Der neue Sonnenwinkel
– 17 –

Leichtsinn raubte ihr das Glück

Alle hatten dich gewarnt, Sandra!

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-460-7

Weitere Titel im Angebot:

Dr. Roberta Steinfeld stand am Fenster ihres Behandlungszimmers und blickte hinaus auf die Straße, die still vor ihr lag. Gerade war Alma nach Hohenborn gefahren, und eine gewisse Aufgeregtheit war nicht zu übersehen gewesen.

Alma war verliebt, sie hatte einen netten Mann kennengelernt, der sie heiraten wollte. Und Roberta konnte sehr gut verstehen, dass es Alma zu diesem Mann zog.

Sie konnte ja von Glück reden, dass Alma ihren Job bei ihr nicht aufgeben wollte, nur die Wohnung, die sie derzeit noch im Haus bewohnte.

Wie schnell sich doch alles veränderte …

Aus einem verhuschten Wesen war eine selbstbewusste Frau ­geworden, oder wie es im Märchen hieß – aus einem hässlichen Entlein hatte sich ein stolzer Schwan entwickelt. Nun, so ganz stimmte dieser Vergleich nicht, hässlich war Alma nie gewesen.

Aber darüber musste sie sich jetzt wirklich keine Gedanken machen. Die Zeit würde zeigen, wie sich alles entwickeln würde. Und irgendwie ging es immer weiter.

Vor Roberta lag ein langes Wochenende, sie hatte keinen Bereitschaftsdienst, und es gab keine Patienten, bei denen täglich Hausbesuche gemacht werden mussten.

Alle waren für das Wochenende versorgt.

Und Roberta hatte sich auf ein Wochenende mit ihrer Freundin Nicki gefreut, doch die hatte kurzfristig absagen müssen, weil sie für einen früheren Auftraggeber nach Spanien gereist war, um in Barcelona bei einer Konferenz zu übersetzen. Dabei hatte Nicki doch kürzertreten wollen und hatte einen festen Job angenommen.

Roberta war sich nicht sicher, ob Nicki nicht sogar froh gewesen war über den Job. Sie hatte zwar vollmundig behauptet, es mache ihr nichts mehr aus, in den Sonnenwinkel zu kommen und Roberto Andoni zu begegnen. Aber das glaubte Roberta nicht. Nicki litt noch immer unter der Trennung, die von ihr ausgegangen war. Als sie zu Roberto zurückkehren wollte, hatte der inzwischen geheiratet, und seine Frau würde jetzt in Kürze ihr erstes Kind bekommen.

Arme Nicki!

Jetzt plötzlich auch unbedingt heiraten und Mutter werden zu wollen, das war das Neueste, was Nicki wollte. Doch auch da war Roberta sich nicht sicher, ob sie nicht einfach nur Roberto nacheifern wollte.

Das Leben konnte ganz schön kompliziert sein, nicht nur bei Nicki. Da konnte sie vor ihrer eigenen Haustür kehren. Viel aufzuweisen hatte sie in ihrem Privatleben auch nicht gerade, womit man sich brüsten konnte – eine gescheiterte Ehe, eine gescheiterte Liebesbeziehung zu einem wesentlich jüngeren Mann, einem, wenn auch etablierten, Aussteiger.

Und nun?

Da hatte sie sich in einen Mann verguckt, und es war ein recht ungewöhnlicher Anfang gewesen, als sie mit ihrem Auto in seines hineingefahren war.

Lars Magnusson …

Es waren nicht nur seine unglaublich blauen Augen gewesen, die sie fasziniert hatten. Nein, Roberta hatte das Gefühl gehabt, ihrem Mr Right begegnet zu sein. Und es hatte so vielversprechend begonnen. Mit einer Flasche Wein hatte er vor ihrer Tür gestanden, ganz unkompliziert, und es war ein ganz wundervoller Abend geworden, mehr noch, sie hatten bis in die Nacht hinein über Gott und die Welt gesprochen, und dabei waren die Funken ganz gewaltig geflogen. Und als sie sich voneinander verabschiedet hatten, waren sich ihre Gesichter gefährlich nahe gewesen, und sie hätten sich beinahe geküsst.

Roberta seufzte.

