Jo Nesbø
Fährte
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen
von Günther Frauenlob
Ullstein
Das Buch
Zwei ungewöhnliche Mordfälle setzen Harry Hole unter Druck: Bei einem Bankraub in Oslo wird eine junge Angestellte von dem maskierten Täter kaltblütig und grundlos erschossen. Harry fällt es schwer zu begreifen, dass ein offensichtlicher Profiverbrecher sich plötzlich von sadistischen Emotionen leiten lassen soll. Die Ermittlungen gestalten sich ausgesprochen schwierig und werden jäh unterbrochen, als Harry selbst in einen Mord verwickelt wird: Er trifft seine alte Liebe Anna wieder, die ihn zu sich einlädt. Am nächsten Tag wacht er in seiner eigenen Wohnung auf und kann sich an nichts erinnern. Als Harry erfährt, dass Anna tot ist, wird ihm klar, dass er sie wohl als Letzter lebend gesehen hat. Bevor er sich's versieht, gerät er unter Mordverdacht und muss untertauchen, um auf eigene Faust weiterermitteln zu können. Eine heiße Fährte führt ihn schließlich bis nach Südamerika.
Der Autor
Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Bereits sein Debüt Der Fledermausmann wurde in Norwegen als »Bester Kriminalroman des Jahres« ausgezeichnet und mit Rotkehlchen gelang ihm international der Durchbruch. Jo Nesbø ist mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt und der erfolgreichste Autor Norwegens. Er lebt in Oslo.
Von Jo Nesbø sind in unserem Hause bereits erschienen:
Fledermausmann (Harry Holes 1. Fall)
Kakerlaken (Harry Holes 2. Fall)
Rotkehlchen (Harry Holes 3. Fall)
Fährte (Harry Holes 4. Fall)
Das fünfte Zeichen (Harry Holes 5. Fall)
Erlöser (Harry Holes 6. Fall)
Schneemann (Harry Holes 7. Fall)
Leopard (Harry Holes 8. Fall)
Larve (Harry Holes 9. Fall)
Koma (Harry Holes 10. Fall)
Durst (Harry Holes 11. Fall)
Messer (Harry Holes 12. Fall)
Außerdem:
Headhunter
Der Sohn
Blood on Snow. Der Auftrag · Blood on Snow. Das Versteck
Der Plan
Ich muss sterben. Aber das macht keinen Sinn. So war das doch nicht geplant, jedenfalls nicht von mir. Kann sein, dass ich schon die ganze Zeit auf diesem Weg war – ohne es zu wissen. Aber mein Plan war das nicht. Mein Plan war besser. Mein Plan hatte einen Sinn.
Ich starre in die Mündung der Waffe und weiß, dass er von dort kommen wird. Der Bote des Todes. Der Fährmann. Zeit für ein letztes Lachen. Wenn du Licht am Ende des Tunnels siehst, kann das durchaus auch eine Stichflamme sein. Zeit für eine letzte Träne. Wir hätten etwas aus diesem Leben machen können, du und ich. Wenn wir uns an den Plan gehalten hätten. Ein letzter Gedanke. Alle fragen, was der Sinn des Lebens ist, aber niemand schert sich um den Sinn des Todes.
Der Astronaut
Der alte Mann ließ Harry an einen Astronauten denken. Die komischen kurzen Schritte, die steifen Bewegungen, der schwarze, tote Blick und die unablässig über das Parkett schleifenden Schuhsohlen. Als habe er Angst, den Bodenkontakt zu verlieren und zu entschweben, in die Weite des Weltraums.
Harry warf einen Blick auf die Uhr an der weißen Wand über der Ausgangstür. 15.16 Uhr. Vor dem Fenster, auf dem Bogstadvei, hasteten die Menschen in ihrer Freitagshektik vorbei. Die tief stehende Oktobersonne wurde vom Außenspiegel eines Autos reflektiert, das sich in der Schlange der Autos vorwärts bewegte.
