Barbara Geist / Andreas Krafft

Deutsch als Zweitsprache

Sprachdidaktik für mehrsprachige Klassen

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Inhalt

Fußnoten

1.1 Migration und Bildung

Das Statistische Bundesamt definiert als Personen mit Migrationshintergrund alle „Ausländer, (Spät-)Aussiedler und Eingebürgerten“ sowie „Personen, die zwar mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren sind, bei denen aber mindestens ein Elternteil Ausländer, (Spät-)Aussiedler oder eingebürgert ist“ (Statistisches Bundesamt 2014: 20).

Z.B. in Mecklenburg-Vorpommern besuchen alle Kinder von Beginn an eine Regelklasse und erhalten eine ergänzende Intensivförderung (Massumi et al. 2015: 46).

1.3 Zweitspracherwerb

Alle Namen von SuS wurden geändert.

2.1 Fachliche Grundlagen: Mündliche Sprachproduktion und -rezeption in Unterricht und Alltag

Im Unterschied zur Dauerhaftigkeit geschriebener Sprache ist die mündliche Sprache flüchtig. ‚Festzuhalten‘ ist sie nur, wenn sie akustisch gespeichert wird, und lesenden Personen können wir sie nur zugänglich machen, indem wir das Gesprochene verschriftlichen. Diese Transkripte – auch die im Folgenden verwendeten – beinhalten jedoch bereits eine Interpretation des Gesagten und suggerieren eine Dauerhaftigkeit, die es im Moment der Interaktion nicht gibt.

Die gesamte Komplexität des noch wesentlich umfangreicheren Flexionsparadigmas von Determinierern, Adjektiven und Nomen kann hier nicht vollständig dargestellt werden.

Eine vergleichbare V2-Stellung gibt es auch im Niederländischen, in den skandinavischen Sprachen und weltweit in wenigen nicht-germanischen Sprachen (Truckenbrodt 2014: 59).

Dies ist beispielsweise bei der in schulischen Kontexten häufig gehörten, oft aber dysfunktionalen Aufforderung, „bitte im ganzen Satz“ zu sprechen, der Fall (Hochstadt et al. 2015: 45).

2.2 Lernausgangslage: Mündliche Fähigkeiten in Produktion und Rezeption

Zum Erstspracherwerb im Grundschulalter s. Schulz (2007).

Die Erhebung führte Karola Lengyel im Zuge einer Hausarbeit durch. Wir danken ihr für die Erlaubnis zur Verwendung der Daten.

Zur Interpretation einfacher W-Fragen im L1- und L2-Erwerb z. B. Schulz / Grimm 2012; zur Interpretation semantisch komplexer Strukturen (z. B. exhaustive W-Fragen) auch Schulz 2015.

Die Kinder mit DaE hatten die zielsprachliche Interpretation erwartungsgemäß bereits ein Jahr früher mit 4;8 Jahren erworben (Schulz 2013: 331).

3 Lesen

Dieses Rechtschreibgespräch wurde von Christopher Hesselbarth im Rahmen seiner Examensarbeit erhoben und transkribiert; wir danken herzlich für die Abdruckerlaubnis. Die Daten stammen aus der ersten Pilotierung des Fragenfächers, die Abkürzung z.B. ist in der Aufgabenstellung inzwischen nicht mehr enthalten.

3.2 Lernausgangslage: Lesekompetenz

S. auch Stahns 2016 zur Operationalisierung der Analyse bildungsprachlicher Mittel sowie Bryant et al. (2017) zur linguistischen Komplexität von Schulbuchtexten im Fach Geographie.

4.2 Lernausgangslage: Rechtschreibkompetenz

Ähnliches gilt für die türkische Sprache, weshalb der ‚Sprossvokal‘ als typischer Interferenzfehler in der Deutschdidaktik bereits eine gewisse Tradition hat (z.B. Risel 2011).

