Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2020 Carl Stoll
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7494-0531-2
Bei der Arbeit an diesem Werk F.H. Achermanns habe ich mich mehrfach gefragt, ob ich es überhaupt herausgeben soll, ob es überhaupt angebracht ist, dieses Buch so einem weiteren Publikum vorzustellen.
Nach vielen Überlegungen und Diskussionen habe ich mich dafür entschieden, es zu wagen, und die Aussagen Achermanns auch im Wesentlichen so zu belassen, wie sie getätigt wurden, auch wenn mir selbst etliche der zum Ausdruck gebrachten Einstellungen und Aussagen wiederstreben und auch Worte wie „Vergasen“ für uns heute natürlich eine ganz andere Bedeutung haben, als sie dies zu Zeiten des Autors zweifellos hatten.
Ich überlasse es dem Leser, solche Ausdrücke und Aussagen in den richtigen historischen Kontext zu setzen und das Buch als historisches Dokument über einen Zeitgeist, der zum Glück weitgehend überwunden ist, zu sehen.
Der Herausgeber
„Seitengewehr, pflanzt auf!" Wie das Gebell eines Jagdhundes schallt der Befehl des Kompanieführers in die Stille der Nacht hinein; denn das Trommelfeuer hat soeben mit einem Ruck ausgesetzt und die menschliche Stimme, bisher an die Stärke des Gebrülls gewöhnt, kollert in gleicher Stärke weiter – in die plötzliche dämonische Stille!
Na, denn also: Seitengewehr, aufgepflanzt! Ich muss lachen; denn ich habe sofort mein Fläschchen mit Stickoxydul gezückt und unter der Gasmaske in tiefen Zügen von diesem Luftgas inhaliert! Als „abgebautem stud. chem." war es mir ein Leichtes gewesen, dieses Gemisch von vier Volumen Stickoxydul und einem Teil Sauerstoff zu beschaffen. Anderthalb bis zwei Minuten lang eingeatmet, ruft es eine Berauschung hervor, die auch das
Grauen des Nahkampfes in wohlige Heiterkeit verwandelt! Mit einem Jauchzer setze ich also mein Seitengewehr auf den Gewehrlauf, was mir von Seiten des Hauptmanns ein anerkennendes Nicken einbringt, da er von meinem vergasten Patriotismus keine Ahnung hat!
Aber da, neben mir, heiliges Elend, der Franz Kelheim! Vor lauter Schlotter bringt er sein Bajonett nicht über den Lauf! – Sein erster Sturmangriff und erst 19 Jahre alt!
Ich muss lachen! Mit festem Griff packt meine Pranke sein schlotterndes Handgelenk: „Junge, das ist die Todesangst! – So! – Fertig!“
Durch die Augengläser seiner Gasmaske trifft mich ein Blick, der mir ans Herz greift.
Heimlich lasse ich ihn ein paar Züge meines Gases einatmen. Und da reißt der Glückliche seine Gasmaske herunter, um mir zu zeigen, dass er keine Angst hat: Er lacht! Aber sein Lachen kommt mir vor wie das Lachen eines Kindes, das soeben noch geweint hat: Hinter dem Lachen steht das Weinen!
Der Hauptmann sieht sein Manipulieren mit der Maske und ruft schneidend:
„Noch vierzehn Minuten!"
Er hält die Uhr in der Hand, dicht vor den „Schaufenstern“ der schweinsköpfigen Larve1. Da springt der „vergaste“ Franz Kelheim vom Laufgraben empor auf den Grabenwall und ruft wie ein Besessener:
„Hurra, Hurra, Hurra! – Los und 'ran an die Kerle!"
Und seine Rufe dringen aus seiner Gasmaske durch die meinige wie fernes Hundegeheul: „Für Kaiser und Reich!“
„Reißt ihn herunter! Was ist mit ihm los?", zischt da der Kompanieführer mit verhaltener Wut. – „Er verrät ja vorzeitig den Angriff!
Hat er den Angstkoller? Noch neun Minuten! ..." Franz Kelheim wird an den Beinen heruntergerissen und sein Lachen tremoliert durch die Maske, als ob er am ganzen Leibe gekitzelt würde!
Eine wohltätige Vergasung zaubert vor seine Phantasie den Weltkrieg als Zirkus und den Kampf mit Bajonett und Landgranaten als Kugelspiel der Bajazzos!
„Noch fünf Minuten!", zerschneidet des Hauptmanns warnender Ruf mein hastiges Sinnen. Dann legt er sein Ohr lauschend an die Erde. Ich folge dem Beispiel und höre das Klopfen der „Erdmännchen", die seit Wochen unter uns einen Vulkan aus Dynamit vorbereiten.
Da schnellt der Hauptmann wieder auf: „Masken dicht! ... – Handgranaten bereit! – Flammenwerfer vor!"
Nun muss es losgehen!
