Ulrich Sendler
KI-Kompass für Entscheider
Künstliche Intelligenz in der Industrie: Strategien – Potenziale – Use Cases
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© 2020 Carl Hanser Verlag München, www.hanser-fachbuch.de
Lektorat: Julia Stepp
Herstellung: Björn Gallinge
Titelmotiv: © shutterstock.com/Zenzen
Coverrealisation: Max Kostopoulos
Print-ISBN: 978-3-446-46295-3
E-Book-ISBN: 978-3-446-46590-9
ePub-ISBN: 978-3-446-46639-5
Titelei
Impressum
Inhalt
Vorwort
1 Einführung
1.1 Worüber reden wir?
1.2 Das Besondere an der industriellen KI
1.3 Theorie und Praxis
2 Eine kurze Geschichte der Künstlichen Intelligenz
2.1 Begriffsklärung: Intelligenz vs. Künstliche Intelligenz
2.2 Starke und schwache KI, Expertensysteme
2.3 Künstliche neuronale Netze (KNN)
3 Die jüngste Geschichte der Industrialisierung
3.1 Deutschland: Von SPS zu Industrie 4.0
3.2 USA: Silicon Valley und Industrial Internet
3.3 China: Die verlängerte Werkbank wird zur ernsthaften Konkurrenz
4 Stand der KI-Technik
4.1 Datenwissenschaft (Data Science)
4.2 Wie Maschinen lernen
4.3 Künstliche neuronale Netze: Auswahl der passenden Netzstruktur
4.4 Was Maschinen lernen
5 Industrielle KI
5.1 Warum und wofür KI in der Industrie?
5.1.1 KI in Produktion und Produktentstehung
5.1.2 KI für produktbasierende Dienste
5.2 KI in Cloud und Edge Cloud, KI auf dem Chip
5.3 Safety First
5.4 Eine Frage der Ethik
6 Industrieplattformen
6.1 Neue Ökosysteme
6.2 B2B-Plattformen
6.3 Die Schichten einer Industrieplattform
6.3.1 Die Plattform als Basis
6.3.2 Managed Services
6.3.3 Cloud Infrastructure as a Service
6.3.4 IT, Systemintegration und Beratung
6.4 Plattform-Communities
7 Industrie und industrienahe Forschung betreten das Feld der KI
8 ABB – von der Automatisierung zur Autonomisierung der Industrie
Dr. Christopher Ganz, Head of Strategic Solutions and Standardization, ABB Future Labs
8.1 ABB Ability
8.2 Das Beispiel Anlagenbetrieb
8.3 Das Beispiel Robotereinsatz
8.4 Das Eigentum an Daten und KI-Systemen
8.5 Die Safety hat absolute Priorität
8.6 Vertrauenswürdige KI aus Europa
8.7 Die Herausforderung für die Industriekunden
9 Dassault Systèmes: Eine durchgängige Datenkette
Ulrich Sendler
9.1 Von der CAD-Software zum Lösungsangebot
9.2 Finden und Wiederverwenden
9.3 Zusammenhänge verstehen, Lösungen bieten
9.4 KI im Labor
9.5 Anwendungsfälle und Datenbeschaffung
10 it’s OWL: Der Mittelstand vernetzt sich für KI
Prof. Dr. Roman Dumitrescu, Geschäftsführer it’s OWL Clustermanagement GmbH
10.1 Gelbe Seiten für KI in der Produktentstehung
10.2 Vertrauenswürdiger Datenraum
10.3 App Store für KI Engineering-Lösungen
10.4 Selbst konfigurierbare Industrie-Apps
11 Siemens – ein Vorreiter der Digitalisierung
Klaus Helmrich, Mitglied des Vorstands der Siemens AG und CEO Digital Industries
11.1 Erfahrung ist die Basis für Innovationen
11.2 Von Forschungsprojekten zum produktiven Einsatz
11.3 Integration von Prozesswissen und Data Science
11.4 Die industrielle Cloud-Plattform MindSphere
11.5 Siemens als verantwortungsbewusster KI-Vorreiter
12 Benchmarking-Studie der RWTH Aachen: „Künstliche Intelligenz in der F&E“
Dr.-Ing. Christian Dölle, Jan Koch, Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen
12.1 Studienschwerpunkte
12.2 Studienablauf
12.3 Fragebogenaufbau
12.4 Studienauswertung
12.5 Fallstudien und Unternehmensbesuche
12.6 Erfolgsfaktoren
12.7 Successful Practice Insight: Dürr Systems AG
Dr.-Ing. Annabel Linsel, Dr.-Ing. Simon Alt, Kristin Roth, Dürr Systems Aktiengesellschaft
12.8 Successful Practice Insight: Airbus S.A.S.
Guillaume Alléon, Leiter KI-Forschung, Airbus S.A.S.