4.3 Rechtschreibdidaktische Konzeptionen und Methoden für mehrsprachige Lerngruppen

Ein ähnliches Modell, das sich durch die Verwendung verschiedener Häusertypen auszeichnet, stammt von Röber (2011). Diverse Variationen des Häusermodells sind inzwischen auch in Lehrwerken (z.B.: ABC der Tiere, Handt et al. 2015) verarbeitet und eignen sich ebenfalls für die Arbeit mit DaZ-SuS (auch mit geringen Sprachkenntnissen).

In nicht prototypischen deutschen Wörtern (die jedoch auch zum Wortschatz von Grundschulkindern zählen) können auch andere Vokale in der unbetonten Silbe stehen, wie das <a> in Papa, Mama, Oma, Opa, Sofa, Mofa, Cola. Dies stellt nur selten ein Lernproblem dar, kann aber ggf. durch ein Plakat mit Merkwörtern o.ä. aufgefangen werden.

6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen

Für einen Überblick und eine Diskussion der Begriffe s. Krafft 2014.

6.2 Lernausgangslage und Sprachreflexion

In dieser Episode berichtet Toni, die zum Zeitpunkt der Aufnahme 82 Jahre alt war und mit 19 Jahren von München nach New York ausgewandert ist, von einer Unterhaltung, die vor mehr als 60 Jahren auf Deutsch zwischen ihr und der Ehefrau ihres ersten Arbeitgebers in den USA stattfand, nachdem Toni gekündigt hatte.

6.3 Sprache untersuchen: Konzeptionen und Methoden für mehrsprachige Lerngruppen

Das Beispiel wurde der Examensarbeit von Annika Koppenhöfer entnommen, wir danken herzlich für die Abdruckerlaubnis.

6.4 Diagnose: Sprachreflexive Fähigkeiten erheben und beurteilen

Auch Kühn (2014) rechnet mit den in den Bildungsstandards und Schulleistungstests verwendeten Aufgaben ab und fordert, „Parameter, die den Schwierigkeitsgrad von Aufgaben bestimmen“ (Kühn 2014: 492), zu berücksichtigen.

 

mit denen wir in Kitas und Schulen zusammenarbeiten dürfen, die uns in unseren Forschungsprojekten einen Einblick in ihre Fähigkeiten im Deutschen ebenso wie in ihren Erstsprachen geben, die unsere Neugierde für ALLE Sprachen, Dialekte und Ethnolekte geweckt haben, die uns in Projekten immer wieder herausfordern und ermuntern, Materialien und Methoden zu entwickeln und zu erproben.

 

Für unsere Studierenden,

 

die in unseren Seminaren und Vorlesungen mit reflektierter Neugierde den monolingualen Habitus hinterfragen, mit Wissen und Kreativität einen Beitrag zu einer multilingualen Schule und Gesellschaft leisten, uns mit interessierten und kritischen Rückfragen herausfordern und uns motiviert haben, dieses Buch zu schreiben.

 

Für unsere Kolleginnen und Kollegen an Schulen und Hochschulen,

 

die unsere Begeisterung für das Deutsche als Zweitsprache und die Potentiale und Herausforderungen mehrsprachiger Lerngruppen teilen, die unsere Forschung kritisch und konstruktiv durch Rückmeldungen auf Tagungen begleiten, die unsere Texte begutachten und lesen.