Harry hatte sich auf den alten Mann konzentriert. Hut und grauer, eleganter Mantel, der allerdings mal wieder gereinigt werden könnte. Darunter eine Tweedjacke, Schlips und abgetragene, graue Hosen mit messerscharfer Bügelfalte. Blank gewienerte Schuhe mit abgelaufenen Sohlen. Einer dieser Rentner, von denen der Stadtteil Majorstua anscheinend so dicht bevölkert war. Das war keine Vermutung. Harry wusste, dass August Schultz 81 Jahre alt war, früher in einer Herrenkonfektion gearbeitet hatte und sein ganzes Leben in Majorstua gelebt hatte, außer im Krieg, den er in einer Baracke in Auschwitz überlebt hatte. Die steifen Knie rührten von einem Sturz auf der Fußgängerüberführung über die Ringstraße, die er bei seinen täglichen Besuchen bei seiner Tochter überqueren musste. Der Eindruck einer mechanischen Puppe wurde durch die Haltung der Arme verstärkt. Er hielt sie angewinkelt, und die Unterarme ragten waagerecht nach vorn. Über dem rechten Unterarm hing ein brauner Spazierstock, und die linke Hand umklammerte einen Überweisungsvordruck, den er bereits dem jungen, kurzhaarigen Angestellten hinter dem Schalter 2 entgegenstreckte. Harry konnte das Gesicht des Bankangestellten nicht sehen, wusste aber, dass er den alten Mann mit einer Mischung aus Mitleid und Verärgerung anstarrte.
Es war 15.17 Uhr, als August Schultz endlich an der Reihe war. Harry seufzte.
An Schalter 1 saß Stine Grette und zählte 730 Kronen für einen Jungen mit Zipfelmütze ab, der ihr soeben eine Zahlungsanweisung gegeben hatte. Der Diamant an ihrem linken Ringfinger blitzte mit jedem Schein, den sie auf den Tisch legte.
Obgleich sie nicht in seinem Blickfeld war, wusste Harry, dass sich rechts neben dem Jungen vor Schalter 3 eine Frau mit einem Kinderwagen befand, den sie, vermutlich in Gedanken, hin und her bewegte, denn das Kind schlief. Die Frau wartete darauf, von Frau Braenne bedient zu werden, die ihrerseits mit lauter Stimme einem Mann am Telefon erklärte, dass er nicht per Bankeinzug bezahlen könne, ohne dass der Empfänger das bestätigt habe, und dass schließlich sie es sei, die in der Bank arbeite und nicht er, und sie deshalb vielleicht jetzt endlich diese Diskussion beenden könnten?
Im gleichen Augenblick ging die Tür der Bankfiliale auf und zwei Männer, ein großer und ein kleiner, bekleidet mit identischen, dunklen Overalls, betraten rasch den Raum. Stine Grette blickte auf. Harry sah auf seine Uhr und begann zu zählen. Die Männer hasteten zu dem Schalter, an dem Stine Grette saß. Der Große bewegte sich so, als steige er über Pfützen, während der Kleine den schaukelnden Gang eines Mannes hatte, der sich mehr Muskeln antrainiert hatte, als sein Körper tragen konnte. Der Junge mit der blauen Zipfelmütze drehte sich langsam um und ging auf den Ausgang zu. Er war so beschäftigt damit, sein Geld zu zählen, dass er die zwei gar nicht bemerkte.
»Hallo«, sagte der Große an Stine gerichtet, trat vor und knallte einen schwarzen Koffer vor ihr auf den Tresen. Der Kleine schob sich seine verspiegelte Sonnenbrille auf der Nase zurecht, ging vor und stellte einen identischen Koffer daneben. »Geld!«, piepste er mit hoher Stimme. »Mach die Tür auf!«
Es war, als hätte jemand auf einen Pausenknopf gedrückt: Alle Bewegungen in der Bankfiliale erstarrten. Einzig der Verkehr draußen vor der Tür verriet, dass die Zeit nicht stillstand. Und der Sekundenzeiger auf Harrys Uhr, der jetzt anzeigte, dass zehn Sekunden vergangen waren. Stine drückte auf einen Knopf unter ihrem Schalter. Ein elektronisches Summen ertönte und der Kleine schob die niedrige Schwingtür ganz am Rand der Filiale mit dem Knie auf.