12.8.1 Automatisierung in der zivilen Luftfahrt
12.8.2 Autonomes Fliegen
12.8.3 Künstliche Intelligenz im Flugbetrieb
12.8.4 Bordseitige Künstliche Intelligenz
12.8.5 Fazit
12.9 Successful Practice Insight: 3M Deutschland GmbH
Dr. Katja Hansen, Andreas Kassner, Klaus Bohle, 3M Deutschland GmbH
12.9.1 Integration von Künstlicher Intelligenz bei 3M
12.9.2 Produkte für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Automotive-Sektor
12.9.3 Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen
13 Internet of Production (IoP)
Dr.-Ing. Christian Dölle, Stefan Perau, Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen
Vorwort |
Liebe Leserin, lieber Leser,
jetzt haben Sie ihn in der Hand, den KI-Kompass für Entscheider, einen Leitfaden, der Ihnen als Orientierungshilfe beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Industrie dienen soll. Das Thema ist höchst aktuell. Alle Gespräche, die ich im letzten halben Jahr mit zahlreichen Experten in Industrie und Forschung geführt habe, haben das mehr als bestätigt. Gerade in der Industrie versprechen sich viele wahre Wunder von der KI. Sie soll für einen neuen Schub an Produktivität und Effizienz sowie für innovative Produkte, Prozesse und Dienstleistungsangebote sorgen. Doch dann breitete sich, mitten während der Manuskripterstellung, das Coronavirus in China aus und zog eine explosionsartige, weltweite Verbreitung nach sich.
Wer hätte sich vor etwas über einem halben Jahr, als ich mit den Vorarbeiten für dieses Buch begann, vorstellen können, in welcher Lage sich die Welt heute, Ende März 2020, befindet? Home Office all-überall, strenge Ausgangsbeschränkungen, ein Beinahe-Shutdown großer Teile der Wirtschaft. Noch ist nicht abzusehen, wohin diese Pandemie die Menschheit führt. Genauso wenig lässt sich ahnen, wie unsere Wirtschaft und eine ihrer wichtigsten Säulen, die Fertigungsindustrie und der Anlagenbau und -betrieb, auch nur im nächsten halben Jahr dasteht, wenn dieses Buch auf dem Markt ist. Welche Folgen sich mittel- und längerfristig ergeben werden, ist völlig offen.
Das Dreieck der wirtschaftlichen Kräfte zwischen Deutschland bzw. Zentraleuropa, den USA und China, wie in Kapitel 3 dargestellt, wird wohl nicht mehr dasselbe sein wie Ende 2019. Angesichts des monatelangen Stillstands der Wirtschaft in weiten Teilen Chinas nach dem Ausbruch der Seuche und der wohl schwersten bevorstehenden Krise der Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg mit den derzeitigen Epizentren USA und Zentraleuropa wird man die Kräfteverhältnisse neu vermessen müssen. Und doch wird sich dadurch an den wesentlichen Inhalten von Kapitel 3 nichts grundsätzlich ändern. Es ist nämlich nicht zu erwarten, dass irgendeine Seite aus der globalen Seuche ausgerechnet mit völlig neuen Positionen hinsichtlich des industriellen Einsatzes Künstlicher Intelligenz herauskommt. Dass das Thema KI durch die Krise weniger wichtig sein wird, ist erst recht nicht zu erwarten – eher das Gegenteil.
Von Siemens kommt dieser Tage die Meldung: „Zur Unterstützung im Kampf gegen Covid-19 haben wir jetzt unser Additive Manufacturing Network geöffnet für Krankenhäuser und Gesundheitsorganisationen, die dringend medizinische Ersatzteile benötigen. So können deren Design- und Druckanfragen schnell und effizient bearbeitet werden“, so Klaus Helmrich, Mitglied des Vorstands der Siemens AG und CEO von Siemens Digital Industries. Er ist Autor von Kapitel 11, in dem von dieser Art digitaler Vernetzung noch nicht die Rede ist.