Und schon höre ich in meiner erregten Phantasie das pfeifende Aufschreien der Getroffenen, das grässliche, nicht wiederzugebende Stöhnen der Verwundeten, das marktreffende Heulen der unter dem Flammenstrahl brennenden Kameraden … und dann
das Instrument des Satans: das Seitengewehr!
Franz Kelheim hat sich mit einem Jubelruf die Maske heruntergerissen: „… Wozu dieser Maulkorb? Freiheit dem deutschen Wort!
Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und …"
„Herrgott!", brüllt der Kompanieführer. „Auch das noch! Bindet ihm den Maulkorb wieder um die Fresse. Satan der Hölle! Noch zwei Minuten!"
Zwei packen Franz; aber er wehrt sich unter gurgelndem, halb ersticktem Lachen.
Da kriegt er Hiebe. Ich höre die Schläge und will …
Und dann weiß ich nichts mehr.
Ich erwache auf einer Tragbahre.
Der Franzmann war uns also mit seiner Mine um knapp eine Minute zuvorgekommen … Ja, das da sind Poilus, lauter verbissene, zähe Franzosen, die mich nach – wohin – schaukeln? Aber, zum Teufel, wo bin ich denn verwundet? Ich betrachte meine Hände, reibe mir die Augen aus, kann beide Beine anziehen - aber, ach ja, mein Kopf ist umwickelt! Ich lege die Stirne zurück und frage den Poilu, der hinter mir her keucht.
„On t'a battu la tete carrée!", gibt der Franzose durch verbissene Zähne zur Antwort. Das war eine witzige, zugleich aber böse Antwort: „Man hat dir den Schädel viereckig geschlagen!" Das ist eine Anspielung auf den Spitznamen tete carrée – Quadratschädel – den uns die Grande Nation gegeben hat. Aber ich bin Psychologe und kenne die Franzmännchen: Man muss sie zu behandeln wissen. Bei der nächsten „Haltestelle" dreh ich mich nochmals um:
„Camerade, une demie cigarette!" - „Kamerad, eine halbe Zigarette!" Da stutzt er, greift mit einem energischen Ruck in die Manteltasche, und: „Tiens, cochon!"
„Da, Schwein!" Damit reicht er mir eine ganze, und das cochon der Kriegssprache würde man etwa mit dem halb und halb freundschaftlichen „Da, Lump!" übersetzen können.
Ich werde mit anderen Leidensgenossen in eines der Ambulanzautos verladen, die hier in der ersten Etappe bereitstehen. Und dann wackelt's und schlottert's los. An einer Biegung der von tiefen Dreckgeleisen verwischten Straße werde ich vom Schwanken des Wagens auf die Seite geworfen und gewahre mit Schrecken die nachfolgenden Ambulanzwagen, einen hinter dem andern!
Einen eisernen Tausendfüßler, der Menschen gefressen hat! Der
Gegenstoß der Franzosen muss fürchterlich gewesen sein.
All diese Wiegen des menschlichen Elends tragen das rote Kreuz – das blutende Kreuz! Hin und wieder ein nahes oder fernes Stöhnen, Schreien, Jammern, Röcheln!
Und irgendwo gibt es Menschen, die von diesem Grauen profitieren – Aktiengesellschaften, Dickwänste, die bei Champagner und Weibern den Blutstrom ihres Bruders Abel zum Antrieb ihrer Maschinen benutzen. Ich sehe neben jedem roten Kreuz das unsichtbare: „Kadaver AG"!
Es gibt Menschen, die es verstehen, selbst das Sterben industriell auszubeuten.
Menschheit, du elendes Pack!
Nachmittags um drei Uhr langen wir im Lazarett an.
Ich werde diese Vorstellung nicht los: Das Lazarett kommt mir vor wie ein Zirkus mit Tierschau. Jeder in seinem Pferch, Tagediebe als Wärter, Metzger als Dompteure und die Schmiere als Eintrittsgeld! Und dann dieses Schreien, Quietschen, Keuchen und Schnauben – Fütterung und Dressur sämtlicher Insassen nach Tagesbefehl. Nur mit dem Unterschied, dass man in der Menagerie des Zirkus darauf zu achten hat, dass die Tiere nicht eingehen.
Nach meinem persönlichen Empfinden scheine ich außerordentlich gut davongekommen zu sein: einige Risse und Kontusionen am „Quadratschädel", eine kleine Luxation des Schlüsselbeines, eine vorübergehende Herz- und Lungenaffektion infolge des Luftdruckes bei der gestrigen „Himmelfahrt" – und sonst nichts! Ich sehe noch die Nummer 364 meines Bettes, fühle den Stich einer Einspritzung und schlafe darauf trotz Unruhe und
Schreien der Gequälten bis in den frühen Morgen hinein! Meine erste Entdeckung ist eine freudige: Im übernächsten Bett liegt der leibhaftige Franz Kelheim! Aber sein Jodeln scheint ihm vergangen zu sein: Still und blass liegt er da wie ein frisch gestrichener Engel, die Augen starr in die Leere gerichtet.