 

Seé – Tack – Natick – Köszönöm – Obrigado – Dalu – Thank you – Спаси́бо  –Merci – Gracias – شكر

 

DANKE

Mehrsprachigkeit kennzeichnet den Alltag vieler Schülerinnen und Schüler, zählt jedoch außerhalb der Berührungen mit europäischen Fremdsprachen wie Englisch, Französisch und Spanisch nicht zwingend zur Lebenswirklichkeit der Lehrerinnen und Lehrer. Die Sprachen im Klassenzimmer sind vielfältiger als das fremdsprachliche Curriculum des Schulsystems. Viele Schülerinnen und Schüler wachsen nicht ein- oder zwei-, sondern mehrsprachig auf. Sie kommen nicht nur mit den lateinischen Buchstaben, sondern auch mit anderen Schriftsystemen in Berührung. Die Wertschätzung ihrer lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ist relevant, jedoch nicht ausreichend. Im Sinne eines gemeinsamen Deutschunterrichts gilt es, eine Sprach- und Literaturdidaktik zu prägen, die der Mehrsprachigkeit grundsätzlich (unabhängig von der individuellen Schülerschaft) Raum gibt. Dieses Buch leistet einen Beitrag zu einer Sprachdidaktik, die Mehrsprachigkeit über alle Kompetenzbereiche konsequent mitdenkt.

Auch im Jahr 2019 sind ausgrenzende Parolen leider nicht zu überhören. Wir möchten mit diesem Buch unterstreichen, dass die deutsche Gesellschaft eine mehrsprachige, durch Migration geprägte Gesellschaft ist. Der Deutschunterricht nimmt eine zentrale Position im Bildungssystem ein, wenn es darum geht, die didaktischen Herausforderungen und Potentiale im Umgang mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit anzunehmen.

Ganz herzlich danken wir Lina Gueter für die Unterstützung bei der Durchsicht und Korrektur sowie allen Studierenden, Kolleginnen und Kollegen, die uns Rückmeldungen zur ersten Auflage gegeben haben und deren Ideen wir in die vorliegende zweite Auflage eingearbeitet haben.

 

Karlsruhe/Freiburg im Sommer 2019

Barbara Geist und Andreas Krafft

Dieses Buch richtet sich an Studierende, Lehrkräfte an Schulen und Studienseminaren sowie Dozierende an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, die einen Einblick in das Thema Sprachdidaktik für mehrsprachige Klassen wünschen. All unsere Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ), die wir in unseren Tätigkeiten in Kitas und Schulen sowie in Forschungsprojekten sammeln durften, lassen wir in dieses Buch einfließen.

Mit den Ergebnissen der ersten PISA-Studie 2001 rückte die (vor-)schulische Sprachförderung in den Fokus der Bildungspolitik. Sichtbar wurde hier eine starke Reproduktion von Ungleichheit im deutschen Bildungssystem, die Schülerinnen und Schüler (SuS) mit Migrationshintergrund und solche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien in besonderem Maße betrifft. Anstelle einer Defizitperspektive auf Migration und Mehrsprachigkeit ist aus unserer Sicht jedoch eine Sensibilisierung für sprachliche Heterogenität insgesamt und die besonderen Potentiale und Bedürfnisse mehrsprachiger SuS erforderlich. Wir möchten unsere Leser(innen) ermutigen, der Mehrsprachigkeit in ihrer Klasse Raum zu geben, und durch eine entsprechend geprägte Perspektive auf die Sprachdidaktik einen theoretisch begründeten Rahmen für einen gemeinsamen Deutschunterricht mit SuS mit unterschiedlichen Sprachbiographien anbieten. Wir wünschen diesem Buch, dass es Studierenden und (angehenden) Lehrkräften die Planung des Unterrichts für mehrsprachige Klassen erleichtert, ihr Interesse weckt und aufrechterhält.

Wir danken den Studierenden, die uns Rückmeldungen zu einzelnen Kapiteln gegeben und uns auf vielfältige Weise unterstützt haben: Milena Bach, Julia Bartolmäs, Marie Mühlan, Alexandra Rotzinger und Marieke Speller. Besonderer Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen, die unseren Schreibprozess mit Lob und konstruktiver Kritik begleitet haben: Johanna Fay, Anne Gärtner, Florian Hiller, Stefan Jeuk, Christina Noack, Marcus Prade, Sibylle Reech, Anke Reichardt, Susanne Riegler und Romina Schmidt, sowie den Herausgebern Sandra Döring und Peter Gallmann und unserer Lektorin Valeska Lembke.