Dassault Systèmes, von deren KI-Portfolio Kapitel 9 handelt, gibt bekannt, mit der eigenen Plattform zahlreiche Initiativen gegen das neue Virus zu unterstützen. Dabei geht es etwa darum, kurzfristige Herausforderungen bei klinischen Studien im Bereich Biopharma mit Therapeutika und Protokollen zu lösen und Logistikplattformen zu optimieren. Support-Teams unterstützen gleichzeitig alle Kunden dabei, ihre Ausstattung für die Arbeit im Home Office zu erweitern.
Man darf davon ausgehen, dass digitale Vernetzung und Künstliche Intelligenz schon im Kampf gegen die Ausbreitung der Seuche eine wichtige Rolle spielen werden. Selten haben täglich aktuelle Daten aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft und aus aller Welt so im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gestanden. Selten war die industrie- und kontinentübergreifende Anstrengung so groß, verfügbare Technologien und wissenschaftliche Erkenntnisse für einen gemeinsamen Kampf der Menschheit gegen eine weltweite Bedrohung zu nutzen. Als einer der positiven Effekte der aktuellen Krise ist nicht auszuschließen, dass wir alle besser verstehen werden, wie wir unsere technischen Errungenschaften, insbesondere Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, zum Nutzen aller einsetzen können.
Ein anderer Aspekt ist vielleicht noch wichtiger. Wenn die Wirtschaft wieder hochgefahren wird, wenn in allen Ländern wieder an die globale Vernetzung der Zeit vor der Krise angeknüpft wird, dann könnte dabei gerade die industrielle Künstliche Intelligenz eine besondere Rolle spielen. Die Beschleunigerkraft der KI und ihre Wirkung als Motor für Innovation und schnelle, qualitativ höherwertige Prozesse, die in diesem Buch aufgezeigt wird, könnte beim Durchstarten der Weltwirtschaft eine große Hilfe sein.
Insofern freue ich mich gerade in diesen Tagen, dass ich das Buch fertiggestellt habe und in die Produktion geben kann. Die große Krise der Menschheit macht es nicht überflüssig oder unnötig. Es ist aller Voraussicht nach umso wichtiger, für die kommenden Monate und Jahre einen Kompass für das zu haben, was bei der Nutzung industrieller KI zu beachten ist.
Ulrich Sendler, 28. März 2020
1 | Einführung |
1.1 | Worüber reden wir? |
Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde, doch das bedeutet nicht, dass auch aus jedem Mund Wertvolles dazu beigetragen wird. In den letzten Jahren kam noch der Begriff Maschinenlernen (Machine Learning, ML) hinzu, und auch er wird täglich in den Medien ausgeschlachtet. Die Themen sind breit gefächert und betreffen etwa die Auswirkungen der KI auf den Menschen, ihre Bedeutung für das tägliche Leben und Arbeiten, ihre Chancen und ihre Gefahren. Ein Anwendungsfeld ist dabei sehr selten zu finden und kommt erstaunlich kurz, obwohl es möglicherweise in naher Zukunft mehr Bedeutung haben wird als alle anderen zusammengenommen, und das ist die Industrie, genauer: die Branchen der Fertigungsindustrie und des Anlagenbaus und -betriebs. Das vorliegende Buch beschäftigt sich nur am Rande mit der allgemeinen Debatte über die Künstliche Intelligenz und verweilt nicht lange bei der Begriffsklärung von KI und ML. Thema dieses Buches ist der beginnende und bevorstehende Einsatz von KI in den industriellen Wertschöpfungsprozessen und in deren Ergebnissen, den Produkten – und künftig auch immer mehr in den Diensten, die nun auf Basis vernetzter Produkte angeboten werden können.
Es ist nicht erstaunlich, dass das Großthema Künstliche Intelligenz gerade in der Industrie relativ spät adressiert wird. Hier sind die Anforderungen an neue Technologien sehr viel höher als beispielsweise bei deren Nutzung auf dem Smartphone, sei es privat oder beruflich. Die Voraussetzungen für einen wirtschaftlich erfolgreichen Einsatz sind in der Industrie noch keineswegs gegeben, wenn etwas schon leidlich gut funktioniert. Es muss sicher sein, es muss industriellen Standards genügen, und es muss vor allem eins: einen Mehrwert erbringen, der über den mit herkömmlichen Technologien erreichbaren hinausgeht. Das war bis vor sehr kurzer Zeit bei Künstlicher Intelligenz nicht der Fall. Jetzt hat die KI für eine Reihe von Anwendungsfällen bereits bewiesen, dass sie ausgesprochen nützlich und wertvoll sein kann. Außerdem ist sie an einer Schwelle zum massenhaften Einsatz, der sie für viele bislang noch gänzlich unerschlossene Anwendungen gerade in der Industrie interessant werden lässt. Dies gab mir den Anstoß, das Buch zu schreiben.
