Erster Teil

1

Niemand weiß, was aus ihm werden kann.

So ahnten auch die Bewohner von Berlin einmal nicht, in wie hohem Maße man sie zu Weltstädtern bestimmt hatte.

Selbst als draußen schon die Stränge der Eisenbahn die Welt zu verstricken begannen, barg sich die grüne Stadt an der Spree noch arglos im Netz der Behaglichkeit.

Neben den niedern Giebelhäusern reiften Kohl und Johannisbeeren. Unter schattigen Bäumen trank man seinen Milchkaffee. Und zwar in langsam bekömmlichen Schlücken. Tief waren die Tassen, groß die Semmeln, lang die Pfeifen. Ruhig die Straßen, friedlich die Plätze. Dick und fest die Grenzmauern.

Keinem Berliner wäre es damals eingefallen, durch die Luft fliegen zu wollen. Gemessen und sorgsam bewegte man sich über das holprige Pflaster. Im Sommer hatte man Gras und Wiesenblumen auszubiegen. Im Winter verboten Schlamm oder Glatteis jede übertriebene Eile. Keinem kam es in den Sinn, sich ängstlich zu berechnen, daß eine einzige Minute sechzig kostbare Sekunden umschloß. Aus dem einfachen Grunde, weil man von den Sekunden überhaupt noch keinen Gebrauch machte.

Obwohl man sonst durchaus nicht verschwenderisch war. Auch wenn man das Geld dazu hatte, kaufte man nicht mehr, als man brauchte. Man verlangte von den Menschen sowie den andern nützlichen Gegenständen nicht, daß sie schön und glänzend waren, sondern praktisch und dauerhaft. –

In jenen Tagen war es, wo beinahe jeder in Berlin wußte, daß es die besten Kleiderstoffe bei Klaus Spreemann am Dönhoffplatz gab.

Das war einem ebensogut bekannt, wie man wußte, daß mittwochs und sonnabends Markt war. Oder daß man seine Fische vor der Spittelkirche kriegte.

Alles Gute aber kündet sich vorher an. Man roch die Fische schon, bevor man am Ende der Leipziger Straße war. Man bemerkte Spreemanns Laden, bevor man den Dönhoffplatz erreichte. Denn von dem Firmenschild über der Tür lächelte ein eleganter Herr weit über den Platz hinaus. Im besten Mannesalter, in großkarierten Beinkleidern, langem Rock, gelockten Bartkoteletten und breitkrempigem Zylinder zeigte er mit einem zierlichen Spazierstock auf die zwei bedeutungsvollen Worte: Reell und billig.

Hinter ihm stand seine Familie. Eine hübsche Dame mit zwei wohlerzogenen Kindern. Wie sich's gebührte, in sehr viel kleinerem Format als der Hausherr. Aber ebenfalls gut und gediegen angezogen. Denn auch aus diesen sechs hellblauen Augen sprach es bescheiden, aber deutlich: Reell und billig.

Hatte man Klaus Spreemanns Laden betreten, wußte man noch mehr, daß man hier am rechten Ort war, um sich gut und würdig zu kleiden. Über dem Ladentisch, wo neben Elle und Schere Herrn Spreemanns lange Pfeife glimmte, hing ein angenehm belehrender Spruch. Wie auf einem Haussegen stand da in goldenen Buchstaben:

In London nicht, noch in Paris,
In Brüssel nicht, noch Wien,
Kleiden Monsieur sich und Madame
So schick wie in Berlin.

Jetzt wußte man es also. Jeder Käufer richtete sich straffer auf, begann ängstlich an Krawatte oder Seidenband zu nesteln, wenn seine Blicke mit dem Buchstabengold zusammentrafen. Denn die Berliner waren zu allen Zeiten pflichtgetreu ...

Zwischen dem Wandspruch und dem Käufer aber bewegte sich Herr Spreemann selbst. Immer lächelnd und in unermüdlichem Eifer. Seine kurzen, stämmigen Beine trabten zwischen Regal und Ladentisch rastlos hin und her. Wie die Sonne lief er seine täglichen Kilometer genau auf derselben Bahn ab.

Unverdrossen schleppte er seine Waren herbei. Lobte den hellgelben Nanking. Pries die karierten, echt englischen Stoffe – die alle in dem nahen Sachsen gewebt waren, das wahrlich immer noch entfernt genug lag. Mit gespreizten Fingern bauschte er Mull und bunten Tarlatan auf. Fiel draußen der Schnee, riet er dringend zu den Schlafrockstoffen, warm und geblümt. Und holte schon den Samt zu ihrer Garnierung. Sogar Troddeln und Quasten gab es in jeder Couleur. Dicht neben dem Kachelofen klaffte der vollgehäufte Kasten. Ganz nach Belieben konnte sich jeder daraus auswählen, was ihm gefiel.

Auf dem hohen Regal, unter blumigem Vorhang, verbarg sich die beste, gediegenste Seide. In den Mauern Berlins gewebt. Steif wie ein Brett. Und nach Klaus Spreemanns tröstlicher Versicherung: Weit dauerhafter als ein Menschenleben.

Wenn man von dieser Seide etwas abhandeln wolle, stieß Klaus Spreemann einen kleinen Pfiff aus. Wie wenn er Zug auf einen hohlen Zahn bekommen hätte. Seine kurzen Finger fuhren Aufruhr stiftend in die enggedrängte Schneckenherde der braunblonden Locken, die seinen dicken Schädel überkrausten. Oder er knebelte seine rotbraunen Bartkoteletten, die mit denen auf dem Firmenschild genau übereinstimmten. Aber kein Wort des Verdrusses entfuhr seinen Lippen. Er lächelte weiter. Geduld und Ausdauer sind die Wege zum Reichtum. Und reich wollte Klaus Spreemann werden, solange er denken konnte.

Auch Hochmut wäre nur ein Hindernis gewesen. Darum führte Klaus Spreemann neben den vornehmen Stoffen auch die einfachsten. Neben der Ladentür, die an Markttagen weit geöffnet war, stapelten sich ganze Ballen von Flanell und Barchent auf. Selbst das lackglänzende Wachstuch für die Schutenhüte der Milchfrauen brauchte sich nicht zu verstecken.

Wie auf dem Rathaus waren alle Stände vertreten. Daher konnte hier auch jeder Stand etwas Passendes finden.

Und das wollte Klaus Spreemann.

Jeder Mensch hat seinen Wert. Jede Ware und jedes Geldstück. Darum machte Klaus Spreemann keinen Unterschied zwischen seinen Käufern. Für alle dasselbe Lächeln. Für alle die gleiche Fixigkeit. Ganz gleich, ob es die Madame Bankier mit dem Schildpattlorgnon oder die Hökerfrau mit der Marktkiepe war.

