DER AUTOR
© Privat
Steven Lochran hat schon während seiner Kindheit Geschichten geschrieben. An der University of Technology in Queensland hat er einen Bachelorabschluss in Kreativem Schreiben gemacht und anschließend als Filmkritiker und -vorführer sowie als DJ gearbeitet. Mittlerweile ist er Vollzeitautor. »PALADERO – Die Reiter des Donners« ist der erste Band seiner spannenden Fantasy-Reihe.
Der Autor lebt mit seiner Frau und zwei Katzen in Melbourne.
Steven Lochran
Paladero –
Die Reiter des Donners
Aus dem australischen Englisch
von Andreas Decker
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1. Auflage
Erstmals als cbt Taschenbuch September 2017
Text copyright © 2016 Steven Lochran
Design copyright © 2016 Hardie Grant Egmont
Internal illustrations © 2016 Jeremy Love and Alex Allen
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»PALADERO: THE RIDERS OF THUNDER REALM«
bei Hardie Grant Egmont, Australia
© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Andreas Decker
Lektorat: Michelle Gyo
Umschlaggestaltung: © Isabelle Hirtz, Inkcraft
unter Verwendung des Originalmotivs
Cover design by Kristy Lund-White,
Cover illustrations by Jeremy Love
jb · Herstellung: ang
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN:978-3-641-19922-7
V001
www.cbt-buecher.de
Für meine Familie
KAPITEL EINS
Ein gewalttätiges und ungeheuerliches Ende
Joss starrte den Tyrannosaurus an. Der Tyrannosaurus starrte zurück. Dann setzte sich das Ungeheuer in Bewegung. Zuerst war es nicht besonders schnell. Aber aus kleinen Schritten wurden große Schritte, aus großen Schritten wurde ein Galopp. Der Aufprall der Krallen auf dem Boden hallte wie Gewitterdonner, ließ Steinchen aufspritzen und Salamander wegflitzen. Zittrig atmete Joss aus und bemühte sich, die Nerven nicht zu verlieren, obwohl sein Reittier nervös bockte.
»Ruhig, Azof«, flüsterte er seinem Raptor zu und strich über die dunkelblauen Federn auf dem Hinterkopf der Donnerechse. »Ganz ruhig.«
Man trat den Spießrutenlauf nicht mit einem Reittier an, das jünger als fünf Jahre war, da ein unerfahrenes Tier durchgehen konnte. Das war die allgemeine Meinung. Azof war erst zwei Jahre alt, aber Joss war auch erst fünfzehn. Der »allgemeinen Meinung« nach war auch er zu jung für diese Aktion. Als der König der Donnerechsen jetzt mit vor Sabber triefendem Maul auf ihn zukam, musste Joss sich eingestehen, dass die allgemeine Meinung vielleicht recht haben könnte.
Was hatte ihn da nur geritten? Was hatte er sich dabei gedacht, sich in diese Lage zu bringen? Verglichen mit dieser Bestie war das Viehtreiben der Stegosaurier und Triceratops, das seit Jahren sein Handwerk war, ein Kinderspiel. Vor dem Hintergrund des glatten roten Gesteins der Schlucht wirkten die grünen Schuppen des Tyrannosaurus nur noch monströser und rauer. Die Zähne hinter den Lippen blitzten auf. Joss fragte sich, wie es wohl war, zwischen diesen gewaltigen Reißzähnen zu stecken. Die Vorstellung entfachte in ihm den heftigen Wunsch, zu fliehen.
Nur, dass ihm das nichts nutzen würde. Drehte er um und galoppierte davon, würde ihn der Tyrannosaurus verfolgen. Und es gab hier keine Höhlen, in denen man sich verstecken konnte, genauso wenig wie höheres Gelände, in dem man entkommen konnte. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie in Betracht gezogen, vor etwas davonzulaufen, und ausgerechnet jetzt, wo er darüber nachdachte, hatte er keine andere Wahl, als zu bleiben.
Er löste die Schnalle einer der beiden Bolas, die an seinem Gürtel befestigt waren. Das schwere Gewicht der Wurfwaffe zog den Lederriemen in seiner Hand nach unten. Ohne den Tyrannosaurus aus den Augen zu lassen, schwang er die Bola über dem Kopf.
Die Riemen peitschten wie die Blätter eines Ventilators. Joss legte mehr Kraft in die Bewegung; sie wurden lauter. Die drei wie Kanonenkugeln geformten, auf Hochglanz polierten Gewichte waren nur ein über ihm summender grauer Schemen. Sie ließen bereits seinen Arm schmerzen, während der Tyrannosaurus nun so nahe war, dass Joss ihn riechen konnte. Er stank nach Sabber und rohem Fleisch, roter Erde und Regen.
Joss hielt die Luft an und ließ die Bola los. Während die Waffe auf ihr Ziel zuflog, tat Joss etwas, das er zuletzt als kleiner Junge getan hatte. Er betete. Aber er betete nicht zu dem Schlafenden König, wie es die anderen Bürger von Ai getan hätten. Nein, er betete zu seinem Vater und seiner Mutter. Er betete, dass er gut gezielt hatte, dass die Bola nicht reißen würde und seine Tollkühnheit nicht sein Ende bedeutete.