 

Karlsruhe/Leipzig/Freiburg im Sommer 2017

Barbara Geist und Andreas Krafft

Einleitung

Wenn man davon spricht, dass Kinder mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem versagen, dann verkehrt man die Tatsachen. Die Kinder entwickeln sich völlig normal im Rahmen dessen, wie sich einsprachig deutsche Altersgenossen auch entwickeln. Es ist aber das Bildungssystem, das versagt, indem es nicht auf die Situation und die Möglichkeiten der Kinder Bezug nimmt, und auf diese Weise viele „Probleme“ erst erzeugt. (Becker 2013: 241)

Die Kritik an einem (Deutsch-)Unterricht, der an der mehrsprachigen Lebenswelt vieler Kinder und Jugendlicher vorbeigeht und einem „monolingualen Habitus“ (Gogolin 1994) verhaftet bleibt, hat nicht an Aktualität verloren. Bereits vor 2015, als 890000 Menschen in Deutschland Asyl suchten, lebten wir in einer mehrsprachigen Gesellschaft. Unabhängig davon, wie Kinder und Jugendliche in den ersten Monaten nach ihrer Migration beschult werden, ist das Ziel ein gemeinsamer Unterricht aller Kinder. Wie aber kann ein (Deutsch-)Unterricht gestaltet sein, der auch SuS mit DaZ, ihren individuellen Fähigkeiten und ihren Kompetenzen in anderen Sprachen, gerecht wird – unabhängig davon, ob sie in Deutschland geboren, vor mehreren Jahren oder vor Kurzem migriert sind? Wie muss ein Unterricht gestaltet sein, der sowohl die Fähigkeiten als auch die Schwierigkeiten von SuS mit DaZ – wie Becker (2013) einfordert – berücksichtigt?

Bevor diesen Fragen für die fünf Arbeitsgebiete des Sprachunterrichts Sprechen und Zuhören, Lesen, Richtig schreiben, Texte schreiben und Sprachreflexion nachgegangen wird, sollen im Folgenden einige grundsätzliche Punkte angesprochen werden: Mit dem Fokus auf SuS mit DaZ ist, in Ermangelung von Studien zu DaZ und Bildung, der Zusammenhang von Migration und Bildung (Kap. 1.1), zu dem umfangreiche Studien vorliegen, zentral. Die SuS mit DaZ eint das große Potential ihrer Mehrsprachigkeit (Kap. 1.2), welche jedoch leider bislang häufig mehr als Risikofaktor denn als Ressource gesehen wird. In Kapitel 1.3 wird in den Zweitspracherwerb in Abgrenzung von anderen Spracherwerbstypen eingeführt; anschließend wird die Bedeutung eines gemeinsamen Unterrichts aller SuS betont (Kap. 1.4). Zuletzt wird unter 1.5 der Aufbau des Buches erläutert.

Migration und Bildung

Sinnvoll wäre es an dieser Stelle, speziell auf SuS mit DaZ im Unterschied zu solchen mit Deutsch als Erstsprache (DaE) einzugehen und differenzierte Informationen zur Kontaktdauer zur Zweitsprache (L2) oder zum Alter bei Erwerbsbeginn anzugeben. Hintergrundvariable in Schulleistungsstudien und den aktuellen Bildungsberichten ist jedoch nicht die Sprachbiographie der Kinder und Jugendlichen, sondern der Migrationshintergrund. Zwar besteht eine große Schnittmenge zwischen SuS mit DaZ und solchen mit Migrationshintergrund. Jedoch ist klar, dass einerseits SuS mit Migrationshintergrund das Deutsche nicht zwingend als L2, sondern bereits als (eine) Erstsprache (L1) erwerben können, dass es andererseits aber auch SuS mit DaZ gibt, die keinen Migrationshintergrund1 haben, die also beispielsweise einer der in Deutschland vorkommenden sprachlichen Minderheiten angehören oder die (Ur-)Großeltern haben, die nach Deutschland eingewandert sind. Aussagen über Bildungserfolge oder Kompetenzen sind daher nur für SuS mit Migrationshintergrund im Vergleich zu SuS ohne Migrationshintergrund möglich:

