1912 – 1913
Wieder saßen Klaus und ich nachmittags in den Haselbüschen am Gliner See, stets gewärtig, vom Besitzer oder Pfänder überrascht zu werden. Darum kriechen wir gern der grünen Verpelzung des Abhangs wie Mottenfraß recht ins Innere, da sieht man uns nicht fressen. Einen Beutel hatten wir mit, dahinein sparten unsere Hände ihre Nußpfennige, und dabei handelten wir obendrein, wie die Bibel den Almosengebern vorschreibt, und ließen unsere Rechte nicht wissen, was die Linke tat, denn während wir einsackten, luchsten unsere Augen schon wieder hinter dem verborgenen Gut im Blättergewimmel her. Es war kühl, und der nördliche Wind brachte eine vom ganzen Tag durchsonnte reine Luft heran, spülte und wusch Äste und wirbelte Blätter herum, und man konnte vor der Schönheit des frischen Augenblicks die Welt vergessen. Barlach: Güstrower Tagebuch
Güstrower Marktfrauen, Federzeichnung, 1910
Aus den Güstrower Taschenbüchern 8.9 X 16 cm
Barlach-Nachlaßverwalrung Güstrow (Heidberg)
Am Himmel fliegt eine klumpige Wolke wie ein schwarzer Sack, und der Halbmond hängt darunter wie eine silberne Gondel. Die Leute gehen vornüber, als stünden sie auf einem sinkenden Schiff, der Wind stopft ihnen Mund und Naslöcher und legt ihnen eine unsichtbare, schwere Last auf Brust und Schultern, daß sie keuchen und in Lastträgergebeugtheit vorwärtsschreiten. Den Menschen, die genug an ihren eigenen Geschäften zu tragen haben, denen ist der Sturm eine Wiege, in der sie ihr schlafloses Sorgenkind ein wenig zum Dämmern und Träumen bringen, aber den andern, den Sorglosen, Befreiten, den Gleichmütigen in ihrer gelangweilten Selbstüberdrüssigkeit und Selbstzufriedenheit, denen ist er ein Ohrenbläser, der von irgendetwas unheimlich Nahem raunt, die sind wie [vor] eine spanische Wand gestellt, hinter der das Schicksal irgendetwas Schweres aufbaut, das seine Ahnung in dumpfem Druck von sich läßt und über sie schickt. Und selbst die Leichtsinnigsten haben einen leisen Stich, ein Pünktchen auf ihrer glatten Seele, nur ein Bläschen von Stecknadelkopfdicke, aber wenn sie es spüren, kältet sie doch ein leiser Schauer, ob es nicht eine Blutvergiftung, ein erstes Zeichen böser Dinge bedeuten könnte.
Die Bäume lassen sich wiegen in ihrer Frömmigkeit oder schütteln, wie er will, sie wissens nicht besser, als daß alles kommen wird, wie es kommen muß. Die Erde, in der sie wurzeln, hebt und senkt sich auf der Windseite bei den stärksten Stößen, und dünne Risse öffnen sich einen Augenblick und schließen sich wieder, wenn der Stoß nachläßt. Die Pfützen und den Fluß überläuft es wie Gänsehaut, wenn sie den Wind spüren, aber wenn er ihnen stärker zusetzt und Furchen schaufelt, scheint es doch, als verführte sie der Leichtsinnige und Wilde zum Mittun, als versuchte sich das Wasser im Windwerden und als schlügen sie unversehens einmal über die Stränge des ewig Waagerechten. Da scheint das strenge Gesetz [der] Trennung von Luft und Wasser ein wenig gelockert, und die Farbe des grauen Tages fühlt sich schon wohl im sonst so schwarzen Wasser, das schlafende schimmert matt silbrig vom verschämten Lächeln der Lüsternheit nach luftiger Entartung, nach Erlösung vom ewig ehrbaren und stilstrengen Ichsein.
Nur die Wiese ändert keine Linie, aber vielleicht ist die Zucht des schweren Bodens am tiefsten gelockert, von einem Krampf der Hingebung an das Schmeicheln und ungestüme Bedrängen, ja, die Willenlosigkeit des wehenden Grases läßt die verborgene Durchdrungenheit der Erde von diesen Windseligkeiten ahnen, und am Ende ist sie die Verführteste von allen. Wie Maulwürfe wühlt der Schmerz in ihren Tiefen, daß sie bleiben muß, was sie ist; aber die Tausende schwarzer Häufchen liegen in Reihen und Kringeln doch allsichtbarlich da und zeigen, daß da unten etwas steckt, etwas Schwarzes, Schweres und doch Weich-Verlangendes, etwas Mystisches wie Schicksal und Seele; etwas, das wie ein Laster aufbricht und doch nichts ist als Sehnsucht und unwiderstehliche Triebe.
Tod und Leben, Relief, Bronze, 1916/17
50,7 X 43 X 3 cm
Im unteren Feld: Totenklage. In den oberen Feldern: Liebespaare. Nach dem Hauptteil des Werkmodells auch die »Grablegung« in Holz (vgl. Abb. 7) Barlach-Nachlaß-Verwaltung Güstrow (Heidberg)
Klaus' Hosen, wenn er ausgezogen ist und liegt, sehen so recht zufrieden aus, auch einmal ruhen zu dürfen, so recht wie ein paar Läufer und Springer, die nun, wie der Hase von Buxtehude, im letzten Sprung zusammengebrochen und verschieden sind – und er hat seine Decke über den Kopf gezogen und weilt an den Gestaden des schlafenden Meeres vom Jenseits.
Heut hat er vielfache Verwendung seines Geldes vorgenommen. Für 5 Pf. holte er 2 Stück Kreide für die schwarze Tafel, und mit je 20 Pf. hat er seine zwei Freunde abgelohnt, die ihn, weil sie schon ein Schuljahr hinter sich haben, unterrichten mochten im Lesen und Rechnen. Den Rest von 50 Pf. hat die Großmutter gerettet und weggesteckt; nun ist die Herrlichkeit dieses lose klimpernden und blinkenden Schatzes im Versteck meines Zahlbretts im Sekretär dahin. Zu Abend ist er gebadet. Dazu stehen drei große Töpfe auf dem Herd, und die Wanne kommt in die Stube; wenn dann das Wasser gemischt ist, hat er sich schon auf dem Sofa ausgekleidet, wie man das so nennt. Die Hose läßt er herab und stemmt dann die Hände gegen die Lehne des Kanapees und beginnt hinten auszuschlagen wie ein wütendes Pferd, solange bis ihm das Kleidungsstück hinten wegfliegt. Die Strümpfe zieht er den Beinen schräg über die Füße weg ab, bis die Spannung so stark wird, daß sie wie aus der Pistole losgehen und einen schlenkernden Satz durch die Luft machen. Das Unterzeug muß die Prozedur der Hosen erdulden, und das Hemd streif ich ihm über den Kopf. Dann ins Wasser. Da schwimmt schon das holländische Schiffchen aus Amsterdam mit braunen Segeln und dickem Bauch, er selbst ist eine Insel und läßt das ahnungslose Schiff leise herantreiben, als ob Sindbad der Seefahrer darauf wäre, und das wässerige Geschaukel geht über seine dünnen, schlanken Glieder hin, die ich nun schon sechs Jahre Zoll für Zoll habe sich strecken sehen und deren Umrisse sich im Wasser schwingen, verzogen und lebend, als könnten sie vom Tagestanz noch immer nicht lassen.
Der Mann im Stock, Eichenholz, 1918
73 X 46 X 46 cm
Kunsthalle Hamburg