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Salman Rushdie

Harun und das Meer der Geschichten

Roman

Aus dem Englischen von
Gisela Stege

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, studierte in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman Mitternachtskinder wurde er weltberühmt. Seine Bücher erhielten renommierte internationale Preise, er wurde u.a. als der beste aller Booker- Preisträger ausgezeichnet, 1996 wurde ihm der Aristeion- Literaturpreis der EU zuerkannt. 2007 schlug ihn die Queen zum Ritter. Zuletzt erschienen bei C. Bertelsmann seine Romane Golden House (2017) und Quichotte (2019).

»Vom ersten Moment an ist man von der Geschichte gefesselt und kann nicht mehr aufhören zu lesen. Und so soll es auch sein, denn sie kommt aus demselben Zauberland wie die Märchen aus 1001 Nacht …«

Doris Lessing (über Harun und das Meer der Geschichten)

Außerdem von Salman Rushdie lieferbar:

Grimus, Roman
Mitternachtskinder, Roman
Scham und Schande, Roman
Das Lächeln des Jaguars, Eine Reise durch Nicaragua
Die Satanischen Verse, Roman
Heimatländer der Phantasie, Essays und Kritiken
Osten, Westen, Kurzgeschichten
Des Mauren letzter Seufzer, Roman
Der Boden unter ihren Füßen, Roman
Wut, Roman
Überschreiten Sie diese Grenze!, Schriften 1992–2002
Shalimar der Narr, Roman
Joseph Anton, Die Autobiographie
Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte, Roman
Golden House, Roman
Quichotte, Roman

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Über die Namen in diesem Buch

Viele der Namen von Personen und Orten dieser Geschichte sind von Hindustani-Wörtern abgeleitet.

 

 

Abhinaya ist tatsächlich eine Gebärdensprache, die bei den klassischen indischen Tänzen benutzt wird.

 

Alifbay ist ein Phantasieland. Der Name kommt von dem Hindustani-Wort für »Alphabet «.

 

Batcheat kommt von baat-cheet, das heißt »Geplapper«.

 

Bat-Mat-Karo heißt »sprich nicht«.

 

Bezaban heißt »ohne Zunge«.

 

Bolo kommt von dem Verb bolna, »sprechen«. Bolo! ist der Imperativ: – »Sprich!«

 

Chup heißt »ruhig«; Chupwala heißt in etwa »ruhiger Bursche«.

 

Der Bleierne See (englisch: Dull Lake), den es nicht gibt, hat seinen Namen vom Dal Lake in Kaschmir, den es gibt.

 

Goopy und Bagha sind Namen ohne Bedeutung. Allerdings heißen so zwei leicht verblödete Helden in einem Film von Satyajit Ray. Die Filmgestalten sind keine Fische, aber doch irgendwie fischig.

 

Gup (das »u« wird wie »a« ausgesprochen) heißt »Klatsch«. Es kann aber auch »Unsinn« oder »Flunkerei« bedeuten.

 

Harun und Raschid heißen beide nach dem sagenhaften Kalifen Harun al-Raschid von Bagdad, der in zahlreichen Märchen aus Tausendundeine Nacht vorkommt. Ihr Nachname Khalifa bedeutet auch tatsächlich »Kalif«.

 

Kahani heißt »Geschichte«.

 

Khamosh heißt »still«.

 

Khattam-shud heißt »endgültig fertig«, »aus und vorbei«.

 

Kitab heißt »Buch«.

 

Mali heißt, nicht gerade überraschenderweise, »Gärtner«.

 

Mudra, der die Gebärdensprache Abhinaya spricht (siehe oben), ist in etwa auch danach benannt. Mudra ist eine der Gebärden, aus denen die Gebärdensprache besteht.

ERSTES KAPITEL

Der Schan von Bla

Es war einmal im Lande Alifbay eine traurige Stadt, die traurigste von allen Städten, so todtraurig, daß sie sogar ihren Namen vergessen hatte. Sie stand an einem freudlosen Meer voller Wehmutfischen, die so elend schmeckten, daß die Menschen nach ihrem Genuß vor lauter Trübsinn Magenschmerzen bekamen, auch wenn der Himmel strahlend blau war.