Im Jahr 2010 stammte mehr als ein Drittel der in Deutschland geborenen Einjährigen aus Familien mit Migrationshintergrund. In Großstädten wie Augsburg, Hamburg oder Duisburg betrifft dies mehr als 50 % der Kinder eines Geburtsjahrgangs (Brandt/Gogolin 2016). Der Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund unter 15 Jahren lag 2013 bei mehr als 42 % (Statistisches Bundesamt 2014: Mikrozensus 2013). Prägend für diese Gruppe ist unter anderem, dass Eltern mit Migrationshintergrund häufiger keinen Schul- bzw. Berufsabschluss haben bzw. ihre schulische Ausbildung häufiger nach der Grundschule endete (612 %) als Eltern ohne Migrationshintergrund (rund 1 %), die durchschnittlich über höhere Bildungsabschlüsse verfügen als Eltern mit Migrationshintergrund. Neben einer geringeren Qualifikation der Eltern sind Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund deutlich häufiger auch von anderen Risikolagen betroffen, die den Bildungserfolg gefährden können, wie Erwerbslosigkeit der Eltern und geringes Einkommen (Bildungsbericht 2016: 168). Auch wenn sich der Besuch einer Kindertagesstätte unter den Drei- bis Sechsjährigen 2015 zwischen Kindern mit und ohne

Nicht einbezogen in Schulleistungsstudien werden bislang die SuS mit DaZ, die keine Regelklasse besuchen. Deren Integrationsprozess ist in vielen Bundesländern in Etappen gegliedert. Insbesondere SuS ohne Deutschkenntnisse beginnen ihre Schullaufbahn häufig in sogenannten Vorbereitungs-/DaZ-/Seiteneinsteigerklassen (Massumi et al. 2015).2 In Sachsen ist die Integration beispielsweise in drei Etappen gegliedert: (1) Besuch der Vorbereitungsklasse, (2) Teilintegration in die Regelklasse und parallele Förderung in der Vorbereitungsklasse sowie (3) vollständige Integration in die Regelklasse, wobei der „Prozess der Teilintegration […] entsprechend den individuellen Voraussetzungen so früh wie möglich einsetzen“ soll (Sächsisches Staatsministerium für Kultus 2009: 5). Die dritte ‚Etappe‘ stellt eine große Herausforderung für alle Lehrkräfte dar, ist „Deutsch als Zweitsprache“ doch schullaufbahnbegleitend zu unterrichten (Sächsisches Staatsministerium für Kultus 2009: 6). Für die SuS ist sie die längste ‚Etappe‘, und sie stellt insbesondere für SuS, die bereits in Deutschland geboren sind, den Regelfall dar – auch wenn dieser nicht als „Etappe“ bezeichnet wird. Die ergänzende Unterstützung für die sprachsensible Gestaltung des Fachunterrichts und die Ressourcen für zusätzliche sprachliche