»Wer hat die Schlüssel?«, fragte er. »Schnell, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«
»Helge!«, rief Stine über ihre Schulter.
»Was?« Die Stimme drang aus dem einzigen Büroraum der Filiale, dessen Tür offen stand.
»Wir haben Besuch, Helge!«
Ein Mann mit Fliege und Lesebrille kam zum Vorschein.
»Du sollst den Geldautomaten öffnen, Helge!«, sagte Stine.
Helge Klementsen starrte dumpf auf die beiden Männer mit den Overalls, die jetzt beide auf der Innenseite der Schalter waren. Der Große sah nervös zur Eingangstür, während der Kleine den Filialleiter anstarrte.
»Ja, ja, natürlich«, stammelte Klementsen, als erinnere er sich plötzlich an eine alte Abmachung, und brach in lautes, hektisches Lachen aus.
Harry rührte sich nicht, nur seine Augen sogen jedes Detail von Bewegung und Mimik ein. Fünfundzwanzig Sekunden. Er blickte noch immer auf die Uhr über der Tür, doch aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie der Filialleiter den Geldautomaten von innen öffnete, zwei längliche Metallkassetten mit Geldscheinen herauszog und sie den zwei Männern übergab. Das Ganze lief schnell und leise ab. Fünfzig Sekunden.
»Die sind für dich, Vater!« Der Kleine hatte zwei identische Metallkassetten aus dem Koffer gezogen, die er Helge Klementsen entgegenstreckte. Der Filialleiter schluckte, nickte und schob sie in den Geldautomaten.
»Ein schönes Wochenende!«, sagte der Kleine, richtete sich auf und ergriff den Koffer. Anderthalb Minuten.
»Nicht so schnell«, sagte Helge.
Der Kleine erstarrte.
Harry sog die Wangen ein und versuchte, sich zu konzentrieren.
»Die Quittung ...«, sagte Helge.
Einen langen Augenblick starrten die beiden Männer auf den kleinen, grauhaarigen Filialleiter. Dann begann der Kleine zu lachen. Ein hohes, dünnes Lachen mit schrillem, hysterischem Oberton, als wäre er auf Speed. »Du glaubst doch nicht, dass wir ohne Unterschrift gegangen wären? Wer gibt schon zwei Millionen ab, ohne sich das bestätigen zu lassen!«
»Nun«, sagte Helge Klementsen. »Einer von euch hätte das letzte Woche fast vergessen.«
»Es sind zurzeit so viele Frischlinge auf den Geldtransportern«, sagte der Kleine, während er und Klementsen unterschrieben und gelbe und rosa Formulare austauschten.
Harry wartete, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ehe er wieder auf die Uhr blickte. Zwei Minuten und zehn Sekunden.
Durch das Glas in der Tür konnte er den weißen Kastenwagen mit dem Emblem der Nordea-Bank wegfahren sehen.
In der Bank wurden die Gespräche wieder aufgenommen.
Harry brauchte nicht zu zählen, tat es aber dennoch. Sieben. Drei hinter den Schaltern und drei davor, wobei er das Baby und den Typ in den Zimmermannshosen mitgerechnet hatte, der soeben in die Bank gekommen und an den Tisch in der Mitte der Bank getreten war, um seine Kontonummer auf einen Einzahlungsschein zu schreiben, der, wie Harry erkannt hatte, von der Firma Saga Sonnenreisen stammte.
»Wiedersehen«, sagte August Schultz und begann seine Füße in Richtung Ausgangstür zu schieben.
