1

Das Geschlecht der Byge reicht bis in die graue Urzeit zurück. Es ist ein Bauerngeschlecht, aber von jener alten nordschleswigschen Rasse, die nie Leibeigenschaft und Pacht gekannt hat. Seit undenkbaren Zeiten lebten sie als Herren auf eigenem Grund und Boden und gehorchten nur dem eigenen Willen.

Es war Angelnblut, das zuerst in ihren Adern rollte. Es war Angelnblut, das auf den meilenweiten, flachen Wiesen graste. Aber sowohl das Blut des Geschlechtes wie das des Viehs wurde im Lauf der Zeiten mit anderem vermischt.

Hanseaten kamen und trieben Handel und wurden auf dem fetten Boden ansässig. Kriegsleute, die mit fremden Kriegszügen gekommen waren, ließen sich im Lande nieder, als die trägen Zeiten des Friedens sie brotlos machten. Sie verdingten sich auf Höfen, rückten vom Knecht zum Schwiegersohn auf und vom Schwiegersohn zum Gutsherrn.

Zähe, betriebsame Nordjüten kamen mit Herdenzügen von Pferden und Ochsen zum Verkauf. Auch sie blieben in dem fetten Weideland. Und es kamen Inselbewohner mit dünnem Blut und leichtem Sinn, der wie Wind und Flut wechselte.

Da kam die Zeit, wo die Byges zahlreich und stark wurden und es mit dem Adel und mit feindlichen Mächten aufnahmen, das Band aber wurde gelöst, das das Geschlecht an das Meer und die fetten Wiesen geknüpft hatte.

Neue Schößlinge zogen in die Städte, wurden Mitglieder des Rats, der Gilden und der Zünfte.

Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts wohnte in einer der größten Handelsstädte des Landes ein junger Kaufmann namens Jens Byge.

Er heiratete eine reiche Bauerntochter, Abkömmling eines Geschlechts, das nicht, wie das der Byges, das Land und die fetten Wiesen verlassen hatte.

Sie war von kräftiger Rasse und gebar ihm sechs Söhne, die sie zusammen in Zucht und Genügsamkeit erzogen.

Er hatte als Kaufmann jene feine Nase, die auf weite Entfernungen wittert. Auf die Kunst der Regierung verstand er sich nicht, wohl aber auf deren Grundlage, auf die Werte. Und als der Landesvater in seinem Absolutismus die Mißgeschicke eines neuen Krieges über das Land heraufbeschwor, da gehörte er zu den Wenigen, die das Unwetter des Reichsbankerotts, das am Horizont heraufzog, witterten.

Er und andere taten, was sie konnten, um zur rechten Zeit und an rechter Stelle vorzubeugen; aber es war schon zu spät.

In Byges Kontor, in dem großen Handelshause, stand ein alter Schrank, klotzig und wuchtig. Keiner durfte daran rühren. Erst als er merkte, daß der Tod in sein Haus einzog, ließ er ihn öffnen. Er enthielt für jeden seiner Söhne fünfzigtausend blanke Reichstaler.

Er hatte, solange es noch Zeit gewesen war, die Staatsobligationen und Wertpapiere gegen klingendes Silber eingetauscht. Da man sein Geld nirgends mehr mit Sicherheit anlegen konnte, so legte er es im Geldschrank an – ohne Zinsen, aber auch ohne Verlust. Und vor seinem Tode ermahnte er seine Söhne, das Geld wohl zu hüten.

Der älteste seiner sechs Söhne wurde Richter und gereichte dem Namen des Geschlechtes im öffentlichen Leben des Landes zur Ehre.

Der zweite reiste mit seinem Gelde außer Landes, weil er über das schmähliche Schicksal seines Vaterlandes bis ins Innerste verwundet war.

Der dritte kaufte sich Hof und Gut, brachte aber alles durch und endete als Verwalter auf seinem früheren Grund und Boden.

Der vierte wurde Geistlicher und starb jung.

Der fünfte, der Kasper hieß, übernahm den Kaufmannsberuf des Geschlechtes, obgleich er ursprünglich Jurist war. Als aber die Zeiten von neuem schlecht wurden, ließ er Handel Handel sein, widmete sich der Politik und war mit unter den ersten, die die Freiheit aufbauten, nachdem der Absolutismus seine letzten Atemzüge getan hatte.

Der sechste und jüngste hatte keinen festen Beruf erwählt. Er war nur der Sohn seines Vaters und der Bruder seiner Brüder. Sein Hang ging zur Natur; die alte Sehnsucht nach den fetten Wiesen regte sich in ihm. Sein Gemüt war schwer, sein Gedankengang einfach und erdgebunden.

Er brachte für sein Erbteil den alten Stammhof des Geschlechtes wieder in seinen Besitz. Von den Fenstern des Gutshofes aus konnte er die Wiesen überblicken und das offene Meer sehen. Als Großbauer füllte er seinen Platz zwischen den Leuten der Gegend aus, wurde einer ihrer Vertrauensmänner, aber nichts weiter.

Er hatte eine Pfarrerstochter geheiratet, die ihrem Hauswesen flink und tüchtig vorstand. Sie wurde im eigentlichen Sinne der Herr des Hauses; und als sie einen Sohn bekamen, war sie es, die seine Fähigkeiten erkannte.