Es hätte mit ihnen so schön weitergehen können. Dass es nicht dazu gekommen war, ganz einfach, sie hatte es vermasselt. Es war wie verhext, im Beruf war sie einsame Spitzenklasse, das konnte sie, ohne zu übertreiben, von sich behaupten. Doch in ihrem Privatleben, da benahm sie sich wirklich manchmal wie der berühmte Elefant im Porzellanladen.

Dabei war nichts weiter geschehen. Ihre Fantasie war nur mit ihr durchgegangen, und als sie ihn zusammen mit einer Frau gesehen hatte, war sie fest davon überzeugt gewesen, es handele sich um seine Ehefrau.

In diesen Gedanken hatte sie sich hineingesteigert und jedes Treffen mit ihm abgelehnt, und sie hatte sich ihm gegenüber auch nicht gerade freundlich verhalten, nicht wie eine erwachsene, gestandene Frau, sondern eher wie ein pubertäres Mädchen, und das war ihr heute noch peinlich.

Von Roberto Andoni hatte sie so ganz nebenbei erfahren, dass es keine Ehefrau gab, sondern dass es sich bei seiner Begleiterin um seine Schwester handelte.

Als sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, zu ihm zu gehen, mit ihm zu reden, da war er ausgeflogen, das Haus war abgeschlossen. Wie damals bei Kay, dem sie sehr lange nachgetrauert hatte. Und auch da war sie es gewesen, die alles zerstört hatte.

Mit Kay hatte sie magische Augenblicke erlebt, mit Lars war es nicht einmal zu einem Kuss gekommen.

Es war wohl besser, sie ließ die Hände von Männern, und eigentlich müsste sie nach diesen schrecklichen Erfahrungen mit Max für immer geheilt sein.

Eigentlich …

Schlechte Erinnerungen verblassten, die Zeit heilte alle Wunden. Und sie war nicht nur eine ganz hervorragende Ärztin, sondern sie war auch eine Frau mit Wünschen und Bedürfnissen, und träumten sie nicht alle von dem Prinzen, der auf einem weißen Pferd dahergeritten kam und sie in eine Welt voller Glückseligkeit entführte.

Roberta seufzte erneut.

Sie wandte sich vom Fenster ab, ging zu ihrem Schreibtisch und griff nach einer Patientenakte. Für besondere Fälle war es ihr lieber, ganz so wie früher, darin zu blättern als sich über den Computer zu informieren.

Sie musste sich ablenken, denn sie war heute sentimental, und es war nicht gut, sich in unrealistische Träume zu verlieren.

Pia Wolf …

Diese Frau war von Anfang an ihre Patientin, und Roberta machte sich große Sorgen. Eigentlich gehörte Pia in die Behandlung eines Psychotherapeuten, doch das lehnte die junge Frau ab. Sie wollte nur zu ihr kommen, und für Roberta war es sehr mühsam, durch den Panzer aus Stahl zu dringen, den Pia zum Selbstschutz um sich selbst gelegt hatte, um an ihrem Schicksal nicht zu zerbrechen.

Es gab nur dieses eine Thema!

Und das war ganz, ganz schrecklich. So etwas wünschte man nicht seinem ärgsten Feind.

Pia Wolf hatte unbeabsichtigt ihren eigenen Sohn Fabian überfahren, er war sofort tot.

Und es war eine so unglückliche Verkettung von Umständen gewesen, dass man von dem Gedanken nicht loskam, warum das Schicksal ausgerechnet hier so grausam zugeschlagen hatte.

Pia hatte ihren Sohn mit seinem Ball auf die Treppe vor der Haustür gesetzt, war in die Garage nebenan gegangen, um den Wagen herauszuholen, und gerade als sie mit Schwung aus der Garage gekommen war, war der Ball auf die Ausfahrt gerollt, und Fabian war ihm hinterhergelaufen, und da war es geschehen.

Die Schuldgefühle hatten Pia beinahe umgebracht, ihre Ehe war darüber zerbrochen, weil sich das Ehepaar emotional gegenseitig hochgeschaukelt und verausgabt hatte.

Roberta sah sich die Medikation noch einmal genau an. Sie konnte da nichts weiter tun, und das wollte sie auch nicht. Pia musste in eine Therapie gehen, und Roberta konnte nur darauf hoffen, dass sie am Anfang der Woche wenigstens ihren Vorschlag annehmen würde, in eine Selbsthilfegruppe verwaister Eltern zu gehen, die sich in Hohenborn gebildet hatte unter der Leitung einer sehr erfahrenen Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.