Es war jetzt genau 15.21 Uhr und zehn Sekunden, und erst jetzt fing alles richtig an.
Als sich die Tür öffnete, sah Harry Stine Grettes Kopf kurz nach oben wippen, ehe sie sich wieder auf die Papiere vor sich konzentrierte. Dann hob sie ihren Kopf wieder, dieses Mal langsamer. Harry blickte zur Eingangstür. Der Mann, der in die Bank gekommen war, hatte bereits den Reißverschluss seines Overalls geöffnet und ein schwarz-olivgrünes G3-Gewehr gezückt. Eine marineblaue Sturmhaube verdeckte mit Ausnahme der Augen sein ganzes Gesicht. Harry begann erneut von null zu zählen.
Wie bei einer Muppets-Puppe begann sich die Sturmhaube dort zu bewegen, wo sich der Mund befinden musste: »This is a robbery. Nobody moves.«
Er hatte nicht laut gesprochen, doch wie nach einem donnernden Kanonenschlag waren alle Geräusche in der kleinen Bankfiliale verstummt. Harry blickte zu Stine. Durch das ferne Rauschen der Autos war das glatte Klicken geölter Waffenteile zu hören, als der Mann den Ladegriff betätigte. Ihre linke Schulter sank kaum merkbar nach unten.
Mutiges Mädchen, dachte Harry. Oder einfach nur zu Tode erschrocken. Aune, der Psychologieprofessor an der Polizeischule, hatte gesagt, dass die Menschen zu denken aufhören und beinahe wie vorprogrammiert handeln, wenn die Angst nur groß genug ist. Die meisten Bankangestellten lösen den stillen Alarm wie im Schock aus, hatte Aune behauptet und seine Aussage damit belegt, dass sie sich hinterher bei den Befragungen nicht mehr erinnern konnten, ob sie den Alarm ausgelöst hatten oder nicht. Sie liefen auf Autopilot. Genau wie ein Bankräuber, der sich vorher eingebläut hat, alle zu erschießen, die ihn aufzuhalten versuchen, sagte Aune. Je ängstlicher ein Bankräuber ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er sich von seinem Vorhaben abbringen lässt. Harry bewegte sich nicht. Er versuchte nur, die Augen des Bankräubers zu erkennen. Blau.
Der Mann nahm seinen schwarzen Rucksack ab und warf ihn zwischen dem Geldautomaten und dem Mann mit den Zimmererhosen auf den Boden. Die Spitze des Kugelschreibers ruhte noch immer auf dem letzten Bogen der Acht. Der schwarz gekleidete Mann ging die sechs Schritte zu der niedrigen Schaltertür, setzte sich auf den Rand und schwang seine Beine hinüber. Dann stellte er sich hinter Stine, die still dasaß und den Blick nach vorne gerichtet hatte. Gut, dachte Harry. Sie hält sich an die Anweisungen und provoziert keine Reaktion, indem sie den Räuber anstarrt.
Der Mann richtete den Lauf des Gewehres auf Stines Nacken, beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Noch hatte sie keine Panik, doch Harry konnte erkennen, wie sich ihre Brust hob und senkte. Ihr dünner Körper schien unter der weißen und mit einem Mal engen Bluse nicht genug Luft zu bekommen. Fünfzehn Sekunden.
Sie räusperte sich. Einmal. Zweimal. Dann brachten ihre Stimmbänder endlich Töne hervor:
»Helge. Die Schlüssel für den Geldautomaten.« Die Stimme war leise und heiser, sie hatte nichts mehr mit der Stimme zu tun, die noch vor drei Minuten die beinahe gleichen Worte gesprochen hatte.
Harry sah ihn nicht, wusste aber, dass Helge Klementsen die ersten Worte des Bankräubers gehört hatte und bereits in der Bürotür stand.