Es war der Wunsch des Vaters gewesen, den Sohn für das Geschlecht zu gewinnen, indem er ihn zum Ursprung desselben zurückführen und ihn zum Landmann, zum Großbauer machen wollte.

Der Knabe hieß Jörgen, war lernbegierig, scharfblickend und klardenkend, hatte Talent zum Zeichnen und wälzte in Gedanken Pläne zu Häusern, die er bauen wollte – große und schöne.

Streng und einfach war sein Geist. Er lernte zeitig sich selbst erziehen. Doch gelangte er erst in einem vorgeschrittenen Alter zu seinem eigentlichen Beruf; als er ihn aber erreicht hatte, war er zuverlässig wie wenige; sein Name als Architekt wurde unter den besten des Landes genannt.

Als Jörgen Byge Kirsten Folcke heiratete, kam wieder Inselblut in das Geschlecht. Es war altes Blut, das ebenso wie das der Byges stark mit anderem vermischt worden war.

Das Geschlecht der Folckes stammte von einem böhmischen Abenteurer ab, der in den Tagen des Dreißigjährigen Krieges mit einem Heer, das geschlagen zurückkehrte, in Seeland eingewandert war. Er gründete ein Geschlecht, das in den Fußspuren des Krieges weiterging. Sie lebten vom Krieg, er war ihr Handwerk, ihre Kunst. Sie taten, was in ihrer Macht stand, um ihn nicht in Frieden hinsterben zu lassen. Bald waren sie oben, bald unten. Großvater General, Enkelkind Korporal, und das Kind des Enkelkindes wurde wiederum für Kriegerruhm geehrt und geadelt.

Dieses Kind des Enkelkindes war es, das dem Geschlecht den Namen Folcke gegeben hatte.

Als es schließlich mehr Friedensjahre als Kriegszeiten im Lande gab, wurden auch die Folckes stetige Leute und begnügten sich mit dem tatenlosen Garnisonleben des Offiziers.

Das Abenteurerblut verdünnte sich. In den späteren Generationen gab es Geistliche und andere gelehrte Leute, denen man Sanftmut und unbeugsamen Rechtssinn nachsagte.

2

Svend besuchte in den Schulferien seine Großeltern auf dem alten Stammhof der Byges bei dem Städtchen Fjordby, dicht an der deutschen Grenze.

Es waren erst wenige Jahre seit dem Kriege mit Deutschland vergangen; die Haut, die über die Wunden gewachsen war, war noch dünn und empfindlich.

Sein Großvater, ein kleiner, gebückter Mann mit milden, blauen Augen, ging mit dem Knaben an der Hand durch das Gehölz, das den großen Obstgarten von den Wiesen trennte.

Hier blieb er bei den Weiden stehen, die über die Anpflanzung hinausragten, und erzählte dem Knaben von jenem Abend, als er von der Patrouille des Feindes ergriffen wurde, die ihn beschuldigte, den Kanonenbooten, die draußen im Fahrwasser kreuzten, signalisiert zu haben.

Während er so stand und auf den Belt hinausstarrte, bemerkte Svend, wie seine milden Augen hart wurden. Plötzlich legte sich eine dünne, klare Haut darüber, und eine Träne schlich sich über die tiefe Furche in der Wange.

Erst viele Jahre später verstand Svend, was sein Großvater empfunden hatte. Damals wunderte er sich nur über die Träne, denn es war das erstemal, daß er einen erwachsenen Mann weinen sah.

Eine halbe Meile von der Küste und dem Hauptgutshof entfernt – am Rande des Waldes – lag »das alte Haus«.

So wurde es genannt, weil sein Urgroßvater – »der mit dem vielen Geld«, wie Mamsell Andersen sagte, er hing im blauen Frack, mit Halskrause und großem Ordensband über Großvaters Schreibtisch – es als Wohnsitz für seine Witwe gebaut hatte. Urgroßmutter hatte dort bis zu ihrem Tode gewohnt, aber jetzt stand das Haus leer; und Großmutter wollte dort nicht wohnen, wenn sie Witwe würde, das hatte sie häufig erklärt.

Es war Svends größtes Vergnügen, mit dem Großknecht nach dem Moor zu fahren, dem äußersten Zubehör des Gutshofes.

Dort, auf der anderen Seite der Landstraße mit den tiefen, lehmigen Wagenspuren, lag »das alte Haus« in dem wildverwachsenen Garten.

Das Haus war unbewohnt, aber vollständig möbliert, alte, steile, gebrechliche, stumme Möbel, die alles gesehen und miterlebt zu haben schienen.

Das hohe Ziegeldach mit der weißen Giebelkante und den beiden verfallenen Schornsteinen hing tief über die niedrige Mauer mit den kleinen Fenstern herab. Es war, als ob ein schwerer Hut über Augen und Ohren herabgeglitten war.

Dicht an der Gartentür standen zwei alte Kastanienbäume. Sie reckten sich über die Schornsteine und ihre Zweige ruhten auf dem Dach. In beiden waren Starkästen, die auch so alt aussahen, als wären sie mit den Bäumen aufgewachsen.

