Drama von Ernst Barlach

PERSONEN:

        Der alte Sedemund
Der junge Sedemund
Onkel Waldemar Sedemund
Grude
Frau Grude
Sabine
Schneider Mankmoos
Candido Franchi
Ring
Gierhahn
Ehrbahn
Schaukelstrick
Wachtmeister Lemmchen
Bildhauer Bromann
Kutscher Karl
Grabbesorger
Grete Mankmoos
Schützen
Publikum
Tischlerlehrling
Gärtnerlehrling
Anstaltswärter
Wandervogel Susemihl

I. Bild.

Budenstraße. Man sieht gerade auf die »Zirkus-Menagerie« von Candido Franchi, deren Schauseite mit Jagddarstellungen von blutiger Romantik tapeziert ist, zu oberst aber und am zermalmendsten ist der Überfall kakaofarbiger Menschen durch einen scheinbar vom Himmel herabspringenden Löwen getüncht. Es ist früh am Nachmittag des dritten Schützenfesttages. Der Rummel ist vom gestrigen Überdruß noch nicht erwacht. Sabine im Rollstuhl mit einem Gefolge von 2–3 Wandervögeln, von denen einer auf der Gitarre klimpert, fährt langsam vorüber. Ein Tischlerlehrling mit einem Kindersarg auf der Schulter kommt und gafft auf das Löwenbild. Ein Gärtnerlehrling mit einem Trauerkranz hilft ihm.

Tischlerlehrling: Wo willst du denn den Deubel mit deinem Kranz hin – hm?

Gärtnerlehrling: Hat ein Herr herbestellt, zur Beerdigung auf dem alten Kirchhof, da werd ich den Kranz loswerden.

Tischlerlehrling: Mit meinem Sarg ist das nicht so einfach. Mein Meister stand schon heut früh in Saufstiefeln und hat gesagt: trag ihn zur rechten Zeit hin, hat aber vergessen, daß ich wissen muß, wo Hin – hin ist. Hast ihn nicht gesehen?

Gärtnerlehrling schüttelt den Kopf und spuckt aus: Was mir wohl dein Meister angeht. Aber vor drei wird nicht geschossen, weil wer mit Musik begraben werden soll. Geh man zu rechter Zeit nach dem Schützengarten, da wirst ihn wohl treffen.

Beide trödeln ab.

Grude, im Begräbnisanzug, erscheint und betritt das Tierzelt, nachdem er sich hastig umgesehen. Gleich darauf kommt Frau Grude. Man sieht, sie ist auf der Spur ihres Mannes und will ihm folgen, sie zögert aber und bleibt endlich unschlüssig stehen. Von anderer Seite ist zugleich der junge Sedemund mit dem Schneider Mankmoos auf dem Platz angelangt und steht still, um zu sprechen. Frau Grude hält sich zurück. Mankmoos ist eine Jammergestalt mit einem Säufergesicht und einem weißen Patriarchenbart. Auf der Brust glänzt eine Ehrenmünze am bunten Band.

Der junge Sedemund: Sie sind also ganz früh zu meinem Vater gelaufen, haben Sie gute oder schlechte Geschäfte mit ihm gemacht?

Mankmoos: Meine Frau ist mir heute nacht hops gegangen, Herr Sedemund, und da dachte ich . . . sehen Sie, Herr Sedemund, ich habe fünf kleine Kinder zu Haus, meine Frau wog ihre guten 160 Pfund, Herr Sedemund, und sie wußte was zu beschaffen –. Nu, dachte ich, geh zu Herrn Sedemund, und so ging ich zu Ihrem Herrn Papa. Aber da fing mich Ihr Herr Onkel Waldemar ab, wissen Sie, und war auch soweit ganz frisch und freundlich zu mir und versprach, weil Ihr Herr Vater, Herr Sedemund, bettlägerig zu Bett läge, ich sollte man einen Moment warten un schließlich schickte er mir diesen Zettel herunter. Holt einen Zettel hervor.

Der junge Sedemund nimmt und liest: »Nach Durchsicht meiner Kasse finde ich mich außerstande, Ihnen mit einem nennenswerten Betrage beizuspringen« – So, das schickte er Ihnen herunter und was da?

Mankmoos, der inzwischen das Löwenbild angestarrt hat: Da ging ich hinauf und kam gerade ins Krankenzimmer.

Der junge Sedemund: Und?