KAPITEL ZWEI
Mit eisernem Willen
Zuvor …
Sur Wallace ging es wieder schlecht. Er hatte nicht die Pocken oder Fieber oder einen gebrochenen Knochen. Diese Übelkeit hatte er sich selbst eingebrockt. Es war die Art von Unwohlsein, die man auf dem Boden einer Flasche fand. Eine, wie sie leer neben dem alten Paladero stand, der schnarchend auf dem Zeltboden lag.
Armer Edgar, dachte Joss. Er stieß Sur Wallace mit der Stiefelspitze an. Was für eine Verschwendung. Der Paladero schnaubte und schlug nach der Störung, aber darüber hinaus regte er sich nicht. Nicht zum ersten Mal schätzte Joss sich glücklich, dass er nicht der Knappe dieses kaputten Kerls sein musste. Sur Veritas hatte zweifellos ihre Fehler, aber sich vor ihren Pflichten zu drücken gehörte nicht dazu.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, ertönte Sur Veritas’ Stimme vor dem Zelt.
»Josiah? Bist du da drin?« Der Zelteingang öffnete sich und sie blickte hinein. Ihr gutes Auge funkelte wie eine Speerspitze. Beim Anblick von Sur Wallace wurde die Speerspitze noch schärfer. »Was für ein Trauerspiel geht denn hier vor sich?« Sie betrat das Zelt.
Sie trug die leichte marineblaue Rüstung, in die Joss ihr früher am Tag hineingeholfen hatte. Darunter befand sich ein Wams aus Plateosaurusleder. An ihrem Gürtel hingen zwei Klingen. Die längere war ihr Liedschwert, das alle echten Paladeros trugen, und das sowohl als Waffe wie auch als Werkzeug zum Treiben von Donnerechsen benutzt wurde. Nur ein einziger Paladero trug jedoch auch die Heldenklinge, das zeremonielle Schwert, das man dem Sieger des Spießrutenlaufs verlieh. Diesen Paladero nannte man den Hüter der Klinge und Sur Veritas bekleidete diesen Rang seit nunmehr sechs Jahren in Folge.
Joss fragte sich, ob sie der Gedanke daran, ihren Titel verteidigen zu müssen, nervös machte. Falls dem so war, ließ sie es sich nicht anmerken. Tatsächlich sah sie in ihrer funkelnden Rüstung, die Hand fest um den Griff ihres Liedschwertes gelegt, wild und zum Kampf bereit aus. Im Gegensatz zu Sur Wallace. Edgar war nicht dazu in der Lage gewesen, ihm mehr als eine Hose und die stählerne Halsberge anzulegen, die ihn jetzt wie einen Anker nach unten zog.
»Sturmhut! Schön, Euch zu sehen!« Wallace schaffte es, trotz der schweren Lider zu strahlen. »Legt etwas … uff … legt doch etwas von Eurer Last ab.«
Der alte Paladero wälzte sich auf die Knie, um aufzustehen, aber die Anstrengung war zu groß. Sur Wallace rollte wie eine Schildkröte auf den Rücken und fing an zu schnarchen.
Sur Veritas legte die Stirn in Falten, sodass ihre Augenklappe sich bewegte. Sie wandte sich an Joss. »Wo ist sein Knappe?«
»Edgar holt Kaffee. Ich würde sagen, ich helfe dem guten Sur mit dem Rest seiner Rüstung. Ihr braucht mich ja nicht mehr, wie ich sehe.«
»Diese Rüstung wird dem ›guten Sur‹ heute nichts mehr nützen, das ist so klar wie ein rauchloser Himmel«, höhnte Sur Veritas und stieß Wallace ebenfalls mit der Stahlspitze ihres Stiefels an. Dieses Mal zuckte Wallace nicht einmal. »Du musst zu den Kampfrichtern laufen und ihnen mitteilen, dass Sur Wallace krank ist und seinen Platz im Spießrutenlauf aufgeben muss.«
Sie spuckte auf den Teppich und schob sich rückwärts aus dem Zelt. Joss folgte ihr; er hielt noch immer Sur Wallaces Brustharnisch in den Händen. Draußen wartete Sur Veritas’ Raptor Levina. Sie war ein prächtiges Geschöpf mit violetten Schuppen, purpurnen Federn, grünen Augen und kleinen gelben Reißzähnen. Das Tier war beinahe doppelt so groß wie Joss, wirkte aber noch größer, da es gerade die Nase in die Höhe streckte und witterte.
»Aber wenn Sur Wallace seinen Platz aufgibt, riskiert er, sämtliche Sponsoren zu verlieren«, sagte Joss, der hinter Sur Veritas hereilte.
»Die unglückliche Konsequenz seiner heutigen Handlungen«, erwiderte sie, ohne auch nur etwas langsamer zu werden.