Der Grasplatz mitten im Garten war von einem prächtigen Flor von Butterblumen überwachsen. Alte Kirsch- und Pflaumenbäume drängten sich, um ans Licht zu kommen.

Auf beiden Seiten des Grasplatzes lief ein Gartenweg, der so von Grün überwuchert war, daß man ihn nur sah, weil er tiefer lag als der Rand des Rasens.

Er schlängelte sich ganz bis zur Landstraße hin, mit einer wildwachsenden Buchsbaumhecke auf der rechten Seite. Zur Linken lag eine undurchdringliche Wildnis von Johannis- und Stachelbeerbüschen, deren Beeren klein und verkrüppelt waren.

Viele der Büsche waren vor Alter abgestorben, so daß der holzige Hauptstamm nackt in die Höhe ragte und seine armseligen Äste wie Totengebein mitten in der Fruchtbarkeit des Lebens durch die Wildnis streckte.

Der Sauerampfer, der einst das Stachelbeerbeet eingehegt hatte, war riesenhaft groß geworden, zu reinen Sträuchern, die sich über den ganzen Garten verbreitet hatten; wo man ging, watete man in Sauerampfer.

Oh, es war ein herrlicher, ein geradezu göttlicher Garten! Und etwas Ähnliches an Vogelgezwitscher konnte man lange suchen.

In diesem alten Garten ging Svend eines Sommernachmittags mit seinem Vater und seinem Großvater.

Von dem Grasplatz unter den halbwilden Obstbäumen zeigte Großvater durch das offene Fenster in die alte Stube hinein.

»Kannst du das Bild dort in dem vergoldeten Rahmen sehen?« fragte er.

Svend konnte einen Mann mit gebogener Nase, blauen Augen, einem roten Uniformfrack und einem breiten, blauen Seidenband über der Brust erkennen.

»Das ist der König – der alte König! Dieses Bild hat dein Urgroßvater von ihm selbst geschenkt bekommen, weil er ihm Geld geliehen hatte, damit er dafür Schiffe bauen konnte, als das Land in Not war.«

Svends Herz schwoll. Er trat ans Fenster, um den vornehmen Mann genau zu betrachten.

»Weshalb hängt er nicht zu Hause im Wohnzimmer?« fragte er.

»Weil Urgroßmutter wollte, daß er in Urgroßvaters Zimmer hängen bleiben sollte.«

»Ist dies denn Urgroßvaters Zimmer?« fragte Svend und sah durch das Fenster zu der alten Schatulle und den zierlichen Stühlen mit den steifen Beinen hinein.

»Ja, so sah es aus, als er starb.«

Svends Phantasie arbeitete. Wahrend Großvater mit seinem Vater von dem Dach sprach, das ausgebessert werden mußte, dachte er an Urgroßvaters Bild zu Hause an der Wohnzimmerwand. Er nahm ihn aus dem Rahmen und führte ihn zum Bilde des Königs. Er ließ sie sich voreinander verneigen, wie er es auf einem Bilde von zwei alten Herren mit Perücken und Kniehosen gesehen hatte. Er ließ sie sich die Hand geben, und der König bot Urgroßvater eine Prise aus seiner Schnupftabakdose an, klopfte ihm auf die Schulter und sprach vom Vaterland.

»Woran denkst du, Svend?« fragte Großvater.

»An Urgroßvater!« sagte Svend und nahm seine Hand.

»Ja, ja, er war einer der besten Söhne des Vaterlandes.«

Großvater wurden die Augen feucht, und er richtete den Blick fest geradeaus, wie es seine Gewohnheit war. »Mögest du ihm einst ähnlich werden und deinem Vaterlande Dienste leisten wie er es tat!«

Und dann begann Großvater zu erzählen.

Er sprach still wie zu sich selbst vom Urgroßvater und wieder von dessen Vater – was dieser gesagt und was jener getan habe. Er sprach, wie alte Leute zu sprechen pflegen, die von alten Erinnerungen plaudern, wobei die eine immer die andere ablöst.

Svends Vater ging vor ihnen her in seinem weißen Sommeranzug und sah zum Dach hinauf, bald von der einen und bald von der anderen Seite.

Hin und wieder sah er sich mit seinem scharfen Blick zu dem Alten und dem Knaben um; es schimmerte wie ein Lächeln in seinem Bart.

Dann blieb er vor dem Giebel stehen, wo sich einige Mauersteine gelöst hatten.

»Gibt es hier eine Leiter?« fragte er.

Nun mußte Großvater sich unterbrechen, um über die Leiter nachzudenken.

Er seufzte dabei und versuchte so schnell wie möglich zu den alten Zeiten zurückzukehren.