Im Norden der Traurigen Stadt standen mächtige Fabriken, in denen die Traurigkeit (wie man mir sagte) produziert, verpackt und in alle Welt verschickt wurde, wo man niemals genug davon zu bekommen schien. Aus den Schornsteinen dieser mächtigen Fabriken quoll dicker schwarzer Rauch und lastete schwer wie eine Trauerbotschaft auf der Stadt.

Mitten in der Traurigen Stadt, hinter einer Reihe von Ruinen, die wie gebrochene Herzen aussahen, wohnte ein fröhlicher kleiner Junge namens Harun, das einzige Kind des Geschichtenerzählers Raschid Khalifa, dessen Heiterkeit überall in dieser unglücklichen Metropole berühmt war und dessen niemals versiegender Strom langer, kurzer und verschlungener Erzählungen ihm nicht einen, sondern gleich zwei Spitznamen eingetragen hatte. Für seine Bewunderer war Raschid das Genie der Phantasie, so reich an heiteren und unterhaltsamen Geschichten wie das Meer an Wehmutfischen; seine eifersüchtigen Rivalen dagegen nannten ihn den Schah von Bla. Seiner Frau Soraya war Raschid viele Jahre lang ein so liebevoller Ehemann, wie man ihn sich nur wünschen kann, und Harun wuchs während dieser Jahre in einem Zuhause auf, das statt von Strafen und drohenden Mienen von dem unbeschwerten Lachen des Vaters und der süßen Stimme der Mutter erfüllt war, die glücklich ihre Lieder sang.

Dann ging irgend etwas schief. (Vielleicht hatte sich die Traurigkeit der Stadt schließlich doch noch zu den Fenstern hereingestohlen.).

An diesem Tag hörte Soraya auf zu singen – mitten in der Strophe, als hätte jemand einen Schalthebel umgelegt -, und Harun vermutete, daß ihnen etwas Schlimmes bevorstand. Doch niemals hätte er geahnt, wie schlimm.

 

Da Raschid Khalifa so sehr damit beschäftigt war, Geschichten zu erfinden und zu erzählen, fiel ihm nicht auf, daß Sorayas Gesang verstummt war; und das machte vermutlich alles noch schlimmer. Doch schließlich war Raschid ständig unterwegs, ein Mann, der überall gefragt war, das Genie der Phantasie, der berühmte Schah von Bla. Und bei all den vielen Proben und Auftritten stand Raschid so oft auf der Bühne, daß er die Dinge, die in seinem Haus vorgingen, irgendwie aus den Augen verlor. Geschäftig eilte er in Stadt und Land umher, um seine Geschichten zu erzählen, während Soraya zu Hause blieb, allmählich immer finsterer dreinblickte und sogar wie Donner grollte, bis sich das Ganze schließlich in einem heftigen Gewitter entlud.

Harun begleitete den Vater, wann immer es möglich war, denn dieser Mann war ein Magier, soviel stand fest. In engen Sackgassen, in denen zerlumpte Kinder und zahnlose Greise dicht gedrängt auf dem staubigen Boden kauerten, stieg er auf eine kleine, improvisierte Bühne; und wenn er mit dem Erzählen begann, blieben sogar die vielen umherstreunenden Kühe der Stadt stehen und spitzten die Ohren, während die Affen auf den Hausdächern anerkennend schnatterten und die Papageien in den Bäumen seine Stimme nachahmten.

Zuweilen sah Harun in seinem Vater so etwas wie einen Jongleur, denn im Grunde bestanden Raschids Erzählungen aus vielen verschiedenen Geschichten, mit denen er kunstfertig jonglierte und die er geschickt in schwindelnd schnellem Wirbel tanzen ließ, ohne je einen Fehler zu machen.

Woher kamen bloß all diese Erzählungen? Es schien, als brauche Raschid nur die Lippen zu einem breiten, roten Lächeln zu öffnen, und schon kamen nagelneue Märchen heraus, Märchen mit Hexen, Liebesgeschichten, Prinzessinnen, bösen Onkels, dicken Tanten, schnauzbärtigen Gangstern in gelbkarierten Hosen, phantastischen Szenerien, Feiglingen, Helden, Kämpfen und einem halben Dutzend melodischer Ohrwürmer. »Alles kommt irgendwoher«, folgerte Harun, »also können auch diese Geschichten nicht aus der leeren Luft kommen – oder?«

Wenn er dem Vater jedoch diese wichtigste aller Fragen stellte, kniff der Schah von Bla seine (offen gestanden) leicht vorquellenden Augen ein wenig zusammen, tätschelte sich den Wabbelbauch, schob sich den Daumen zwischen die Lippen und machte dabei alberne Trinkgeräusche, gluck-gluck-gluck. Harun haßte es, wenn sich der Vater so aufführte. »Nein, nein, hör auf! Woher kommen die Geschichten wirklich?« fragte er beharrlich weiter, und Raschid ließ die Augenbrauen geheimnisvoll auf und ab tanzen und machte dazu Hexenfinger.