Alles nach einer Elle, sagte er lächelnd, wenn Geld und Schere klapperten und er abwechselnd Seide, Flanell und Wachstuch rasch, reichlich und reell abmaß und durch einen flinken Galoppritt der blanken Schere vom Stück schnitt.

Gleichmäßig tief fielen dabei seine schnellen Verbeugungen aus, wenn die Glocke an der Ladentür meldete, daß ein Käufer kam oder ging.

Denn Klaus Spreemann hatte von früh an gelernt, daß man dem Geld nicht seine Herkunft ansieht.

Und vielleicht nicht nur dem Gelde ...

Der Weg zwischen den gefüllten Regalen und der nicht leeren Kasse war jetzt schmal und kurz. Die Straße, die dahin geführt hatte, war lang gewesen ...

Obwohl in Klaus Spreemann echtes Berliner Blut floß, konnte er doch nicht behaupten, daß seine Wiege an der Spree gestanden hatte, denn er hatte nie in einer Wiege gelegen. Auf einem alten Sack, der mit Lumpen aller Art gepolstert war, hatte er sich hineingeschlafen ins emsige Leben. Und dieses leicht bewegliche Lager war heute in dieser Herberge aufgeschlagen worden und morgen in jener. Denn Klaus Spreemanns Vater Friedrich wußte, warum es in den Mauern die Tore gab. Sein bunter Laden war die Landstraße gewesen.

Er hatte die neuen, glatten Stoffe, die sein tüchtiger Sohn jetzt führte, bewundernd und kopfnickend befühlt. Denn er selbst hatte sein Leben lang nur mit alten Kleidern gehandelt. In der Stadt erstand er sie. Vor den Mauern, in den Dörfern verkaufte er sie. Und mit Profit. Von ihm hatte es Klaus geerbt, daß man die Käufer nicht wählen, sondern nehmen sollte, wie sie kamen.

Er hatte mit vollem Eifer an den breiten Schanzen mitgeschaufelt, die man dem Erbfeind vor das Brandenburger Tor gebaut hatte. Aber als die Franzosen dann doch kamen, hatte er mit ihnen Geschäfte gemacht. Und keine schlechten. Denn wenn solch lustiger Welsche auch außen ein Franzmann sein mußte, so konnte er unter der Uniform oft genug ein altes Berliner Wollhemd gebrauchen, das wenig kostete, so gut wie neu aussah, aber an den deutschen Winter gewohnt war. Und ebenso gereichte es keinem zum Schaden, wenn sich unter feindlichen Stulpstiefeln Strümpfe versteckten, die irgendeine kreuzbrave Berlinerin einmal gestrickt hatte. Wenn sie es auch nicht geahnt hatte, daß sie damit einem fremden Kriegsmann die Füße wärmen würde. Denn niemand weiß, was er tut.

Auch ein Feind ist schließlich ein Mensch. Besonders wenn er nicht knausert. Ja, wenn's sein soll, kann uns ein Feind mehr nützen als ein Freund. Die Russen kamen als treue Verbündete. Aber sie wärmten sich mit Branntwein und Schnaps, statt mit alten, durchaus noch gediegenen Kleidern.

Ein Patriot jedoch bleibt ein Patriot trotz alledem. Er versteht, daß man das persönliche Glück zur Kriegszeit zurückstellen muß.

Friedrich Spreemann war damals Bräutigam gewesen, aber niemals hätte er früher geheiratet, als bis der Herr Napoleon wieder nach Haus gezogen war.

Denn diese fremden Soldaten hatten im Liebeshandel einen großen Kredit bei den Jungfrauen. Wär es nach den Mädchen gegangen, hätte Preußisch-Berlin bald kapituliert. Das war ein Gekicher, wenn die Herren Franzosen ihre raschen Komplimente machten. Man verstand nur wenig davon. Aber so viel merkten die schlauen Jüngferchen doch, daß sich's in dieser beweglichen Sprache dreimal so geschwind schwatzen ließ als im reellen, gediegenen Deutsch. Das gefiel den Plappermäulern natürlich.

Gefallen aber ist gegenseitig.

Die Beauté ist international, sagte der spitzbärtige Hauptmann, wenn er die Mädchen küßte.

Nein, das war keine Konkurrenz für einen soliden Geschäftsmann.

Ehe muß auf sicheren Grund gebaut sein. Erst als Friede im Land war und die Straßen wieder den Preußen allein gehörten, hatte sich Friedrich seine Weggenossin geholt. Sie diente auf einer Ackerwirtschaft und war das Leben im Freien gewohnt. Sie hatte versprochen, sich weder vor Wind noch Wetter zu fürchten. Besonders nicht an der Seite ihres Fritz. Liebe, Lebensmut und Gesundheit waren ihr Brautschatz gewesen.

Aber als ein Ehejahr herum war, hatte sie dazu als erstes greifbares Besitztum den kleinen Klaus erhalten. In der Nikolaikirche war er mit Spreewasser getauft worden. In eine alte, zerschossene Pferdedecke des großen russischen Reichs eingewickelt, ward er dem Schutzpatron des Handels, dem heiligen Nikolai, in besondere Obhut gegeben ...

Er konnte einen Schutzpatron gebrauchen. Denn die Mutter sollte er nicht behalten. In der Ehe geht mancher Brautschatz verloren. Der von Bertha hatte nur ausgereicht, bis der kleine Klaus laufen und sprechen konnte. Derselbe Winter, der ganz Preußen die große Freiheit brachte, hatte auch sie von allen Lasten befreit.

Auf schiefgelaufenen Hacken war Spreemann hinter ihrer Bahre hergerannt. Es ging im Trab. Berlin erwartete die Rückkehr seiner Sieger, Fahnen, Bänder und Banner wimpelten. Festlich gekleidete Menschen füllten die Straßen. Die Träger waren von einer Seitengasse in die andere geeilt, um nicht mit ihrer schweren Bürde zu stören. Aber man war überall im Wege.

Spreemann hatte niemandem übelgenommen, daß man für seinen Schmerz keinen Platz hatte. Wer auf der Landstraße lebt, weiß, daß jeder an sich selbst denken muß. Und schon auf dem Rückweg vom Kirchhof hatte er wieder sein Warenlager auf der Schulter.

Auch neue Sieger konnten alte Kleider gebrauchen.

2

2

Manches aus dieser längst vergangenen Zeit spukte noch in Klaus' Erinnerung. Fetzen ohne Zusammenhang, die aus Erzählungen des Vaters übriggeblieben waren. Er selbst besann sich erst auf die Zeit, die er bei der Latrinen-Jule verbrachte. Diese lange, hagere Frau, die Mutterstelle an ihm vertrat, bis die Landstraße sein Heim wurde. Sie stand im festen Solde der Stadt Berlin. Sie übte das nützliche Amt aus, das man jetzt den finsteren Röhren der Kanalisation überläßt. Sie trug das Irdischste der Menschen aus der Stadt hinaus auf die Felder. Kein Wunder, daß sie nicht nach Flieder roch. Und Unrecht, daß man seinen Spott mit ihr trieb. Aber man tat's. Obwohl es Beamtenbeleidigung war.