Meine Entdeckung Nr. 2 ist die Krankenschwester vom Roten Kreuz; sie befindet sich bereits in den Jahren, da dieser Beruf noch als letzter Notschrei der Liebe – es braucht nicht gerade die christliche Nächstenliebe zu sein! – der ungestillten Seele den letzten Trost gewähren soll. Sie hat mich noch keines Blickes gewürdigt; denn erstens biete ich mit meinem verpackten Quadratschädel einen traurigen Anblick und zweitens schaut sie mit sehnsüchtigen Augen den jungen Sanitätshauptmann an.
Ich werde unterbrochen.
„Mark!", tönt es röchelnd von irgendwoher.
„Mark Steigerwald!"
„Ach, du bist's, Franz? Wie geht es dir?"
„Hundsmiserabel! Hast du nicht – ein wenig Gas?"
„Menschenkind! Woher soll ich nur Gas nehmen? Das ist mitsamt meinem Tornister in die Luft gefahren – mein ganzes Mobiliar!
Hast du Schmerzen?"
„Grausig! – Hast du mich schreien hören, letzte Nacht?"
„Nein, ich muss betäubt gewesen sein oder geschlafen haben – und dann: Wie soll man bei diesem Symphoniekonzert der Gequälten eine Stimme heraushören?"
„Zwei Stunden haben sie mich operiert – ihrer drei!"
„Amputation, Franz?"
„Hm, äääh, drei Stück Darm haben sie mir herausgeschnitten und das Becken zusammengeheftet – Respekt! Aber sie sind gerade so zart wie unsere Militärärzte – und noch nicht fertig!"
„Noch nicht?"
„Heute Nacht muss es wieder losgehen! Mark, erbarme dich meiner!"
„Aber, um Himmelswillen, Franz, sag' mir nur, wie!"
„Gas, Mark! Sie haben ja kein Kokain und kein Morphium mehr, überhaupt zu wenig narkotische Mittel – es reicht nur noch für die Franzosen!"
„Hast du gerade jetzt große Schmerzen?"
„Grässlich! Mein Unterleib ist eine einzige Brandwunde! Das ist noch nichts! Aber dann, wenn sie wiederkommen! Mark!"
„Ja?"
„Gib mir Gift! Egal welches!"
„Gott, Franz! Du willst …?"
„Ja - ich will! - Hast du vielleicht moralische
Bedenken, Mark?"
„Das nicht, nein! Meinen Glauben an den sogenannten ‚lieben
Gott' hab' ich revidiert – war ja nur ‚Vergasung' - aber, hm, gerade deshalb – wenn das Jenseits gestrichen ist, Franz, dann muss man doch das Diesseits genießen!"
„Genießen! Ich will ins Nirwana, ins Nichts! Das ist noch besser als das Minus! Du kannst kein Gift beschaffen? Wenigstens Stickoxydul, Rauschgas? Mark! Ma – a – a – ark!"
„Womit, armer Kerl?
„Weißt du was, Mark?"
„Ja?"
„Fang mit der Krankenschwester ein Verhältnis an – dann pumpt sie es dir!"
Das war wieder der alte Franz! Selbst in den fürchterlichsten Schmerzen nach einer Unterleibsoperation kann er seinen zynischen Humor nicht lassen. Oder – war es ihm vielleicht ernst?
„Glaubst du, dass …"
Das Thema scheint auf ihn wie ein Narkotikum, wie Rauschgas zu wirken:
„Nicht im Ernst, Mark! Nur so zum Gaudi! Das wird genügen!"
„Sie schaut mich ja nicht einmal an."
„Mark, ich will dir was sagen: Ich hab' dich oft schon im Geheimen beneidet! Du bist zwar kein üppiger Siegfried. Du bist ein harter, derber Krieger mit rauer Haut und luftgedörrten Muskeln; aber diese Muskeln sind verdammt richtig verpackt und spannen das braune Leder zu einer Fassade, die sich gewaschen hat! - Und dann dein Scherenfernrohr mit den grauen Linsen, die meist auf die Fernen eingestellt sind! Wie die ohne Veränderung blitzen und noch viel, viel gefährlicher so wohlwollend streicheln können – Mark! So und nicht anders hätte sich der Filmkrieger von Straßburg schmettern sollen! Wenn ich ein Mädchen wäre, so müsste ich rettungslos verrückt –verdammt! Da zischen die Flammenwerfer wieder in meinem Bauch … Mark! – Mark! Sei barmherzig!"
„Franz! Bei Gott! Ich will's versuchen!"
„Oh – ich weiß, was das – Teufel – für ein Opfer ist – Hei – dieser – Vogelsch… da kommt sie!"
Ja, da kommt sie, aber im Kometenschweif des Arztes:
„Wie geht's?", weht es mich im Vorübergehen an, aber kalt und geschäftlich.
„Schwester!"
„Bitte?" Spitz wie ein Schnabelhieb hackt es zurück.