»Schnell, sonst...« Ihre Stimme war kaum hörbar, und in der Pause, die folgte, war das Schleifen von August Schultz' Schuhsohlen auf dem Parkett das einzige hörbare Geräusch – wie ein paar Jazzbesen, die in einem unglaublich langsamen Shuffle über die Haut der Trommel geführt wurden. »... erschießt er mich.«
Harry sah aus dem Fenster. Vermutlich stand irgendwo dort draußen ein Auto mit laufendem Motor, doch von dort, wo er stand, konnte er nichts sehen. Nur Autos und Menschen, die mehr oder weniger unbekümmert vorbeigingen.
»Helge ...«Ihre Stimme klang flehend.
Los, Helge, dachte Harry. Harry wusste auch einiges über den alternden Filialleiter. Er wusste, dass er zwei Königspudel hatte, eine Frau und eine kürzlich erst sitzen gelassene schwangere Tochter, die zu Hause auf ihn warteten. Dass sie gepackt hatten und nur darauf warteten, in ihre Hütte in den Bergen zu fahren, sobald Helge Klementsen nach Hause kam. Dass Klementsen sich jetzt aber wie in einem Traum unter Wasser fühlte, in dem alle Bewegungen unendlich verlangsamt werden, so sehr man sich auch beeilte. Dann tauchte er in Harrys Blickfeld auf. Der Bankräuber hatte Stines Stuhl herumgedreht, so dass er hinter ihr stand, den Blick auf Helge Klementsen gerichtet. Wie ein ängstliches Kind, das ein Pferd füttern soll, stand Klementsen nach hinten gebeugt da, wobei er die Hand mit dem Schlüsselbund so weit wie nur möglich nach vorne streckte. Es waren vier Schlüssel daran. Der Bankräuber flüsterte Stine ins Ohr, während er die Waffe auf Klementsen richtete, der zwei unsichere Schritte nach hinten taumelte.
Stine räusperte sich: »Er sagt, dass du den Geldautomaten öffnen und die neuen Scheine in den schwarzen Rucksack packen sollst.«
Helge Klementsen starrte wie hypnotisiert auf das auf ihn gerichtete Gewehr.
»Du hast fünfundzwanzig Sekunden. Dann schießt er. Auf mich, nicht dich.«
Klementsens Mund öffnete und schloss sich, als wollte er etwas sagen.
»Los, Helge«, rief Stine. Der Türöffner summte und Helge Klementsen trat in den Tresorraum.
Dreißig Sekunden waren vergangen, seit der Bankräuber die Filiale betreten hatte. August Schultz hatte die Ausgangstür jetzt fast erreicht. Der Filialleiter kniete sich vor dem Geldautomaten hin und starrte auf den Schlüsselbund. Es waren vier Schlüssel daran.
»Noch zwanzig Sekunden«, ertönte Stines Stimme.
Die Polizeiwache von Majorstua, dachte Harry. Jetzt waren sie auf dem Weg zu den Autos. Acht Blöcke. Rushhour.
Mit zitternden Fingern suchte Helge Klementsen einen Schlüssel aus und steckte ihn ins Schlüsselloch. Auf halbem Weg blieb er stecken. Helge Klementsen drückte fester.
»Siebzehn.«
»Aber ...«, begann er.
»Fünfzehn.«
Helge Klementsen zog den Schlüssel wieder heraus und versuchte einen anderen. Dieser ließ sich ins Schloss stecken, doch er konnte ihn nicht drehen.
»Herrgott noch mal...«
»Dreizehn. Der mit dem grünen Kleber, Helge!« Helge Klementsen starrte auf den Schlüsselbund, als hätte er ihn noch niemals zuvor gesehen. »Elf.«
Der dritte Schlüssel passte. Helge Klementsen öffnete die Tür und drehte sich zu Stine und dem Räuber um.
»Ich muss noch ein Schloss öffnen, um die Kassette herauszu...«
»Neun!«, rief Stine.