»Aus dem großen Meer der Geschichten«, antwortete er dann. »Und wenn ich genug von dem heißen Erzählwasser getrunken habe, steh ich so richtig unter Dampf und komme auf Touren.«

Harun hielt diese Erklärung für höchst unbefriedigend. »Und wo bewahrst du das heiße Wasser auf?« erkundigte er sich schlau. »In Thermosflaschen vielleicht? Also ich hab hier noch keine gesehen.«

»Es kommt aus einem unsichtbaren Hahn, den einer von den Wasser-Dschinns installiert hat«, antwortete Raschid mit ernster Miene. »Man muß ein Abonnement erwerben.«

»Und wie kriegt man ein Abonnement?«

»Ach, weißt du«, entgegnete der Schah von Bla, »das ist Zu-schwierig-zu-erklären.«

»Also«, bemerkte Harun dazu verdrossen, »einen Wasser-Dschinn hab ich bisher auch noch nicht gesehen.« Raschid zuckte gleichmütig die Achseln. »Den Milchmann hast du auch noch nie gesehen, weil du immer viel zu spät aufstehst; seine Milch aber, die trinkst du trotzdem gern. Und nun hör freundlicherweise auf mit deinem ständigen Wenn und Aber und freu dich an den Geschichten, die dir gefallen.« Und damit hatte sich’s.

Nur daß Harun eines Tages eine Frage zuviel stellte und daraufhin die Hölle losbrach.

 

Die Khalifas wohnten im Erdgeschoß eines kleinen Hauses mit rosa Mauern, lindgrünen Fenstern und verschnörkelten Metallgeländern an den blaugestrichenen Balkons – lauter Dinge, die es in Haruns Augen eher wie einen Kuchen als wie ein Gebäude aussehen ließen. Es war kein großartiges Haus, ganz anders als die Wolkenkratzer, in denen die Allerreichsten wohnten; aber es war auch nicht so elend wie die Behausungen der Armen. Die Armen wohnten in baufälligen Hütten aus Pappkartons und Plastikplatten, die nur durch die Verzweiflung zusammengehalten wurden. Und dann gab es natürlich die Allerärmsten, die überhaupt kein Obdach hatten, sondern auf dem Pflaster der Straßen und in Ladeneingängen schliefen und den einheimischen Gangstern sogar dafür noch Geld bezahlen mußten. Die Wahrheit war also, daß Harun sich glücklich schätzen durfte; aber das Glück hat leider die Angewohnheit, sich ohne jede Vorwarnung plötzlich davonzumachen. Soeben hat man noch einen Glücksstern, der über einen wacht, und im nächsten Moment hat er sich schon wieder verkrümelt.

Die meisten Bewohner der Traurigen Stadt lebten in Großfamilien; die Kinder der Armen jedoch wurden krank und hungerten, während die Kinder der Reichen sich überfraßen und um das Geld ihrer Eltern stritten. Dennoch wollte Harun wissen, warum seine Eltern nicht mehr Kinder hatten. Die einzige Antwort aber, die er von Raschid erhielt, war eigentlich gar keine richtige Antwort: »In dir, kleiner Harun Khalifa, steckt mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist.«

Ja, aber was sollte denn das nun wieder heißen?