Natürlich würde Pia zuerst einmal ablehnen, da war Roberta sich jetzt schon sicher. Aber vielleicht würde sie umdenken, wenn sie erfuhr, dass diese Ärztin selbst eine Betroffene war. Sie hatte durch einen betrunkenen Autofahrer ihre Tochter verloren, ihr einziges Kind.

Roberta merkte, dass sie sich nicht richtig konzentrieren konnte, sie war durch private Gedanken abgelenkt. Vielleicht hatte sie ja auch zu viel gearbeitet und konnte sich deswegen nicht auf etwas Berufliches fokussieren.

Einmal musste auch genug sein.

Sie klappte die Akte zu und zwang sich, nicht nach der nächsten zu greifen.

Im Grunde genommen war das mit der vielen Arbeit auch so eine Art Flucht. Das wollte Roberta natürlich nicht wahrhaben und redete sich mit Begeisterung für ihren Beruf heraus.

Roberta stand auf und verließ ihr Büro und die Praxisräume insgesamt, und wieder einmal stellte sie fest, wie schön es doch war, Praxis und Privaträume in einem Haus zu haben.

So etwas war ganz besonders bei schlechten Witterungsverhältnissen ein Segen.

*

Ein wenig lustlos stocherte Roberta in ihrem Essen herum, ehe sie es wieder in den Kühlschrank packte. Sie hatte einfach keinen Appetit, dabei hatte Alma sich wirklich wieder alle Mühe gegeben.

An ihrem Verhalten, an ihren Kochkünsten, an ihrem Arbeitseifer hatte sich überhaupt nichts verändert. Die Abende hatten sie auch so nur sehr selten miteinander verbracht.

Es war die bevorstehende Veränderung, die Roberta beunruhigte, und in ihr war auch noch die Enttäuschung, weil Nicki nicht gekommen war.

Für einen Augenblick überlegte sie, zum ›Seeblick‹ zu laufen, sie musste ja nichts essen, sondern konnte einen Wein trinken und ein wenig mit Roberto und Susanne plaudern, die es sich nicht nehmen ließ, noch immer zu arbeiten.

Roberto unkte schon scherzhaft, dass seine Frau vermutlich das Baby mitten im Restaurant unter den Gästen bekommen würde. Es machte Spaß, den beiden zuzusehen.

Seine Verbindung zu Nicki war leidenschaftlicher, insgesamt emotionaler gewesen. Aber wenn Roberta ehrlich war, dann passte Susanne besser zu ihm als Restaurantbesitzer. Sie packte mit an, es machte ihr Spaß, sie war gut fürs Geschäft.

Roberta holte sich aus einem Schrank eine Tafel Schokolade, brach ein großes Stück davon ab und aß es auf dem Weg zum Wohnzimmer auf.

Sie zwang sich, nicht zurückzulaufen und sich ein weiteres Stück abzubrechen. Es war schrecklich, wenn man einmal damit anfing, konnte man es nicht lassen, dabei war sie doch überhaupt keine ›Süße‹. Nicki war da anders, sie war sauer, wenn sie nachmittags nicht ihren Kuchen bekam.

Nein, sie wollte jetzt nicht an Nicki denken, auf die sie sich so sehr gefreut hatte. Sie setzte sich vor den Fernseher, doch den machte sie schnell wieder aus, weil es wirklich nicht eine einzige gescheite Sendung gab. Sie fragte sich, wofür sie eigentlich die Fernsehgebühren bezahlte. Für die fünfte oder sechste Wiederholung? Es gab Filme, in denen konnte sie beinahe schon mitspielen. Das war eine Zumutung von den Fernsehgewaltigen.

Sie musste lächeln, als ihr bewusst wurde, dass für ihre schlechte Laune beinahe jeder herhalten musste.

Sie machte den Fernseher aus und legte eine CD auf, schenkte sich ein Glas Rotwein ein, lehnte sich zurück. Und jetzt begann sie, sich zu entspannen. Sie bemühte sich, an nichts Konkretes zu denken, was überhaupt nicht so einfach war, weil Gedanken immer wieder zu dem Punkt zurückkehrten, der einen am meisten beschäftigte, und in ihrem Fall war das leider Lars Magnusson, den sie einfach nicht aus dem Sinn bekam.