Ein Schluchzen entwich Klementsen, der jetzt wie ein Blinder mit den Fingern über die Zacken der Schlüssel fuhr, als könnten ihm diese wie Blindenschrift verraten, welcher Schlüssel der richtige war.
»Sieben.«
Harry lauschte angespannt. Noch keine Polizeisirenen. August Schultz fasste nach dem Griff der Ausgangstür. Metall klirrte, als der Schlüsselbund zu Boden fiel. »Fünf«, flüsterte Stine.
Die Tür ging auf und der Lärm der Straße drang herein. In der Ferne glaubte Harry einen vertrauten, klagenden Ton zu hören. Er fiel ab und stieg gleich darauf wieder an. Polizeisirenen. Dann schloss sich die Tür wieder.
»Zwei. Helge!«
Harry schloss die Augen und zählte bis zwei.
»Ich bin so weit!« Helge Klementsen hatte gerufen. Er hatte das zweite Schloss aufbekommen und kämpfte jetzt damit, die Kassetten herauszubekommen, die sich offensichtlich verkeilt hatten. »Ich muss nur erst das Geld herausbekommen. Ich ...«
In diesem Moment wurde er von einem schrillen Heulen unterbrochen. Harry blickte zum anderen Ende der Schalter hinüber, wo die junge Frau erschrocken den Bankräuber anstarrte, der noch immer reglos dastand und die Waffe auf Stines Nacken richtete. Die Frau blinzelte zweimal und nickte stumm in Richtung Kinderwagen, während sich das Gebrüll des Säuglings in die Höhe arbeitete.
Helge Klementsen wäre beinahe nach hinten gestürzt, als sich die erste Kassette löste. Er zog den schwarzen Rucksack zu sich, und im Laufe von sechs Sekunden waren alle Kassetten im Rucksack verstaut. Auf Kommando zog Klementsen den Reißverschluss zu und stellte sich an den Tisch. Alle Befehle wurden ihm von Stine gegeben, deren Stimme jetzt überraschend fest und ruhig klang.
Eine Minute und drei Sekunden. Der Bankraub war vorüber. Das Geld lag in einem Rucksack in der Mitte der Bank. In wenigen Sekunden würde der erste Polizeiwagen ankommen. In vier Minuten würden die anderen Polizeiwagen die nächsten Fluchtwege abgeriegelt haben. Jede Faser im Körper des Räubers musste schreien, dass es höchste Zeit war, sich jetzt abzusetzen. Und dann geschah das, was Harry nicht verstand. Es hatte ganz einfach keinen Sinn. Statt abzuhauen drehte der Bankräuber Stines Stuhl herum, so dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Er beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Harry blinzelte. Er sollte irgendwann einmal sein Sehvermögen überprüfen lassen. Aber er sah, was er sah. Dass sie den gesichtslosen Bankräuber anstarrte, während ihr eigenes Gesicht eine langsame Veränderung erfuhr, je mehr ihr die Bedeutung der Worte, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte, bewusst wurden. Die schmalen, gepflegten Augenbrauen zeichneten zwei S-Bögen über die Augen, die ihr aus dem Kopf zu quellen schienen, ihre Oberlippe rollte sich nach oben, während sich ihre Mundwinkel zu einem grotesken Grinsen nach unten zogen. Das Kind hörte ebenso plötzlich zu weinen auf, wie es begonnen hatte. Harry holte tief Luft. Denn er wusste es. Das Ganze war wie ein Standbild, ein Meisterfoto. Zwei Menschen, gefangen in dem Augenblick, in dem der eine dem anderen sein Todesurteil mitgeteilt hat, das maskierte Gesicht zwei Handbreit vor dem unmaskierten. Der Henker und sein Opfer. Der Gewehrlauf zeigt auf die Halsgrube und ein kleines, goldenes Herz an einer dünnen Kette. Harry sieht ihren Puls nicht, spürt ihn aber dennoch unter ihrer dünnen Haut.