Svends Vater aber sagte erst, während er die Leiter anlegte:

»Ich glaube, man soll sich hüten, Kinder zu fest an das Geschlecht zu knüpfen. Knaben müssen vor allen Dingen lernen, auf sich selbst zu stehen.«

Svend bekam einen roten Kopf vor Widerspruchslust. Er verstand sehr wohl, daß Großvater ihm nicht so viele alte Geschichten erzählen sollte. Aber er wagte nichts zu sagen. Als Großvater sich aber mit der flachen Hand über die Stirn strich, nickte und, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, sagte: »Ja, ja, du magst recht haben; ich bin ja noch aus der alten Zeit, als das Wohl des Geschlechtes dem der Persönlichkeit voranging,« – da nahm Svend seine Hand, zog ihn mit sich über den Rasen, wo Vater ihn nicht hören konnte, und flüsterte ihm zu:

»Die alte Zeit war viel besser!«

Großvater sah zu ihm herab und lächelte mit all seinen Runzeln. Dann strich er ihm mit der Hand übers Haar, wurde wieder ernst und sagte:

»Ja, Gott segne dich, mein Junge!«

11

Die Witwe Severine Jensen war eine kugelrunde, gutmütige Dame aus der Provinz. Sie verdiente Miete und Kost für sich und ihren siebzehnjährigen Sohn, der Lehrling war, indem sie Pensionäre hielt. Der Mann war Beamter gewesen und hatte ihr nichts weiter als die spärliche Witwenpension und dann den Jungen hinterlassen.

Frau Jensen trug meistens ein bekümmertes Gesicht zur Schau und sprach immer vom Geld und Preisen. Nur wenn sie im Kreise ihrer jungen Pensionäre saß und zu einer extra Tasse Kaffee eingeladen war, die Agnete Grönvold von eigenen Kaffeebohnen braute, dann taute sie schnell auf und war bald die Heiterste von allen.

Wenn sie am Abend ihren Sohn zu Bett geschickt hatte, den sie mit mütterlicher Strenge erzog, kam es vor, daß sie kleine gewagte Geschichten aus ihrem Provinzleben zum besten gab, von den heimlichen Umtrieben der Garnisonleutnants und von anderen Dingen, wobei sie mit einem Seitenblick auf Agnete, die augenblicklich die einzige Dame im Pensionat war, prüfte, wie weit sie in ihrem Bestreben, die jungen Leute zu amüsieren, wohl gehen könne.

Svend machte einen sehr günstigen Eindruck auf Frau Jensen. Das Zimmer wurde besehen – es war geräumig und lag nach der Straße hinaus. Einige überflüssige Möbel wurden entfernt und ein wackliger Schreibtisch an ihre Stelle gesetzt. Der Preis wurde vereinbart – er wurde sogar etwas herabgesetzt, als Svend eine bedenkliche Miene machte, und die Sache war in weniger als zehn Minuten geordnet.

Svend konnte gleich einziehen. So viel Interesse hatte Svend für die neue Bekanntschaft des Abends gefaßt, an die er die ganze Nacht hatte denken müssen, daß er den halben Monat, den er schon für sein Dachstübchen bezahlt hatte, fahren ließ. Svend hatte Agnete nicht zu Gesicht bekommen, als er mit Frau Jensen verhandelte; und er hatte nicht nach ihr fragen wollen, um sie nicht in ein falsches Licht zu bringen, obgleich er vor Neugierde brannte.

Als er aber nach einigen Stunden mit einem Dienstmann, der sein ganzes Hab und Gut auf einer Karre brachte, zurückkehrte, erzählte Frau Jensen unaufgefordert, daß er eine entzückende junge Dame als Nachbarin habe, die mit einem schlechten Menschen verheiratet gewesen, jetzt aber, Gott sei Dank, geschieden sei.

»Es geht überhaupt so gemütlich und lustig bei uns zu,« fügte sie hinzu, indem sie ihre Schürze in anständige Falten strich.

Erst beim Mittagessen traf er Frau Agnete.

Sie saß zwischen einem dunkelhaarigen, flotten, Kneifer tragenden Herrn – stud. med. Graulund – und einem kleinen, schmalschultrigen, blassen, glattrasierten Jüngling, der sehr nervös war; beim geringsten Geräusch zuckte es über seinen feingezeichneten Augenbrauen. Das war der »Philosoph«, wie Frau Agnete ihn getauft hatte, Franz Erichsen, angehender Philologe und Politiker.

Dann war da noch ein theologischer Kandidat und ein Assistent im Ministerium.

Svend bekam seinen Platz Agnete gegenüber angewiesen. Sie war heute in einem einfachen Tuchkleid, das ihre runden Schultern und die feste Brust stramm umschloß.

Während des Essens war sie viel zurückhaltender gegen Svend als am vorhergehenden Abend; und Svend hätte glauben können, daß sie ihre Offenherzigkeit bereits bereue, wenn nicht hin und wieder ein verstohlener Blick in den dunklen Augen ihr Interesse verraten hätte.

Nachdem die Herren ihn eine Weile unter zurückhaltendem Schweigen betrachtet und zu ergründen versucht hatten, welcher Art die Bekanntschaft zwischen ihm und Agnete sei, forderte die Jugend ihr Recht.

Unter Necken und Scherzen wurde dem neuen Mann mit der stolzen Haltung, dem blonden, hochgekämmten Haar und den großen jugendlichen Augen auf den Zahn gefühlt; er gab schnell und keck Bescheid, so daß der Kontakt bald zustande kam.

Als man sich nach beendigter Mahlzeit erhob, wurde er mit den anderen auf Graulunds Zimmer gebeten, wo es zur Feier des Tages einen Kognak zum Kaffee gab.