Du liebe Güte!

Das konnte ein heiterer Abend werden.

Roberta wünschte sich beinahe schon, von einem Patienten angerufen zu werden.

Oder sollte sie sich aufraffen und doch zum ›Seeblick‹ gehen?

Noch während sie unschlüssig war und überlegte, klingelte es an ihrer Haustür, und das war jemand, der es eilig hatte.

Sie erwartete niemanden, und Nicki konnte es leider wirklich nicht sein, die war in Barcelona, und dort würde sie das ganze Wochenende über bleiben.

Es klingelte erneut, diesmal fordernder.

Ehe Roberta zur Tür ging, trank sie rasch noch einen Schluck Wein.

Wer mochte das wohl sein?

Sie erwartete, und heute musste sie sogar sagen leider, niemanden.

Es klingelte wieder, und sie rief: »Ja, ja, ich komme ja schon.«

Dann öffnete sie die Tür.

Sie prallte zurück.

Ein Bild schob sich in ihre Gedanken, so etwas hatte sie schon einmal erlebt.

Vor ihr stand Lars Magnusson, genau wie damals mit einer Flasche Wein unter dem Arm, wieder unverschämt gut aussehend, wieder lächelnd.

»Unser erstes Treffen stand unter keinem guten Stern«, sagte er, »fangen wir noch einmal von vorne an?«

Er sah sie an, und sie … sie war außer sich, vor Überraschung, vor Freude.

Roberta konnte nichts sagen, sie trat beiseite, damit er eintreten konnte, und als er an ihr vorüberging, herb nach einem ausgezeichneten After Shave duftend, musste sie sich an der Tür festhalten.

Er blieb vor ihr stehen, blickte sie an, und er erwartete ganz offensichtlich eine Antwort von ihr.

Sie konnte nur nicken, und damit gab er sich zufrieden, ging voraus in ihr Wohnzimmer, und sie konnte nicht anders, sie musste lächeln.

Mit welcher Selbstverständlichkeit er sich hier benahm.

Sie erholte sich von ihrer Überraschung, und jetzt freute sie sich nur noch.

Lars Magnusson war hier. Er war also nur vorübergehend nicht im Sonnenwinkel gewesen, und das, was er vorhin so leicht bemerkt hatte, klang sehr vielversprechend.

Einen Neuanfang, den wollte sie ebenfalls, und diesmal würde sie es nicht vermasseln, das nahm sie sich ganz fest vor.

Lars stellte im Wohnzimmer die Flasche auf den Tisch, drehte sich zu ihr um.

Und was dann geschah …

Wie magnetisch voneinander angezogen, lagen sie sich auf einmal in den Armen, und dann küssten sie sich, als gäbe es kein Morgen.

Die Welt versank um sie herum, und Roberta hätte vielleicht gern gedacht, dass es so war, wie sie es sich in ihren Träumen gefühlte tausendmal vorgestellt hatte. Doch dazu war sie überhaupt nicht in der Lage.

Sie gab sich nur diesem unvergleichlichen Gefühl hin, und ihm ging es nicht anders.

Seine Nähe beglückte sie, seine Leidenschaftlichkeit, sie vergaß, was eine ihrer Stärken war, zu denken. So etwas hatte in diesem magischen Augenblick überhaupt keinen Platz.

Es gab nur Gefühl pur …

So etwas hatte Roberta in ihrem ganzen Leben zuvor noch nicht erlebt.

Irgendwann ließ er sie los, und ihr war ganz schwindelig vor lauter Glück.

»Das hätten wir schon viel früher haben können«, grinste er. »Aber schön, dass du eifersüchtig bist, das zeigt mir doch, dass ich dir nicht ganz gleichgültig bin.«

Sie wurde rot wie eine überreife Tomate und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Über ihn hatte sie, abgesehen einmal von Nicki, nur mit einem Menschen gesprochen, und das bestätigte er auch.

»Vom Wirt des ›Seeblicks‹ weiß ich, dass du meine Schwester für meine Ehefrau hieltest. Und da auf einmal konnte ich mir dein merkwürdiges Verhalten erklären, auf das ich mir keinen Reim machen konnte.«

Er nahm sie erneut in seine Arme, diesmal ganz zart und zärtlich. Er presste sie ganz fest an sich und murmelte: »Nun ist doch alles in Ordnung, oder?«