Sie geht und ich nehme behutsam meine Schädelverpackung herunter; ich wasche Kot und trockenes Blut ab. Ich kämme mich und binde mir das weiße Handtuch um den Hals; denn Weiß um den Hals färbt immer einen hellen, sanften Schimmer auf das Gesicht ab.
Gegen acht Uhr kommt sie mit dem Kaffee. Wie sie das Geschirr abstellt, lege ich meine Hand auf die ihre und gebe ihr einen ersterbenden Blick.
Sie sieht mich zuerst unwillig an, will gehen, hält inne, sieht mich genauer an, versucht zu erröten und geht.
Nach drei Minuten kommt sie wieder.
„Ich hatte den Zucker vergessen; Sie sind schwach und brauchen – Mon Dieu, quel nid! Mein Gott! Welch ein Nest!"
Und damit fängt sie an, meine Decke zu klopfen und mein Kissen zu schütteln!
Und wie sie, wie von ungefähr, nach einem jenseitigen Zipfel greift, fühl' ich – ebenfalls wie von ungefähr – ihre Wange auf meinen Stoppeln. Nur einen flüchtigen Augenblick, so wie es eine verteufelte Französin kann, aber vom anderen Bett her ist so etwas wie das Fauchen eines Katers zu hören – ob vor Schmerz oder Lust, weiß ich heute noch nicht. Aber nachmittags um vier Uhr hatte ich verschiedene Narkotika auf dem Stuhl. Und mein Bett kommt an dasjenige meines Freundes. Ich reiche das Medikament verstohlen dem armen Franz Kelheim hinüber, samt mündlicher Anweisung. Er hatte es bitter notwendig; denn noch dreimal innerhalb von vierundzwanzig Stunden musste das elende Stück Menschheit herhalten. Und es sei gesagt: Sie haben sich Mühe gegeben, die französischen Chirurgen – nicht alle sind Teufel und nicht alle deutschen Ärzte sind Götter. Ich habe auf beiden Seiten Furchtbares gesehen!
Aber nun liegt er da, der Franz, wie ein ausgewrungenes Linnen, und wartet auf den Erlöser Tod. Am Morgen, so um neun Uhr herum, reicht er mir mit einem leeren Blick die Hand; sie braucht drei Zuckungen, bis sie bei mir ist: Diagnosis pessima!
Gegen Abend erklärt der Arzt: Er will noch nicht sterben! Aber sein Französisch ist noch kürzer: Il ne veut pas encore! – „Er will noch nicht!"
Ist die Welt ein Irrenhaus? Dort draußen werden die Menschen zerschlagen und hier sollen sie wieder zusammengeflickt werden!
Das beste Material der Menschheit, die Jugend in der Fülle der Kraft und Schönheit, wird daheim ‚vergast‘, draußen geschlagen und hier unter Narkose getötet!
Wenn die präkolumbianischen Azteken ihrem Kriegsgott Huitzilopochtli opfern wollten, so spannte der Oberpriester einen jungen Krieger rücklings über den Opferblock, löste mit seinem Steinmesser zwei Rippen und bog sie knackend zurück.
Dann griff er mit blutiger Hand in die Wunde, riss mit einem einzigen Ruck das pochende Herz heraus und hielt es der aufgehenden Sonne entgegen. Das hatte wenigstens noch Sinn; aber wir dummen Wilden martern Millionen dahin und fragen uns dann mit dem Finger an den Lippen: Warum eigentlich haben wir das getan? Wir sind ja nachher viel, viel schlechter dran als vorher! Auch die Sieger! Wir morden lediglich, damit irgendwo einer seine Messer loswird!
Gegen drei Uhr morgens weckt mich Soeur Mielle, wie wir sie nennen, und flüstert mir ins Ohr: „Maintenant il va mourir – jetzt stirbt er!"
Ich neige mich über ihn. Hier liegt ja nur noch das Rückgrat eines Menschen, über dem eine Haut sich unruhig, röchelnd, bläht und senkt – der Puls ist nicht nur fühlbar, sondern sichtbar und hörbar, unregelmäßig wie das Puffen eines getroffenen Flugmotors – gegen vier Uhr wird er schwächer und schwächer.
Aber gegen halb fünf Uhr zieht er wieder an, und bei der Morgenvisite sagt der Arzt, ein verteufelt gescheites Kerlchen:
„Ces Bavarois ne sont pas à faire mourir - Diese Bayern sind nicht umzubringen!"
Nach einer zweiten „Agonie" schläft Franz sanft ein. Gegen Mitternacht kommt Soeur Mielle und beugt sich über ihn, drückt ihm sanft die starren Augen zu und – da schlägt er sie wieder auf:
„Mark …!", haucht es zu mir herüber.
„Franz?"
„Mir ist der Teufel erschienen …!"
„Mon Dieu!", kreischt die Schwester auf und flüchtet zu mir. Ich nehme sie sanft bei der Hand und richte mich halb auf:
„Aber, Franz! Wie kann es einen Teufel geben, wenn Gott aus dem Programm gestrichen ist?"