Agnete war jetzt munter und ungeniert, ganz wie gestern abend. Sie saß auf dem Sofa, rauchte Zigaretten und trank Kognak.

Es war ein richtiges radikales Nest, in das Svend hereingeplumpst war.

Sowohl Graulund wie der Philosoph betrachteten es als eine selbstverständliche Pflicht, jeder Parole, die von dem Generalkommando des heimatlichen Radikalismus ausging, zu folgen, ebenso wie mehrere von Svends Kameraden aus den reaktionären Kreisen es als eine Ehrensache ansahen, sich jede neue Weste, die ihr erstklassiger Schneider ihnen vorlegte, anzuschaffen.

Sie hatten einen wachen und kritischen Blick für die Schwächen ihrer Mitmenschen, die beim Kaffee mit beißendem Witz verhandelt wurden.

Wenn sie aber auch über die führenden Personen herzogen, und über Eitelkeit, Kleinlichkeit und gegenseitigen Brotneid spöttelten – die Dogmen verhöhnten sie nicht, auf die müsse man schwören, wenn man nicht für einen Obskuranten, Ignoranten oder Reaktionär gehalten werden wollte.

Zu Anfang verteidigte Svend seine Ansichten; er verfocht politischen Konservatismus, den Dreiklang in der Kunst: die begründete Harmonie des Guten, des Schönen und des Wahren, und was der Konstruktionen mehr waren, deren Gründlichkeit er nie persönlich untersucht, sondern als Überlieferung auf Treu und Glauben hingenommen hatte.

Svends Konservatismus erweckte eine ungeheure Heiterkeit, einen sprudelnden Hohn, besonders bei dem Philosophen, der hinter seinem schmächtigen Äußeren eine spitze und blitzende Intelligenz verbarg.

Svend schämte sich, in diesen Scharmützeln hinter seiner Zeit zurückzustehen; was den allmählichen Umschlag in seinem Gemüt aber mehr als alles andere beschleunigte, war der lebhafte Anteil, den Agnete an den Diskussionen nahm und ihre unbedingte Parteinahme für die Ansichten der anderen. Oft wenn er sie eifrig und mit rotem Kopf auf seine Seite zu ziehen versuchte, begegnete ihm ein ärgerlicher Blick aus ihren dunklen Augen, der ohne Umschweife ganz weiblich sagte:

»Tun Sie doch nicht so alt und vernünftig! – Wenn man jung ist, muß man auch auf Seite der Jugend sein. Dort gehöre ich hin. Dort gibt es Freiheit und Lebensfreude; und wollen Sie mir gefallen, dann müssen Sie jung, das heißt radikal wie wir anderen sein.«

 

Svend hatte noch keine vierzehn Tage bei Frau Severine Jensen gewohnt, als er bis über beide Ohren in Agnete Grönvold verliebt war.

Wenn er in seinem Zimmer saß, lauschte er auf ihre Schritte. Sein Herz klopfte heftig, wenn er sie des Abends zu Bett gehen hörte.

Er erwartete sie, wenn sie in Gesellschaft gewesen war, um das Vergnügen zu haben, ihr die Tür aufzuschließen und ihre Augen strahlend auf sich gerichtet zu sehen, während sie ihm kameradschaftlich die Hand drückte.

Er vermied seine frühere Geselligkeit, um immer in ihrer Nähe zu sein und keine der gemeinsamen Mahlzeiten zu versäumen. Nur wenn er wußte, daß sie nicht zu Hause war, ging er aus.

Und doch war etwas in ihrem Wesen, das ihn im tiefsten Innern abstieß. Er wußte nicht, was es war, leugnete es vor sich selbst, und das Bemühen, es zu betäuben, machte das Verlangen nach ihr nur noch heftiger.

Lange schien sein Werben hoffnungslos zu sein. Wenn er ehrlich sein wollte, konnte er sich keiner Bevorzugung in ihrer Gunst vor den anderen rühmen. Eher schien es, als zöge sie Graulund vor, den sie am längsten gekannt hatte und dessen keckes, schlagfertiges Wesen sie oft ausgelassen heiter machte.

Eines Tages in der Dämmerung war es so still in ihrem Zimmer, daß er glaubte, sie sei ausgegangen. Als er von dem Gedanken an sie erfüllt im Zimmer hin und her schritt und vielleicht ihren Namen laut vor sich hin gesagt hatte – da klopfte es an seine Tür und sie stand im Halbdunkel plötzlich vor ihm. Die Hand auf dem Drücker, bat sie ihn um ein Buch, von dem er gesprochen hatte.

Sein Herz schlug heftig in einer unerklärlichen Angst und einem unerklärlichen Jubel.

Mit zwei Schritten war er an ihrer Seite. Er hatte keine Zeit, ihre Frage zu beantworten; denn indem er auf sie zuging und ihre glühenden Wangen sah – als er ihrem Blick begegnete, der glänzender war als sonst und doch so seltsam fern und dunkel, da war mit einem Mal jeder Gedanke aus seinem Gehirn wie fortgeblasen.