Wenn am Abend alle miteinander durchs Tor der Herberge drängten, kehrte auch Jule heim. Denn sie erfüllte ihren Beruf unter dem Schleier der Dämmerung.

Kaum aber, daß sie zur Tür hereingeschwenkt war, hagelte Gespött auf sie. Man lobte ihr feines Parfüm oder fragte, ob sie auch nichts von der köstlichen Ware, die ihr anvertraut worden, beiseite geschmuggelt hätte.

Aber auch sie war aus Berlin. Sie verstand zu antworten. Sie rief, daß sie alle zusammen das Maul halten sollten. Der Mist sei am ganzen Leben das wichtigste. Und sie würden sich tüchtig wundern, wenn's einmal alle damit war. Denn Jule war eine gebildete Frau, die von der Landwirtschaft etwas verstand.

Sie also wandte den Rest ihrer verkümmerten Gefühle dem kleinen Klaus Spreemann zu. Besser etwas, als gar nichts. Das konnten beide voneinander sagen. Klaus bekam zweimal am Tage eine warme Suppe und spielte dafür geduldig mit alten Knöpfen. Und Jule war froh, nicht allein zu sein. Sie hatte sich seit langem ein Hündchen gewünscht. Das war etwas Ähnliches ...

In der Herberge aber wurden die Leute nicht alt. Eines Tages war's vorbei mit der Jule. Es war der gewohnte Winterschnupfen gewesen. Von dem sie zu sagen pflegte, daß er drei Tage komme, drei Tage stehe und drei Tage gehe. Wohl fünfzigmal hatte sie recht behalten mit dieser Diagnose. Aber diesmal kam's anders. Nicht der Schnupfen ging, sondern die Jule. Doch ehe sie ihre übernommene Mutterpflicht aufgab, steckte sie dem Vater Spreemann ein kleines, schmieriges Säckchen zu. Einige sorgsam versteckte Groschen klirrten erschreckt darin auf. Für Klaus sollten sie sein. Begraben konnte die Stadt Berlin ihre treue Beamtin. Dienst gegen Dienst. Dreimal benieste Jule noch diese Wahrheit. Dann war sie ihres Berufs und allen Gespöttes enthoben. Sie sah zufriedener aus als je im Leben. Klaus' Vater aber steckte das Groschensäckchen tief in den Stiefelschaft und wunderte sich, daß selbst am einfachsten Geld kein schlechter Geruch bleibt.

Von dieser Stunde an wanderte Klaus mit dem Vater mit. Sein sehnlichster Wunsch war, ebensoviel aufbuckeln zu können wie dieser. Ein dickes Bündel unter dem linken Arm, ein gleiches auf der linken Schulter, das schwerste aber in der rechten Hand. Bald konnte er's. Schwer beladen hielt er Schritt, in faltigen Hosen und einem alten Männerrock. Die Stiefel so weit und groß, daß die Füße darin immer noch einen Schritt allein für sich machten. Trotzdem sie doch reichlich genug zu laufen bekamen. Seit dem Tod der Mutter hatte Klaus keine Kleider mehr getragen, die für ihn selbst bestimmt waren.

Begreiflich, daß er manchmal mit sämtlichen Packen haltmachte, wenn er einen Altersgefährten in neuen Kleidern sah; daß er weit hinter dem Vater zurückbleiben konnte, um mit weit aufgerissenen Augen zuzustarren, wie ein Dickbauchiger, der des Vaters Angebot ärgerlich abgewinkt hatte, seinem Hund ein großes, richtiges Fleischstück zuwarf.

Ja, reich mußte man sein. Reich. Die Reichen waren die Starken.

Und des Abends, wenn Vater und Sohn den Stadttoren zueilten und rings in den dunklen Wiesen die Kobolde kauerten, träumte Klaus, daß er schon solch ein reicher Mann sei. Der im Sommer im Schatten sitzen und süße Getränke gegen den quälenden Durst trinken konnte. Der im Winter durch die Scheiben der warmen Stuben die Schneeflocken zählte. Der sogar seinen Hund mit gebratenem Fleisch füttern konnte, das manche Jungen nicht einmal sonntags bekamen.

Und blinkten die ersten Lampen auf, war die Wirklichkeit wieder da, sagte Klaus es sich immer aufs neue: Reich muß man sein. Reich. –

Dieser zähe Wunsch war sein erstes Kapital, das ihm Zinsen brachte wie jedes Vermögen.

Erstaunlich schnell begriff Klaus, die alten Hosen und Jacken so vorzulegen, daß Flicke und Risse auf der andern Seite waren; verstand er mehr zu verlangen, als selbst der Vater als Bezahlung wünschte; lernte er, daß Kunden angelächelt sein wollten, gleichviel, ob man fror oder schwitzte.

In den ersten Jahren seines Umherwanderns sprach man noch viel vom Krieg. In den Schilderungen von Raub- und Beutezügen hockte der Neid über das rasche Soldatenglück. Klaus wünschte sich neue Kriege. Er wollte Soldat werden. Gewiß, es würde Gefahr geben, aber auch ebensoviel Wege zu Geld und Glück.

Wenn er dergleichen dachte, machten seine Beine so große Schritte, daß sie den humpelnden Füßen des Vaters lange vorauskamen.

Aber es wurde nicht wieder Krieg.

Es kamen bessere Zeiten für die Berliner. Gute Tage. Sehr gute Jahre. Aus der Ruhe des Friedens hob sich der Wohlstand. Auf blutgedüngtem Boden wogte Erntesegen.

Neue Zeiten – neue Kleider.

Mancher, der nie eine neue Jacke getragen, konnte sich, wenn's ihm gefiel, jetzt zwei auf einmal anmessen lassen.

Viele, die früher jeden Lumpenfetzen verkauften, um einen Sechser in die leere Tasche zu kriegen, erinnerten sich gar nicht mehr, dergleichen Handel getrieben zu haben, und klapperten mit Geld im gut gefütterten Rock.

Friedrich Spreemanns Geschäft war gehemmt.

»Die Konjunktur der Landstraße steht faul.« Er sagte es immer häufiger, unter der rauchenden Funzellampe am Wirtshaustisch. Und manches vom Hunger modellierte Gesicht nickte ihm schweigend Beifall.

Sonderbar war nur, daß Spreemann bei solchen Reden wohl schmerzlich das Gesicht verzog, doch nicht sonderlich von Sorgen gehetzt schien.

Man kann auch ein Übel bedauern, ohne selbst davon betroffen zu sein. Denn nicht jeder ist ein Egoist.