„Nur im Traum, in der Fantasie – ich war vergast. Aber er hat gesagt, wir sollen – wir sollen ganze Arbeit machen – du und ich …!
Wir gründen einen Weltbund gegen den Krieg! Rücksichtslos, morallos, wie die anderen – wir, wir zwei …"
Und da ist es mit seiner Kraft wieder vorbei – er fällt in Schlaf oder Ohnmacht.
Welch eine stählerne Energie musste doch in diesem fast körperlosen Menschen schlummern! Ich sollte später davon Proben erhalten. Hat doch auch ein Ignatius von Loyola dereinst aus einer Krankheit die Energie geschöpft, den Weltbund der Jesuiten zu gründen – unter den denkbar ungünstigsten Umständen!
Am Morgen erlaubt ihm der Arzt lächelnd, kopfschüttelnd, einige Löffel Milch und Zitronensaft – falls solche vorhanden wären. Und so weiter …!
Franz Kelheim stirbt nicht!
Am nachfolgenden Mittag tritt ein Sanitätsleutnant an mein Bett:
„Sie heißen Mark Steigerwald?"
„Zu Befehl, Herr Leutnant!"
„Ihr Befund ist gut. Sie werden bald als Internierter arbeiten können!"
„Nein, das kann er nicht!", protestiert da die Schwester. Der Leutnant geht nicht darauf ein:
„Was sind Sie von Beruf?"
„Student."
„Theologie?"
„Nein, Chemie."
„Ausgezeichnet – und sonst haben Sie nichts gelernt?"
„Doch! Mein Vater hat eine Ziegelbrennerei und in diesem Beruf kann ich alles: Lehm hacken, anrühren, einwerfen, abschneiden, abheben, in den Kreisofen einsetzen, brennen ..."
„Schon gut! Und der Antrieb der Lehmwalzen?"
„Dampf."
„Können Sie eine Dampfmaschine bedienen?"
„Selbstverständlich!"
„Gut! Sie werden vom 1. Juli an eine Dampfmaschine bedienen!"
„Zu Befehl!"
„In der Munitionsfabrik Samson & Cie.!"
„Herr Leutnant, das ist gegen das Völkerrecht!"
„Und solche Verträge sind bekanntlich nur ‚Papierfetzen', hat euer Kanzler Bethmann-Hollweg verkündet! Besinnen Sie sich bis – sagen wir Freitag!"
„Er kann überhaupt noch nicht fort!", ruft die Schwester dazwischen. „Er ist noch …"
Der Leutnant salutiert ihr mit einem unnachahmlichen Lächeln:
„Jusqu‘alors!"
Und damit geht er.
„Mark!", ruft es von drüben.
Ich beuge mich über ihn:
„Ja?"
„Mark, das wirst du nicht tun!"
„Nein!"
„Und wenn sie dich vor das Entweder-Oder stellen?"
„Dann lasse ich mich erschießen!"
„Mark! Denke an den Soldatenfriedhof in den Argonnen – an den Wald von Kreuzen – ein Rittergut ist damit überpflanzt – jedes eine Katastrophe, eine untergegangene Welt – auch daheim, in der Dachkammer! Weißt du noch, Mark, wie wir das Grabengelände absuchten – nach aufragenden Knochen – weißt du noch: der Schuh mit den Schenkelknochen – die weiße Hand mit den Schwurfingern … Mark, wir gründen den Weltbund gegen den Krieg!"
„Wir zwei?"
„Es kommt auf die Methoden an. Ich habe schon den Dritten im Bunde – und dieser Bund wird sich automatisch ausbreiten."
„Und der Dritte?"
„Ein Landsmann aus Nr. 7, Karl Huber. Die Schwester wird ihn gelegentlich herlotsen. Übrigens, diese Schwester! Ich glaube, die würde nach Peking rennen, um für dich Feuer zu holen!"
Methode Nr. 1:
Am Abend schon kommt dieser Karl Huber mit seiner Methode. Er ist ein wahrer Riese aus dem bayrischen Oberland, einer, der von Hand ein Hufeisen krümmt, mit der Faust jedes Kalb niederschlägt und, wie er sagt: „ … ein Franzmännchen am Hinterbein durch die Luft wirbeln kann!" Aber nun schleppt er seine „Flossen" an zwei Krücken und muss überdies noch von Sr. Mielle im Gleichgewicht gehalten werden. Man hat ihm einen Granatsplitter von der Größe eines Bumerangs aus dem zertrümmerten Becken herausgemartert. Als die Schwester sich auf meinen Wunsch, Kautabak zu verschaffen, entfernt hat, zieht er, auf meinem Schragen kauernd, einen schmutzigen, zerknitterten Fetzen aus der Hemdtasche.
„Nun kommt seine Methode", erklärt Franz mit scheinbarem Ernst.
„Hast du gelacht, Franz?", fragt Karl in einem Bass, der Kellergewölbe erzittern lassen könnte.
„Keine Idee, Karl! Es kommt mir nur so – so recht originell vor, so recht bayrisch!"