Ein gedämpftes, klagendes Geräusch. Harry spitzt die Ohren. Doch das ist keine Polizeisirene, sondern bloß das Klingeln eines Telefons im Nebenraum.
Der Bankräuber dreht sich um und sieht zur Überwachungskamera an der Decke hinter dem Schalter. Er streckt eine Hand hoch und zeigt seine fünf Finger in den schwarzen Handschuhen. Dann schließt er die Hand und streckt nur seinen Zeigefinger in die Höhe. Sechs Finger. Sechs Sekunden über der Zeit. Er dreht sich wieder zu Stine, ergreift das Gewehr mit beiden Händen, hält es an der Hüfte, hebt die Gewehrmündung, bis sie auf ihren Kopf zeigt, und spreizt die Beine, um den Rückstoß abzufangen. Das Telefon klingelt und klingelt. Eine Minute und zwölf Sekunden. Der Diamantring blinkt auf, als Stine die Hand ein wenig hebt, als wolle sie jemandem zum Abschied zuwinken.
Es ist exakt 15.22 Uhr und 22 Sekunden, als er abdrückt. Der Knall ist kurz und dumpf. Stines Stuhl wird nach hinten geworfen, während ihr Kopf wie bei einer kaputten Puppe auf dem Hals tanzt. Dann kippt der Stuhl nach hinten. Ein Schlag ist zu hören, als ihr Kopf auf der Kante des Schreibtisches aufschlägt, dann kann Harry sie nicht mehr sehen. Auch die Reklame für Nordeas neuen Rentensparplan, die an der Außenseite der Scheibe über dem Schalter klebt, hat plötzlich einen roten Hintergrund bekommen und ist nicht mehr zu erkennen. Er hört bloß das Klingeln des Telefons, wütend und eindringlich. Der Bankräuber schwingt sich über die Tür und rennt zu dem Rucksack in der Mitte des Raumes. Harry muss sich jetzt entscheiden. Der Bankräuber ergreift den Rucksack. Harry entschließt sich. Mit einem Ruck ist er aus dem Stuhl. Sechs lange Schritte. Dann ist er da. Und hebt den Hörer des Telefons ab.
»Ja.«
In der darauf folgenden Pause hört er das Geräusch der Polizeisirenen aus den Fernsehlautsprechern im Wohnzimmer, einen pakistanischen Hit aus der Nachbarwohnung und schwere Schritte draußen auf der Treppe, die auf Frau Madsen schließen lassen. Dann lacht es weich am anderen Ende. Ein Lachen aus einer fernen Vergangenheit. Nicht was die Zeit angeht, aber dennoch fern. Wie siebzig Prozent von Harrys Vergangenheit, die in unregelmäßigen Abständen als vages Gerücht oder wildeste Erfindung wie aus dem Nichts auftaucht. Aber diese Geschichte konnte er bestätigen.
»Fährst du noch immer auf dieser Macho-Schiene, Harry?«
»Anna?«
»Aber hallo, du beeindruckst mich.«
Harry spürte eine süße Wärme in seinem Inneren, fast wie Whisky. Fast. Im Spiegel sah er ein Bild, das er an die gegenüberliegende Wand geheftet hatte. Von ihm und Søs aus einem lange vergangenen Sommerurlaub in Hvitsten, als sie klein waren. Sie lächelten, wie Kinder lächeln, die noch immer glauben, dass ihnen nichts Schlimmes zustoßen kann.
»Und was machst du so an einem Sonntagabend, Harry?«
»Nun.« Harry hörte, wie seine eigene Stimme automatisch die ihre imitierte. Ein bisschen zu tief und zu zögerlich. Aber das war es nicht, was er wollte. Nicht jetzt. Er räusperte sich und fand eine etwas neutralere Klangfarbe. »Was wohl die meisten Menschen machen.«
»Und das wäre?«
»Videos gucken.«