Viel stärker als die Zeit drückten Friedrich Spreemann seine hohen, gefüllten Stiefel. Selbst wenn er die Füße still unter dem Tisch hielt, geschweige denn bei jedem Schritt – fühlte er die harten Taler, die Rubelchen und Napoleons, die sich in den Tagen der guten Konjunktur dort angesammelt hatten. Und unter der linken Zehe, in der tausend Stecknadeln stachen, wenn sich das Wetter ändern wollte, und die er darum sein Barometerchen nannte, lagen die Scheine. Die ersten Zettel, die der preußische Staat seinen Bürgern gegen Bargeld gegeben. Das erste Papiergeld.

Der Mensch ist immer mehr, als sein Nachbar von ihm glaubt.

Der siegreiche preußische Staat war Friedrich Spreemanns Schuldner.

Und an Klaus sollte er zurückzahlen.

Friedrich Spreemann war zu sparsam und praktisch, um von seinen Schätzen noch etwas für sich auszugeben. Er war ein zu gewiegter Geschäftsmann, um nicht zu wissen, daß ein verbrauchtes Leben nichts wert war. Abgetragene Sachen auszubessern, das lohnte sich nicht.

Aber das Leben von Klaus war noch neu, war ein glattes, gediegenes Stück, aus dem sich noch alles schneidern ließ. Er konnte in Wirklichkeit haben, was sich sein Alter nur gewünscht hatte.

Klaus war pfiffig, gut und geduldig. Er würde erst einen kleinen Laden haben. Dann einen größeren. Und schließlich einen großen. Er würde eines Tages so viel Steuern zahlen, daß ihm der König gnädig zuwinken würde, wenn er ihm Unter den Linden begegnete. Mancher, der das sieht, wird dann vielleicht sagen: Sein Vater war noch Händler. Allerdings ein tüchtiger ...

So hatte auch Friedrich Spreemann seine heimlichen Träume. Trotz seines guten Geschäftssinns naschte auch er von dieser goldenen Arznei. Sie kostete gar nichts. Und war doch das beste Mittel gegen knurrenden Magen und wunde Füße.

Klaus war nicht wenig erstaunt gewesen, als der Vater eines Tages mit ihm in eine Schneiderstube bog und dem Schneider befahl, dem Jungen hier Hose und Rock anzumessen.

In der warmen Werkstatt saß, neben dem Ofen, des Schneiders Vater und hämmerte Schuhe. Da waren zwei schöne Gewerbe friedlich beisammen.

»Ihr habt's gut«, sagte Friedrich Spreemann, als er sich ächzend auf einen Stuhl plumpsen ließ. Seine tränigen Blicke blinzelten von Schuster und Schneider zu Klaus hinüber und dann an sich selbst nieder.

Ja, ja. Um das Stubenhocken zu lernen, war nicht mehr Zeit genug übrig. Er hatte zu viele Menschen dem Leben adieu sagen sehen, um nicht zu wissen, was die dicke Schwere in Kopf und Beinen bedeutete.

Der Bader hatte schon recht: Fünfzig Jahre lang immer zuwenig Brot und immer zuviel Schnaps, das rächt sich. Es geht alles ganz natürlich im Leben zu ...

Der Schneider – ein Stück Kreide hinterm Ohr, zwei Stecknadeln im Mund, die Elle in der Hand – drehte kichernd mehrmals Klaus herum, bevor er mit dem Maßnehmen begann.

Er sagte, daß er das junge Herrchen gar nicht herausfinde aus dem großen Rock, und meckerte wieder.

Aber der Alte am Ofen, der neugierig zusah, stocherte mit dem gebogenen Zeigefinger in die Luft und krächzte, daß man dem Bürschchen da noch manchen neuen Anzug anmessen werde. Hunger und Entbehrung machen die Schlauköpfe.

»Das ist wahr«, sagte der Schneider, und sah sich im Spiegel an.

Kleider machen Leute. Spreemann hatte es oft genug versichert, wenn er seine Waren anpries. Überzeugt von der Wahrheit dieser Worte aber wurde er erst, als er seinen Klaus im neuen Anzug sah. So wohlgewachsen und stämmig hatte er sich seinen kleinen Ableger gar nicht gedacht. Er hatte alle Mühe, seinen Stolz zu unterdrücken.

Denn erst hieß es, Schneider und Schuster noch einige Silbergroschen vom Preise abzuhandeln. Freude braucht nicht gleich übermütig und verschwenderisch zu machen.

Alles zu seiner Zeit. Stolz und Wichtigkeit breiteten sich erst über sein Gesicht, als man den niederen Laden betrat, wo Klaus als Lehrling eintreten sollte.

Hier begann Spreemann seinen Sohn aus vollem Halse zu rühmen. Es wurde ihm leicht. Es war eins der seltenen Male, daß ihm das Lob über den angepriesenen Gegenstand von Herzen kam. Es war das erstemal, daß er etwas anzubieten hatte, das nicht nur wie neu aussah, sondern auch wirklich nicht abgenutzt war.

Doch Klaus' künftiger Prinzipal, der in den Kriegsjahren eine Zeitlang Spreemanns Weggenosse gewesen, unterbrach ihn lächelnd. Er klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Er ist dein Sohn, Spreemann, das genügt mir.«

So trennten sich die Wege von Vater und Sohn. Spreemann wanderte allein hinaus ...

Klaus fegte den Laden, verschnürte Pakete, sprang schnell über die Straße, um seinem Herrn das heimliche Schnäpschen zu holen, zog die Wassereimer aus dem Brunnen und kaufte Eier und Brot für die Frau Prinzipalin. In der Mittagsstunde aber, wenn der Herr Chef sein Nickerchen machte, durfte er selber die Kunden bedienen und den Stoff an der Elle abmessen.

In seiner Schlafkammer war es nicht wärmer als draußen auf der Landstraße. Im Winter war das Wasser in der Kanne gefroren. Wie Feuer brannte das Eis nach dem Waschen auf Gesicht und Händen. So lebte Klaus – trotz aller Bescheidenheit – auf vertrautestem Fuß mit zwei der mächtigsten Elemente.

Am Nachmittag kam sogar etwas Sonne zu ihm. Wenn auch nicht auf dem geradesten Wege. Ehe sie unterging, brach sich ihr blankes Licht in den gegenüberliegenden Fenstern. Die warfen einen warmen Widerschein hinüber zu Klaus. Und oft genug brockte er sich sein Vesperbrot bei schönstem Sonnenschein in die dampfende Tasse.

Zu all diesem bekam er in jedem Monat noch zwei runde Taler ausgezahlt.