„Lach nur weiter, soweit deine Puste noch reicht, Steigerwald, sieh mal her! Hier hab' ich meinen Marschbefehl vom Oberamt Zwinken; die Unterschrift heißt: Andreas Sedlmayr, verstehst du mich?"
„Ausgezeichnet!"
„Bong! Das einzige Französisch, das er kann! Diesen Andreas Sedlmayr werd' ich fragen – unter vier Augen fragen! – wer ihm den Auftrag gegeben habe, mich einzuberufen, verstanden?"
„Nicht so laut! - Dort auf der Straße hat sich einer umgedreht!"
„Soll sich umdrehen! Wenn's ein Bayer ist, so darf er mich verstehen – also diesen Sedlmayr, den gottverd… werd' ich fragen, wer ihn geheißen hat, mich an die Front zu schicken! Und wenn er mir dann den Haderlump nennt, so frag ich diesen, wer ihn geheißen hat, dem Sedlmayr zu befehlen, mich einzuziehen. Und wenn mir dieser dann auch sagt, wer ihm befohlen hab', den Sedlmayr zu veranlassen, mich aufzubieten, so werd' ich auch diesen Hallodri Nr. 3 fragen, wer ihn verpflichtet habe, dem Nr. 2 zu befehlen, den lumpigen Sedlmayr zu veranlassen, mich von Vieh und Familie wegzuholen! Und nun pass auf, Mark Steigerwald! Wenn ich so weiterfrage, so muss ich schließlich auf DEN kommen, der schuldig ist – auf den Letzten, den elenden, traurigen Halunken, der die Sache angefangen hat, und diesen ‚Selbigen' werde ich noch vor dem Morgenessen mit einer Handgranate begrüßen! Hab' ich recht oder nicht?"
Methode Nr. 2:
„Diese Verrücktheit hat Methode, heißt es in Shakespeares ‚Hamlet'", grinste Franz nach Verabschiedung des Riesen.
„Originell und verteufelt klar ist sie jedenfalls!"
„Mich wundert nur, wie weit er kommt mit seiner Inquisition, der Karl, bis sie ihn einstecken!"
„Weißt du vorläufig etwas Besseres, Franz?"
»Ja!"
„Wirklich?"
„Heute Morgen ist mir die Idee gekommen. Ich erhielt nämlich – einen Stündelerbrief!"
„Wie? – Was sagst du?"
„Einen Stündelerbrief – wenigstens dem Aberglauben nach zu urteilen, der darin spukt!"
„Willst du mir Rätsel aufgeben?"
Franz sucht unter dem Kopfkissen:
„Da, lies ihn!"
Ein sauberer, wie von Nonnenhand geschriebener Brief. Den Anfang bildet ein süßliches Gebet für die Bekehrung der Sünder – für mich und Karl braucht es schon stärkeres Geschütz! Der Schluss aber lautet folgendermaßen:
„. . . Diesen Brief sollen Sie dreimal vollständig abschreiben und an drei Bekannte versenden, diese drei wieder an je drei andere und so weiter, damit er möglichst bald seine Weltmission erfüllt.
Wenn Sie das kleine Opfer bringen, werden Sie am neunten Tag eine große Freude erleben; wenn nicht, wird ein grässliches Unglück Sie heimsuchen!"
„Was soll dieser Spruch?"
Franz nimmt den Brief mit liturgischer Sorgfalt zurück:
„Spotte nicht, Mark! Oder doch wenigstens nur über den Inhalt; denn die Form ist eine geniale Idee, wenn auch nicht gerade originell!"
„Quatsch keinen Unsinn!"
Hurra! Die Erfindung ist großartig, wenn auch schon früher in anderer Form aufgetaucht."
„Und was hat diese Seufzerbombe mit unserem Bekriegen des Krieges zu tun?"
„Nichts! Aber die Form! Statt des Gebetes wird ein flammender Aufruf in allen Sprachen gegen den Völkermord an das Gewissen der Nationen appellieren, und der Schluss wird ungefähr so heißen: Wenn Sie das kleine Opfer bringen, so werden Sie noch das Morgenrot des Völkerfriedens schauen, wenn nicht, so werden Sie auf die Liste des Todes gesetzt! Unterschrift: Die Todeshusaren des Friedens!' - Was sagst du dazu?"
Meine Methode:
Ich komme nicht dazu, diese oratorische Frage von Franz zu beantworten; denn vor mir steht die graue Wirklichkeit in Form eines französischen Sanitätsleutnants:
„Eh bien, Prisonnier Steigerwald, haben Sie sich meinen Vorschlag überlegt?"
„Ja, Herr Leutnant!"
„Tant mieux! Sie werden am 1. Juli bei Samson & Cie. als Chauffeur die Nachtschicht von nachts 12 Uhr bis 8 Uhr übernehmen!" Und schon hat er kehrtgemacht.
„Herr Leutnant!", ruf' ich ihm nach.
„Bitte?"
„Ich glaube, Sie haben etwas vergessen!"