»Aber was ist mit seinem Knappen?«, wollte Joss wissen. Er hoffte, ihr begreiflich machen zu können, wie ungerecht das alles war. »Edgar …«
Sur Veritas schnaubte. »Dafür habe ich jetzt keine Zeit. Sur Wallaces Probleme sind Sur Wallaces Probleme. Verstanden?«, fauchte sie und Joss schwieg. Sur Veritas führte keine Unterhaltungen fort, wenn sie der Meinung war, dass alles gesagt war. Da war der Versuch Erfolg versprechender, einen Pterosaurier mit einem Schmetterlingsnetz einzufangen.
»Geh jetzt, Josiah.« Sie stieg in den Sattel. »Wir sehen uns, wenn heute der Sieger gekürt wird.«
»Viel Glück«, murmelte Joss. Auch wenn sie nicht auf ihn hörte, war er doch noch immer ihr Knappe. Er musste ihr das wünschen.
»Glück?« Sie schnaubte. »Glück ist Mist. Ich mache mein eigenes.«
Sie zog an den Zügeln und trieb dann den Raptor zum Galopp an, während die Menschenmenge vor dem Stadion ihr den Weg frei machte.
»Möge Euch der Schlafende König seine Gunst erweisen, Sur Veritas!«, rief ein dicker Zuschauer, als sie vorbeiritt.
»Ich habe mein Geld auf Euch gesetzt, Hüterin der Klinge! Enttäuscht mich nicht!«, rief ein anderer.
»Sturmhut! Zeigt es ihnen!«
Joss blickte ihr hinterher. Sein Magen verkrampfte sich, als er hinter sich eilige Schritte hörte, die durch den Schlamm platschten. Er drehte sich um. Es war Edgar, sein Knappenkamerad, der die Kapuze hochgeschlagen hatte, um seine pinkfarbene Haut vor der Sonne zu schützen. In der Hand hielt er ein silbernes Gefäß.
»Ich habe den Kaffee!«, keuchte er. Sein Atem pfiff durch das abgebrochene Stück eines Schneidezahns. »Das war doch hoffentlich nicht Sur Veritas, oder? Hat sie Sur Wallace gesehen?«
»Ich fürchte schon«, erwiderte Joss zu Edgars deutlich sichtbarer Bestürzung. »Er hat es endlich geschafft. Wallace hat zum letzten Mal mit dem Feuer gespielt und wir können nichts daran ändern. Es tut mir leid, Edgar.«
»Verdammter Mist!«, fluchte der junge Knappe und wollte die Kaffeekanne wegwerfen, doch er besann sich eines Besseren. »Wäre ich doch nur früher aufgewacht, hätte ich …«
»Hättest du was? Ihn vor sich selbst retten können?«
»Nein. Ja. Ich weiß es nicht. Ich hätte irgendetwas tun können.« Entmutigt ließ Edgar die Schultern hängen.
Obwohl Joss Edgar nun schon fast ein ganzes Jahr lang kannte, hatte er ihn noch nie so verloren gesehen. In dieser Zeit hatte sich der Junge so fähig wie gutherzig erwiesen. Joss wollte sich gar nicht erst ausmalen, was möglicherweise aus ihm wurde, wenn Sur Wallace heute nicht zu dem Wettstreit antrat. Schließlich arbeitete er selbst nun seit fünf Jahren auf der Rundschild-Ranch – lange genug, um sich zum Paladero zu qualifizieren, hätte er nur das richtige Alter gehabt. In dieser Zeit hatte er ein halbes Dutzend Knappen erlebt, die Sur Wallaces Fehler hatten ausbaden müssen. Nicht einer von ihnen war geblieben, und das alles war so ungerecht, dass er einen Entschluss fasste, den er mit eisernem Willen auszuführen gedachte.
»Du hast doch noch mit keinem der Schiedsrichter über Sur Wallace gesprochen, oder?« Eine tollkühne Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an.
»Nein. Warum?« Edgar sah ihn verwirrt an.
Joss fuhr auf dem Stiefelabsatz herum und eilte auf das Versorgungszelt zu, das er und die anderen Knappen am ersten Morgen des Turniers drei Tage zuvor aufgebaut hatten.
Das Zelt zeigte die roten und silbernen Streifen der Rundschild-Ranch und wäre wirklich beeindruckend gewesen, hätte man es nicht zwischen die beiden gewaltigen Zelte von Haus Zadkille gequetscht. Joss eilte an den schwarzen und purpurnen Bannern von Zadkille vorbei und vergewisserte sich, dass niemand in seine Richtung sah, bevor er in das Zelt schlüpfte.
»Was tust du da?«, zischte Edgar, der hinter ihm her gestolpert war. »Ohne Erlaubnis eines Paladeros dürfen wir nicht hier rein, das weißt du genau.«
»Die schlechten Entscheidungen eines Paladeros haben dich erst in deine missliche Lage gebracht. Und das ist nicht richtig«, erwiderte Joss. Er stemmte Sur Wallaces Brustharnisch auf eine Kommode, bevor er einen verzierten Schlüssel aus der Tasche holte.
