonders gut beleuchtet, welch übertriebenen Respekt die Gesellschaft vor der Religion hat und wie dieser über den ganz normalen zwischenmenschlichen Respekt hinausgeht. Der Fall – eine lächerliche Episode, die zwischen den Extremen von Komödie und Tragödie hin und her wechselte – wurde im Februar 2006 bekannt. Im vorausgegangenen September waren in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten zwölf Karikaturen erschienen, die den Propheten Mohammed darstellten. Im Laufe der folgenden drei Monate wurde die Empörung in der islamischen Welt sorgfältig und systematisch aufgebaut, und zwar von einer kleinen Gruppe in Dänemark lebender Muslime unter Führung von zwei Imamen, die dort politisches Asyl genossen.14 Ende 2005 reisten diese boshaften Exilmuslime von Dänemark nach Ägypten; im Gepäck hatten sie ein Dossier, das kopiert und in der gesamten islamischen Welt verbreitet wurde, auch – und das ist besonders wichtig – in Indonesien. Das Papier enthielt einerseits falsche Aussagen über die angebliche Misshandlung von Muslimen in Dänemark, andererseits aber auch die absichtsvolle Lüge, die Zeitung Jyllands-Posten sei ein Regierungsorgan. Außerdem enthielt es die zwölf Karikaturen, denen die Imame jedoch – auch das entscheidend – drei weitere Zeichnungen rätselhafter Herkunft hinzugefügt hatten, die mit Sicherheit in keinerlei Verbindung zu Dänemark standen. Im Gegensatz zu den ersten zwölf waren diese drei richtig beleidigend – oder sie wären es gewesen, wenn sie tatsächlich Mohammed dargestellt hätten, wie die eifrigen Propagandisten behaupteten. Eines der drei Bilder, das besonders viel Schaden anrichtete, war überhaupt keine Karikatur, sondern das gefaxte Foto eines bärtigen Mannes, der sich mit Gummibändern eine Schweinemaske umgebunden hatte. Wie sich später herausstellte, handelte es sich dabei um eine Aufnahme der Nachrichtenagentur Associated Press, die einen Franzosen zeigte, der in seiner Heimat bei einem ländlichen Jahrmarkt an einem Schweine-Quiek-Wettbewerb teilgenommen hatte.15 Die Aufnahme hatte nichts, aber auch gar nichts mit dem Propheten Mohammed, dem Islam oder Dänemark zu tun. Die muslimischen Aktivisten jedoch stellten auf ihrer Unheil stiftenden Reise nach Kairo alle drei Verbindungen her – mit vorhersehbaren Folgen.
Fünf Monate nachdem die Karikaturen zum ersten Mal erschienen waren, brach sich die sorgfältig kultivierte »Verletzung« und »Beleidigung« auf explosive Weise Bahn. In Pakistan und Indonesien verbrannten Demonstranten dänische Fahnen (woher hatten sie die?), und an die dänische Regierung wurden hysterische Forderungen nach einer Entschuldigung gerichtet. (Entschuldigung wofür? Die Regierung hatte die Karikaturen weder gezeichnet noch veröffentlicht. In Dänemark herrscht Pressefreiheit, ein Prinzip, das für die Menschen in vielen islamischen Ländern möglicherweise nur schwer verständlich ist.) Zeitungen in Norwegen, Deutschland, Frankreich und sogar den Vereinigten Staaten (aber auffälligerweise nicht in Großbritannien) druckten die Karikaturen aus Solidarität mit Jyllands-Posten nach und gossen damit weiteres Öl ins Feuer. Botschaften und Konsulate wurden angegriffen, dänische Waren boykottiert, dänische Bürger und sogar Menschen aus westlichen Ländern ganz allgemein körperlich bedroht. In Pakistan brannten christliche Kirchen, die keinerlei Beziehung zu Dänemark oder Europa hatten. Neun Menschen kamen ums Leben, als Aufständische in der libyschen Hafenstadt Bengasi das italienische Konsulat angriffen und in Brand steckten. Germaine Geer schrieb: »Was diese Leute am liebsten mögen und am besten können, ist das Inferno.«16
Ein pakistanischer Imam setzte auf den Kopf des »dänischen Karikaturisten« eine Belohnung von einer Million Dollar aus. Er wusste offenbar nicht, dass es insgesamt zwölf dänische Karikaturisten gab, und mit ziemlicher Sicherheit war ihm auch nicht klar, dass die drei beleidigendsten Bilder in Dänemark überhaupt nicht erschienen waren. (Und nebenbei gefragt: Woher sollte die Million eigentlich kommen?) In Nigeria zündeten Muslime aus Protest gegen die dänischen Karikaturen mehrere christliche Kirchen an, und Christen (schwarze Nigerianer) wurden auf der Straße mit Macheten überfallen und getötet. Ein Christ wurde in einen Autoreifen gesteckt, mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leib verbrannt. In Großbritannien wurden Demonstranten fotografiert, auf deren Transparenten stand: »Schlachtet die, die den Islam beleidigen«, »Tod denen, die sich über den Islam lustig machen«, »Europa, du wirst bezahlen: Die Zerstörung ist schon unterwegs« und »Enthauptet alle, die sagen, der Islam sei eine gewalttätige Religion«. Glücklicherweise waren unsere Politiker zur Stelle und erinnerten uns daran, dass der Islam doch eine Religion des Friedens und der Barmherzigkeit ist.