Mankmoos: Und hörte noch mit an, wie Ihr Herr Onkel, Herr Waldemar, die Geschichte zu Ende erzählte und wie sie lachten. Sie lachten darüber, daß meine Frau 160 Pfund gewogen hätte. Da wurde ich aber wütend, wissen Sie wohl, und wollte mich direkt an Ihren Vater wenden und ging auch an sein Bett ran, wo er breitbeinig darin bei zu frühstücken war. Ja, Herr Sedemund, wenn ich auch so krank wäre und so gut gegessen hätte!

Der junge Sedemund: Und wie kam es dann zuletzt?

Mankmoos: Zuletzt? Soll ich nicht erst erzählen, was ich ihm gesagt habe?

Der junge Sedemund: Nein, das kann ich mir denken.

Mankmoos: Zuletzt – da machte mir Herr Waldemar die Tür auf und sagte ganz freundlich, ob ich so freundlich sein wollte – aber das war gar nicht so gemeint.

Der junge Sedemund: Wieso nicht?

Mankmoos: Nicht freundlich, vielmehr falsch.

Der junge Sedemund: Also auf die Art haben Sie dann das Haus geräumt, Mankmoos?

Er sieht Frau Grude und geht zu ihr, Mankmoos bleibt stehen. Frau Grude? Guten Tag Frau Grude! Sie begrüßen sich. Sagen Sie mir nur, Frau Grude, wo ist Grude? Ich war eben in der – – – Anstalt und hörte, daß er für diesen Tag zu einem Begräbnis beurlaubt ist, hier auf dem alten Kirchhof – neben dem neuen Schützenhause. So kam ich her, ihn zu sehen.

Frau Grude verwirrt: Ja, das ist wohl richtig, der alte Gimpel wird heute begraben. Um 2 Uhr.

Der junge Sedemund: Und wo ist unser Grude jetzt?

Frau Grude deutet auf den Eingang der Tierbude.

Der junge Sedemund blickt überrascht hin.

Frau Grude trocknet ein paar Tränen: Ich war auch in der Anstalt und bekam denselben Bescheid, wie Sie, Herr Sedemund, und nun ist er wie gescheucht eilig ins Zelt getreten, gerade als ginge er vor mir ins Versteck.

Der junge Sedemund faßt einen Augenblick ihre Hand: Gott, Frau Grude! Zu Mankmoos. Mensch, Mankmoos, was wollen Sie noch – aber nein, ich muß Sie vielleicht noch nach Allerlei fragen, warten Sie im Schützengarten auf mich. Oder müssen Sie nach Haus zu Ihren Kindern?

Mankmoos: Ich warte lieber noch einen Moment auf Sie, Herr Sedemund, da weiß ich doch, was ich sozusagen tun soll. Zu Haus heißt es immer bloß: Mankmoos hier, Mankmoos da, als ob ich was dabei machen könnte, daß meine Frau tot ist, mir wär's lieber, sie lebte noch.

Der junge Sedemund: Also warten Sie im Schützengarten.

Mankmoos ab.

Der junge Sedemund: Frau Grude, wie ist es eigentlich zugegangen, daß Grude in die Anstalt kam? Sie wissen, ich bin seit Jahren nicht mehr hiergewesen.

Frau Grude: Ach, Herr Sedemund, ich habe ihn wirklich nicht hineingebracht. Wenn ich so sagen soll, ist er freiwillig hineingegangen, ganz gegen meinen Wunsch; ist selbst zu Herrn Doktor gekommen und hat um Aufnahme gebeten. Er sagte ja immer schon: entweder seid ihr alle verrückt, oder ich allein.

Der junge Sedemund: Ja, ja, das war so seine närrische Note, er brachte seine Sachen immer kurios heraus.

Frau Grude: Er ist auch nicht verrückt, er ist nur – wunderlich, wissen Sie.

Der junge Sedemund: Aber glauben Sie, daß er sich selbst dafür hält?

Frau Grude: Ach, Herr Sedemund, seitdem Sie weg sind, ist sein guter Geist ganz von ihm gewichen.

Der junge Sedemund: Ich dächte aber, Frau Grude, Sie hätten das Zeug gehabt, mich in meiner Rolle als heilsamer Geist zu ersetzen, wenigstens die Gelegenheit – wie?

Frau Grude: Ach – ich – das ist es ja, – was bin ich, was kann ich, nur ihn liebhaben konnte ich!

Der junge Sedemund: Und das genügte ihm wohl nicht?

Frau Grude weint: Sollte ich mich anstellen, als teilte ich seinen Aberglauben? Wenn man auf dem Lande groß wird und einen Gespensterseher von Großvater zum Erzieher hat wie er, dann kann es ja auch wirklich mit einem Menschen nicht ganz richtig werden.