»Wir haben unsere gesamte Quote an Kindermaterial verbraucht, ganz allein um dich zu machen«, erklärte Raschid. »Das ist alles in dich hineingepackt, genug für mindestens vier bis fünf Kinder. Jawohl, mein Junge, in dir steckt mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist.«

Verständliche Antworten waren nicht gerade eine Spezialität Raschid Khalifas, der niemals eine Abkürzung einschlug, wenn es einen langen, gewundenen Umweg gab. Von Soraya erhielt Harun eine verständlichere Antwort: »Wir haben es wahrhaftig versucht«, erklärte sie traurig, »doch dieses Kindermachen ist gar nicht so einfach. Denk doch nur an die armen Senguptas.«

Die Senguptas bewohnten das obere Stockwerk. Mr. Sengupta war Büroangestellter bei der City Corporation, besaß eine dünne, weinerliche Stimme und war so lattendürr und knauserig wie seine Frau Oneeta großzügig, wabbelig und lautstark. Da die beiden überhaupt keine Kinder hatten, widmete Oneeta Sengupta Harun mehr Aufmerksamkeit, als ihm eigentlich lieb war. Sie schenkte ihm Zuckerwerk (das war gut) und zerzauste ihm das Haar (das war nicht gut), und wenn sie ihn an ihren Busen drückte, fühlte er sich zu seiner größten Beunruhigung völlig von den üppig wogenden Fleischmassen umschlossen.

Mr. Sengupta ignorierte Harun, unterhielt sich aber ständig mit Soraya, was Harun ganz und gar nicht paßte, zumal der Kerl jedesmal, wenn er dachte, Harun könne ihn nicht hören, zu einer ausführlichen Kritik an Raschid dem Geschichtenerzähler ausholte. »Dein Ehemann, entschuldige, wenn ich das erwähne«, begann er mit seiner dünnen, weinerlichen Stimme, »steckt die Nase in die Luft und schwebt mit dem Kopf in den Wolken. Was sollen eigentlich all diese Geschichten? Das Leben ist weder ein Märchenbuch noch ein Scherzartikelladen. Immer nur Spaß machen, das führt doch zu nichts. Wozu sind Geschichten gut, die nicht einmal wahr sind?«

Harun, der eifrig vor dem Fenster lauschte, beschloß, nicht viel von Mr. Sengupta zu halten, wenn dieser Geschichten und Geschichtenerzähler haßte: Überhaupt nichts wollte er von diesem Kerl halten.

Wozu sind Geschichten gut, die nicht einmal wahr sind? Diese wahrhaft erschreckende Frage wollte Harun nicht aus dem Kopf gehen. Dabei gab es durchaus Menschen, für die Raschids Geschichten nützlich waren. Zu jener Zeit standen fast schon die Wahlen vor der Tür, und die großen Tiere der verschiedenen politischen Parteien kamen alle zu Raschid, trugen ihr gewinnendstes Lächeln zur Schau und baten ihn, seine Geschichten nur auf ihren Parteiversammlungen zu erzählen und ja nicht auf anderen. Denn alle wußten, wenn sie Raschids magische Zunge auf ihrer Seite hatten, waren ihre Sorgen vorüber. Das, was die Politiker erzählten, glaubte ohnehin keiner, auch wenn sie sich die größte Mühe gaben, so zu tun, als sagten sie die lautere Wahrheit. (Dabei war es gerade das, woran ein jeder erkannte, daß sie logen.) In Raschid dagegen setzten sie volles Vertrauen, weil er stets eingestand, daß alles, was er ihnen erzählte, absolut unwahr und nur seiner eigenen Phantasie entsprungen sei. Deswegen brauchten die Politiker Raschid, um mit seiner Hilfe möglichst viele Wählerstimmen zu sammeln. Mit ihren glänzenden Gesichtern, dem falschen Lächeln und dicken Taschen voller Geld standen sie geduldig Schlange vor seiner Tür. Raschid brauchte sich nur welche auszusuchen.

 

An dem Tag, da alles schiefging, geriet Harun auf dem Rückweg von der Schule in den ersten Wolkenbruch der Regenzeit.

Sobald der große Regen kam, wurde das Leben in der Traurigen Stadt ein wenig erträglicher. Im Meer gab es um diese Jahreszeit wohlschmeckende Butterfische, so daß die Menschen zur Abwechslung mal keine Wehmutfische zu essen brauchten; und die Luft war kühl und rein, weil der Regen den schwarzen, aus den Traurigkeitsfabriken quellenden Rauch fast ganz verschluckte. Harun Khalifa liebte das Gefühl, vom ersten Regen des Jahres bis auf die Haut durchnäßt zu werden; munter hüpfte er umher, genoß die herrlich warme Dusche und öffnete den Mund, um sich die Regentropfen auf die Zunge platschen zu lassen. Als er nach Hause kam, sah er so naß und glänzend aus wie ein Butterfisch im Wasser.