Im Gefolge dieser Vorgänge interviewte der Journalist Andrew Mueller den führenden »gemäßigten« Muslim in Großbritannien, Sir Iqbal Sacranie.17 Dieser mag nach den heutigen Maßstäben des Islam gemäßigt sein, aber nach Muellers Bericht steht er noch heute zu einer Bemerkung, die er machte, als Salman Rushdie wegen eines Romans zum Tode verurteilt wurde: »Der Tod ist vielleicht noch zu milde für ihn.« Mit dieser Aussage steht er in schändlichem Gegensatz zu seinem mutigen Vorgänger als einflussreichster britischer Muslim, dem verstorbenen Dr. Zaki Badawi, der Salman Rushdie in seinem eigenen Haus Unterschlupf gewährte. Sacranie erklärte Mueller, wie besorgt er wegen der dänischen Karikaturen sei. Auch Mueller war besorgt, aber aus einem ganz anderen Grund: »Ich fürchte, die lächerliche, völlig unverhältnismäßige Reaktion auf ein paar nicht besonders lustige Skizzen in einer obskuren skandinavischen Zeitung könnte bestätigen, dass … der Islam und der Westen grundsätzlich unvereinbar sind.« Sacranie dagegen lobte die britischen Zeitungen, weil sie die Karikaturen nicht nachgedruckt hatten, woraufhin Mueller einen im Lande weit verbreiteten Verdacht aussprach: »Die Selbstbeschränkung der britischen Presse entspringt wohl weniger der Sensibilität gegenüber muslimischer Unzufriedenheit als vielmehr dem Wunsch, dass einem nicht die Fensterscheiben eingeworfen werden.«
Sacranie erklärte: »Die Person des Propheten, Friede sei mit ihm, wird in der muslimischen Welt so tief verehrt, mit einer Liebe und Zuneigung, die man nicht in Worte fassen kann. Sie geht über die Liebe zu den Eltern, den Angehörigen, den Kindern hinaus. Das ist ein Teil des Glaubens. Es gibt im Islam auch das Gebot, den Propheten nicht abzubilden.« Das unterstellt, wie Mueller es formuliert,
Wenn man es jedoch nicht ernst nimmt und nicht den entsprechenden Respekt zollt, wird man physisch bedroht, und das in einem Ausmaß, zu dem sich seit dem Mittelalter keine andere Religion mehr verstiegen hat. Man muss sich fragen, warum solche Gewalt nötig ist. Reicht es nicht, mit Mueller zu sagen: »Wenn einer von euch Clowns irgendwo recht hat, dann wandern die Karikaturisten doch sowieso in die Hölle – reicht das nicht? Wenn ihr euch in der Zwischenzeit über Angriffe auf Muslime aufregen wollt, dann lest mal die Berichte von Amnesty International über Syrien und Saudi-Arabien.«
Vielen Menschen ist auch aufgefallen, welcher Kontrast zwischen der hysterischen »Verletztheit« der Muslime und der bereitwilligen Veröffentlichung judenfeindlicher Karikaturen in arabischen Medien besteht. In Pakistan wurde bei einer Demonstration gegen die dänischen Karikaturen eine Frau in schwarzer Burka mit einem Transparent fotografiert, auf dem stand: »Gott segne Hitler.«
Als Reaktion auf dieses ganze hektische Chaos bedauerten anständige liberale Zeitungen die Gewalt und legten symbolische Bekenntnisse zur Meinungsfreiheit ab. Gleichzeitig drückten sie aber »Respekt« und »Mitgefühl« für die »Beleidigung« und »Verletzung« aus, unter denen die Muslime »gelitten« hätten. Wie gesagt: Die »Verletzung« und das »Leiden« bestanden nicht darin, dass irgendein Mensch Gewalt oder echte Schmerzen erlitten hätte: Es waren nur ein paar Linien aus Druckerschwärze in einer Zeitung, von der außerhalb Dänemarks nie jemand etwas gehört hätte, wenn das Chaos nicht mit einer gezielten Kampagne geschürt worden wäre.
Ich bin nicht dafür, jemanden nur um der Sache selbst willen zu beleidigen oder zu verletzen. Aber für mich ist es faszinierend und rätselhaft, dass die Religion in unserer ansonsten säkularen Gesellschaft derart unverhältnismäßige Vorrechte genießt. Alle Politiker müssen sich respektlose Karikaturen ihrer Gesichter gefallen lassen, und niemand geht zu ihrer Verteidigung auf die Straße. Was ist das Besondere an der Religion, dass wir ihr einen so einzigartigen Respekt entgegenbringen? H. L. Mencken sagte einmal: »Wir müssen die Religion des anderen respektieren, aber nur in dem Sinn und dem Umfang, wie wir auch seine Theorie respektieren, wonach seine Frau hübsch ist und seine Kinder klug sind.«
Vor dem Hintergrund dieses beispiellosen Respektsanspruchs der Religion gebe ich hiermit für dieses Buch meine eigene Erklärung ab: Ich werde mich nicht dazu hinreißen lassen, jemanden zu beleidigen, aber ich werde auch keine Samthandschuhe anziehen und die Religion nicht sanfter behandeln, als ich es mit allem anderen tun würde.
Die Religion des einen Zeitalters ist die literarische Unterhaltung des nächsten.
Ralph Waldo Emerson
Der Gott des Alten Testaments ist – das kann man mit Fug und Recht behaupten 18