1.2 Mehrsprachigkeit

Weltweit werden 4000 bis 7000 Sprachen in etwa 200 Staaten gesprochen; in der Mehrheit der Länder ist demnach weit mehr als eine Sprache in Gebrauch. Global ist Mehrsprachigkeit also der Normalfall (Grosjean 1982). Trotz Arbeitsmigration, Flüchtlingsbewegungen und Globalisierung verharren aber nach wie vor viele Staaten in einer Nationalstaatenideologie vergangener Jahrhunderte (Tracy 2014). So wurde vonseiten der Politik (in der Vergangenheit) immer wieder eine ‚Deutschpflicht‘ für Migranten gefordert, die nicht nur für die Schule, sondern teils auch in privaten Kontexten gelten sollte (z. B. in der Süddeutschen Zeitung am 08.12.14). Solche Forderungen ignorieren Erkenntnisse aus der Spracherwerbsforschung und verkennen den Fakt, dass Deutschland mehrsprachig ist. Schon lange sind in Deutschland Sorbisch (in Brandenburg und Sachsen) und Dänisch (in Schleswig-Holstein) anerkannte Minderheitensprachen; an den Grenzen gibt es, ebenso wie im Inland, bereits einige (wenn auch noch zu wenige) bilinguale Schulen; in Arbeitskontexten ist es selbstverständlich, neben dem Deutschen auf andere Sprachen zurückzugreifen. In deutschen Großstädten werden ungefähr 200 verschiedene Sprachen gesprochen (Tracy 2014: 15). Allerdings hat die Europäische Union im Zuge ihrer Mehrsprachigkeitspolitik die wenigsten dieser rund 200 Sprachen im Blick, sondern fokussiert fast ausschließlich die ‚großen‘ europäischen Sprachen. Ebenso wenig finden viele dieser Sprachen Aufnahme in Schule und Unterricht. Darin und nicht etwa in der Mehrsprachigkeit an sich liegt eines der Kernprobleme der Bildungspolitik: Zum einen haben die Sprachen, welche viele SuS bereits mit in die Schulen bringen, weder als Unterrichtsmedium noch als Unterrichtsgegenstand einen festen Platz. Zugleich wird allen Kindern bis zum Schuleintritt zu wenig Gelegenheit geboten, sich die in der Schule benötigten sprachlichen Repertoires anzueignen (Tracy 2014: 15).

Bevor genauer auf individuelle Mehrsprachigkeit und damit verbunden auf die Verwendung mehrerer Sprachen eingegangen wird, wird im Folgenden definiert, wen wir als mehrsprachig bezeichnen: Als mehrsprachig wird der- / diejenige bezeichnet, der / die regelmäßig mehr als eine Sprache verwendet (Grosjean 2008: 10) und in der Lage ist, in mehr als einer Sprache Alltagsgespräche zu führen (Tracy 2014: 17). Dass nicht alle Sprachen, über die eine

„Individuelle Mehrsprachigkeit bringt kognitive, lernpsychologische, kreative, interkulturelle, metalinguistische und pragmatische Vorteile“ (Marx 2014: 8), die schulisch und gesellschaftlich zu nutzen sind. Das bedeutet beispielsweise, SuS ihre weiteren Sprachen im Unterricht verwenden zu lassen (s. hierzu u. a. Lengyel 2016). Bereits Dirim (1998) zeigte eindrücklich, wie sinnvoll Grundschulkinder ihre L1 im Unterricht einsetzen, um sich Inhalte zu erschließen, organisatorische Dinge zu klären und miteinander zu kommunizieren. Brandt und Gogolin (2016) belegen am Beispiel zweier Schülerinnen einer 10. Klasse den Nutzen der L1 für die inhaltliche Bearbeitung eines Textes im Geschichtsunterricht. In der Partnerarbeit wählen die SuS die Sprache(n) frei.

Die hier eingesetzten Sprachmischungen (Code-Switching) sind keinesfalls nur Füller sprachlicher Lücken, sondern ebenso, wie in außerschulischen Studien von Sprechern unterschiedlichen Alters gezeigt (Tracy / Lattey 2010), kommunikative Stilmittel. So finden Sprachwechsel zum Beispiel statt, um