»Das ist doch wohl nicht …! Das hast du nicht getan! Joss, wie bist du an den Schlüssel für das Waffenlager rangekommen?«
»Sur Veritas gab ihn mir beim Aufbau. Ich habe ihn behalten. Du solltest besser nicht so viele Fragen stellen, Edgar«, erwiderte Joss, während er zu den verschlossenen Schränken ging, in denen die Ausrüstung der Rundschild-Ranch verstaut war. »Falls das hier nicht klappt, wird man dir viele Fragen stellen. Und du wirst keine davon beantworten wollen.«
»Warum? Was hast du vor?«
Joss fuhr mit dem Finger über das Schloss des größten Schranks. »Um dieses Desaster zu verhindern, muss Sur Wallace nur den Spießrutenlauf reiten. Er muss nicht gewinnen. Er muss einfach nur auftauchen, herumreiten und seine Sponsoren glücklich machen. Und genau das wird er auch tun.«
»Das bedeutet doch nicht, was ich glaube, dass es … oder?« Als Joss nicht antwortete, fügte Edgar hinzu: »Das kannst du nicht machen. Falls hier jemand dafür den Hals hinhält, dann ich.«
»Nicht böse sein, Edgar, aber dafür fehlt dir die nötige Größe.«
»Ich bin nur zwei Jahre jünger als du!«
»Und fast einen Fuß kleiner«, sagte Joss so sanft er konnte. »Vertrau mir. Wenn das hier klappen soll, dann muss ich das machen.«
»Aber … warum?«, fragte Edgar. »Gut, wir sind befreundet. Tatsächlich bist du vermutlich die einzige Person, die mir seit meiner Ankunft auf der Ranch halbwegs das Gefühl gegeben hat, willkommen zu sein. Aber das bedeutet nicht, dass du deine Position, nein, dein Leben, für mich riskieren solltest!«
Joss hielt lange genug inne, um über diese Frage nachzudenken. Warum tat er das? Welche Erklärung gab es für diese verrückte Idee, die ihn gepackt hatte und einfach nicht mehr loslassen wollte?
»Weil es nicht richtig wäre, weniger zu tun.« Er starrte auf das Schloss an der Tür und dann auf den Schlüssel in seiner Hand. »Und weil es mir viel bedeutet, nach einem ganzen Leben ohne Freundschaften befreundet zu sein.«
Edgar schluckte die Einwände herunter, die er vermutlich noch hatte, und sah zu, wie Joss den Schrank öffnete.
Zufrieden sah Joss, dass alles Nötige da war. Und da die Zeit drängte, legte er los. Als Erstes befestigte er zwei Bolas an seinem Gürtel, dann legte er Sur Wallaces Harnisch an.
»Das kannst du nie alles allein anlegen. Du brauchst die Hilfe eines Knappen.« Edgar schlug die Kapuze zurück.
»Glücklicherweise bin ich Knappe.« Joss hob die Arme über den Kopf, um nach den Scharnieren auf dem Rücken der Rüstung zu greifen.
Edgar verdrehte die Augen und stellte die Kaffeekanne ab. »Lass mich dir helfen.«
»Es geht schon.« Joss hüpfte ein Stück zur Seite, während er weiter versuchte, an die Scharniere zu kommen.
»Bleib stehen!«, rügte Edgar ihn. Er packte seinen Freund bei den Schultern und drehte ihn herum, um den Harnisch festzuschnallen. »Hoffentlich schaffen wir das, bevor uns jemand sieht und wir bis ans Ende der Tage gepeitscht werden.«
Beide hatten Übung darin, einem Paladero in die Rüstung zu helfen, und so brauchten sie nur wenige Minuten, bis sie fertig waren. Joss betrachtete sich in dem matten Spiegel, der in der Zeltmitte stand, und ein seltsamer Stolz stieg in ihm auf.
Schon seit Jahren hatte er davon geträumt, die Rüstung eines Paladeros zu tragen. Jetzt tat er genau das. Der stählerne Harnisch, den er und Edgar über sein Lederwams geschnallt hatten, passte zu der Plattenrüstung, die Oberschenkel und Schienbeine schützte. An den Armen trug er Oberarmröhren, Ellbogenschützer aus Leder und fingerlose Handschuhe. Eine bis zu den Knien reichende Lederjacke aus rostbrauner Stegosaurierhaut, die wie ein Umhang von seinen Schultern hing, vervollständigte die Aufmachung.
Was er sah, beeindruckte ihn, auch wenn das nicht besonders bescheiden war. Es spielte keine Rolle, dass die Rüstung alt und verbeult und die Jacke zerkratzter war als ein Säbelzahntiger nach einer Keilerei.