Orientierungshilfe für Entscheidungsträger
Da es bis vor wenigen Jahren so aussah, als werde KI vor allem – wenn nicht ausschließlich – für den E-Commerce, für die Konsumenten und die an sie gerichtete Werbung Entscheidendes bieten, haben sich viele Entscheidungsträger in der Industrie, viele IT-Verantwortliche und selbst Softwareingenieure noch kaum damit beschäftigt. Also mangelt es in doppelter Hinsicht an Expertise. Einerseits ist noch wenig Wissenswertes über industrielle KI zu finden, andererseits gibt es nur wenige Experten, die sich damit befasst haben. Zudem sind diese bekanntlich selten im eigenen Haus anzutreffen, sondern meist ausgerechnet bei der Konkurrenz – und in diesem Fall häufig sogar nur in der Forschung. Deshalb soll dieses Buch vor allem eine Orientierungshilfe sein. Was macht KI für die Industrie wichtig und tatsächlich schon in naher Zukunft wirtschaftlich interessant? Welche Anwendungsgebiete sind denkbar oder werden schon bespielt? Was muss ein Unternehmen berücksichtigen, wenn es KI nutzen will? Welche Player und welche Anbieter spielen hier die Hauptrolle?
Eine kurze Geschichte der Industrie – nicht nur für Historiker
Der Einstieg ins Buch ist – nach einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der KI und auf die jüngsten Entwicklungen der Industrialisierung – eine Analyse des aktuellen Stands der Technik, die erklärt, warum Künstliche Intelligenz für die Industrie brandheiß und hoch aktuell ist und möglicherweise schon in wenigen Jahren zum „Game Changer“ wird, wie man es neuerdings gerne nennt. Warum es also wettbewerbsentscheidend sein kann, ob ein Unternehmen sich auf KI einlässt und darin investiert oder nicht, und was dafür sorgt, dass KI und ML in den Augen vieler Experten zum voraussichtlich wichtigsten Treiber industrieller Innovation werden.
Der Begriff Künstliche Intelligenz ist schon mehr als 60 Jahre alt, aber wie vom ersten Tag an bewegt er die Gemüter. Im letzten Jahrzehnt hat die KI sich nicht grundsätzlich gewandelt. Vieles von dem, was uns heute auf Schritt und Tritt unter diesem Kürzel begegnet, hat seinen Ursprung in technologischen Erfindungen und wissenschaftlicher Forschung, die schon seit mehreren Jahrzehnten verfügbar sind. Künstliche neuronale Netze etwa standen in der Mitte des letzten Jahrhunderts ganz am Anfang der Entwicklung. So wie sie heute eingesetzt werden, gibt es sie seit dem Ende der Neunzigerjahre. Was also ist geschehen, dass sie jetzt eine geradezu revolutionäre Rolle spielen? Bei genauer Betrachtung verliert diese Fragestellung alles Mysteriöse. Es ist nämlich eigentlich eher eine Frage der Quantität – generell an verfügbaren Daten, an Rechenleistung und Speicherkapazität, aber auch an Geld, das in Forschungsprojekte gesteckt wurde – als eine Frage der Qualität, was KI derzeit zu einem der wichtigsten Treiber gerade auch industrieller Innovation macht.
USA, China, Zentraleuropa – wer macht das Rennen?