Familien bilden den ersten Erwerbskontext von Sprache(n). Mehrsprachige Familien verwenden ihre Sprachen auf unterschiedliche Weise (s. hierzu ausführlich Brehmer / Mehlhorn 2018, 61ff.), die Romaine (1995) mit Blick auf den simultan bilingualen Erwerb in sechs Typen grob umschreibt. Spricht bspw. je ein Elternteil (von Geburt an) eine Sprache mit dem Kind, wobei eine der beiden Sprachen auch die Umgebungssprache ist, wird nach dem sogenannten Prinzip one person, one language verfahren. Mehrere Erwerbstypen umfassen die Situation, dass die Eltern ein oder zwei Sprachen mit dem Kind verwenden, jedoch keine dieser Sprachen die Umgebungssprache ist. Diese und weitere Typen suggerieren eine Form der Sprachentrennung, die so in Familien mit mehreren Kindern unterschiedlichen Alters eher ein Ideal als ein Abbild der Realität ist. Dieser sprachlichen Realität trägt der Typ mixed languages, in dem die Eltern selbst mehrsprachig sind und beide / mehrere Sprachen und Sprachmischungen in der Kommunikation mit den Kindern verwenden, Rechnung. Welche Sprache(n) wie intensiv in einer Familie verwendet wird / werden, variiert zwischen den Familienmitgliedern und / oder abhängig von Gesprächsthemen (z. B. Schule und Arbeit vs. Freizeit und Familie). So ist die Sprachverwendung auch abhängig vom Alter der Kinder; in frühen Lebensjahren wird möglicherweise zunächst intensiver in der Erstsprache kommuniziert, die Umgebungssprache (hier: Deutsch) nimmt erst ab dem Kindergartenalter mehr Raum ein. Aufgrund der Sprachmischungen innerhalb einer Kommunikationssituation ist die Frage nach der Gewichtung ggf. ohnehin kaum zu beantworten.

Sprachenverwendung in der Familie

Im Bildungsbericht 2016 wurden erstmals Zahlen zur vorrangigen Familiensprache der SuS aus acht Bundesländern veröffentlicht. Der Anteil an SuS mit nicht deutscher Familiensprache variiert regional (z.B. Bayern 12,2 %, Rheinland-Pfalz 12,6 % vs. Berlin 35,2 %, Bremen 29,7 %, Hessen 25,7 %) ebenso wie der Anteil der SuS mit Migrationshintergrund an der Gesamtzahl der SuS.

Ebenfalls wurden erstmals Ergebnisse zur vorrangigen Familiensprache von Kindergartenkindern berichtet. Auch hier gibt es große regionale Unterschiede. Während in Berlin, Gladbeck (Ruhrgebiet) und Offenbach (Hessen) über 77 % der Vier- und Fünfjährigen mit Migrationshintergrund zu Hause (überwiegend) kein Deutsch sprechen, weisen vor allem ländliche Gebiete Werte von unter 50 %, teils sogar unter 30 % auf (jedoch z.B. in Mecklenburg-Vorpommern an der Grenze zu Polen 6677 %) (Bildungsbericht 2016: 167). Es gilt zu hinterfragen, ob sich tatsächlich die familiären Sprachpraktiken regional unterscheiden oder ob die Unterschiede auf die Problematik der engen Fragestellung zur (vorrangigen) Familiensprache zurückzuführen sind. Welche Unterschiede gibt es zwischen den Familien im ländlichen Raum und in verstädterten Regionen? Bilden die Ergebnisse ab, dass Familien, die in Regionen/Städten mit vielen Menschen mit Migrationshintergrund und/oder vielen mehrsprachigen Menschen leben, die Erstsprachen eher (auch) als Familiensprache(n) verwenden? Fördert demnach das Erleben von Mehrsprachigkeit als Normal- und nicht als Sonderfall (auch) die familiale Mehrsprachkeit? Unberücksichtigt lässt die Stichprobe die 10 % der Kinder mit Migrationshintergrund, die keine Kindertagesstätte besuchen, sowie mehrsprachige Familien ohne Migrationshintergrund. Die Entscheidungsfrage „überwiegend eine andere Sprache oder überwiegend Deutsch“ spiegelt einen eingeengten Blick auf die Sprachenverwendung mehrsprachiger Menschen wider. Es ist gut vorstellbar, dass sich mehrsprachige Familien für eine Antwortmöglichkeit entschieden haben, die jedoch ihre Sprachenverwendung nicht vollständig abbildet.