Mrs. Sengupta stand auf ihrem Balkon im ersten Stock und zitterte wie Wackelpudding; und wenn es nicht geregnet hätte, wäre es Harun wohl kaum entgangen, daß sie weinte. Er ging ins Haus, wo er Raschid den Geschichtenerzähler entdeckte, der aussah, als hätte er den Kopf zum Fenster hinausgesteckte, denn seine Augen und Wangen waren tropfnaß, seine Kleider aber knochentrocken.

Soraya, Haruns Mutter, war mit Mr. Sengupta durchgebrannt.

Punkt elf Uhr vormittags hatte sie Raschid in Haruns Zimmer geschickt und ihn gebeten, nach einem fehlenden Paar Socken zu suchen. Sekunden darauf, als er noch mit Suchen beschäftigt war (Harun verstand sich gut darauf, Socken zu verlieren), hörte Raschid die Haustür zufallen und einen Augenblick später das Motorgeräusch eines Automobils auf der Gasse. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, war seine Frau verschwunden, während draußen ein Taxi mit Vollgas um die Ecke bog.

Sie muß alles sorgfältig geplant haben, sagte sich Raschid. Die Uhr zeigte immer noch Punkt elf. Raschid holte einen Hammer und zerschlug damit die Uhr. Dann zerschmetterte er auch noch die anderen Uhren im Haus, darunter den Wecker auf Haruns Nachttisch.

Als Harun vom Verschwinden der Mutter erfuhr, fragte er den Vater sofort: »Warum mußtest du meine Uhr kaputtmachen?«

Soraya hatte einen Brief zurückgelassen, in dem sie all die schlimmen Sachen aufzählte, die Mr. Sengupta über Raschid zu sagen pflegte: »Du interessierst Dich nur für Dein Vergnügen, aber ein richtiger Mann muß wissen, daß das Leben eine ernste Angelegenheit ist. Dein Kopf ist so mit Phantastereien vollgestopft, daß kein Platz mehr für Tatsachen übrigbleibt. Mr. Sengupta dagegen hat überhaupt keine Phantasie, und eben das gefällt mir an ihm besonders.« Außerdem stand da noch ein Postskriptum: »Sag Harun, daß ich ihn liebe, daß ich aber nicht anders kann. Ich muß dies jetzt ganz einfach tun.«

Aus Haruns Haaren tropfte Regenwasser auf den Brief.

»Was soll ich tun, mein Sohn?« flehte Raschid mitleiderregend. »Geschichtenerzählen ist die einzige Arbeit, auf die ich mich verstehe.«

Als er den Vater so verzweifelt sah, verlor Harun die Selbstbeherrschung und schrie: »Was hat das alles für einen Sinn? Wozu sind Geschichten gut, die nicht einmal wahr sind?«

Raschid barg das Gesicht in den Händen und weinte. Am liebsten hätte Harun seine Worte zurückgenommen, sie aus den Ohren des Vaters herausgezogen und sich in den Mund zurückgestopft, aber das ging natürlich nicht. Deswegen gab er sich auch die Schuld, als bald darauf und unter Umständen, wie man sie sich peinlicher nicht ausmalen kann, etwas Unvorstellbares geschah:

Raschid Khalifa, das legendäre Genie der Phantasie, der fabelhafte Schah von Bla, erhob sich im Angesicht einer riesigen Zuschauermenge, machte den Mund auf und erkannte, daß er keine Geschichten mehr erzählen konnte.

 

 

Nachdem die Mutter sie verlassen hatte, mußte Harun feststellen, daß er sich nicht mehr längere Zeit zu konzentrieren vermochte, genauer gesagt, nicht länger als elf Minuten hintereinander. Um ihn aufzumuntern, ging Raschid mit ihm ins Kino; nach genau elf Minuten jedoch begannen Haruns Gedanken zu wandern, und als der Film zu Ende ging, hatte er keine Ahnung, wie alles ausgegangen war, und mußte Raschid fragen, ob die Guten zuletzt gewonnen hatten. Am Tag darauf, beim Straßenhockey mit den Jungen aus der Nachbarschaft, stand Harun im Tor, und nachdem er während der ersten elf Minuten eine Reihe von Schüssen brillant gehalten hatte, begann er plötzlich auch die weichsten Eier durchzulassen und mußte die dümmsten, demütigendsten Tore einstecken.