Als er sie zum ersten Male erhalten hatte, wollte er sie dem Vater geben, der ihn des Sonntags fast immer besuchte, denn er wußte, wieviel Geld seine neuen Kleider gekostet hatten. Aber Spreemann wehrte würdig ab. Er sagte:

»Du hast nun Anzug und Schuhe. Du wirst also bald an ein Hemd denken müssen. Und über kurz oder lang sogar an ein zweites. Auch die beiden Paar Strümpfe werden nicht ewig reichen. Verschwende nicht, aber kaufe, was sich als nötig erweist.«

Als er dann in der Dämmerung des Sonntags durch die ruhigen Straßen, vorbei an den erhellten Fenstern der Giebelhäuser, dem Stadttor zuwanderte, wo seine Herberge lag, blieb er häufig stehn, um heftig mit dem Kopf zu nicken. Auf Schritt und Tritt war ihm etwas anderes eingefallen, was sich sein Klaus wird anschaffen müssen, um so nach und nach ein Herr zu werden.

Er hätte gern mit angesehen, wie der König den Klaus Unter den Linden grüßen würde. Immerhin erlebte er noch, daß Klaus mit einem weißen Kragen und großer Seidenkrawatte, die widerspenstige Lockenfülle mit wohlduftender Pomade vornehm geglättet und gescheitelt, als »junger Mann« hinter dem Ladentisch stand. Daß er nicht mehr zu fegen brauchte, sondern nur mit einem Federpuschel die Waren abstäubte und zu jeder Tageszeit die geehrten Kunden artig lächelnd bedienen durfte.

Soweit war Klaus gekommen, als eines rauhen Novembersonntags nicht mehr die eigenen Füße, sondern mitleidige Menschen den Vater zum Sohn brachten. Er war einige Straßenecken vorher zusammengebrochen.

Klaus bewohnte noch dieselbe kleine Kammer. Nur daß jetzt ein paar Handelsbücher darin standen und Seife, Kamm und Pomade dazugekommen waren. Der kleine Raum borgte sich gerade wieder den allerletzten Sonnenfunken vom Nachbarhause, als man Friedrich Spreemann auf seines Sohnes Bett legte.

»Die schöne Sonne«, sagte er bewundernd.

Als er sich ein wenig erholt zu haben schien, befahl er dem weinenden Klaus, ihm die hohen Stiefel von den geschwollenen Beinen zu schneiden. Und drückte ihm das Messer dazu in die Hand.

Klaus sammelte fassungslos die herausspringenden Münzen zusammen, auch das Wachstuchpaket unter dem Barometerchen fand er.

»Alles für dich«, sagte Spreemann. »Mit einem kleinen Laden fang an.«

Dann schien seine Kraft zu Ende zu sein. Klaus schluchzte und begann mechanisch das Geld zu zählen.

Da hob Spreemann noch einmal mühselig den Kopf und flüsterte unruhig, daß Klaus nun nicht etwa unnützes Geld für das Begräbnis verschwenden solle.

»Sparsamkeit ist halber Profit.«

Bei diesen Worten war Klaus seines Vaters gesetzlicher Erbe geworden.

5

5

Wer stirbt, stirbt sich selbst.

Das einzig Gute an dieser unangenehmen Wahrheit ist, daß man sie nur an andern bestätigt sehen kann.

Madame Lieschen hatte sich überhaupt nicht vorstellen können, wie die Tage ohne Karoline weitergehen sollten.

Bis sie eines Tages bestürzt bemerken mußte, daß dichter Efeu das Grab umspann und eisiger Winterwind darüber hinfegte.

Wo waren die Tage geblieben? Sie waren rascher gelaufen als alle andern.

Tante Karolines kleiner Haushalt war von selbst zerfallen, als man daran zu rühren begann. Das wenige, das noch einigermaßen zusammenhing, hatte Mariechen nach Dresden genommen.

Madame Lieschen hatte sich darüber gewundert. Zumal das reiche Mariechen kinderlos war. Aber sie hatte zur Antwort bekommen, daß noch niemand auf der Welt zuviel besessen hätte.

Das mochte wohl richtig sein.

Nun war die Zigarettenfabrik schon im Schwung ...

Ein großes Paket an die Zwillinge war der Beweis dafür gewesen. Die Jungen pafften wie Schornsteine und lobten Fabrik und Tante.

Madame Lieschen fand, daß dieser neumodische Artikel abscheulich roch und die frischgestärkten Gardinen verdarb.

Jede Verwandtschaft hat ihre Schattenseiten.

Dagegen zeigte sich Herr Slovitzka als Freund und Nachbar. Er lud gern zu großen Braten mit guten Soßen ein und liebte es, sich zu einem reellen Sonntagskaffee anzumelden. Er erklärte, daß weder eine gehängte, noch eine ungehängte Mamsell jemals so vortrefflichen Napfkuchen zu backen verstände wie Madame Spreemann.

Komplimente sind meistens Grobheiten. Aber man nimmt sie nicht übel.

Auch am Stammtisch bei Klausings hatte Herr Slovitzka Platz und Stimme gefunden. Herr Spreemann war zufrieden, wieder einen Begleiter zu haben.

Ilka jedoch, die Kleine, war bei Spreemanns heimisch geworden wie ein Töchterchen. Die Zwillinge waren ihre Ritter. Hans besorgte ihr die Rechenaufgaben und Christian die Aufsätze.

Am liebsten saß Ilka am Fenster, der immer rührigen Madame Lieschen gegenüber, und vergnügte sich damit, die Vorbeigehenden auszulachen.

Madame Lieschen mißfiel es, daß Ilka stets mit leeren Händen dasaß.

Sie meinte, auch über eine Handarbeit hinweg könnte man alles sehen, was draußen vorginge. Das könne ihr Ilka getrost glauben. Ein künftige Frau dürfe nie müßig sein. Dann bekäme sie steife, kalte Finger, die, wenn sie einmal ein Mütterchen sein würde, nicht imstande wären, die Kinderchen zu streicheln und zu betten.

Darüber lachte Ilka, wie sie über alles lachte.

Sie sagte, ihr Papa hätte ihr versprochen, daß sie einmal eine ganz feine Dame sein würde. Sie würde niemals nötig haben, ihrem Mann die alten Strümpfe zu stopfen.

Und sie lachte über Madame Lieschens Hände hinweg, die, schon ein wenig krumm und faltig, ein großes Loch in Hansens Strumpf überbrückten und durchfädelten.

Auch Madame wollte Ilka nicht genannt werden. Das roch nach Kochtopf. Gnädige Frau würde man sie nennen müssen. In Böhmen sage ein jeder so.

»Das wär mir schenierlich«, erwiderte Madame Lieschen und sah erstaunt auf das junge Ding, das sich lächelnd in der Fensterscheibe spiegelte.

Sie nahm dem Kinde nichts übel. Oft war sie zufrieden, daß Ilka nicht wirklich ihr Töchterchen war, und manchmal bedauerte sie es. Das viele Lachen durchwärmte Winter und Haus.

Spreemann war weniger nachsichtig. Die flinken Mädchenblicke nahmen ihm die Gemütlichkeit. Er nannte Ilkas Lachen Gegacker und lutschte in ihrer Anwesenheit stets in brummigem Schweigen an seiner Bärenpfeife.