Noch vor einigen Jahren wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, dass solch ein Einsatz überhaupt möglich ist. Jetzt stehen die KI-Anbieter auf der größten Industriemesse der Welt in Hannover, weil sie offenbar davon überzeugt sind, in den Industrieunternehmen gerade auch am industriell wichtigen Standort Deutschland ihren wohl zentralen Markt für die kommenden Jahre und vielleicht Jahrzehnte zu finden, denn ihr Thema ist das Internet der Dinge oder Internet of Things (IoT). Zunehmend tummeln sich in Hannover auch alle möglichen Partner und Beteiligten der neuen Art von Ökosystem. Die Messe ist ein Spiegel der industriellen Entwicklung. Nach der globalen Erweiterung des Industrieunternehmens durch Zulieferer und Partner in den letzten Jahrzehnten entsteht nun eine Erweiterung der industriellen Wertschöpfungskette hin zu einem Ökosystem, in dem der Anbieter eines Produktes tatsächlich nur einer unter vielen Beteiligten ist – und die Rollen in der zukünftigen Industriewelt sind beileibe noch nicht verteilt.
Haben uns die USA und ihr Silicon Valley längst abgehängt und können wir nur noch schauen, in welchen Nischen wir wenigstens eine erträgliche Nebenrolle spielen dürfen? Diese Frage wird landauf, landab diskutiert, und von der Antwort hängt ab, ob wir uns grundsätzlich um unsere Fortexistenz als bedeutender Industriestandort Sorgen machen müssen. Dazu ist es wichtig zu verstehen, dass sich die westliche Industriewelt im Verlaufe der letzten Jahrzehnte einerseits in mehr auf die Optimierung der Fertigungsindustrie und andererseits in unmittelbar auf den Computer und die Entwicklung der Informationstechnologie orientierte Richtungen aufgespalten hat.
Für die hardwareorientierte Seite spielt Deutschland heutzutage vor allem mit seinem Maschinen- und Anlagenbau, mit seiner umfassenden Automatisierungsbranche, mit den Geräteherstellern in der Medizintechnik und mit dem Automobilbau durchaus eine Vorreiterrolle in der Welt. Wie weit trägt dieser Vorsprung, wenn es nun um den Einzug der KI auch in diese Branchen geht?
Bei den anderen, mehr Softwareorientierten, waren bis vor gar nicht langer Zeit die großen Internetkonzerne der USA diejenigen, die den Weltmarkt angeführt haben. Was bedeutet dieser Vorsprung, wenn KI und digitale Vernetzung ein Internet der Dinge ermöglichen, bei dem es nicht mehr um Dienste auf dem Smartphone oder Computer, sondern um Dienste auf Basis beliebiger industrieller Produkte und unendlich vieler anderer Dinge geht?
Wenn man KI sagt, ist mittlerweile auch sehr schnell von China die Rede; von den auf vielen Feldern der Digitalisierung und des Internets an den USA vorbeiziehenden Konzernen im Reich der Mitte; von den finanziellen und politischen Anstrengungen der chinesischen Regierung, die neuesten Technologien nicht nur zur Festigung ihrer Macht und Kontrolle, sondern möglicherweise auch zur Eroberung einer neuen Weltmachtposition zu nutzen. Die künftige Rolle des Industriestandorts Deutschland ist – insbesondere hinsichtlich der KI – also nicht mehr nur in Bezug auf die USA, sondern mindestens genauso gründlich auch in Bezug auf das aufstrebende China zu bestimmen. All dies ist Gegenstand von Kapitel 2 bis 4 dieses Buches.
1.2 | Das Besondere an der industriellen KI |
Natürlich interessieren die Entscheidungsträger in der Industrie und ihre IT- und Engineering-Experten nicht nur diese grundsätzlichen, globalen, historisch und technologisch wichtigen Einordnungen von Künstlicher Intelligenz und Maschinenlernen. Besonders interessant wird es für sie alle erst, wenn sie die Technologie in ihre Bestandteile zerlegt vor sich haben, wenn sie wissen, was es zu kaufen gibt und was sie selbst entwickeln müssen, und welche Rolle dabei welche Komponenten spielen. Das ist der zweite Themenkomplex, den das Buch in Kapitel 5 und 6 behandelt.
Das Neue an Industrieplattformen und Plattformökosystemen
In den letzten Jahren haben sich viele Industrieplattformen gebildet, die Apps von der Industrie für die Industrie anbieten. Meist stehen dahinter große Industriekonzerne oder in der jeweiligen Industrie führende Unternehmen. Oft haben sich aber auch im selben Bereich tätige Firmen zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, das nun als Betreiber einer solchen Plattform auftritt. Fast immer ist die KI bei diesen Industrieplattformen ein zentraler Baustein, ohne den wichtige Dienste gar nicht angeboten werden können. Für Anwender und Kunden solcher Plattformen ist dabei nicht unwichtig, welche Bestandteile des Plattformangebots vom Betreiber selbst stammen und welche von anderen Anbietern. Für den Anwender stellt sich darüber hinaus auch die Frage, ob er sich einem bestehenden Netzwerk solcher Plattformen anschließt und auf diese Weise unter Umständen auf die Entwicklung der Plattform selbst Einfluss nehmen kann.
Das Buch zeigt auch, warum nahezu jede neue Industrieplattform mit KI im Zentrum des Angebots schon bei ihrem ersten öffentlichen Auftreten in der Regel mit einer erklecklichen Liste von Partnern und Mitwirkenden überrascht. Denn neben der Plattform selbst als Infrastruktur für Industrie-Apps braucht es zunächst eine Basis-Infrastruktur für Cloud und KI, und darauf positionieren sich IT-Anbieter, Berater, Systemintegratoren und Softwareentwickler mit ihren jeweiligen Produkten und Diensten. Niemand kann ein solches Angebot mehr aus eigener Kraft oder gar im eigenen Haus stemmen. Dazu waren die Kosten, die weltweit in den letzten Jahren bereits in die Vorarbeiten gesteckt wurden, viel zu hoch. Die Basistechnologie wird kaum jemand neu zu erfinden versuchen. Jeder konzentriert sich vielmehr auf sein Spezialgebiet.
Künstliche Intelligenz mit der Cloud, an der Edge oder auf dem Chip
KI und die Cloud werden fast immer in einem Atemzug genannt, als gäbe es die KI nur aus der Cloud und als seien bald ausnahmslos alle Daten – auch aus den Fabriken hierzulande – in die Cloud hochzuladen, wenn über ihre Analyse neue Geschäfte generiert werden sollen. Dabei wird nicht nur die Leistungsfähigkeit der Serverfarmen in der Cloud sowie die der Übertragungstechnik überschätzt. Es ist auch für etliche Aufgabenstellungen gerade in der industriellen Anwendung viel besser, die KI näher an die Maschine, an die Anlage, an das Produkt oder das Gerät zu bringen. Edge-KI (also KI-Einsatz am Rande der Anwendung, zum Beispiel auf einem Server in der Fabrik oder in deren Nähe) kann sehr viel wirtschaftlicher, schneller und sinnvoller sein. Und schließlich gibt es noch einen weiteren Trend, der ganz am Anfang steht: KI kann auch unmittelbar auf einen Chip gebracht werden, der dann – in ein Produkt integriert – tatsächlich beinahe in Echtzeit seine Aufgaben der Analytik erfüllt. Welche Methode unter all diesen Möglichkeiten die richtige für welche Aufgabenstellung ist, wird eine sehr zentrale Frage für den industriellen KI-Einsatz sein und ist deshalb natürlich Gegenstand dieses Buches.
Auch wenn keineswegs alle Daten in der Cloud analysiert werden müssen, ist der breite Einsatz von KI in industriellen Prozessen ohne die Nutzung einer Cloud-Infrastruktur kaum denkbar. Insbesondere wenn es um neue Geschäftsmodelle jenseits des Produktverkaufs geht, etwa um die Nutzung von Funktionen ohne den Kauf der die Funktion liefernden Maschine (also um das Prinzip „Pay per Use“), ist die Cloud als Basis nicht durch irgendeine individuelle Anlage vor Ort zu übertreffen: weder hinsichtlich der Flexibilität noch hinsichtlich der Skalierbarkeit sowie der zu bietenden Sicherheit für Daten und Anwendungen.
Serviceorientiert und Microservice-Orientierung
Neben der Cloud-Technologie hat sich auch das Prinzip „Software as a Service“ (SaaS) in einem Maße weiterentwickelt, dass es die herkömmliche Programmierung in vielen Bereichen regelrecht in den Schatten stellt. So wie nun auch im Maschinenbau darüber nachgedacht wird, ob ein Unternehmen den Kompressor kaufen muss, wenn es die Druckluft genauso gut als Service nutzen kann, so denken immer mehr IT-Verantwortliche darüber nach, welche Software sie wirklich noch selbst installieren und warten wollen, wenn deren Funktionalität auch als Service zu haben ist.
Microservices sind in diesem Zusammenhang winzige Programmschnipsel, die beispielsweise eine einzelne Funktion bieten, die dann in Verbindung mit vielen anderen Funktionen zu einer Anwendung zusammengesetzt werden. Gerade beim Einsatz von KI werden diese Microservices immer wichtiger, denn sie sind ein zentrales Mittel für die Skalierbarkeit, Flexibilität und Schnelligkeit der Lösungen, wie sie insbesondere die Industrie benötigt.
Für all diese Basis-Komponenten von KI haben sich eine Reihe von Anbietern herauskristallisiert, die nun bereits über langjährige Erfahrung und Kompetenz verfügen. Es sind nicht immer dieselben, die schon für die IT der vergangenen Jahrzehnte führende Positionen hatten. Oft kommen sie aus Bereichen, die wir vor wenigen Jahren noch gar nicht als industrienah gesehen haben, wie die der Suchmaschinen oder des Online-Handels. Für zukunftsfähige Lösungen müssen die Entscheider in der Industrie wissen, wer hier welche Schwerpunkte hat und von wem welche Lösungen jetzt oder in nächster Zeit zu haben sind. Deshalb ist auch diese Frage ein wichtiger Bestandteil des vorliegenden Buches.
1.3 | Theorie und Praxis |
Damit sind – in Kapitel 2 bis 6 dieses Buches – die wichtigsten Komponenten behandelt, ohne die der Einsatz von KI in der Industrie nicht funktionieren kann. Dass ein bedeutender Aufwand durch die Anforderungen an bestimmte Daten entsteht, die akquiriert und dann auch zum Trainieren der KI-Systeme, zum Maschinenlernen, benötigt werden, ist noch wenig in die Öffentlichkeit durchgesickert. Dies ist gleichzeitig der Punkt, an dem sich für alle KI-Anwendungen herausstellt, ob eine Anwendung rein auf KI beruhen soll, ob sie für entscheidende, sicherheitsrelevante Funktionen durch herkömmliche Algorithmen ergänzt werden muss oder ob sie sich überhaupt nicht für die KI eignet. Denn die Behauptung, dass KI alles ermögliche und vor allem alles besser könne als der Mensch, ist schlechterdings eine sehr in die Irre führende These, die schon an vielen Stellen eindrücklich widerlegt wurde. Autonom ist der Mensch und sollte es bleiben. Wie weit und an welchen konkreten Stellen auch Maschinen teilweise autonom agieren können sollten, das muss sich – unter der weisen Gestaltungshoheit verantwortlicher Menschen – in den nächsten Jahren erweisen.
Was an Künstlicher Intelligenz schon real ist
In Kapitel 8 bis 13 stelle ich bzw. stellen sich Unternehmen und Organisationen vor, die an vorderer Stelle in Sachen KI unterwegs sind, kräftig in entsprechende Forschung investieren und teilweise schon erste Produkte und Dienste auf dem Markt haben. Diese Unternehmen und Institute haben sich bereit erklärt, nicht nur ihre KI-Strategie zu erläutern, sondern auch an konkreten Praxisbeispielen zu zeigen, wie groß das Potenzial der industriellen KI ist, aber auch, was noch fehlt, um die KI für die Industrie in größerem Umfang wirtschaftlich nutzbar zu machen. Es sind eher Pilotprojekte, also noch kaum in produktivem Einsatz befindliche Lösungen. Doch sie lassen ahnen, was auf uns zukommt, und deshalb sind sie für alle interessierten Entscheidungsträger und Verantwortlichen in den Unternehmen wie in der Forschung gute Beispiele, die zu eigenen Initiativen anregen.
Diesen Unternehmen und Institutionen möchte ich für ihre Beiträge besonders danken. Sie decken sich nicht unbedingt mit meinen eigenen Einschätzungen, sondern geben die Position der jeweiligen Autoren wieder. Sie waren entscheidend dafür verantwortlich, dass das Buch nicht nur theoretische Grundlagen liefert, sondern auch die Praxisrelevanz des Themas herausstellen kann. Es hat auch Input von zahlreichen weiteren Experten aus anderen Unternehmen und Instituten gegeben, der zwar nicht an den Umfang eines eigenen Kapitels herankommt, aber dennoch Aspekte beleuchtet, die sonst im Dunkeln geblieben wären. Auch dafür mein herzlicher Dank.
2 | Eine kurze Geschichte der Künstlichen Intelligenz |