»Aussehen tust du richtig«, meinte Edgar. »Jetzt brauchst du nur noch eins.«
Er nahm einen Helm aus einer der Kisten und warf ihn durch den Raum. Joss fing ihn mit einer Hand und betrachtete ihn verwirrt. Es war ein Helm, wie er für gewöhnlich von einem fliegenden Paladero auf dem Rücken eines Pterosauriers getragen wurde. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie das Teil seinen Weg in die Ausrüstung der Rundschild-Ranch gefunden hatte – bis ihm wieder einfiel, dass Sur Wallace auf Schneidenweide angefangen hatte. Edgar wusste wirklich über den Paladero Bescheid, dem er diente. Und er konnte wirklich schlau sein. Der schnittige Helm hatte ein zurückklappbares Visier aus blauem Kristall, das den Träger unkenntlich machte. Die perfekte Verkleidung.
»Halte das Visier unten und niemand wird etwas merken«, sagte Edgar. Dann zeigte er auf Joss’ Gürtel mit dem Dolch. »Deine Summklinge solltest du aber besser bei mir lassen, sonst verrätst du dich sofort.«
»Genau darum bist du der beste Knappe, den ich kenne«, erwiderte Joss und stellte den Helm lange genug ab, um seine Summklinge abzuschnallen, die Übungswaffe, mit der sich Knappen auf den Tag vorbereiteten, an dem sie ihr eigenes Liedschwert erhielten. Edgar verstaute den Dolch in seinem Beutel, während Joss seine langen schwarzen Locken zu einem Echsenschwanz drehte, damit sie ihm nicht ins Gesicht fielen.
»Der beste Knappe nach dir, richtig?«, sagte Edgar mit einem wissenden Lächeln.
»Das hast du gesagt.« Joss grinste zurück, dann setzte er den Helm auf.
Edgars Lächeln verblasste. »Also ehrlich …«, sagte er mit tiefem Ernst. »Ich danke dir. Sur Wallace wird in deiner Schuld stehen, selbst wenn er niemals davon erfährt. Und ich schulde dir doppelt so viel.«
Der Helm verbarg Joss’ Unbehagen. »Willst du, dass mir schlecht wird? Mit diesem Eimer auf dem Kopf kann ich es mir nicht leisten, zu spucken.« Edgar kicherte. Aber seine Tapferkeit war gespielt, und Joss fragte sich, ob es für einen Rückzieher wohl zu spät war. Die schlimmste Strafe für den Einbruch ins Waffenlager würde vermutlich darin bestehen, einen Monat lang die Fußböden der Ranch schrubben zu müssen. Mit einer Zahnbürste. Und einer Augenbinde. Aber sich für einen Paladero auszugeben, um am Spießrutenlauf teilzunehmen … Welche Strafe würde darauf wohl stehen?
»Also, bist du bereit?«, fragte Edgar und lenkte Joss damit von seinen Gedanken ab. »Wenn du schon mitmachst, solltest du auch rechtzeitig antreten.«
»Du vergisst eines, Edgar.« Joss schritt zum Zeltausgang. Selbst mit dem Gewicht der Rüstung und den quälenden Zweifeln fühlte er sich noch immer einen Fuß größer. »Was wäre ein Paladero ohne seinen Raptor?«
KAPITEL DREI
Ein Glücksfall
Die Menschenmenge auf dem Lagerplatz hatte sich etwas verlaufen. Jetzt waren hauptsächlich nur noch die Besitzer der Stände da, die Brachiosaurier-Burger grillten und auf die in der Luft schwebenden Illuminatoren schauten. Sie übertrugen Bilder des Publikums im Stadion und Nahaufnahmen der sich im Lauf messenden Paladeros, die an der Startlinie standen. Joss blieb nicht mehr viel Zeit.
Wären mehr Leute in der Nähe gewesen, hätte er vielleicht versucht, Sur Wallaces schwerfälligen Schritt zu imitieren. Aber der alte Paladero hatte sich nie so hervorgetan, wie Sur Veritas es geschafft hatte, was die Gefahr, erkannt zu werden, verringerte. Also konnte Joss so schnell gehen wie er wollte, ohne befürchten zu müssen, sich zu verraten. Hastig lief er auf die Ställe zu und bog gerade an der Ecke eines Marktstandes ab, als er fast mit einem Zuschauer zusammenstieß, der verschwenderisch nach der neuesten Mode von Illustra gekleidet war.
»Oh! Ich bitte von ganzem Herzen um Verzeihung, guter Sur«, sagte der Ehrenmann aus Illustra und hob den albern großen Hut, der wie ein Schornstein auf seinem Kopf saß. »Und ich wünsche Euch viel Glück beim Spießrutenlauf!«
Joss sagte kein Wort, sondern nickte nur und lief weiter. Dass dieser Mann in aller Seelenruhe herumspazieren konnte, während sich alle anderen um einen Sitz im Stadion balgten, zeigte deutlich, dass er genug Geld für eine eigens für ihn reservierte Loge hatte. Von dieser Art Wohlstand konnte Joss nur träumen, und er war jedem gegenüber misstrauisch, der seinen Reichtum so öffentlich zur Schau stellte.
Andererseits misstrauten die Bewohner des Donnerreichs seit jeher den Besuchern aus den Küstenstädten von Ai, wann immer diese zum Spießrutenlauf anreisten. Sie kamen in ihren funkelnden Raketenwagen daher, vergnügten sich ein paar Tage lang damit, jeden herablassend zu behandeln, um dann zurück in die Sicherheit ihrer Stahltürme zu fliegen, wo ihnen ihre Mechanoidendiener sprudelnde Getränke servierten. Die allgemeine Meinung war sich darin einig, dass die hochnäsigen Städter am besten in Illustra geblieben wären, um dort ihr Geld zu zählen – wobei sie gleichzeitig ignorierte, dass genau dieses Geld das Turnier erst alle zwei Jahre möglich machte.
Als sich Joss den Ställen näherte, verlangsamte er seinen Schritt. Die Schlammpfütze vor dem Scheunentor war wie ein Burggraben, aber er schaffte es, sie so gut wie unbeschmutzt zu passieren. Drinnen war es dunkel, aber trocken. Jedes Tier stand in seiner eigenen Box, die Pflanzenfresser im vorderen Teil und die Fleischfresser am hinteren Ende.
»Azof!« Joss lief zur Stallmitte und dann weiter zu den Boxen der Fleischfresser. »Azof, mein Junge, wir haben einen Wettkampf zu gewinnen.«
Die Donnerechse wartete in ihrer Box, den Kopf zur Seite gelegt, als hätte sie auf die Stimme ihres Herrn gewartet. Obwohl er noch ein Jungtier war, hatte Azof bereits einen kräftigen Schopf aus marineblauen Federn auf Kopf, Hals und Armen, die zu seinen hellblauen Schuppen passten.
Die Echse sah Joss an und knurrte.
»Schon gut, mein Junge, ich bin es nur«, sagte Joss. Er schob das Visier lange genug nach oben, damit das Tier ihn erkennen konnte. »Wir haben nicht viel Zeit, also würde ich es zu schätzen wissen, wenn du nicht nach mir schnappst, während ich dich sattle.«
Azof streckte die Brust heraus und schnalzte mit der Zunge, was einer Zustimmung noch am nächsten kam. Joss sprang über das Tor in die Box, was ihn dank des ungewohnten Gewichts von Sur Wallaces Rüstung bedeutend mehr Kraft als gewohnt kostete. Mit klirrenden Bewegungen machte er sich daran, seinen Raptor zu satteln.
Nicht alle Knappen hatten das Glück, eine eigene Donnerechse zu besitzen, aber als Joss in der vergangenen Saison zum Knappen Erster Klasse ernannt worden war, hatte man ihm ein Reittier geschenkt. Traditionellerweise wäre dieses Geschenk von den Eltern gekommen, aber da das nicht möglich war, hatte ihm Sur Veritas einen von Levinas Schlüpflingen übergeben.
Bei dem Gedanken an Sur Veritas fragte er sich erneut, was sie wohl sagen würde, falls sie ihn erwischte. Würde sie ihm Azof wegnehmen? Hatte sie überhaupt das Recht dazu? Allein schon der Gedanke ließ Joss mit zitternden Händen innehalten, gerade als er den Sattel festschnallen wollte.
»Alle Teilnehmer zur Startlinie.« Der Lautsprecher draußen erwachte zum Leben und trieb Joss an. »Wir wiederholen, alle Teilnehmer zur Startlinie.«
Als er endlich fertig war, öffnete Joss Azofs Box, sprang in den Sattel und trieb den Raptor an. In wildem Lauf sprinteten sie aus dem Stall und zum Registrierungspavillon.
Der Pavillon war riesig, aber das sich hinter ihm erhebende Sandsteinstadion ließ ihn winzig erscheinen. Das aufgeregte Geschrei der Zuschauer hallte über die Stadionmauern; sie feuerten ihre Favoriten unter den Paladeros an, während der Lautsprecher ein letztes Mal ertönte. »Alle Teilnehmer zur Startlinie. Das ist der letzte Aufruf.«
Eilig lenkte Joss den Raptor zum Pavillon und ritt direkt hinein. Hier war es stiller, und er konnte hören, wie seine Rüstung wie eine Geldbörse klirrte. Der Lärm reichte, um die Aufmerksamkeit eines rostigen Mechanoiden zu erregen, der allein am anderen Zeltende an einem Tisch voller Papierstapel saß. Als der Mek zu Joss aufsah, der noch immer auf dem Rücken seines Raptors saß, flammten die kybernetischen Augen rot auf.
»Ihr seid spät dran«, sagte der Mechanoid. Seine Stimme rauschte noch mehr als der Lagerlautsprecher. »Name?«
»Sur Wallace Wundamore von der Rundschild-Ranch«, erwiderte Joss, senkte die Stimme zu einem tiefen Brummen und gab sich alle Mühe, das natürlich klingen zu lassen.
Der Mechanoid überflog das Blatt in seiner Hand. »Warum tragt Ihr einen Helm, Sur Wallace?«
»Eine lästige Fieberblase«, verkündete Joss genau so, wie er es in Gedanken geübt hatte. »Ich will doch keinen erschrecken, wenn meine hässliche Visage auf dem Illuminator auftaucht.«
»Und Euer Reittier?« Der Mek schaute Azof an, der den Kopf schief legte und ein Trillern von sich gab.
Joss legte ihm beruhigend die Hand auf den Kopf. »Mein Biest ist krank geworden, also lieh ich mir den hier von einem Knappen. Ich hoffe, das ist kein Problem.«
Der Mechanoid starrte ihn an. Die unveränderliche Miene blieb ausdruckslos. Kann er feststellen, dass jemand lügt? Joss spürte Panik in sich aufsteigen, aber dann schob der rostige Automat ein Eintrittsformular herüber, und er entspannte sich wieder.
»Keine Pterosaurier. Keine Bolzenpistolen, keine Donnerstöcke, keine Liedschwerter oder Peitschen. Nur Ihr, Euer Reittier, die beiden gestatteten Bolas und Euer Können. Und ein Wasserschlauch zur Erfrischung, solltet Ihr ihn brauchen. Macht Euer Zeichen, wenn Ihr einverstanden seid.« Der Mek legte einen Stift neben das Formular.
Joss rutschte aus dem Sattel und nahm den Stift. Jeder Paladero hatte sein eigenes, unverwechselbares Zeichen, das das Emblem seines Ordens mit einer eigenen Ausschmückung verband. So sehr es ihn auch reizte, das Zeichen zu malen, das er in den vergangenen sechs Jahren in Dutzenden von Schreibheften geübt hatte, war ihm doch klar, dass er sich an Sur Wallaces Unterschrift halten musste.
Zuerst malte er die vier kleinen Kreise in dem großen Kreis, was für die Rundschild-Ranch stand, dann fügte er die beiden Ws hinzu, die Sur Wallace Wundamore so einfallsreich als persönliches Zeichen gewählt hatte. Er gab dem Mechanoiden das Blatt zurück.
»Viel Glück, Sur Wallace.« Der Mek legte das Blatt auf seinen Stapel. »Und seid versichert, dass wir im Todesfall oder bei einer Verstümmelung Eure nächsten Angehörigen benachrichtigen.«
Der Mechanoid winkte ihn zum Eingang für die Teilnehmer, wobei sein Ellbogengelenk wie ein altes Tor quietschte. Unter seinem Helm blinzelte Joss ungläubig. Das war es schon gewesen? Aber als er wieder auf Azof stieg und die Donnerechse durch den gewundenen Tunnel ins Stadion ritt, wurde ihm klar, dass reinzukommen der leichteste Teil gewesen war.
Blendendes Licht und ohrenbetäubender Lärm schlugen ihm entgegen und ließen ihn blinzeln. Er schüttelte sich, und als seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, registrierte er die gewaltige Menschenmenge, die ihn umgab. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie zuvor so viele Menschen an einem Ort gesehen. Es schienen doppelt so viele wie beim letzten Turnier zu sein, aber vielleicht gaukelte ihm sein Verstand auch nur etwas vor, während er noch immer damit beschäftigt war, zu begreifen, dass er tatsächlich hier war und gleich den Spießrutenlauf reiten würde. Joss fragte sich, ob er aufgeregt oder ihm schlecht sein sollte. Er entschied sich für beides.
Das Publikum war schon einschüchternd genug, aber dann wurde er sich der anderen Teilnehmer bewusst, die sich vor ihm versammelt hatten. Die Paladeros saßen auf ihren Tieren an der Startlinie. Die Raptoren schnappten nacheinander, während sie ungeduldig auf den Startschuss warteten. Mit angehaltenem Atem lenkte Joss sein Tier zur Rückseite der Menge, während er nach Sur Veritas Ausschau hielt. Es überraschte ihn nicht, sie von schwebenden Illumikameras umgeben am Kopf des Rudels zu finden. Zischend stieß er die Luft aus.
»Die Teilnehmerrolle ist nun offiziell geschlossen, und in wenigen Augenblicken beginnt der Spießrutenlauf, das Hauptereignis des alle zwei Jahre stattfindenden Paladero-Turniers! Der Sieger erringt Ehre, Ruhm und die großzügig gefüllte Börse mit zehntausend Kronen! Und die Verlierer? Nun, das weiß allein der Schlafende König. Kinder, Damen, Ehrenmänner … Seid! Ihr! BEREIT?«, donnerte die Stimme des Stadionsprechers aus den Lautsprechern und trieb damit die Zuschauer zu lauterem Gebrüll an, als jede Donnerechse, die Joss jemals gehört hatte.
Sie waren aus allen Teilen von Ai gekommen. Natürlich gab es bekannte Gesichter – die Paladeros, die bei den Wettkämpfen der vergangenen drei Tage nichts gewonnen hatten, was sie von der Teilnahme am Spießrutenlauf ausschloss. Sie jubelten nur halbherzig, und so, wie viele von ihnen schwankten, musste man annehmen, dass sie Sur Wallace in kaum etwas nachstanden.
Aber hinter den graugesichtigen Mistfressern sah man die Seidengewänder der Mitternachtsinseln, die grob gewebten Arbeitsmonturen von Hammerton und die hellbunten maßgeschneiderten Gewänder von Illustra. Sie standen zwischen den Bauern aus den Grafschaften mit ihren breitkrempigen Strohhüten und den Bewohnern der Rückgratberge, die noch immer ihre Schals um die Gesichter gewunden hatten, als erwarteten sie jeden Augenblick einen Schneesturm.
Hoch über ihnen befand sich die Privatloge des Regenten. Ihre verspiegelten Fenster machten es unmöglich zu erkennen, ob der gewählte Herrscher von Ai heute geruhte, das Fest mit seiner Anwesenheit zu beehren. Aber das konnte die Begeisterung des Publikums nicht beeinträchtigen. Jeder jubelte und schrie, und als sich im ganzen Stadion Illumigramme von Sur Veritas öffneten, wurden sie nur noch lauter.
»Und da ist sie, die dreifache Siegerin des Spießrutenlaufs und amtierende Hüterin der Klinge, Sur Veritas Sturmhut von der Rundschild-Ranch, die im Namen ihrer Sponsoren Aufsteigende Waffenkammern, der Hotelkette Donnerkuppel-Hotel und der Sattlerei Klauen & Co. reitet!«, verkündete der Sprecher. »Ob Sur Veritas die Heldenklinge auch dieses Jahr behält? Das werden wir bald erfahren!«
Die smaragdgrünen Strähnen in Sur Veritas’ Haar funkelten, als sie der Menge dezent zuwinkte und -nickte, bevor sie ihre Aufmerksamkeit der Startlinie zuwandte. Ihre Konzentration war bedeutend besser als Joss’, der wider besseres Wissen die rostigen Illuminatoren anstarrte. Dort wurde das Bild von Sur Veritas gerade durch einen gigantischen, sabbernden Tyrannosaurus ersetzt.
»Unsere Königsechse wurde in der Schlucht losgelassen, und unsere Paladeros müssen sie entweder fangen oder ihr entgehen, je nachdem, was ihr Glück entscheidet!« Der Sprecher kicherte verhalten.
Joss löste sich vom Anblick der umherstreifenden Donnerechse und schaute zur anderen Stadionseite, wo der flache sandige Boden zu einer hohen Felsklippe führte. Der Wall aus glattem roten Felsen war noch höher als das Stadion und wies in der Mitte einen schmalen Durchgang auf.
Ein dünnes Rinnsal Schweiß lief seinen Rücken hinunter und kitzelte auf seiner Haut. Er bemühte sich, das Gefühl loszuwerden, ohne sich im Sattel zu schütteln, aber Azof schnaubte trotzdem. Er zwang sich dazu, ganz still dazusitzen, sich zu konzentrieren und das Jucken zu ignorieren. Und dann entdeckte er aus dem Augenwinkel Edgar.
Er stand bei den anderen Knappen der Rundschild-Ranch und hatte die Kapuze wieder hochgeschlagen. Aber obwohl sein Gesicht zur Hälfte verborgen war, entging Joss seine Sorge nicht. Er winkte dem Jungen unauffällig zu und war überrascht, wie ruhig seine Hand dabei doch war. Die Geste schien Edgar zu beruhigen, denn er beantwortete sie mit einem schmalen, aber unsicheren Lächeln.
»Mein Name ist der Fröhliche Merl und ich bin heute euer Gastgeber«, verkündete der Sprecher. Seine Stimme verursachte eine Rückkopplung, was Joss zusammenzucken und von den Stehplätzen wegschauen ließ. Die gebeugte Gestalt auf der schwebenden Plattform in der Mitte des Stadions reagierte genauso. »Aber bitte heißt jetzt zusammen mit mir die Turnierlegende, Anführer des Großmeisterrates und heutigen Schiedsrichter Großmeister Eno Corrigan willkommen, der gerade hereinkommt, um das Startsignal zu geben!«
Der kahlköpfige Paladero hielt in der einen Hand einen Stock und in der anderen eine große Pistole; seine Plattform schwebte direkt über den Köpfen der Teilnehmer.
»Paladeros, haltet euch bereit!«, rief er. Seine Stimme hallte durch das Stadion und brachte die Menge zum Schweigen. Die Paladeros und ihre Tiere spannten sich bis zum Zerreißen an, Joss eingeschlossen. Jeder Muskel vibrierte und wartete auf den entscheidenden Augenblick.
Großmeister Eno betrachtete die Reihe der Wettstreiter. Er hob die Starterpistole zum Himmel.
»Los!«, rief er und betätigte den Abzug. Ein Blitz zuckte aus dem Lauf und teilte das Stadion eine Sekunde lang in zwei Teile. Die Paladeros stürmten auf den Spalt in der Felswand zu und Joss und sein Raptor liefen hinter ihnen her.
Irgendwo jenseits der Mauer wartete ein halb verhungertes Ungeheuer auf sie. Joss beugte sich auf seinem Sattel vor und galoppierte auf das Felslabyrinth zu, wobei er durch Sur Wallaces Helm kaum Luft bekam.