Und so ging es weiter: Ständig wanderten seine Gedanken umher und ließen den Körper hinter sich zurück. Daraus entstanden natürlich Probleme, denn viele interessante und einige sehr wichtige Dinge dauern länger als elf Minuten: Mahlzeiten zum Beispiel und Mathematikprüfungen.

Es war Oneeta Sengupta, die ihre Finger auf den Punkt legte. Sie hatte es sich angewöhnt, noch häufiger als sonst ins Erdgeschoß zu kommen, etwa um voller Trotz zu verkünden: »Keine Mrs. Sengupta mehr, wenn ich bitten darf! Von heute an bin ich nur noch Miss Oneeta!« Woraufhin sie sich mit der flachen Hand heftig vor die Stirn schlug und dazu jammerte: »Oh, oh, oh, was soll nur werden?«

Als Raschid Miss Oneeta von Haruns wanderfreudigen Gedanken berichtete, erklärte sie, auf einmal wieder sehr energisch: »Um elf Uhr hat ihn seine Mutter verlassen. Und nun hat er dieses Problem mit den elf Minuten. Der Grund dafür liegt in seiner Pussi-kollergie.«

Raschid und Harun brauchten ein paar Sekunden, bis ihnen klar wurde, daß sie Psychologie meinte. »Wegen seiner pussi-koller-gischen Traurigkeit«, fuhr Miss Oneeta eifrig fort, »bleibt der junge Mann bei der Zahl Elf hängen und kann einfach nicht auf die Zwölf weiter.«

»Das ist nicht wahr!« protestierte Harun, fürchtete aber tief im Herzen, daß es vielleicht doch stimmen mochten.

War er etwa stehengeblieben wie eine zerschlagene Uhr? Möglicherweise würde dieses Problem niemals gelöst werden können, es sei denn, Soraya kehrte zurück, um die Uhren wieder in Gang zu bringen.

Einige Tage später wurde Raschid Khalifa von Politikern aus der Stadt G und dem nahen K-Tal mitten in den M-Bergen zu einem Auftritt engagiert. (Dazu muß ich wohl erklären, daß es im Lande Alifbay zahlreiche Orte gab, die einen Buchstaben des Alphabets zum Namen hatten. Das führte natürlich zu einiger Verwirrung, da es ja nur eine begrenzte Anzahl Buchstaben, aber eine fast unbegrenzte Anzahl von Orten gab, die einen Namen brauchten. Infolgedessen waren viele Orte gezwungen, sich in einen Namen zu teilen. Was wiederum bedeutete, daß die Briefe der Menschen ständig an die falsche Adresse gelangten. Und diese Schwierigkeiten wurden noch problematischer, weil gewisse Orte wie etwa die Traurige Stadt ihren Namen ganz und gar vergaßen. Und da die Angestellten der nationalen Post, wie man sich vorstellen kann, mit diesem System viel Mühe hatten, konnten sie zuweilen recht reizbar sein.)

»Wir sollten hinfahren«, sagte Raschid zu Harun und versuchte, zuversichtlich zu klingen. »In der Stadt G und im K-Tal ist das Wetter jetzt noch schön, während die Luft hier für Worte viel zu tränenreich ist.« Tatsächlich regnete es in der Traurigen Stadt so stark, daß man allein beim Atmen schon fast ertrank. Miss Oneeta, die zufällig gerade heruntergekommen war, stimmte Raschid traurig zu. »Tipptopp, der Plan«, erklärte sie. »Jawohl, fahrt nur los, ihr zwei; das wird ein richtiger kleiner Urlaub für euch zwei. Und bitte nur keine Sorgen um mich Ärmste, die ich hier mutterseelenallein im Haus sitze und sitze und sitze.«

»Die Stadt G ist nichts Besonderes«, sagte Raschid zu Harun, als der Zug sie ebendiesem Ziel entgegentrug.

»Das K-Tal dagegen – das ist etwas ganz anderes! Da gibt es Felder aus Gold und Berge aus Silber, und mitten im Tal liegt ein wunderschöner See, der übrigens der Bleierne See genannt wird.«

»Wenn er so schön ist, warum heißt er dann nicht der Quecksilber-See?« erkundigte sich Harun. Und Raschid, der sich unendliche Mühe gab, fröhlich zu sein, versuchte es mit seiner alten Hexenfingernummer.