Wunderlicher aber war, daß die übermütige Ilka sofort unwirsch wurde, sobald der blonde Christian ins Zimmer trat.

Nur mit sehr kühler Gnade überließ sie ihm die Ausführung ihrer Schularbeiten, und während sie sich mit Hans aufs beste vertrug, widersprach sie Christian, sobald er seinen Mund auftat.

Als Madame Lieschen sie nach dem Grund ihres wunderlichen Betragens fragte, sagte sie achselzuckend, daß sie die Blonden nun einmal nicht leiden könne. Die erinnerten sie an saures Weißbier.

Christian, der es hörte, lachte laut auf und sagte, daß es ihm ganz ähnlich ginge. Er könne die Schwarzen nicht leiden, denn die glichen der galligen Tinte.

Madame Lieschen ermahnte beide, sich nachbarlicher auszudrücken.

Als man ins neue Jahr, kam, klirrten Frost und Schlittschuhe. Die Zwillinge kannten es nicht anders, als sich auf künstlich zu Eisbahnen erhobenen Bauplätzen auszutoben. Da zahlte man einen Groschen Eintritt und konnte sich amüsieren.

Aber Ilka rümpfte ihr kurzes, slawisches Näschen. Sie war gewohnt, nach der Rousseau-Insel im Tiergarten zu gehen, wo man zwischen Pelzen und Uniformen lief.

Einem Anlaß zum Vornehmsein soll man nicht ausweichen.

Die Zwillinge begleiteten Ilka. In kurzen Joppen von englischem Stoff und Berliner Schick. Mit Mützen und Kragen aus beinahe echtem Pelz.

Auf Ilkas Rabenhaar saß ein Hermelinkäppchen, zu dem ein weißer Muff paßte, in dem außer den runden Mädchenhänden stets eine Bonbontüte steckte. Den Transport ihrer blanken Schlittschuhe überließ Ilka ihren Begleitern.

Madame Lieschen, die außer ihren großen Jungen auch Militärmusik liebte, legte sich Filzsohlen in die breiten Stiefel und wanderte, ebenfalls mit Pelz belastet, vorsichtig übers Glatteis dem Tiergarten zu.

Auf verschneiten Wegen, dicht am Rand der gefrorenen Wasserläufe, spazierte sie langsam auf und ab. Sie freute sich an den bunten Fähnchen, beobachtete das gutgekleidete Publikum, genoß die Musik von des Königs Soldaten und roch den gemütlichen Schmalzduft backender Pfannkuchen. Breit und stolz nickte ihr frohrotes Gesicht, wenn aus der eleganten Menge zwei flotte Jünglinge grüßten, die mit verschränkten Armen übers Eis sausten, ein höheres Töchterchen zwischen sich.

Am Abend, wenn Madame Lieschen wieder vor dem großen Korb mit der auszubessernden Wäsche saß, schalt sie sich faul und vergnügungssüchtig und war ärgerlich, weil sie mitten am hellen Wochentag, die Hände müßig im Muff, bei Musik herumspaziert war.

Aber am andern Tag war sie doch wieder unterwegs.

Von ihrem Beobachtungsposten aus kannte sie nun schon manchen Eisläufer wie einen guten Bekannten.

Es machte ihr Spaß zu sehen, ob die hohe schlanke Dame, die stets mit dem roten Husarenleutnant lief, heute ihr grünes oder ihr braunes Kostüm tragen würde. Ob das junge Mädchen, das immer ganz himmbeerrot wurde, wenn sie der Herr im gefütterten Pelzjackett grüßte, vielleicht heute schon als Braut mit ihm scherzen würde.

So naschte man kleine Freudenrosinen aus dem Brotteig des Alltags. Und nicht nur hier.

Herr Slovitzka war am Schauspielhaus abonniert. Sobald ein klassisches Stück gegeben wurde, bat der liebenswürdige Nachbar Madame Spreemann, seinen Platz neben Ilka zu übernehmen.

Da hatte Madame Lieschen häufig Gelegenheit, das Schwarzseidene aus dem Schrank zu nehmen.

Vorsichtig setzte sie sich auf die roten Plüschsessel.

»Alles königlich hier, mein Kind«, sagte sie zu der zierlich geputzten Ilka.

Diese aber äugte zur Galerie hinauf, wo ihre Ritter, die Zwillinge, standen.

Manche Szene wurde zu Haus mit verteilten Rollen wiederholt. Den Monolog der Jungfrau konnte Madame Lieschen auswendig. Und am Ende des Winters sprach sie von Schiller mit der gleichen nachbarlich nahen Vertrautheit, wie von Herrn Slovitzka und dem Kaufmann an der Ecke.

Leider teilte Spreemann ihr Entzücken in keiner Weise. Er hatte keinen Sinn für Kunst. Er nannte es geschwollenes Zeug.

Umsonst sagte ihm Lieschen eines Sonntags den ganzen Monolog der Jungfrau und noch manches andere auf.

»Ihr Wiesen, die ich wässerte,
Ihr traulich stillen Täler, lebet wohl,
Johanna wird nun nicht mehr auf euch weiden,
Johanna sagt euch ewig Lebewohl.«

Tränen rollten aus Madame Lieschens Augen.

Spreemann aber zog ungerührt an seiner langen Pfeife, und als Madame Lieschen endlich atemlos war, sagte er, daß er nichts Schönes daran finden könne, wenn ein junges Mädchen die Wiesen wässere. Überhaupt: ein weibliches Wesen, das Soldat werden wollte. Sie solle Gott danken, daß sie es nicht nötig hätte.

Und damit war Spreemann bei dem angelangt, was seine eigenen Gedanken beschäftigte. Bei dem Soldatenjahr seiner Jungen.

Er hatte herausgefunden, daß man den Frieden nützen müßte, solange er da war. Je früher die Jungen in den Soldatenrock rutschten, um so schneller würden sie auch wieder heraus sein. Eine Weile lang würde es nun still bleiben müssen, nach zwei solchen siegreichen Kriegen. Sobald aber Gewehr und Säbel wieder am Nagel hingen, würde man auf das alte Firmenschild ein Co. setzen. Jawohl. Im Jahre achtzehnhundertundsiebzig, wenn die Jungen dem Gesetz nach mündig wären, sollten sie es auch im Leben sein. Wenn jung gefreit gut sein sollte, war jung selbständig zu werden gewiß noch besser. Und dann mochte das Geschäft sich dehnen, soviel es wollte. Sechs Augen sehen mehr als zwei. Sie würden genug sehen.

So schwatzte Spreemann endlich einmal seine geheimsten Gedanken aus. Statt der erloschenen Pfeife brannten zwei Herzen.

»Nun, klingt das nicht hübscher als alle Poesie?« fragte Spreemann am Schluß seiner Rede und rieb sich lächelnd die rheumatischen Hände.