Der junge Sedemund: Ich weiß – aber das sind ja alte Geschichten.

Frau Grude: Bitte, Grude glaubt noch, wenn auch nicht mehr an den Hauskobold Gruwelmann, so doch – – ach, was weiß ich, – an irgend was – fragen Sie ihn selbst. Es kam so weit, daß ich mir seinen unsichtbar geisternden Gast verbat. Etwas Lebendiges, sagte er, hat immer irgendwelche Beziehungen zum Verborgenen, jeder ist ein Doppelgänger und ist nicht bei sich und mit sich allein – du bist eine Papierblüte, ein Ding und weiter nichts, du treibst keine Schäkerei im Verborgenen mit dem Sonnenlicht wie jede Butterblume tut. Und so ging es weiter, und er wurde immer wilder und wütender in seinen Verweisungen. Als er schließlich in die Anstalt ging, tat er's vornehmlich meinetwegen, weil ich – glaube ich wohl – kränker war als er von all den Widerwärtigkeiten.

Der junge Sedemund: Ein echter Grude.

Frau Grude: Und sehen Sie, Herr Sedemund – nun will ich Ihnen als einem guten alten Freund meines Mannes etwas gestehen, was ich ihm heute selbst sagen wollte. Ich bin doch kein Ding, ich bin nicht allein, wenigstens nicht mehr. Lächelt unter Tränen. Er ist immer bei mir, aber nicht als Gruwelmann und Spukgeist. Beinah er selbst und doch jemand anders und ganz Wirkliches. Darum bin ich heute morgen hingegangen, und Herr Doktor schickte mich ihm schnellstens nach zum Kirchhof. Nun sah ich ihn von weitem vor mir hergehen, und sicher sah er mich auch. Da ist er abgebogen und eilig ins Tierzelt hineingegangen und ich stehe hier draußen.

Der junge Sedemund: Soll ich hinterhergehen und ihn benachrichtigen, daß Sie ihn allein sprechen müssen?

Frau Grude schüttelt den Kopf, legt ihm die Hand auf den Arm: Ich kann ihm doch nicht nachschreien, was man nur leise sagen kann, nicht wahr? Nein, Herr Sedemund, warten Sie hier auf ihn, sagen Sie ihm nichts weiter. Was er von mir wissen soll, mag er selbst aus mir heraushorchen. Haben Sie nur Geduld mit ihm!

Der junge Sedemund: Wie Sie wollen, Frau Grude, mit Geduld muß man sich wechselseitig einander wärmen, und so geleite ich Sie einige Schritte bis an die nächste Ecke.

Beide ab.

Grude tritt mit Candido Franchi aus dem Zelt.

Franchi: Wenn Sie mir ein Dottore sagen können – wirklich, ich bin so traurig für den armen Schesar, er schaut so unfreundlich rechts und links zu Boden, – daase ist kain gutes Zaichen, nein, besonders, daase er sitzt, als mochte er wohl ein Ei legen, so steht es mit ihm so böse, so böse.

Grude: Armer Kerl, der Schesar! Gestern brüllte er noch vor Wüstenhunger, daß die Luft im Lustgarten hinter der Anstalt lebendig wurde. Ja, bester Herr Franchi, wir haben alle einen unhörbar brüllenden Löwen hinterm Rücken. Das ist noch das Beste an uns, daß uns jemand in Majestät fangen und fressen will – daß wir's verdienen – wie?

Franchi: O, iche versteh sehr gut.

Grude: Ich dachte gerade gestern immerfort bei seinem Gebrüll: was bin ich eigentlich anders als sein Magengeist, seine Leibseele – außerhalb seines Mauls und Magens, versteht sich. Darum bin ich erst – Ich, sehen Sie, weil die Majestät die Freude daran hat, mich zu fressen.

Franchi: O, iche versteh . . .

Grude: Wir sind eben immer zwei, der Löwe hinter mir ist auch ein Stück von mir, eine Art eigentliches Ich – so ungefähr werden Sie es auch meinen?

Franchi: Genau gesagt, ganz genau!

Grude: Man bekommt ordentlich Respekt vor sich selbst, daß man einen so brillanten Brüller aus der wüsten Weite hinter sich weiß, der unser Bein und bißchen Seele überschlucken will und darob vor Freude brüllt – möchte man nicht selbst vor Freude brüllen?

Franchi: Ich versteh sehr gut.

Grude: Na, laufen Sie nur zum Tierarzt, wie wollen Sie Ihr Leibesleben fristen, wenn seine Frist abläuft. Dr. Braunreiter, Seegrube 7, rechts herum und dann geradeaus, Seegrube 7!