„Aah? Nicht, dass ich wüsste!"
„Sie haben mich gefragt, ob ich Ihren Vorschlag überlegt hätte – aber Sie haben vergessen zu fragen, ob ich damit einverstanden wäre!"
„Das spielt bei uns keine Rolle! Regen Sie sich nicht unnötig auf!"
„Nicht im Geringsten. Ich erkläre Ihnen in aller Ruhe, dass ich auf die ehrenvolle Berufung verzichte!"
„Aaah, Sie weigern sich, dem Arbeitsbefehl nachzukommen?"
„Falls ich in einer Munitionsfabrik tätig sein soll: ganz entschieden!"
„Gut! Das Nähere wird Ihnen mitgeteilt werden – jusqu‘alors!"
Und nun geht er wirklich, nur etwas schneller!
„Mark!", tönt es von Franzens Bett her, „du bist ein richtig gehender Quadratschädel, ein Kriegsheld, aber ein miserabler Diplomat, wie wir Germanen alle!"
„Was hätte ich tun sollen?"
„Bitten! Um eine andere Arbeit bitten!"
„Pah, was hätte das genützt?"
„Das bedingte Zukünftige kann niemand wissen, besonders, wenn es vergangen ist!"
„Ich soll in der Munitionsfabrik dazu beitragen, Tausende meiner Kameraden zu vernichten, zu verstümmeln, in Tausende von Familien daheim Jammer und Elend zu tragen? Franz, da gibt es keine Diplomatie!"
Bewegt reicht er mir die Hand: „Was wird nun geschehen, Mark?"
„Wenn man jahrelang wie ein Tier im kalten Dreck der Schützengräben vegetiert hat, so stellt man diese Frage nur noch aus Langeweile."
Wir sollten nicht lange im Zweifel sein. Nach wenigen Minuten wird unser Gespräch unterbrochen. Sr. Mielle rast herein wie von Petrolfeuer umtobt:
„Mon Dieu! – Le corporal Renard avec les poilus …"
Ja, dort zieht er heran, der berüchtigte Korporal Renard, an der Spitze von vier Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Nie kann Napoleon einem Heer so vorangezogen sein wie Korporal Renard vor seinen Vieren im Etappenlazarett „Lausoleum" Nr. 9. Wie der Kindlifresser auf dem Berner Brunnen pflanzt er sich vor mir auf:
„Bist du der Bosch Marküs Steschewall?" Soll natürlich Steigerwald heißen!
„Zu Diensten!"
„Allons, maudit boche, tete carré!"
Ich gebe meinem Freund die Hand und gehe diesen Helden der Verzweiflung ruhig voran.
„Mark", ruft mir Franz noch nach, „wenn sie dich an die Wand stellen, so schicke ich sie pfundweise nach Höllheim!"
Es geht an den Lazarettbuden vorüber nach der Etappenkaserne.
Kaum haben wir deren östliche Wand erreicht, so kommandiert der Korporal: „Halt! Stell dich dort an die Mauer, Bosch! Achtung, steht!"
Wie oft ich schon dem grauen Tod ins Auge geschaut habe, weiß ich nicht. Ich sah den großen Würger oft heimlich heranschleichen, von vorne, von hinten, von oben – in der blitzschnellen Kugel zischte er an mir vorbei, zupfte mir das Ohrläppchen und schlug den Hintermann – mit ehernem Munde brüllte er auf, kündete wie ein Löwe sein Kommen an und raste vorbei – hundertmal, tausendmal. Hörlos als grünes Gespenst kam er im Gas, als Höllenteufel im Flammenwerfer – als Mähder mit der Handgranate. Ich zitterte am Anfang wie der Franz beim Bajonettaufstecken, aber bald hatte die Spannung der Todesgefahr und des Kampfes auch dieses Zittern erwürgt.
Aber jetzt fasst mich die Kälte der Todesangst doch, die Angst vor dem großen Fragezeichen im Jenseits; ich fühle meine Knie schlottern und muss mich zusammenreißen, um diesen Poilus nicht als Memme zu erscheinen.
Da stemmt sich der Korporal die Fäuste in die Hüften und brüllt mich an:
„Drei Tage Dunkelarrest bei Wasser und Brot – wegen Insubordination!"
Wäre ich mit diesem Rüpel allein gewesen, so hätte ich ihn fraglos erwürgt. Das Füsilieren würde ich ihm verziehen haben, nicht aber diese sadistische Schikane!
Ich werde in einen Käsekeller geführt, dessen Luftlöcher kürzlich vermauert worden sind, wie ich bei aufgehender Tür noch bemerke. Auch der eigentümliche, muffige Salzgeschmack ist noch vorhanden.
Und dann wird's finster wie in einer Kuh! Wenn am Menschen alles erstarren würde bis auf das Bewusstsein, so könnte er die Minute nicht mehr vom Jahr unterscheiden. Ich habe noch zwei Anhaltspunkte für die Zeit: Atmung und Herzschlag. Nein, halt! Ein sehr zuverlässiges Uhrwerk habe ich vergessen: den Magen! Sein Glöckner, der Hunger, schlägt Stunde für Stunde mit seinem Hammer an die hohlklingende Wand: Hört, Ihr Christen, lasst Euch sagen:
Unsere Glock' hat zwölf geschlagen!