Er wußte später nicht, wie es zugegangen war; aber im nächsten Augenblick lagen seine Arme ihr um Taille und Nacken. Mit geschlossenen Augen, deren Lider in Selbstvergessenheit zitterten, preßte sie ihren heißen Mund so voll und fest auf seinen, daß es war, als hinge sie mit ihrem ganzen Körper an seinen Lippen.

Sie wurden durch ein Geräusch an der Flurtür geweckt und verstanden beide, daß es Frau Jensen sei, die nach Hause kam, um das Abendessen herzurichten.

Er zog sie hastig tiefer ins Zimmer hinein und schloß die Tür ab. Dann vergaßen sie Mund auf Mund Zeit und Stunde.

Svend hatte nur geringe Erfahrung in erotischen Dingen; was er wußte, verdankte er nächtlichen Abenteuern, deren er sich Tags darauf schämte.

Darum kam dieser erste, echte Liebeskuß wie eine Offenbarung zu ihm. Er berührte den Naturboden in ihm, er fühlte sich plötzlich viel erwachsener und trotzdem so froh wie ein Kind. Alle wohlbekannten Dinge um ihn her wurden plötzlich viel wirklicher, viel persönlicher.

Da sie älter war als er, und die aus der Ehe Erfahrene, so führte ihr Verhältnis gleich zu voller Hingabe.

Schon am nächsten Abend, als er bebend wach lag und auf ihre Atemzüge hinter der Tür, die sie trennte, horchte, da hörte er, nachdem jeder Laut im Hause verstummt war, ein leises Klirren am Schlüsselloch. Ein Schlüssel wurde vorsichtig ins Schloß gesteckt und umgedreht; die Tür wurde langsam geöffnet und im Halbdunkel stand sie in ihrem langen, weißen Nachthemd da.

Jubelnd und berauscht streckte er die Arme nach ihr aus, doch wagte er es nicht, ihren Namen zu rufen. Sie nahm sich noch die Zeit, die Tür sorgsam zu schließen und die Portiere, die sie verdeckte, zurechtzuziehen, dann schlüpfte sie zu ihm über den Teppich.

12

Es war eine selige Zeit, die jetzt folgte.

Agnete verstand es, die anderen mit völliger Selbstbeherrschung über ihr Verhältnis zu täuschen, während Svend sich häufig mit gespielter Verdrossenheit waffnen mußte, als hätte sie ihn gekränkt, um sich bei den Mahlzeiten nicht zu verraten.

Ihre Selbstbeherrschung erweckte neben seiner Bewunderung ein peinliches Nachdenken in ihm über die Erfahrungen, die sie bereits in heimlicher Liebe gemacht zu haben schien. Sie sprach nur selten und ungern über das Verhältnis zu ihrem geschiedenen Mann. Svend hatte aus gelegentlichen Äußerungen entnommen, daß sie außer ihrem Mann noch einem anderen sehr nahe gestanden hatte.

Er fand es undelikat zu fragen; aber er wünschte sehnlichst, daß sie ihm eines Tages alles ohne Vorbehalt erzählen würde.

Agnete lebte dem Augenblick. Unbekümmert um Vergangenheit und Zukunft gab sie ihm, was ein Augenblick enthalten konnte, und verlangte dasselbe von ihm.

Wenn er von der Zukunft zu sprechen begann, lachte sie ihn aus und küßte ihm die Worte von den Lippen.

Wozu all dieser Ernst? – Konnten sie sich nicht ohne Überlegung wie zwei junge lebensfrohe und gesunde Menschen zusammen amüsieren?

Eines Tages sagte sie im Scherz zu ihm, daß er es seinem Zimmer zu verdanken habe, daß sie so schnell die seine geworden sei. Denn solch verlockender Gelegenheit, sich ungehört und ungesehen zu jeder Tageszeit zueinander zu schleichen, könne kein warmblütiger junger Mensch widerstehen.

Diese Worte mißfielen ihm sehr.

Wenn er nun auszöge und ein anderer sein Zimmer bekäme, würde sie dann denselben heimlichen Weg gehen?

Sie sagte neckend:

»Ja, warum nicht?«

Er kehrte ihr den Rücken und trommelte irritiert gegen die Fensterscheibe.

Sie ging zu ihm, faßte ihn von hinten um den Kopf und sagte weich:

»Du mußt doch Scherz verstehen!«

Da trafen sich ihre Blicke warm und voll, und ihre Lippen suchten sich hastig.

 

Diese Liebesmonate bewirkten nicht nur in Svends Lebensweise, sondern auch in seinen Anschauungen eine durchgreifende Veränderung. Er wurde, wie Agnete es wollte, radikal mit den Radikalen, jung mit den Jungen.

Wenn er bisher mit der älteren Generation gegangen war, zu ihrer Lebensanschauung geschworen hatte, so verstand er jetzt, daß es nicht nur aus einer kritiklosen Anerkennung des Althergebrachten geschehen war, sondern weil er unwillkürlich den Geist des Milieus eingesogen hatte, in dem er verkehrte, so wie die dünne Zellenhaut der Pflanze den Saft ihres Erdreichs trinkt.

Er lachte höhnisch über sich selbst, wenn er daran dachte, wie er sich übermütig als freier Geist gefühlt hatte, der nur durch das Versprechen an Onkel Kasper gebunden war, während er in Wahrheit selbst noch gar nicht denken, noch nicht persönlich urteilen gelernt hatte. Das erkannte er jetzt klar und deutlich.