»Ah ... ja ... der Quecksilber-See«, sagte er in seinem geheimnisvollsten Ton. »Also, das ist wieder etwas anderes. Das ist ein See der Vielen Namen, jawohl, das ist er.«

Raschid strengte sich weiterhin an, fröhlich zu klingen. Er erzählte Harun von dem Hausboot der Luxusklasse, das sie auf dem Bleiernen See erwartete. Er erzählte von der Ruine des Märchenschlosses in den Silberbergen und den von den alten Kaisern angelegten Lustgärten, die sich bis zum Ufer des Bleiernen Sees hinabzogen: Gärten mit Springbrunnen, Terrassen und Liebeslauben, in denen die Geister der alten Herrscher noch immer in Gestalt eines Wiedehopfes umherflogen. Nach genau elf Minuten hörte Harun jedoch auf zu lauschen; daraufhin hörte Raschid auf zu erzählen, und beide starrten stumm zum Fenster des Eisenbahnwaggons auf die endlose Langeweile der Ebene hinaus.

Am Bahnhof der Stadt G wurden sie von zwei finster dreinblickenden Männern mit riesigen Schnauzbärten und auffallenden, grellgelbkarierten Hosen in Empfang genommen. Die sehen aus wie Bösewichte, dachte sich Harun, behielt seine Meinung aber für sich. Die beiden Männer fuhren Raschid und Harun geradewegs zur Parteiversammlung. Sie kamen an Bussen vorbei, aus denen Menschen quollen wie Wasser aus einem Schwamm, eine endlose Menschenmenge, die sich in alle Himmelsrichtungen ausbreitete wie Blätter an einem Dschungelbaum. Dicke Büschel von Kindern gab es, und lange, schnurgerade Reihen von Damen, wie auf einem riesigen Blumenbeet. Raschid, der tief in Gedanken versunken war, nickte traurig vor sich hin. Und dann geschah es, das Unvorstellbare. Raschid trat auf die Bühne hinaus, trat vor den endlosen Dschungel der Zuhörer, während Harun ihm von den Kulissen aus zusah – und auf einmal wurde Raschid Khalifa, der mit geöffnetem Mund dastand, wurde dem Genie der Phantasie klar, daß dieser Mund genauso leer war wie sein Herz.

»Krächz.« Mehr wollte nicht herauskommen. Der Schah von Bla hörte sich an wie eine idiotische Krähe. »Krächz, krächz, krächz.«

 

Später saßen sie in einem dampfend heißen Büro, während die beiden Männer mit den Schnauzbärten und den grellgelbkarierten Hosen auf Raschid einschrien, ihn beschuldigten, von ihren Rivalen Bestechungsgeld angenommen zu haben, und andeuteten, sie würden ihm nicht nur die Zunge, sondern auch andere Dinge abschneiden. Und Raschid, den Tränen nahe, wiederholte nur immer wieder, daß er nicht begreifen könne, wieso er plötzlich so ausgetrocknet sei, und versicherte ihnen, er werde es wiedergutmachen.

»Im K-Tal«, beschwor er sie, »werde ich fantastico sein, magnifique!«

»Das solltest du auch besser«, schrien die Schnauzbärtigen zurück, »denn sonst ist sie raus, die Zunge, aus deinem Lügenmaul!«

»Und wann geht unser Flieger nach K?« mischte sich Harun ein, der hoffte, die Wogen damit ein wenig zu glätten. (Der Zug fuhr, wie er wußte, nicht bis in die Berge hinauf.) Nun begannen die brüllenden Männer nur noch lauter zu brüllen. »Flieger? Flieger? Die Geschichten von seinem Papa kommen nicht vom Boden hoch, und dieser Bengel will tatsächlich fliegen? – O nein, für euch zwei gibt es keinen Flieger, für diesen Herrn Vater und seinen Sohn auf gar keinen Fall. Ihr werdet den verdammten Bus nehmen!«

Schon wieder meine Schuld, dachte Harun zutiefst zerknirscht. Mir allein ist das alles zuzuschreiben. Wozu sind Geschichten gut, die nicht einmal wahr sind? Diese Frage habe ich gestellt und meinem Vater damit das Herz gebrochen. Also muß ich auch alles wieder ins Lot bringen. Irgend etwas muß geschehen.

Nur leider wollte ihm nicht einfallen, was.