»Spreemann und Co.«, sagte Lieschen im langsamen Schiller-Ton.

Der Schritt von Poesie zur Prosa ist lange nicht so weit, wie man glaubt.

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So leichtfüßig wie seine Wünsche ist niemand. Es sei denn, daß jemand sich selbst vorausspringen könne. Was schwierig scheint.

Immerhin waren Spreemanns Pläne schon so weit gediehen, daß man sie bei allen Mahlzeiten besprach.

Ilka meinte, daß Hans und Christian als Soldaten jeden Morgen an ihren Fenstern vorüberreiten und hinaufgrüßen müßten.

Als sie hörte, daß man zu Fuß marschieren müsse, war sie sehr enttäuscht.

»Zu Fuß? Pfui!« rief sie.

Hans meinte, daß sie doch stolz sein solle, daß sie die Rappen aus ihres Vaters Ställen reiten würden.

Da lachte sie.

Auch Spreemann lachte. Der Junge hatte auf alles die rechte Antwort.

Ob Christian von alledem etwas hörte, wußte man nicht. Er war nicht gesprächig. Wenn er wieder eine Frage überhört hatte, riefen Hans und Ilka:

»Christian ist in Schöneberg!«

Der Grund zu dieser Neckerei war, daß sich Christian mit den Schöneberger Verwandten angefreundet hatte und viele Sonntage bei ihnen verbrachte.

Ein Vergnügen, das ihm keiner mißgönnte und niemand streitig machen wollte.

Denn in der Mühle herrschte ein dumpfes, gehässiges Schweigen. Wer eintrat, bekam etwas Unangenehmes zu hören. Der Müller war vor der Zeit alt geworden. Sein einziger Sohn war im Krieg gefallen. War fortgezogen, und niemand hatte ihn wiedergesehen. So glaubte er sich um alles Glück und Gedeihen betrogen. Trotzdem er eine Tochter hatte, die sechzehnjährig war.

Aber Christian war gern dort. Die weiten Wiesen und das Surren der Mühlenflügel gefielen ihm. Auch die blonde Annalise. Sie war stets traurig, aber wurde froh, wenn er kam. Sie war ganz das Gegenteil der schwarzen Ilka.

Weithin gehörten die Felder dem Müller. Wenn er ein Spargeld hatte, kaufte er ein neues Wiesenstück dazu.

Er wollte sehen können, was er besaß. Der Geldschrank war ihm zu finster.«

Seine Verwandtschaft spottete, daß er Sümpfe sammle.

Nur Christian lobte die Wiesen. Wenn sie grün und wenn sie weiß waren. Das brachte eine gewisse Eintracht zwischen ihn und den knurrigen Müller.

»Vielleicht nehmen sie nur Hans zu den Soldaten«, sagte Annalise, hob die Augen von der Häkelarbeit und sah über die Wiesen und Tausendschönchen.

Christian antwortete, daß dies eine rechte Freude für Ilka sein würde, die er ihr nicht gönnen möchte.

»Sorgt auch sie sich um dich?« fragte Annalise sehr eilig.

»Sie würde mich auslachen«, sagte Christian. »Angst kennt sie nicht.«

Er wurde redselig und erzählte vieles von Ilkas Keckheit.

»Sprich nur«, sagte Annalise. »Es ist gesund, wenn man sich Unangenehmes vom Hals redet.«

Und Christian sprach von Ilka, bis alle Felder im Abendrot standen und er eilig Abschied nehmen mußte. Ilka mußte ihm wirklich ganz besonders unangenehm sein ...

»Wenn sie nur einen nehmen würde ...«

Auch in andern Köpfen war dieser Gedanke schon aufgesprungen.

»Einen? Aber wen? Man hatte doch jeden so lieb wie den andern.«

Nur eins war merkwürdig, man konnte sich einen blonden Soldaten nicht so deutlich vorstellen wie einen brünetten.

Es sind nicht immer die andern, die uns betrügen ...

Aber besser ist, man weiß, was man will.

Hans litt an keinem Zwiespalt.

Er sagte sich, daß es doch wieder Krieg werden könne und eine Kanonenkugel viel unangenehmer sein könne als Ilkas spitzester Spott. Und wenn auch nicht jede Kugel treffen würde, denn wo gibt's ein Geschäft, wo alles reüssiert – man konnte trotzdem nicht wissen, was einem geschehen könne. Es war kein Handel, der sich berechnen ließ.

Unsichere Abschlüsse aber liebte Hans nicht. Es war Tradition in ihm ...

So plante und vermutete sich jeder auf seine Weise durch die Zeit der Erwartung.

Und eines Tages war die Entscheidung da.

Spreemanns saßen wieder um den Abendtisch, über dessen weißem Tuch die Lampe klar und gleichmäßig wie immer brannte. Man aß Rührei und Bückling, wie man es in jeder Woche einmal gewohnt war. Aber heute wußte man plötzlich, daß der blonde Christian Soldat werden würde. Hans aber wegen Weitsichtigkeit dienstfrei geworden sei.

Ilka, die schon oben mit ihrem Vater gespeist hatte, schwippte zwischen ihnen auf einer Stuhllehne und äugte mit schrägem Kopf nach Christian.

Den ganzen Tag lang umsummte sie heute das Stück eines Liedes: »Und alle Mädchen freuen sich, wenn die Soldaten kommen«, rauschte es beständig in ihre rosa Ohrmuscheln.

Aber die blonde Schmachtmamsell in Schöneberg würde gewiß Tränen weinen, daß eine ganze Kommission Christian wert befunden hatte, ein Beschützer des Vaterlandes zu werden.

Christian kaute das Rührei, wie wenn es Steine wären. Er sah vor sich hin. Natürlich dachte er an sie und war in Schöneberg.

Jetzt drehte er doch den Kopf. Kaum, daß Ilka noch Zeit fand, ihre Blicke geschwind auf Hans zu richten.

Christian wendete seine Augen langsam wieder fort. Er hatte sich von etwas überzeugt, das er schon vorher gewußt hatte. Daß es für Ilka nur Hans gab.

Spreemann und Lieschen hatten viel mit Hans zu reden.

Sie waren über alle Maßen erstaunt. Sie hatten gar keine Ahnung gehabt von dieser sonderbaren Eigenart der Sehkraft ihres Sohnes.

Hans meinte, daß man früher doch keinerlei Gelegenheit gehabt, dies zu bemerken. Alles muß sich schließlich einmal zum erstenmal zeigen.

Sie fragten, ob er nicht eine Brille brauchen werde. Er war der Ansicht, daß es auch ohne eine solche gehen würde. Genau wie er doch bis heute keine nötig gehabt hätte.

»Bist du froh, daß du frei bist?« fragte Ilka.