Franchi: Wahrhaftig, für den guten Schesar will ich sausen wie besessen. Geht ab.

Grude: Ja, ja, dahin, wünsche alles Gute, Ihnen und Ihrem Schesar.

Inzwischen ist Sedemund wieder erschienen.

Der junge Sedemund: Paß auf, wer kommt da, Grude, alter Freund . . .

Grude: Hallo! Das ist herrlich, daß du heute kommst.

Sie drücken sich die Hände.

Der junge Sedemund: Warum gerade heute?

Grude zeigt auf das Löwenbild: Sieh, wie er über sie kommt, das Kafferngewissen über uns Kaffern. Und da der arme Kerl im Zelt es erbärmlich in den Därmen hat und gar nicht brüllen, viel weniger springen mag, so kommst du mit deinen Pranken und kannst mir den Kopf waschen. Schüttelt ihm nochmals die Hände. Ich will dir gleich alles sagen: der Doktor bestimmt mit entschiedener Stimme meinen Fall griechisch, von verrückt will er nichts wissen. Das Griechische will er mir austreiben, siehst du, und so bleibt das andre beim Alten. Lacht. Meine Frau hat dir natürlich alles gesagt, hat sie auch geweint?

Der junge Sedemund: Ja, Grude, geweint. Und ihr gutes Herz hofft für dich und für sich.

Grude: Halt! Faßt ihn an und dreht ihn um und um. Mensch, bist du denn der, von dem all das Geschrei geht? Besinnt sich. Adamist, politisches Wickelkind und so weiter? Was hast du bei deiner derartigen Berühmtheit in unsern schmalen Breiten zu besorgen?

Der junge Sedemund zieht ein Telegrammformular aus der Tasche und gibt es Grude.

Grude liest: »Vater schwer erkrankt, dein Kommen unerläßlich, Onkel Waldemar« – Ist er tot?

Der junge Sedemund faltet das Formular zusammen: Er ist gar nicht krank.

Grude: Das ist vernünftig von ihm, aber inwiefern ist Onkel Waldemars Ruf an dich vernünftig?

Der junge Sedemund zuckt die Achsel: Sei du so gut und spiele mir nichts vor, du bist so vernünftig, wie du immer warst, vernünftig mit einem Rest, der Rast zum Klären braucht. Nur hättest du als Mensch mit einem Gruwelmann im Gewissen keine Frau nehmen sollen, die noch bis vor kurzem selbst ein Kind war.

Grude blickt ihn scharf an.

Der junge Sedemund: Ich darf nichts ausplaudern, sie hat's verboten. Aber nun, was willst du wissen? Ich bekam das Telegramm, reiste, suchte am Morgen noch ungewaschen mein Vaterhaus und traf vor der Tür einen tollen Kerl von Flickschneider, der mich anrempelte und mir ein konfuses Langbreit von meinem gesunden todkranken Papa auf einem mit Frühstück fürstlich besetzten Sterbelager als Frühstück auftischte. Was hältst du davon? Noch eins: der Schneider muß bessere Ohren haben, als es scheint, denn er hatte irgendwie den Namen des behandelnden Arztes gehört: Professor Türklinke aus Rostock. Ich wußte gleich: Professor Druckhammer heißt es, und nun fiel mir folgendes ein . . .

Grude: Ja, ja – ich erinnere mich an das, was du erzählen willst: als deine Mutter nicht lange mehr zu leben hatte, nahm sie dich in einer Dämmerstunde beim Schopf und drehte dein Gesicht zur Wand, daß du sie nicht ansähest und sagte: Junge, wenn dein Vater einmal auf dem Sterbelager liegt und Professor Druckhammer aus der Ferne die Behandlung leitet, wenn Onkel Waldemar dabei waltet, dann halt deine Ohren steif und versprich nichts, was du nicht halten kannst.

Der junge Sedemund: Professor Druckhammer war meines Vaters Zuflucht für und für, wenn es irgendwie gegen meiner Mutter Meinung ging. Durch seine Autorität gedieh meines Vaters Glück gegen meiner Mutter Geltung, denn mein Vater ist und war ein Mann, über den allerlei Unziemlichkeiten Gewalt hatten, und so fand oder erfand er in Professor Druckhammer eine Art ärztliches Kameel, das ihn durch die Wüste zu fernen Oasen trug, wo er bei seiner dank Professor Druckhammers Fügsamkeit festlich verlaufenden Lebensordnung gut gedieh.

Grude: Professor Druckhammer muß für dich und deine Mutter eine Art von Gruwelmann gewesen sein.

Der junge Sedemund