Etwas aber quälte ihn nach seiner Freimachung, wie er es nannte, und das war das Gefühl, daß er denen zu Hause, seiner Mutter und Gerda, noch mehr entfremdet worden war als früher.

Das zeigte sich, als er in den Weihnachtsferien zu Hause war, so daß er seine Meinungen auf religiösem und moralischem Gebiet gar nicht zu äußern wagte und seinen Aufenthalt unter dem Vorwand, arbeiten zu müssen, abkürzte und nach Kopenhagen zurückeilte.

Noch lange nachher erinnerte er sich des Blickes, den seine Mutter ihm zuwarf, als er schon im Kupee stand und sich abschiednehmend zu ihr und Gerda hinausbeugte – eines betrübten, verstehenden Blickes, der besser als Worte sagte, daß sie wisse, sie habe ihn verloren, aber hoffe, daß er doch noch ein guter Mensch sei.

Er fühlte, wie das Blut ihm unter diesem Blick in die Wangen stieg, und im Bedürfnis nach einer Zuflucht suchten seine Gedanken Agnete, die er während seines ganzen Aufenthalts mit keinem Wort erwähnt hatte.

Als der Zug sich in Bewegung setzte und die beiden Menschen, die ihm so teuer waren, immer kleiner und undeutlicher wurden, mußte er bitter erkennen, daß es ihm eine unsägliche Erleichterung war, seinem Kindheitsheim den Rücken zu kehren. Er hatte ja während all dieser Tage seiner Mutter nicht gerade in die Augen sehen können – ganz wie in seinen Knabenjahren, wenn er etwas auf dem Gewissen hatte. Er wußte ja, wie sie sein Verhältnis zu Agnete beurteilen würde. Das Bitterste aber war, daß das, worüber er sich nach Ansicht seiner Mutter schämen mußte, ihm das Glücklichste schien, was er bis jetzt erlebt hatte.

Es war schon lange bestimmt gewesen, daß Frau Severine Jensens Pensionäre einen Landausflug machen wollten, wenn der Sommer ins Land käme.

Als nun der Wahltag das so sehnsüchtig erwartete Resultat brachte, indem die Linke und die Radikalen in Kopenhagen siegten, lag es nah, diese politische Freimachung zu feiern.

Springen, Goldregen und Schneebälle standen in voller Blüte, als Agnete, Graulund, der Philosoph und Svend in einem Zweispänner nach Skodsburg fuhren, um dort zu dinieren.

Das Wetter war strahlend, aller Lebensgefühl war aufs höchste gespannt, und Svend, der Agnete gegenüber saß, konnte seine Gefühle nur mit Mühe im Zaum halten. – Er meinte, daß alle ihr Glück lesen müßten, und es war nur auf ihr ausdrückliches Verlangen, daß ihr Verhältnis im Pensionat geheim gehalten wurde.

Svend war betrübt, daß sie noch immer nichts von Verlobung hören wollte. Das Wort irritierte sie geradezu. Sie sagte, daß sie von offizieller Liebe seinerzeit übergenug bekommen habe.

Das Heimliche in ihrem Verhältnis, das zuerst eine Anziehung mehr gewesen war, fing an ihn zu ermüden und zu quälen. Teils erforderte es so viel langweilige Ausflüchte, teils meinte er, daß ihnen ein gegenseitiges Recht aneinander zukäme, das von anderen nicht respektiert werden konnte, solange ihr Verhältnis geheim gehalten wurde. So konnte ihm diese Liebe, die ihn zuerst so beglückt hatte, bisweilen Eifersucht und Qual bereiten.

Nachdem sie im Kurhotel zu Mittag gegessen hatten, gingen sie nach der Konzerthalle am Strande, um Kaffee zu trinken.

Als sie bei Kaffee und Likören saßen und über die blanke Fläche des Sundes blickten, wo Kutter mit schlaffen, weißen Segeln unbeweglich in dem windstillen Nachmittage vor Anker lagen, wurde Svend durch eine bekannte Stimme aus seinen Glücksträumen gerissen.

Er drehte hastig den Kopf.

Ja, richtig, es war Tante Amalie, von einem Schwarm hellgekleideter junger Mädchen umgeben.

Sein Blick suchte Agnete. Auch sie hatte den Kopf bei dem Klang der Stimme gewandt und sah ihm mit komischem Entsetzen in die Augen.

»Das fehlte gerade!« flüsterte sie.

Das Schicksal hatte es gewollt, daß Tante Amalie, die jedes Jahr mit den Treuen ihres Nähvereins einen Ausflug machte, gerade diesen Tag gewählt hatte.

Daß Agnete sich an öffentlicher Stelle allein zwischen Herren befand, von denen notorisch keiner ihr Mann, Bruder oder Vater war, das war in Tante Amaliens Augen schon ein bedenklicher Fall. Daß sie die Füße flott auf einen anderen Stuhl gelegt hatte und eine Zigarette rauchte, das war mindestens skandalös, daß aber der eine ihrer Begleiter, der mit dem Kneifer auf der Nase, der anscheinend nicht ganz nüchtern war, ihre jungen Mädchen mit frechen Blicken musterte, das war unerhört.

Ihre erste Eingebung war, mit Rücksicht auf die junge, ihr anvertraute Schar, die skandalöse Gesellschaft zu schneiden und Agnete später ganz still aus dem Nähverein auszumerzen.

Agnete aber, die sich bereits in die Situation hineingefunden hatte, sagte in einem erfreuten Ton, indem sie ihre Füße vom Stuhl nahm:

»Sehen Sie nur, Herr Byge, da ist Ihre Tante mit dem Nähverein!« Und darauf nickte sie Tante Amalie und der Schar freundlich zu.

Svend war vom Stuhl aufgesprungen und grüßte schweigend, ohne die Damen anzusehen, während Herr Graulund, der sich köstlich amüsierte, sitzen blieb und gemütlich an den Hut griff.

»Unerhört!« murmelte Tante Amalie so laut, daß alle es hören mußten. Dann machte sie demonstrativ kehrt und schüttelte zornig ihre grauen Hängelöckchen, während Graulund laut auflachte.

»So! Nun bin ich abgetan!« sagte Agnete mit einem Lächeln, »und wenn eines aus der Schafherde so naiv sein sollte, am Mittwoch meinen Namen zu nennen, wird Totenstille im Zimmer herrschen. Eigentlich bin ich ganz froh darüber, denn ich mag nicht, daß Leute mich für etwas anderes halten als ich bin. Und gegen Tante Amalie bin ich nicht ehrlich gewesen.«

Svend dachte daran, daß der Bericht von dem unglückseligen Begegnis weitergehen würde; es quälte ihn, daß seine Mutter Kummer dadurch haben sollte. Er schlug vor, den Wagen ein Stück vorausfahren zu lassen, um Tante Amalie, die natürlich mit ihrer Schar in einer dritten Klasse gekommen war, nicht von neuem zu schokieren.

Agnete aber warf den Kopf in den Nacken und sandte ihm einen mißbilligenden Blick aus ihren dunklen Augen zu:

»Weshalb? Was ist denn dabei, wenn sie uns in einem Zweispänner sieht. Sie soll ihn ja nicht bezahlen. Man muß für sich selbst und seine Vergnügungen einstehen können.«

Svend wollte ihr nicht widersprechen. Es war ja nicht Tante Amaliens wegen – was kümmerte die ihn –, mochte sie ihn im Extrazug sehen, wenn es sein mußte – nein, er dachte an seine Mutter und an ihren genügsamen Sinn, wenn sie Tante Amaliens entrüsteten Brief bekam, den er sich lebhaft vorstellen konnte.

So wanderte man denn im Triumph zum Hotel zurück, und richtig, dicht neben der Anfahrt saß die weiße Schar um einen Tisch beim Kaffee.

Als sie im Landauer Platz genommen hatten, sah Agnete, wie sämtliche Mitglieder des Nähvereins die Hälse reckten. Und in plötzlicher Ausgelassenheit winkte sie ihnen mit ihrem Taschentuch zu.

 

Als man Klampenborg erreicht hatte, wurde der Wagen nach Hause geschickt, und sie machten einen Spaziergang durch den Wald zum »Hügel«, wo an Sommerabenden Volksbelustigungen stattfanden.

Das stille warme Wetter hatte die Kopenhagener in Scharen ins Freie gelockt. Es war ein Quietschen von Blasinstrumenten, ein Schreien und Kreischen von fröhlichen Stimmen, daß einem die Ohren gellten.

Agnete, die es liebte, sich zwischen Leuten aus dem Volke zu bewegen, strahlte von lebendiger, mitfühlender Freude. Ihre ganze Seele lag in ihren großen, glänzenden Augen.

Auch Svend hatte den Zwischenfall mit Tante Amalie überwunden; aber er fühlte sich nicht recht wohl in der Wärme und wurde mehrere Male von einem plötzlichen Stechen befallen, das ihm wie ein scharfes Messer durch die Seite jagte.

Sie waren in den Sängerinnen-Kneipen, wo man noch nach alter Sitte mit dem Teller herumging.

Das war der einzige Ort, wo Agnete sich trotz aller Neugierde nicht amüsierte. »Nein, das ist zu jämmerlich!« sagte sie schaudernd, »die armen Wesen!«

Graulund wollte die Sängerinnen absolut mit einer Runde schwedischem Punsch traktieren. Als die anderen ihn daran hindern wollten, begehrte er auf, und sie wurden zum Gegenstand peinlicher Aufmerksamkeit. Svend zog Agnete eiligst mit sich hinaus, während der Philosoph versprach, sich Graulunds anzunehmen.

Als Svend und Agnete draußen waren, wurden sie sofort von der Menge mitgerissen und so von den anderen getrennt. Sie wollten am liebsten allein sein. Agnete klammerte sich blaß an Svend, die Kehrseite des menschlichen Vergnügens hatte ihr ans Herz gegriffen und eine plötzliche bittere Vorstellung, wozu das Leben führen konnte, in ihr erweckt.

Sie wollte fort von dem unleidlichen Lärm, der ihr in den Ohren schmerzte und eine nervöse Falte in ihre Stirn grub.