Und er ruft immer nur zwölf Uhr; denn bei Wasser und – keinem Brot bleibt der Zeiger auf zwölf Uhr stehen.
Aber: „Es bildet, ein Talent sich in der Stille"… Man sagt, dass die größten Geister ihre größten Gedanken in der Einsamkeit geholt hätten. Sicher gilt das vom „Einsiedler" im Käsekeller von St. Emerald; denn hier genas meine Phantasie eines Wunderkindes, das schon von Geburt an mit zehnzölligen Granaten spielte.
Eines Morgens – dem Gefühl nach musste ich um Jahre gealtert sein – geht die Kellertüre auf, und in ihrem Rahmen steht, lichtumflutet wie der Erzengel Michael, der Sanitätsleutnant.
„Prisoner Steigerwald, haben Sie sich die Sache überlegt?"
„Jawohl, Herr Leutnant!"
„Und?"
„Ich gehe darauf ein!"
„Eh bien! Sie wollen also die Dampfmaschine bedienen?"
„Jawohl, Herr Leutnant! Ich werde die Dampfmaschine bedienen!"
„Sie werden in der freien Zeit auch zu häuslichen Arbeiten herangezogen werden!"
„Jawohl, Herr Leutnant! Ich werde zu häuslichen Arbeiten herangezogen werden!"
„Bon! Sie können sich bis dahin im Lazarett erholen!"
„Jawohl, Herr Leutnant! Ich kann mich bis dahin im Lazarett erholen!"
„Abtreten!"
Mein erster Gang gilt Franz. Mager und leer wie eine Fischgräte schnellt er auf:
„Mark, du?"
„Und, warum nicht? Ich bin eben tot und komme nun als Gespenst, um dir zu sagen, dass es dort drüben …"
„Mark", unterbricht er mich, „ich glaubte sicher, dass sie dich zu Tode schikanieren würden. Denn nachgeben kannst du ja nicht!"
„Ich habe doch bewiesen, dass ich's kann!"
„Ich verstehe dich nicht."
„Ich habe die ehrenvolle Stellung angenommen."
„Das ist nicht wahr!", fährt er da auf.
„Ich sage unter Eid aus."
Da lässt er sich langsam aufs Kissen zurückfallen und seine großen, starren Augen werden feucht.
Ich beuge mich über ihn:
„Franz! Ich werde die Munitionsfabrik Samson & Cie. in die Luft sprengen! Das ist meine Methode!"
Zuerst schaut er mich an wie ein Irrsinniger; dann drückt er mein Haupt an seinen harten Brustkorb, dass ich das Knacken zu hören glaube.
Keine fünf Kilometer hinter dem Etappenlazarett St. Emerald befand sich die Munitionsfabrik Edgar Samson & Cie. Um die Gefährlichkeit dieser Situation gegen Fliegerangriffe so viel wie möglich auszugleichen, trug die Zinne des gewaltigen Mittelbaus einen Terrazzoboden mit eingelassenem rotem Kreuz in einer Dimension von 21 auf 18 Meter. Edgar Samson hatte diese mehr als originelle Ornamentierung nicht nur aus Gründen der Kunst so gewählt, sondern ganz besonders auch deshalb, um hierdurch seiner Sympathie für christliche Kultur ein bleibendes Denkmal zu stiften. Und wenn dieses rote Terrazzokreuz – gegen alles Völkerrecht – die Kühnheit der deutschen Flieger etwas irreführt, so konnte er doch nichts dafür! Oder hätte er den Terrazzoboden aufreißen sollen, nur um die deutschen Bussarde heranzulocken?
Und noch auf andere Weise hatte wenigstens er,
Edgar Samson, sich gesichert. Zwischen der Munitionsfabrik und seiner Villa lag ein bewaldeter Höhenzug, der im Notfall doch wenigstens das schlagende Herz des Unternehmens vor unerwarteten Eventualitäten bewahren würde. Arbeiter konnten immer wieder ersetzt werden: Eine unfrankierte Karte an das Oberkommando genügte!
Am 1. Juli werde ich also von zwei begleitenden Poilus an die Militärwache der Munitionsfabrik Samson & Cie. „weitergeleitet". Diese bringt mich – es mag vier Uhr nachmittags sein – zur Villa Samson, die durch eine Autostraße mit der Fabrikanlage verbunden ist. Ein livrierter Portier empfängt mich mit dem Nietzscheschen „Niederblick"; seine Diagnose lautet auf: „Herdentier, Unterabteilung Quadratschädel aus der weitverbreiteten Familie der Bayern, Bayuvarius quadratus Linné!"
Und die militärische Disziplin muss ihre geometrischen Fangarme bis hierher ausstrecken: