1

Ein ganzes langes Jahr war seit jenem Nachmittag, als Svend zu Ellen kam und seine Schuld gestand, vergangen.

Ein ereignisreiches Jahr, insofern als es Kruse zu einem einsamen Mann gemacht, Svend und Ellen in einem mit allem modernen Komfort eingerichteten Heim vereinigt, den neugebackenen Ehemann und seinen Mitarbeiter Juhl durch eine Erweiterung von Brynchs Departement, bei der Kruse seine Hand im Spiel gehabt, zu Assessoren gemacht und schließlich für eine nah bevorstehende Familienvergrößerung gesorgt hatte.

Mit dem allerersten wurde bei Assessor Byges ein Erbe erwartet und Ellen war aus diesem Grunde bereits im September von Wildpark in die Stadt gezogen, obgleich das Wetter noch mild und sommerlich war.

Die Zeit vom Oktober bis zum Hochzeitstage am siebenten Januar war viel zu kurz gewesen. Es war unmöglich gewesen, all die tausend Dinge zu erledigen, die dazu gehören, das Heim eines wohlhabenden jungen Mädchens aufzubauen.

Dann kam der Tag mit der Trauung in der Frauenkirche, Diner im Hause des Departementschefs und der Abreise nach der Brautnacht im Hotel in Korsör.

Sie waren drei Wochen in Paris gewesen, wo sie die Erinnerungen aus ihren ersten Verlobungstagen aufgefrischt hatten. Jetzt aber war es Winter. Auf dem Rasen im Garten von Versailles, wo sie damals im Gras gelegen und an einem strahlenden Morgen die Vögel hatten singen hören, lag jetzt Schnee.

Svend konnte es nicht vor sich selbst verbergen, daß er in Gedanken bereits »damals« sagte.

Er blickte ängstlich zu ihr hin. Auch über ihren Brauen lag ein leiser Wehmutsschatten.

Wie kann es nur sein, dachte er, daß wir einander eigentlich vor unserer Hochzeit näher waren als jetzt, wo wir Tag und Nacht beisammen sind?

Er hatte sich ihre Ehe anders vorgestellt. Er wollte es sich selbst nicht eingestehen. Aber es war eine heimliche Enttäuschung da.

Da war ein Vorbehalt in ihrer Hingabe – nicht gerade Keuschheit – wohl aber Angst. Nein, auch nicht Angst.

Sehr viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm übrigens nicht. Sie waren den ganzen Tag auf der Fahrt, in den Museen, in den Champs Elysées, im Bois. Sie aßen jeden Tag in einem neuen Restaurant und waren jeden Abend in einem neuen Lokal. Ellen zog die Varietees vor; und in einem derselben hatte sie ein Erlebnis, das sie lebhaft interessierte.

Eines Abends saß zufällig neben ihnen in einer Loge – der Kammersänger. Er war allein. Da er Svend von Ansehen kannte – er war ihm mehrere Male mit Falk zusammen begegnet – so stellte er sich vor.

Ellen konnte ihre Freude über diese neue Bekanntschaft nicht verbergen. Oder es lag ihr nicht daran, sie zu verbergen. Mit strahlenden Augen und roten Wangen lauschte sie der herrlichen Stimme und erkannte bald die eine, bald die andere Handbewegung von der Bühne.

Sie aßen zusammen auf dem Boulevard zu Abend und waren sich einig, die Bekanntschaft in Kopenhagen zu erneuern, wenn der Kammersänger von einem mehrmonatigen Aufenthalt in Italien zurückgekehrt sein würde.

Als die drei Wochen schließlich um waren, waren sie beide müde und nervös, und Svend sehnte sich nach einem geordneten und regelmäßigen Leben.

Die ersten Tage im neuen Heim waren voller Freude und Zufriedenheit. Es war ihnen beiden ein Fest, ihre Füße unter den eigenen eleganten und massiven Wohnstubentisch setzen zu können.

Es war ein Genuß, den eigenen Kaffee nach Tisch im eigenen bequemen Lehnstuhl zu trinken, die Füße auf dem eigenen weichen, persischen Teppich, während der Blick auf dem eigenen stilvollen Bücherschrank aus Mahagoni ruhte.

Es war eine Augenweide, Ellens hübsche Schultern sich in häuslicher Tätigkeit bewegen, ihre Augen sanft strahlen zu sehen, während sie umherging und die ganze häusliche Maschinerie prüfte, von den elektrischen Glockenzügen bis zu den Wasserhähnen im Badezimmer.

Es war amüsant, sie in ihrem eigenen Heim Besuche annehmen, sie mit eleganten Handbewegungen Plätze in bequemen Stühlen, die ihm und ihr gehörten, anweisen zu sehen.

Er erkannte ihre Meisterschaft in allen gesellschaftlichen Dingen an.

Bald aber war es nicht mehr neu – weder für ihn noch für sie.

Er hatte viel in seinen beiden Kontoren zu tun; sie war viel allein. Darum langweilte sie sich und begann wieder das Leben, das sie als junges Mädchen geführt hatte.

Vormittags Besorgungen in der Stadt, dann zum Konditor, um Freundinnen zu treffen; ein munterer Spaziergang und dann nach Hause zum Mittagessen, das sie nicht persönlich beaufsichtigte. Sie war von ihrem Elternhaus nicht daran gewöhnt, und sie hatten eine perfekte Köchin, die beleidigt war, wenn die Hausfrau in die Küche kam.

 

Ein ereignisreiches Jahr war es auch für Svends Arbeitsleben geworden. Erstens seine Beförderung im Ministerium und zweitens hatte Didrichsen ihm kurz nach seiner Heimkehr eine verantwortungsreichere Stellung gegeben.

Das Gefühl der Verantwortung erhöhte seine Arbeitslust. Er kam früher als irgendeiner der anderen und ging häufig nach dem Mittagessen wieder hin.

Ellen sah diese Nachmittagsarbeit ungern. Sie gab Veranlassung zu Tränen.

Das erstemal ging es ihm sehr zu Herzen. Er küßte sie und blieb zu Hause. Sie hatten einen gemütlichen Abend wie in der allerersten Zeit.

Das zweitemal, als es geschah, gab er auch nach; diesmal aber wurde es ein Theaterabend mit darauffolgendem Souper.

Das drittemal versuchte er fest zu bleiben. Er versuchte sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß er seine Arbeit zu seiner und anderer Zufriedenheit machen müsse. Er appellierte an ihre Eitelkeit. Wollte sie einen Mann haben, der es nie zu etwas anderem als zum Assessor im Ministerium brachte? Er erinnerte sie an das, was er ihr schon vor langer Zeit anvertraut hatte, daß er darauf hinarbeite, sich eine Position zu verschaffen, von der aus er mit Gewicht eine öffentliche Tätigkeit aufnehmen könnte.

Sie kümmerte sich nicht um seine Worte. Sie machte die Frage im stillen zu einer Kraftprobe zwischen ihnen. Sie wollte ihren Willen haben, weil sie die Stärkere sein wollte. Und sie wurde die Stärkere. Svend gab nach und blieb wie die vorigen Male zu Hause.

Als es aber das nächstemal geschah, da wurde ihm plötzlich klar – ein unbeherrschter Blick ihrer Augen verriet es ihm –, daß es weder Furcht vor einem langen, langweiligen Abend, noch Trauer, ihn gehen zu sehen, sondern nur eine Kraftprobe, ein kleiner, hitziger Zweikampf war, auf dem die häusliche Zukunft, so wie sie sie wünschte, aufgebaut werden sollten

Da blieb er fest. Er bat, daß etwas Abendbrot für ihn hingestellt werden möchte; er käme spät nach Hause. Und dann ging er.

Als er etwas nach elf Uhr nach Hause kam, stand das Abendbrot auf dem Tisch im Eßzimmer für ihn bereit, aber weder die Hausfrau noch das Mädchen waren da.

Er saß im Wohnzimmer und wartete auf sie. Um zwölf Uhr kam sie strahlend und mit warmen Wangen.

Sie war bei Emmy Danielsen zum Abendessen gewesen und schien ihren Zwist ganz vergessen zu haben.

Sie sang und plauderte, wahrend sie sich entkleidete, faßte ihn bei den Schultern, barg ihren Kopf girrend an seinem Halse und küßte ihn schließlich mit ihren kleinen hitzigen Küssen auf den Mund.

Ihr Atem war süß und von Wein gewürzt.

»War Besuch da?« fragte er, »du riechst nach Champagner.«

Sie lachte mit glänzenden Augen und rieb ihm die Backen mit ihren weichen Händen.

»Niemand weiter als ich. Aber du weißt ja, daß Emmy manchmal so wild und ausgelassen ist. Und als die Alten zu Bett gegangen waren, ließ sie Champagner auf ihr Zimmer kommen. Ich sage dir, es war amüsant.«

Ellen summte und tanzte vor dem Spiegel, während sie ihr Haar für die Nacht flocht.

»Aber wie bist du denn nach Hause gekommen?«

»Ich – wie ich? – ach so – der Diener hat mich natürlich begleitet.«

 

Am Ministerium wurde Svend abermals eine Beförderung zuteil.

Im Laufe des Sommers ließ Brynch ihn hereinrufen und sagte, daß er ihn zu seinem Sekretär machen wolle.

»Es ist ja jetzt Mode mit einem Sekretär,« sagte der Alte und strich sich seinen struppigen Bart, »das gab's in meinen jungen Tagen nicht. Da hatte nur der Minister einen Sekretär; aber jetzt hat sowohl Damm – und der – der im Kultusministerium, wie heißt er doch gleich – – und Ihr Schwiegervater hat ja auch einen.«

Als Svend Kruse davon erzählte, lächelte dieser und zog seine buschigen Brauen pfiffig zusammen. Er sagte nichts, Svend aber begriff gleich, daß es Kruse sei, der Brynch dazu überredet hatte.

Jersey gratulierte, als er davon hörte.

Juhl sagte »Wohl bekomm's!« mit einem kurzen Auflachen, das nicht ohne Neid war, obgleich das neue Amt keine Gehaltserhöhung, sondern nur erhöhten Fleiß mit sich brachte.

Die Arbeit mit dem Fischereigesetz war beendigt. Ein dickes Gutachten war das Resultat von Juhls und Svends vereinigten Bemühungen. Es war so gegangen, wie Jersey gesagt hatte: Sie hatten über die Sache geschrieben, aber der Prinz hatte unterschrieben, als es so weit war.

Er behauptete zwar, daß er den ganzen dicken Band durchgelesen habe. Svend glaubte es nicht; und Juhl sagte voller Überzeugung: Das fehlte gerade!

Svend hatte schon einen Teil seiner Frische zugesetzt. Der ursprüngliche Trieb, der ihn von den Dokumenten in die Wirklichkeit, von der sie handelten, hinausgetrieben hatte, genierte ihn jetzt nicht mehr. Jetzt arbeitete er mit Routine und nicht über die Bürozeit hinaus, ebenso wie die anderen.

Falk, der eines Tages aus seinem Kontor kam und Svend zwischen seinen Papieren sitzen sah, sagte belustigt:

»Recht so, Byge. Jetzt sind Sie ein echter königlich dänischer Aktenmensch geworden. Sie sollen sehen, in einem halben Jahr sind Sie ebenso verdummt wie wir anderen.«

Svend blickte hastig auf. Wie gewöhnlich wirkten v. Falks ironische Worte abstoßend und anziehend zugleich auf ihn. Er wurde sie nicht wieder los. Es war etwas Zweideutiges an v. Falk, das ihn reizte. Er ärgerte sich, daß er ihn nicht durchschauen konnte, und er wußte, daß es v. Falk belustigte, mit ihm zu experimentieren.

 

Was das öffentliche Leben des Landes anbetraf, so war es nicht so ereignisreich geworden, wie man geglaubt hatte.

In dem politischen Erdboden hatte dennoch nichts von dem verborgenen Samen gekeimt. Es war keine volkstümliche Birne gegen einen konservativen Apfel eingetauscht worden. Das regelmäßige Finanzgesetz, nach dem alles heimlich seufzte, war noch nicht gereift.

Es wurde schlimmer als je geschlampt.

Vernünftige Leute wendeten jeder Politik endgültig den Rücken. Sie schlossen sie aus jeglicher Diskussion aus und überließen sie Politikern von Profession bei öffentlichen Versammlungen.

Cholerische Menschen wurden gelb im Gesicht, wenn die Rede auf das Finanzgesetz kam.

Sanguinische Menschen, die bei dem hoffnungsvollen Beginn der Reichstagssitzung den Himmel voller Geigen hängen sahen, duckten sich bei den spöttischen Bemerkungen, ließen aber im tiefsten Innern die Hoffnung nicht fallen.

Die Pessimisten kassierten triumphierend einen neuen Sieg für ihre Lebensanschauung ein, während die Phlegmatiker ihren Geschäften nachgingen und zufrieden waren, solange alles beim alten blieb und nicht an den Steuern gerührt wurde.

Falk genoß das Ganze von seinem erhöhten Standpunkt aus wie ein Schauspiel.

Svend aber war abwechselnd voller Empörung, voll Mißmut oder voll erkämpfter Gleichgültigkeit.

2

Svend hatte unter anderem als Brynchs Sekretär die Aufgabe, mit den Leuten zu sprechen, untergeordnete Kontorangestellte abzufertigen, kurz gesagt, den Arbeitsfrieden des Departementschefs zu wahren.

Eines Tages kam der Kontordiener herein und rief Svend beiseite. Er sah ganz verwirrt aus.

»Was ist los, Jörgensen?«

»Da ist so ne Art – so ne Art Deputation. Fünf, sechs Mann mit großen Wasserstiefeln. Sie sagen, daß sie aus Jütland sind.«

Svend ging schnell hinaus.

Da standen fünf stämmige, alte Fischer in Flausröcken, mit wasserklaren Augen, roter Gesichtshaut, wettergegerbten Backenbärten und Fäusten, die sich wie altes Leder anfühlten.

Sie standen auf dem halbdunklen Korridor dicht beieinander, die Hüte in der Hand.

Svend sah gleich, daß sie ihn für den Departementschef hielten und sich über seine Jugend wunderten.

Er wies sie ins Vorzimmer und fragte sie nach ihrem Begehren. Sobald sie aber erfaßt hatten, daß er nur so eine Art Leichtmatrose sei, war nichts anderes aus ihnen herauszubringen, als daß sie mit dem Mann selbst sprechen wollten.

Brynch war äußerst überrascht, als Svend die Deputation meldete.

Das war ihm in seiner ganzen Praxis noch nicht vorgekommen, daß einfache Fischer angereist kamen und ganz einfach ins Ministerium gingen.

Er brummte etwas von der neuen Zeit, im Grunde aber war er neugierig, wie solche Leute eigentlich aussahen. Er war nie an einer anderen Küste gewesen als an der von Klampenborg bis Helsingör.

»Was wollen Sie?« fragte er und starrte die fünf großen Männer an, die sich durch die Tür drängten.

Der Wortführer warf Svend einen Seitenblick zu.

Brynch sah es und sagte:

»Das ist mein Sekretär. Lassen Sie den nur ruhig mit hören!«

Da begann der Wortführer mit vorsichtigen und einfachen Worten, wie sie auf das Fischereigesetz gehofft, das schon ihr voriger Abgeordneter im Reichstag ihnen versprochen hätte. Das Ministerium hätte sie um ihre Meinung befragt; sie hätten sie abgegeben; das Gesetz sei vorgelegt worden, aber später hätten sie nie etwas davon gesehen noch gehört.

Er und diese anderen guten Leute seien nun von den Fischern in Sandöre – dem größten Fischerdorf an der Westküste Jütlands – dazu ausersehen worden, einen schönen Gruß zu bestellen und zu sagen, daß es Jahr für Jahr magerer mit dem Fischfang würde. Dort, wo sie mit ihren kleinen Fischerboten hinkommen könnten, seien bald keine Fische mehr. Aber draußen bei den Sandbänken, da lägen sowohl Deutsche wie Schweden, die in ihrem Vaterlande für billige Anleihen Schiffe bauen könnten, und fingen ihnen all die guten Fische weg.

Sie hätten jetzt mit Bestimmtheit auf die Staatsunterstützung gerechnet, damit sie seetüchtige Schiffe kaufen und den Fischereihafen bekommen könnten, der ihnen schon unter dem vorigen König und von drei Ministern, von einem nach dem anderen, und von drei Abgeordneten versprochen worden sei.

Nun sollten sie also in aller Bescheidenheit fragen, wie die Sachen ständen; denn hier handle es sich um Leben und Unterhalt für sie und ihre Familien.

Brynch starrte von einem zum anderen. Er fühlte, daß er dem nebelhaften Begriff der »Massen« gegenüberstand und mußte sich mehrere Male räuspern, bevor er die richtige Anredeform fand.

»Hört mal, lieben Leute,« sagte er schließlich, »warum kommt ihr mit eurer Sache zu mir. Wir haben getan, was wir konnten, aber es sind ja diese« – fast hätte er »diese Bauernlümmel« gesagt, aber er ertappte sich noch schnell darauf – »es ist doch der Reichstag, der euer Anliegen bewilligen soll. Wißt ihr das denn nicht?«

Doch, das wußten sie. Aber es war doch der König, der seinen Namen daruntersetzen sollte.

»Dann geht doch zum König!« sagte Brynch mit einem Schelm im Auge.

Da wären sie gewesen. Aber man hätte sie nicht hereingelassen. Ein Minister oder ein anderer vornehmer Herr hätte sie hierher gewiesen.

Brynch kratzte sich ratlos den Bart. Was in aller Welt sollte man mit solchen Klötzen anfangen, die keinen Begriff von der ganzen komplizierten Maschinerie hatten.

Er versuchte sein Interesse zu beweisen, indem er sie nach den lokalen Verhältnissen ausfragte; aber er brachte nichts anderes aus ihnen heraus, als daß es schlimm um den Fischfang bestellt sei, und sie sollten von Sandöre grüßen und fragen, was aus dem Gesetz würde.

Je mehr Svend die alten, wettergebräunten Gesichter, die klaren, feuchten Augen betrachtete, die von verbissener und naiver Biederkeit leuchteten, desto lebendiger wurde der Eindruck der barschen Wirklichkeit, die sie vertraten.

Durch Blick und Haltung, durch das Schweigen zwischen den wenigen, mühsam geformten Sätzen, überreichten sie eine alte Forderung, die sie jetzt nicht länger ausstehen lassen konnten.

Dieser Ernst packte ihn, ja, er ergriff schließlich auch von Brynch Besitz, der sich unter diesen festen Blicken zu krümmen begann. Er überlegte, ob er sie an den Minister verweisen sollte; aber was konnte das nützen; der würde sie nur zurückschicken und ihm diese Überweisung wenig danken.

Da bekam er eine glänzende Idee.

Er erinnerte sich einer Unterredung, die er mit dem Abgeordneten aus der betreffenden Gegend gehabt hatte. Er war einer der fanatischsten Gegner der Regierung, dessen letzte Worte gewesen waren, daß, wenn der Minister auch den doppelten Betrag für seine Wähler, die Fischer, vorschlüge, er dennoch nichts bewilligen würde, was eine verfassungsverletzende Regierung vorschlüge.

Oh, das war eine glänzende Idee. Und hier war gleichzeitig Gelegenheit, einem der schlimmsten Bauernlümmel einen Hieb zu versetzen.

Brynch rieb sich vergnügt die Hände.

»Ich will euch mal was sagen, lieben Leute,« begann er und stand auf. »Geht zu eurem eigenen Abgeordneten – zu – wie heißt er doch gleich – und zieht ihn zur Rechenschaft. Ihr wißt vielleicht nicht, daß er die größte Schuld trägt, daß euer eigenes Gesetz nicht durchgegangen ist.«

Es kam Bewegung in den Haufen. Alle fünf traten schwer von einem Fuß auf den anderen, als habe Brynch eine sehr wunde Stelle berührt.

»Das wissen wir recht gut!« sagte der Wortführer schließlich, »darum soll er auch bei der nächsten Wahl fallen. Denn wir Fischer wählen keinen, der nicht für das Gesetz stimmt, mag Minister sein wer will.«

»So ist's recht!« sagte Brynch und klopfte ihm auf die Schulter. »Denn was kann es nützen, daß wir hier im Schweiße unseres Angesichtes Gesetze machen, wenn so ein – wenn euer eigener Abgeordneter alles umwirft!«

Kurz darauf begleitete Svend die Deputation hinaus.

Sie sagten nichts. Svend aber merkte, daß der Wortführer über etwas brütete und daß die anderen instinktiv verstanden, was es war, und auch brüteten.

Während der Audienz hatten sie eingesehen, daß Svend dennoch etwas mehr sei als ein gewöhnlicher Leichtmatrose, eher – trotz seiner Jugend – so eine Art zweiter Steuermann. Er hatte ja auch alles mit anhören dürfen.

Als sie die Haupttreppe erreicht hatten und Svend ihnen den Weg zum Ausgang zeigte, nahm der Wortführer seinen hohen Hut ab.

»Höre Er zu,« begann er leise und gewichtig, »wenn Er uns das Gesetz durchbringen kann, so soll Er es nicht umsonst getan haben.«

»Darauf habe ich keinen Einfluß!« sagte Svend und warf unwillkürlich den Kopf in den Nacken; im selben Augenblick aber kam ihr Unverstand ihm so komisch vor, daß er kaum ein Lächeln zu unterdrücken vermochte. »Wir hier haben unser möglichstes getan.«

Der Wortführer aber ließ sich nicht verblüffen.

»Das mag wohl so sein!« sagte er bedächtig, »aber wenn er uns hier in Kopenhagen einen Abgeordneten verschaffen kann, der mit dem König zu reden versteht, so daß wir das Gesetz bekommen, dann soll er es nicht umsonst getan haben. Das sagen wir und dabei bleiben wir.«

Er drehte sich nach den anderen um, die still und ernst zur Bekräftigung nickten.

Svend wechselte die Farbe. Eine Idee blitzte in ihm auf wie ein Blinkfeuer.

Er sah von dem einen zum anderen, aber er las keine Erklärung in ihren klaren Augen, die gewohnt waren, weit über Meer und Wellen zu blicken, aber nicht das widerzuspiegeln, was in ihrem Innern vorging.

Seine Gedanken arbeiteten so heftig, daß er Herzklopfen bekam.

Öffnete sich ihm hier nicht plötzlich ein Weg von den Akten zur Wirklichkeit hinaus? Wies diese alte Lederhand nicht auf eine öffentliche Tätigkeit hin, die ihm gehören würde, wenn er dreist zugriff?

Ein politisches Feld, wie er es sich gedacht hatte und außerdem eine gemeinnützige Tätigkeit, die Tausenden zugute kommen würde.

»Ich werde tun, was ich kann!« sagte er und sah dem Wortführer fest in die klaren Augen.

»Schönen Dank! – Und dann adieu!« Fünf Lederhände wurden ihm der Reihe nach unter Schweigen gereicht. Fünf Paar Augen ruhten eine Sekunde prüfend in den seinen.

Dann stampfte die Deputation schwer die königlich dänischen Kanzleitreppen hinab.

 

Der Funke, der entzündet worden war, fuhr fort, in seinem Sinn zu glühen. Er wurde aus vielen Quellen genährt, aus alten Jugendträumen, aus seinem Familiensinn, aus der Erinnerung an Onkel Kasper, aus v. Falks Interesse, das ihn jedesmal, wenn sie zusammen waren, wie eine Sonde durchfuhr; aus seinem Tätigkeitsdrang, aus seinem lange niedergekämpften Ehrgeiz, aus seiner ehelichen Enttäuschung, die er jetzt viel tiefer empfand, als er es sich bisher hatte eingestehen wollen.

Nachdem er die Idee eine Woche lang mit sich herumgetragen hatte, entdeckte er durch eine halb unbewußte Vorbereitung, daß sie sich in seinem Innern bereits zu einem Entschluß ausgebildet hatte – wie eine Ernennung, die vorliegt, aber noch nicht offiziell ist.

Und das kam so: Eines Nachmittags ertappte er sich dabei, daß er ein kunsthistorisches Werk, das v. Falk ihm geliehen hatte, mit der Motivierung von seinem Pult entfernte, daß ihm jetzt doch keine Zeit für derartige Werke bliebe. Im selben Augenblick wurde ihm dieser Gedankengang bewußt, und eine plötzliche, fast dankbare Freude durchfuhr ihn und machte ihn lächeln.

»Da hast du dich selbst ertappt,« dachte er bei sich . Und von dem Augenblick an arbeitete er vollbewußt im Dienste seiner neuen Tätigkeit.

Er wollte vorläufig theoretisch arbeiten. Es waren noch zwei Jahre bis zu den nächsten Wahlen, er hatte also reichlich Zeit vor sich.

Er studierte die politische Geschichte Dänemarks. Wo sie in die Gegenwart überging, nahm er die Reichstagsberichte zu Hilfe.

Aber zu dieser neuen Arbeit mußte er die Abende und Nächte nehmen; denn alle Stunden des Tages waren bereits besetzt.

Ellen, der er sich unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte, wo zuerst froh und stolz gewesen und sah schon das Ministerportefeuille am Ende einer ganz kurzen Perspektive.

Als aber die neue Arbeit ihn immer mehr unter ihre Macht zwang, ihn ihr nahm und bis spät in die Nacht hinein in seinem Arbeitszimmer festhielt, wurde sie mißvergnügt und fand, daß die Perspektive zu teuer erkauft sein würde.

Er aber gab nicht nach. Er war fest in seinem Entschluß. Jetzt endlich war er fest.

Ihre blauen Augen, die nicht mehr so sanft waren wie in der Verlobungszeit, sahen mit Verwunderung die energische Falte, die sich quer über die Nasenwurzel gelegt hatte und sich beständig vertiefte. Sie erkannte schließlich, daß dieses Neue stärker sei als sie.

Da geschah es, daß sie Mittsommers die Gewißheit bekam, daß sie guter Hoffnung sei. Und durch dieses neue Wunderbare wurde sie so sehr von sich selbst in Anspruch genommen, daß Svend Arbeitsruhe bekam.

An demselben Tage, an dem Svend seinem Schwiegervater die große Neuigkeit anvertraute – sie saßen gemütlich nach dem Mittagessen bei Kaffee und Zigarren beisammen, während Ellen bei Lindholms war – am selben Tage sprach er sich auch das vom Herzen herunter, was sich in seinem Innern vorbereitete.

Kruse nickte respektvoll. Er hatte seinem Schwiegersohn – dem etwas zu naiven Idealisten – soviel praktischen Sinn gar nicht zugetraut.

»Ausgezeichnet!« sagte er, »darauf kommt es hier im Leben gerade an: die Chance ergreifen, wenn sie unsichtbar vor einem in der Luft schwebt, sie an den Schwingen fassen und festhalten.«

Er blickte eine Weile prüfend durch die Ringe des Zigarrenrauches auf Svends Perspektive.

Dann nickte er wieder ernst und bekräftigend.

»Du bist gerade der rechte Mann für die Fischer, da du ihrer Lebenssache so nah stehst, daß du sie fördern kannst. Und umgekehrt wird eine politische Stellung als Vertrauensmann der Fischer dich im Ministerium stützen, weil du auf diese Weise der einzige sein wirst, der Verhältnisse praktisch kennen lernt, die die anderen nur aus Dokumenten kennen. Aber du mußt darauf vorbereitet sein, daß man dir die ganze Bürde im Kontor aufladen wird. Sobald die unumgängliche Mißgunst sich einigermaßen gelegt haben wird, wird eine Menge Arbeit unter dem Vorwand deiner speziellen Fachkenntnis auf dich abgewälzt werden. Aber davor hast du ja keine Furcht, nicht wahr?«

»Im Gegenteil. Je mehr ich zu wirken bekomme, desto besser.«

Kruse lächelte, wahrend er den Rauch in einer wohlgeformten Wolke von sich blies. Sein Schwiegersohn war dennoch sehr jung. Nun, man mußte versuchen, ihm seinen Weg zu erleichtern.

Svend betrachtete die Schläfe seines Schwiegervaters. Sie war von einem Netz feiner Fältchen überzogen und fing an hohl zu werden. Auch das Muskelspiel um den sonst so festen Mund war schlaffer geworden.

»Wie ist er in der letzten Zeit gealtert!« dachte Svend, »wahrscheinlich, weil er jetzt so einsam ist.«

 

Ende Oktober, als Svend blaß und müde von einem angestrengten Arbeitstag heimkehrte, kam das Mädchen ihm mit großen, erschreckten Augen im Entree entgegen und sagte, daß die gnädige Frau sich zu Bett gelegt habe.

Es wurde nach dem Arzt und der Hebamme geschickt, und in der Nacht brachte Ellen einen blondhaarigen, schmächtigen Knaben zur Welt, der nach Aussage der Hebamme Svends Augen hatte, aber Ellens Mund und Kinn, wenn sie lächelte.

11

Svend litt mehr, als er ertragen konnte.

Er erwachte des Nachts in tiefster Herzensangst und hatte geträumt, daß seine Knaben nach ihm riefen und Not litten. Dann lag er wach und wälzte Gedanken hin und her, bis er vor Schlaffheit ganz gleichgültig wurde und beschloß, zu Ellen zurückzukehren und alles zu vergessen. Dann bekam er Ruhe und konnte wieder schlafen. Wenn aber der Morgen kam, wälzte die bittere Wirklichkeit sich wieder auf ihn, rief das Geschehene zurück und zeigte ihm, was er im Begriff stand zu tun. Und er war noch ebenso weit wie vorher.

 

Falk pflegte sich jedes Jahr Herbstferien zu nehmen. Dann reiste er nach seinem Gut Lindersbo, inspizierte und ging auf die Jagd.

Svend begegnete ihm eines Morgens, als er gerade vom Bahnhof kam. Es war sein letzter Ferientag.

Falk ließ die Droschke halten. Er fand, daß Svends Gesicht ganz verändert war. Es lag ein verbissener Schmerz über den schmalen Lippen. Etwas Krampfhaftes war im Gang, das seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

»Hallo, Byge!« rief er.

Svend fuhr aus seinen Gedanken auf und blickte sich verwirrt um.

Als er v. Falks ansichtig wurde, der ihm mit seinen großen, schweren Augen freundlich zulächelte, wurde er dunkelrot. Im selben Augenblick durchblitzte ihn der Gedanke: Falk soll mir raten.

Ja, ihm wollte er sich anvertrauen. Mit einem Menschen sprechen, der sein und ehrliebend das Rechte wollte, der ihn gern hatte, der außerdem Ellens Vetter war und die Sache auch von ihrer Seite sehen konnte.

Er winkte mit der Hand und ging hastig auf den Wagen zu.

Kein Aufschub. Jetzt gleich. Sonst würde er es nie sagen können.

»Darf ich zu Ihnen in den Wagen steigen?«

»Gern. Dann frühstücken Sie mit mir!«

Falk machte neben sich Platz und legte in einer unwillkürlichen Gefühlswärme seine Hand auf Svends Schulter, indem er einstieg.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Falk blickte von der Seite in Svends unruhig flackernde Augen und wartete, daß er beginnen würde. Svend preßte seine Hände zusammen und wußte nicht, wie er es über die Lippen bringen sollte.

»Lieber Byge!« sagte v. Falk, »ich kann Ihnen ansehen, daß Ihnen etwas passiert ist, worüber Sie sich aussprechen möchten. Nicht wahr?«

Svend nickte und blickte zur Seite.

»Es ist hübsch von Ihnen, daß Sie damit zu mir kommen.«

»Ich habe es eben in diesem Augenblick beschlossen.«

»Das hab ich gesehen. Wenn ich Ihnen helfen kann, bin ich gern dazu bereit, das wissen Sie.«

Falk setzte sich zurecht, um ihm zuzuhören.

»Nicht hier im Wagen!« sagte Svend, »dazu ist die Sache zu ernst.«

Falk sah ihm forschend in die Augen; der Reflex von Svends Ernst legte eine bleiche Röte über seine Schläfen, während seine Brauen sich unwillkürlich zusammenzogen.

Dann begann er von Lindersbo zu erzählen, bis sie zu seiner Villa kamen.

Das Frühstück wartete. Sie setzten sich gleich zu Tisch. v. Falk war hungrig; sein guter Appetit steckte Svend an, und v. Falk erzählte so munter, daß Svend zum erstenmal seit jener traurigen Nacht auf einen Augenblick seinen Schmerz vergaß.

Als sie von Tisch aufgestanden waren und sich Zigarren angezündet hatten, fing die Sonne an zu scheinen. Der feuchte Novembernebel war zerstoben. Er hing wie Tränen und Tauperlen in den vergilbten Büschen des Gartens, in dem roten Weinlaub, das sich um die Fenster rankte. Über die Baumkronen, die in güldenem Herbstgewand prunkten, hatte der Nebel einen seinen Tüllschleier gebreitet, der die kräftigen Metallfarben zu einem harmonischen Akkord vereinigte.

Falk schlug vor, daß sie in den Garten gehen wollten. Während sie in dem Mittelgang auf und ab schritten, wurde Svend endlich die Zunge gelöst.

v. Falk ging langsamer und hörte schweigend zu, den Blick auf Svends bleiches, verwachtes Gesicht gerichtet, dessen Mienenspiel mit den Worten in nervösem Einklang zitterte.

Als Svend zu der letzten Unterredung mit Ellen kam, ging v. Falk ganz dicht an ihn heran und berührte unwillkürlich seinen Arm, während seine großen Augen auf seinen Lippen ruhten, als wolle er die Worte durch seinen Blick in seiner Seele aufnehmen.

Svend schwieg. Er ging gesenkten Hauptes und blickte zur Seite, von seiner Bewegung überwältigt.

Falk schob seinen Arm unter Svends und sagte ruhig:

»Was Sie mir da von Ihrem Schwiegervater erzählen, kommt mir nicht überraschend.«

Svend blieb stehen und sah ihn verblüfft an.

Falk verzog die Lippen zu einem wehmütigen Lächeln. »Erinnern Sie sich, daß Sie mir meine spöttischen Worte über den dänischen Beamtenstand bei Brynchs Jubiläum vorwarfen? Jetzt erfahren Sie es selbst. Sie müssen wissen, lieber Byge, daß ich zwischen Menschen ohne Ideale aufgewachsen bin. Bei meinen Eltern auf Lindersbo gab es keine andere Moral als das Urteil der Standesgenossen. Als ich sehr jung war, litt ich darunter. Mich fror dabei und ich fand, daß es eine langweilige, schmutzige und schlechte Welt sei, in die ich durch den Leichtsinn meiner Eltern gesetzt worden war. Später, als ich in die Hauptstadt, in größere Verhältnisse kam, wurde mir bald klar, daß es hier nicht anders war als zu Hause. Während man sich den Anschein gab, alle möglichen Formen und Pflichten unter dem Deckmantel vieler schönen und gottesfürchtigen Worte über die Nächstenliebe zu erfüllen, knetete man unbekümmert seinen eigenen Teig, ohne auf etwas anderes als auf eine gewisse Etikette Rücksicht zu nehmen. Durch meine Veranlagung, den Leuten ein wenig tiefer in die Augen zu sehen, konnte es mir nicht entgehen, daß es mit den Kammerherren wie mit den Lakaien war: sie ließen sich alle bestechen. In alten Tagen sprachen die Besitzenden von Prinzipien; heutzutage spricht man von Interessen. Der Sinn ist derselbe, nämlich der: dafür zu sorgen, daß die, die etwas haben, mehr bekommen. Das ist ein Naturgesetz, von dem wir alle mehr oder weniger abhängig sind, sowohl Kammerherr Tithoff wie Ihr Schwiegervater.«

»Der Begriff Rechtschaffenheit besteht also nach Ihrer Ansicht nicht mehr?«

»Nein, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes.«

»Das ist empörend!«

»Freilich. Aber glauben Sie nur nicht, daß dieses Manko spezifisch dänisch ist. Das haftet dem modernen Leben der oberen Klassen überhaupt an. Wie gesagt, als ich sehr jung war, empörte es mich auch. Aber ich lernte bald mich damit abfinden.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich schob diese ganze emsige Betriebsamkeit von mir und suchte Zuflucht in dem, was rein und unbefleckbar ist. Ich erfreute mich am Schönen. Das kam ganz von selbst, denn es lag in meiner Natur, die glücklicher ist als die Ihre. Ich kehrte zu den Gütern zurück, die man genießen kann, ohne sie zu besitzen, ohne Eroberungs- und Erwerbsfreude. Mit anderen Worten: die ästhetische Freude. Nach und nach habe ich mich dazu erzogen, alles was mir begegnet unter ein und demselben Gesichtswinkel zu betrachten: als Objekt für eine Schönheitsbewertung. Es ist mir ganz gleichgültig, was die Menschen für sich selbst erreichen wollen. Ihr moralischer Habitus interessiert mich nicht; sie haben nur so weit Bedeutung für mich, als ich sie für eine ästhetische Wertschätzung ausnutzen kann. Sehen Sie nun zum Beispiel zwei solche Streber wie Jersey und Juhl. Es könnte mir doch nicht einfallen, mich über sie zu ärgern. Ich verfolge ihre Spur, genieße sie und habe im Lauf der Jahre recht viel Vergnügen an ihnen gehabt.«

»Ja, Sie, der Sie von Geburt an unabhängig gewesen sind und nur an sich selbst zu denken haben! Sie brauchen in keinem Kampf zu stehen, weder für sich, noch für andere. Sie stehen über der Sache, weil Sie ohne Ehrgeiz sind. Ich aber, der ich mir das Leben nicht ohne ein Ziel denken kann, nach dem ich strebe, ich muß das Gefühl haben, daß ich einen Platz ausfülle, daß ich anderen außer mir selbst, ja, rein heraus der Allgemeinheit nütze. Und wie sollte ich von einem erschwindelten Vermögen leben können? Können Sie nicht begreifen, daß meine Persönlichkeit Schiffbruch leiden würde?«

»Ja, ja, Ihre Denkweise ist zu unkompliziert. Das können Sie nicht, Sie würden dadurch die reine Linie in sich selbst verletzen, würden sich unfrei, unschön machen – und das würde mir leid tun.«

Falk blieb stehen und heftete seinen ruhigen, schweren Blick voll auf Svend. Es lag eine Innigkeit darin, wie Svend sie noch nie bei ihm gesehen hatte, und sie wärmte ihn ganz bis ins Herz hinein.

»Und dennoch,« fuhr er nach einer Weile fort, »ist es schwer für mich, Ihnen zu raten. Ich denke nicht daran«– er schnitt eine Grimasse –, »daß Sie mit meiner Kusine verheiratet sind, daß ich eigentlich auch die Sache von ihrer Seite sehen müßte – sondern ich denke daran, daß, wenn ich Ihnen nun raten würde, Ihrer eigenen Linie zu folgen, ohne nach rechts oder nach links zu blicken – in Schönheit zu leben« – Falk lächelte wehmütig, während er in die vergilbten Baumwipfel starrte –, »ja, denn darum handelt es sich –Schönheit! Wenn Sie dorthin schlendern, wo das Leben Sie hinhaben will, so geschieht es auf Kosten der Schönheit. Wenn ich Ihnen aber raten würde, Ihrer Linie zu folgen, und es würde schief gehen – denn bürgerlich gesprochen handelt es sich um Armut und Reichtum –, so weiß ich nicht, ob Sie stark genug sind, ob Sie nicht, wenn die Jahre vergangen und Kahlheit in Ihre Seele eingezogen ist, ob Sie sich dann nicht selbst – oder vielleicht mich – fragen werden, was Sie eigentlich gewonnen haben, ob es nicht doch vielleicht besser gewesen wäre, ein einziges großes Mal nachzugeben, anstatt sich die vielen kleinen bitteren Verzichte Tag für Tag im Leben eines armen Mannes abringen zu lassen. Sind Sie stark genug, sich durch Armut, bürgerlich gesprochen, zu Reichtum, persönlich gesprochen, hindurchzuringen?«

Svend sah ihn an, von seinen Worten ergriffen.

»Ja, das bin ich!« sagte er leise.

»Im übrigen aber,« fügte er hinzu, »jetzt bin ich der Praktische – erinnern Sie sich der Zeitung, die Kruse angriff? Sie war also auf der richtigen Spur. Diese Leute hatten recht. Und außerdem sind da Welten, Tithoff, Didrichsen und wahrscheinlich noch etliche andere, die über die Sache Bescheid wissen. Wenn ich nun das Vermögen, in dessen Besitz ich durch den Todesfall gekommen bin, annehme und als ein reicher Mann lebe, so bin ich ja nicht sicher, ob das Verbrechen nicht doch eines Tages entschleiert wird. An dem Tags, wo ich als Politiker Gegner dieser Leute würde, würde man mir den Boden unter den Füßen fortziehen. Also abgesehen von Idealismus und Rechtschaffenheit wird meine Stellung unhaltbar sein.«

Sie sprachen lange hin und her. Es begann zu dämmern. Falk blieb stehen und sah nach der Uhr; es war nach fünf.

»Hier gehen wir und verplaudern einen halben Tag wie die Dichter Steffens und Oehlenschläger!« sagte er lächelnd – »aber wir verhandeln nicht über die Schönheit und die Natur, sondern über die bürgerliche Gesellschaft und die Rechtschaffenheit. Das ist bezeichnend für die beiden Zeitalter und für das Jahrhundert, das dazwischen liegt. Damals bewertete man noch das Leben von dem Schatten des Kolosses in Weimar aus.«

Schließlich waren sie dennoch zu einem Resultat gekommen.

Falk hatte Svend geraten, seine Ehe mit Ellen fortzusetzen, unter der Bedingung, daß sie von seiner Arbeit allein leben wollten. Das Vermögen sollte unangerührt stehen bleiben und durch Zinsen unter einer von ihnen gemeinsam gewählten Administration vermehrt werden. Dann würde sicher der Zeitpunkt kommen, wo sie sich über eine richtige Anwendung einigen würden. Auf den Anteil der Kinder konnten sie ja doch nicht verzichten.

Svend hatte v. Falks Einladung, bei ihm zu Mittag zu essen, mit Freuden angenommen. Seit Kruses Tod hatte er sich nicht so leicht und im Gleichgewicht befunden, wie nach dieser Aussprache.

Nach dem Mittagessen machten sie es sich bequem. Falk streckte sich auf die Chaiselongue, Svend setzte sich auf das alte Sofa. Der Kaffee stand auf einem kleinen venezianischen Tisch zwischen ihnen. Der dunkelgrüne Schirm der Lampe dämpfte das Licht im Zimmer. Nur auf die Papiere des Schreibtisches fiel der Schein scharf und weiß.

Es klingelte. Die Haushälterin kam mit der Abendzeitung herein.

Svend erwachte aus seinem Halbschlaf. Die Zeitung lockte ihn immer. Er setzte sich an den Schreibtisch und entfaltete das Blatt.

Seine Augen suchten aus alter Gewohnheit die offiziellen Mitteilungen. Da stand unter »Ernennungen«, daß Brynch pensioniert und Konferenzrat geworden und Jersey zu seinem Nachfolger ernannt sei.

»Sehen Sie mal her!« rief Svend; bevor er aber noch gesagt hatte, um was es sich handelte, fiel sein Blick auf Galtens Namen. Auch er war erledigt, war Justizrat geworden, und sein Nachfolger war erwählt

Es war Juhl!

Falk sah gleich, daß etwas nicht in Ordnung sei.

Svend sagte nichts. Er saß und starrte mit offenem Mund auf das vor ihm liegende Blatt.

Falk sah ihm über die Schulter. Auch er hatte geglaubt, daß Svend Galtens Stelle bekommen würde, obgleich er von dem Versprechen des Ministers, das Svend getreulich geheim gehalten hatte, nichts wußte.

Jetzt, da das Versprechen gebrochen war, fand Svend keinen Grund zu schweigen.

»Tithoff ist bei mir gewesen und hat mir Galtens Stelle versprochen. Er sagte, daß sie wahrscheinlich zu einem Bürochefposten gemacht werden solle.«

»Wann war das?« fragte v. Falk interessiert.

»Kurz nach der Beerdigung. Wir saßen in Kruses Zimmer und sprachen von seinem Archiv. Er forderte mich auf, zu ihm zu kommen, wenn ich in den hinterlassenen Briefen Sachen fände, die ich nicht verstehen würde.«

»Und Sie unterließen es?«

»Ja. – Am selben Abend machte ich die Entdeckung.«

»Das ist Welten!« sagte v. Falk und ging nachdenklich im Zimmer auf und ab.

»Welten?«

»Du lieber Gott, Sie wissen doch, daß er alle Fäden in seiner Hand hält. Er wußte noch besser als Tithoff, was in Kruses Schrank zu finden war. Und statt den Mund zu halten und zu ihm zu gehen, um sich die Briefe abkaufen zu lassen, handelten Sie auf eigene Rechnung, schlugen Lärm, gingen zu Didrichsen und verrieten das Geheimnis. Glauben Sie, daß man einen Menschen Ihres Schlages befördert? – das hieße ja eine Schlange am Busen nähren. Sie haben nicht verstanden, sich vor den »Interessen« zu beugen. Sie passen nicht in das System hinein, mein lieber Byge. Ja, so sieht die Wirklichkeit aus – Sie Ritter von der guten Sache – und dies war Ihre erste Ohrfeige. – Was machen Sie jetzt?«

Svend war aufgesprungen. Er preßte die Hände um die Stuhllehne, daß seine Finger ihn schmerzten. Er sah bei Falks Worten den ganzen Zusammenhang, sah in blendender Klarheit, was er geahnt und was ihm nicht hatte einleuchten wollen. Er fand das Zentrum: das war Welten, der Allmächtige, der hinter allen stand. Und wieder Welten – es war das Geld. »Die Interessen«, wie v. Falk es genannt hatte.

Tüchtigkeit in seinem Fach, Anciennität, Rechtschaffenheit, gute Familie, gegebenes Versprechen – alles das, an das er und die anderen Naiven glaubten, das waren nur Vorwände, die als Hebel in der Mechanik gebraucht, Schirmwände, hinter denen die wahren Motive, die den Interessen dienten, versteckt wurden.

Nein, nein, und tausendmal nein!

Er versuchte seinen Willen in einem Brennpunkt zu sammeln, aber er konnte nur das eine finden, daß er sich nicht unter das System beugen wollte.

Er rang nach Atem.

»Was ich jetzt mache?« rief er und schlug auf die Stuhllehne – »das will ich Ihnen sagen Falk. Ich stehe auf der Seite der Prinzipien, auf der Seite des Rechtes. Und wissen Sie, was ich will? – ha, ha – wissen Sie es? – Denn jetzt weiß ich es. Ich will sie entschleiern. Ich will den Mechanismus bloßlegen. Jetzt soll es ernst werden, kann ich Ihnen sagen. Oh, ich will –«

Er gestikulierte mit den Armen und raste durch das Zimmer, während v. Falk ihn still und vergnügt betrachtete.

»Recht so, Byge! – So soll es sein! Kopf hoch. Ich glaube dennoch, daß Sie stark genug sind, Ihre Linie durchzuhalten. Oh, das wird wohltuend sein!«

Er rieb sich die Hände und hielt Svend bei den Schultern fest, als er ihm mit starken Augen und hocherhobenem Kopf entgegenkam.

Am nächsten Tage schrieb Svend seine Bedingungen an Ellen. Er schrieb knapp und fest, wie ein Mann, der endlich einen Mittelpunkt gefunden hat.

Bereits tags darauf kam die Antwort.

Ellen schrieb, ebenso knapp und ebenso fest, daß es ihr jetzt durch die Trennung klar geworden sei, was sie lange geahnt habe, daß sie ihn nicht liebe und daß sie nie seine Frau hätte werden sollen. Sie seien viel zu verschieden. Im Grunde begreife sie nicht, weshalb sie sich damals in ihn verliebt habe. Es sei wohl nur die Pariser Luft gewesen.

Da sie unter allen Umständen Scheidung wolle, falle die Frage, ob sie von seiner Arbeit allein leben wolle, von selbst fort. Sie finde diese Frage nicht nur lächerlich, sondern im höchsten Grade kränkend für sie und das Andenken ihres teuren Vaters. Svend könne sich darauf verlassen, daß sie nicht auf das Vermögen, das sie geerbt habe, verzichten wolle, weder für sich noch für ihre Kinder. Sie wolle diese schon lehren, ihren Großvater zu ehren.

12

Einige Tage nach dem endgültigen Bruch mit Ellen machte Svend zeitig Schluß in seinem Kontor im Ministerium, wo er jetzt allein saß. Juhl war in Galtens Kontor eingezogen.

Er ging in die Portierloge des Ministeriums. Dort saßen einige Boten und ordneten die Post.

Der eine, der ihn kannte, erhob sich und kam ihm entgegen. Svend konnte ihm ansehen, daß er wußte, weshalb er kam. Daß Svend Galtens Posten nicht bekommen hatte, war offenbar auch hier verhandelt worden.

»Glauben Sie, daß ich sofort Audienz bekommen kann?« fragte er.

»Ich weiß nicht recht!« meinte der Bote gedehnt.

»Melden Sie mich!« sagte Svend kurz und gab ihm seine Karte.

Der Bote wog sie einen Augenblick in der Hand. Dann verbeugte er sich und sagte:

»Der Direktor der Staatsschulden ist drinnen. Wenn er fertig ist, werde ich Ihre Karte hineinbringen, Herr Assessor.«

Bald darauf kam ein kleiner, dickleibiger Herr mit gutmütigen, schläfrigen Augen aus dem Ministerzimmer. Er hatte noch das höfliche Beamtenlächeln auf den Lippen und nickte im Vorbeigehen auch Svend zu, obgleich er ihn gar nicht kannte.

Der Bote ging mit der Karte hinein und kam einen Augenblick später zurück.

»Bitte!« sagte er und hielt die Tür offen. Svends Herz schlug laut, als er durch die doppelte Flügeltür in den hohen geräumigen Saal eintrat, wo Kammerherr Tithoff ihm mit ausgestreckter Hand vom Fenster entgegenkam.

Sie hatten sich seit Tithoffs Besuch in Kruses Hause nicht gesehen.

»Guten Tag, guten Tag!« sagte Tithoff und drückte ihm leicht die Hand. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Tithoffs runde Augen hatten Svend nur flüchtig gestreift. Aber der zurückhaltende Ausdruck darin zeigte Svend, daß er erwartet und die Antwort bereit sei.

Svend ging ohne Umschweife auf die Sache los.

»Gestatten Exzellenz mir die Frage, ob Sie sich erinnern, mir bei einem Besuch in meines Schwiegervaters Hause, unmittelbar nach der Beerdigung, die vertrauliche Mitteilung gemacht zu haben, daß Sie mich zu Expeditionssekretär Galtens Nachfolger ausersehen hätten?«

Kammerherr Tithoff hatte mit geduldig geneigtem Kopf, halbgeschlossenen Augen und aufmerksam lauschend dagesessen. Jetzt legte er sich in den Stuhl zurück und blickte suchend zur Decke.

»Ja, wo Sie es sagen – ich machte Ihnen gewiß eine vertrauliche Mitteilung über die Veränderungen, die nach Galtens Abgang vorgenommen werden sollten.«

Tithoff kniff die Augen pfiffig zusammen, sah von der Seite auf ihn herab und dämpfte seine Stimme:

»Das war nicht ganz korrekt von mir, wie Sie wohl wissen, und darum ist es eigentlich nicht hübsch von Ihnen, mich daran zu erinnern.«

Als Svend, statt das Lächeln zu erwidern, die Lippen fest aufeinander preßte, erlosch auch das Lächeln des Kammerherrn. Er strich sich über die Stirn und fügte hinzu:

»Ich erinnere mich nicht genau, wie es zuging. Wahrscheinlich war es unter dem Druck der Gemütsstimmung, in die der schmerzliche Verlust meines alten Freundes, Ihres unersetzlichen Schwiegervaters, mich versetzt hatte.«

Der Blick des Kammerherrn fiel zum erstenmal voll auf Svend, während er die Worte »Freund« und »unersetzlich« betonte. Svend irrte sich nicht, es stand ein deutliches »Ich weiß Bescheid und werde es Ihnen gedenken« in den runden, sonst so gutmütigen Augen zu lesen. »Ich bin eine leichtbewegte Natur,« fuhr Tithoff fort, »und habe sicher das Bedürfnis empfunden, Kruses Andenken zu ehren, um Ihnen, der Sie Kruse noch soviel näher gestanden und seinen Verlust sicher noch schmerzlicher empfunden haben, eine Freude zu machen.«

Wieder trafen die Augen des Kammerherrn Svends Blick.

Er wollte antworten, Tithoff aber kam ihm zuvor:

»Apropos, Herr Byge, was macht Ihre Frau, meine kleine Freundin?«

Svend fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Die Worte enthielten in ihrer Harmlosigkeit einen direkten Angriff, eine Kritik seines Privatlebens, die er sich nicht gefallen lassen wollte.