In Erhebungen, die der Komplexität von Mehrsprachigkeit Rechnung tragen, wurden SuS als mehrsprachig kategorisiert, wenn sie angaben, mit mindestens einem Familienmitglied (auch) eine weitere Sprache außer Deutsch zu sprechen (Chlosta/Ostermann 2010: 19) (u.a. Fürstenau/Gogolin 2003 für Grundschulen in Hamburg, Chlosta/Ostermann 2006 für Grundschulen in Essen, Decker/Schnitzer 2012 für Grundschulen in Freiburg und Ahrenholz/Maak 2013 für Thüringen). Die Erhebung von Familiensprachen bzw. Mehrsprachigkeit ist dringend zu systematisieren (s. hierzu auch Ahrenholz/Maak 2013), um Ergebnisse vergleichen zu können und der tatsächlichen Mehrsprachigkeit der Familien gerecht zu werden.

Zweitspracherwerb

SuS mit DaZ erwerben das Deutsche sukzessive, d.h. zeitlich versetzt zu ihrer L1 bzw. ihren Erstsprachen (Rothweiler 2007: 106). Der intensive und kontinuierliche Kontakt zur L2 beginnt für diese Kinder häufig mit dem Eintritt in eine Bildungsinstitution. Abhängig vom Zeitpunkt des Erstkontakts zur L2 spricht man von einem frühen L2-Erwerb (Erwerbsbeginn im Alter von zwei/drei oder vierbissechs Jahren) und grenzt ihn vom L2-Erwerb von Kindern mit einem

Neben dem sukzessiven Erwerb besteht die Möglichkeit, zwei oder mehr Sprachen parallel zu erwerben. Innerhalb des L1-Erwerbs differenziert man zwischen dem monolingualen und dem bilingualen Erwerb (Rothweiler 2007), bei dem das Kind zwei Sprachen von Geburt an bzw. vor dem zweiten Geburtstag erwirbt. Der simultane Erwerb muss jedoch nicht auf zwei Sprachen begrenzt sein, z.B. kann die Mutter Rumänisch, der Vater Französisch mit dem Kind sprechen, die Umgebungssprache der Familie ist jedoch Deutsch und wird z.B. in Krabbelgruppen und auf dem Spielplatz gesprochen (trilingualer Erwerb) (Montanari 2014 für einen Einblick in verschiedene Modelle mehrsprachiger Familien).

Abb. 1: Spracherwerbstypen in Anlehnung an Müller et al. 2007; Rothweiler 2007; Rösch 2011 (in Geist 2013: 10)

Abzugrenzen ist der L2-Erwerb andererseits vom gesteuerten Fremdspracherwerb (s. Abb. 1): Kinder mit DaE und DaZ erwerben das Deutsche weitgehend ohne direkte Steuerung. Auch wenn sie beispielsweise für einige Stunden pro Woche an einer Sprachförderung teilnehmen oder in den ersten Monaten in einer gesonderten DaZ- oder Vorbereitungsklasse beschult werden, ist dieser Unterricht bzw. diese Förderung hinsichtlich ihres Anteils am gesamten Input und ihrer Strukturiertheit nicht vergleichbar mit dem Fremdsprachenunterricht. Da aber die Entwicklung einer eigenständigen DaZ-Didaktik für Seiteneinsteiger noch in den Kinderschuhen steckt (jedoch u.a. Feldmeier 2015, Khakpour/Schramm 2016, zu Seiteneinsteigern u.a. Mavruk/Wiethoff 2015,

Studien zum Spracherwerb stützen die Unterscheidung zwischen dem frühen und späten Zweitspracherwerb:

2007122