»Es paßt zufällig in meine Pläne«, antwortete Hans. »Ihr werdet staunen, was ich vorhabe. Papa soll nicht umsonst vorgebaut haben.«

Madame Lieschen sah von ihm zu Spreemann und fand, daß sich Vater und Sohn ähnlich sahen wie Brüder.

Spreemann aber sagte, daß Hans nicht immer so laut zu sprechen brauche, er sei noch nicht taub. Und dann meinte er, daß »vorgebaut« doch ein etwas schwacher Ausdruck in diesem Falle sei. Hans könne wohl dreist aufgebaut sagen. Hans lächelte. Er öffnete den Mund, wie wenn er reden wollte, aber dann schwieg er.

Madame Lieschen, die ihn beständig beobachtete, weil sie seinen Augen gern das Besondere angesehen hätte, fand die Ähnlichkeit mit dem Vater in diesem Augenblick noch mehr verschärft. Der Junge hatte genau das gleiche Lächeln unter den Augen, das sie bei Spreemann gekannt hatte, als die Jungen klein waren und Dummheiten machten.

Wovon hatte man denn eigentlich gesprochen? Bei aller nachdenklichen Beobachtung hatte sie wieder ganz vergessen, zuzuhören.

Mit verlegenem Lächeln bot sie noch einmal das Rührei und den Bratfisch an. Aber alle dankten.

»Bist du bange, weil du Soldat werden sollst, mein kleiner Christian?« tönte Ilkas Stimme scharf in das Schweigen.

Christian hob ruhig den Kopf und lächelte.

»Froh bin ich«, sagte er. »Wie schön muß es sein, stundenlang auf der Landstraße zu marschieren, weit hinaus – weit – weit alles hinter sich – und bei jeder Ecke, um die man biegt – Neues – Unbekanntes vor sich.«

Spreemann, der gerade seine Pfeife anzünden wollte, zog sie erstaunt wieder aus dem Mund. Die Hand um den schwarzen Bären, der mit dem Halsring am Pfeifenkopf klebte, dachte er:

An wen nur erinnert der Junge jetzt ... ?

7

7

Jede Tat zeugt neue Taten. Es gibt keinen Stillstand.

Die Weitsichtigkeit von Hans wirkte weiter. Sein Blick blieb in die Ferne gerichtet. Lief bis über die Grenzen des Vaterlandes.

Sein Vater sollte nicht umsonst gespart haben. Er hatte eine Verwendung gefunden für jene Reservekasse, die seinem Dienstjahr bestimmt gewesen. Auch dieses Kapital sollte Zinsen tragen. Er wollte an die Quelle aller Geschäftstüchtigkeit reisen. Er wollte nach London. Um dem Leben und Handel der Welt einmal auf die Finger zu sehen.

Als Spreemann zum erstenmal davon hörte, nahm er die Brille ab, die er seit Wochen trug und die ihn noch drückte.

Denn im Gegensatz zu Hans war er ein wenig kurzsichtig geworden.

Sorgfältig putzte er die neuen Augengläser mit seinem großen Taschentuch aus türkischer Seide. Aber er folgte dabei der schnellen Rede seines Sohnes aufs genaueste.

Hans ließ ihm nicht viel Zeit zur Zwischenrede. Die Worte überstürzten sich.

Aber als Spreemann die Weite des Reiseziels erfuhr, unterbrach er doch den geschickten Redner.

»Nach England?« fragte er. Er hielt mit Putzen inne und sagte, wenn er sich nicht irre, liege da sogar ein Stück Meer dazwischen.

Hans machte eine abweisende Handbewegung und sagte, daß diese paar Salztropfen nicht der Rede wert wären. Wenn man erst reise, sei es gleichgültig, ob der Weg einige Meilen mehr oder weniger betrage. Da dürfe man nicht so ängstlich messen. Die Hauptsache sei, daß man auf den richtigen Punkt in der Welt käme. Und so begann er London zu preisen, die Königin des Handels, die Hauptstadt der Welt. Mit ihr verglichen sei Berlin ein Dorf.

Spreemann hatte die Brille wieder aufgesetzt. Aber er schaute über die Gläser hinweg.

Daß man Berlin ein Dorf nannte, nahm er nicht schweigend hin.

Er sagte, wer seine Vaterstadt nicht achte, beschmutze sich selbst. Und sein eigen Tuch soll man nicht mit fremden Ellen messen.

Hans meinte, man müsse mit allen Ellen messen können. Und je mehr Berliner das einsehen, um so rascher würde Berlin eine Großstadt sein. Und nicht nur so tun, als ob es eine wäre.

Spreemann schüttelte den Kopf. Er erinnerte Hans an die neuen Pferdebahnen, sagte ihm, daß man doppelt soviel Droschken hätte als vor kurzem. Daß man Gas brannte statt Funzellampen, daß sogar Wasser aus der Wand in die Töpfe liefe, und suchte und fand noch die verschiedensten Vorzüge ihrer Vaterstadt.

Hans lachte zu allem und sagte dann versöhnlich, daß sie sich darum nicht streiten wollten, denn der Vater sollte ja nicht Berlin auf Reisen schicken, sondern nur einen einzigen Berliner.

Spreemann hatte immer genug Verstand gehabt, um sich vor Tatsachen zu beugen. Er sah ein, daß dieser Plan seines Sohnes schon eine halbe Tat war, die er im Innern sogar billigen mußte. Denn er war überzeugt davon, daß der rasche Junge denen da draußen manches Neue abgucken würde. Das Geld dazu war ja da. Auch darin hatte der Junge recht. Und noch eins kam dazu. Man schob die große Umwälzung noch ein wenig hinaus. Er hatte sich das in früheren Jahren alles ruhiger und behaglicher vorgestellt. Wie eben alles leichter erscheint, solange es noch nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Mochte der Junge seinen Willen haben.

Hans quittierte des Vaters Einwilligung mit einer herzlichen Umarmung. Fest drückte er den kleineren Vater an sich.

Spreemann aber dachte in dieser festen Umklammerung, wie merkwürdig es war, daß dieser große Kerl damals so viel Mühe hatte, die ersten kleinen Zähnchen zu kriegen.

Und dabei fiel ihm Lieschen ein.

»Aber was wird Mama dazu sagen?« fragte er, als ihn Hans wieder freigab.

Hans räusperte sich.

»Du teilst es ihr wohl bald mit«, sagte er dann.

Spreemann schüttelte energisch den Kopf.

»Das ist deine Sache, mein Junge. Deine Idee, dein Plan, deine Freude.«

Hans jedoch wollte dem Vater nicht zuvorkommen. Was ihm dieser aber durchaus gestatten wollte.

Diesen hochgemuten Wettstreit unterbrach Madame Lieschen in eigener Person. Ganz ahnungslos.

Als sie noch auf der Schwelle war, sagte Hans, daß der Vater ihr etwas zu erzählen habe. Und rasch und bescheiden war er aus dem Zimmer gegangen.