Jean-Pierre Barral
Die Botschaften unseres Körpers
Ganzheitliche Gesundheit ohne Medikamente
Mein großer und herzlicher Dank gilt allen, die es mir durch ihre Anwesenheit und Unterstützung ermöglicht haben, die Botschaften unseres Körpers besser zu verstehen:
Jean Arlot, Prof. Georges Arnaud, Michel Boujenah, Marc Bozetto, Paul Chauffour, Prof. Pierre Cornillot, Vincent Coquard, Françoise Coulet, Alain Croibier, Jacques Descotte, Thomas Dummer, Didier Feltesse, Viola Fryman, Régis Godefroy, Barbara Hendricks, Lionelle Issartel, Bernard Lignier, Franck Lowen, Jean-Paul Mathieu, Pierre Mercier, Serge Paoletti, Prof. Bernard Paramelle, Henri Pinel, Didier Prat, Louis Rommeveaux, Maurice-Paul Sainte-Rose, Dominique Thévenot, Dominique Triana, John Upledger, John-Matthew Upledger, Gail Wetzler, John Whernam, nicht zu vergessen die Familien Plancard und Igounet und die gesamte Sippe Barral unter der Leitung von Rose und René.
In Österreich geht mein Dank an Nina Köck, in Deutschland an Omar Qandeel, Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, Peter Schwind und Christoph Sommer.
Die Ratschläge/Informationen in diesem Buch sind von Autor und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
Wir können nicht in unseren Körper hineinschauen. Einige anatomische und medizinische Begriffe sind uns zwar bekannt, aber über unsere Körperfunktionen und die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Systemen wissen wir nur wenig. Unser höchst geheimnisvolles »Innenleben« wird von der Haut umhüllt, die eine Art Schutzwall gegen äußere Angriffe bildet. Die Haut schützt unser Leben. Wird sie verletzt, bringt uns das in Gefahr. Ein körperliches Trauma, ein chirurgischer Eingriff, eine Wunde oder ein Knochenbruch zerstören das Gefühl körperlicher Integrität und schwächen uns. Die Wunde schließt sich, aber die Haut bleibt von einer Narbe gezeichnet, während das Körpergedächtnis im Inneren Narben, Schmerzen und Stress unsichtbar speichert. Diese unter der Oberfläche liegenden Spannungen können sich jederzeit entladen.
Angriffe auf das eigene Wertesystem und seelische Traumata sind heimtückischer, denn sie schlagen eine Bresche in unseren psychischen Schutzwall und überwinden ihn, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen. Äußerlich kann man zwar nichts erkennen, aber die Erinnerung an die Verletzungen prägt sich unserem Körper tief ein. An welcher Stelle dies geschieht, hängt von unserem persönlichen Schwachpunkt ab. Das kann der Rücken, die Leber oder der Darm sein … Vom Körper gehen zudem elektromagnetische Wellen aus, die eine weitere Schutzhülle um unsere Haut bilden, unsichtbar und subtil. Sie spüren diesen Schutzwall, wenn Ihnen jemand zu nahe kommt. Sie haben dadurch ein Gefühl dafür, wie nah Sie jemanden an sich heranlassen möchten, beziehungsweise welche Distanz Sie zu einem anderen Menschen brauchen.
Sind wir verletzt worden, ob sichtbar oder unsichtbar, so wirkt das auf den Körper und unsere Seele wie ein Schiffsleck, das die Mannschaft abzudichten versucht: Ist sie bei Kräften, wird der Schaden rasch behoben sein, ist sie aber durch mehrere Tage in aufgewühlter See bereits erschöpft, übersteigt die Reparatur ihre Kräfte, und das Leck kann das Schiff letztendlich zum Sinken bringen.
Es sind vor allem unsere Organe, die Reaktionen auf unsere Emotionen zeigen – sie sind äußerst empfänglich für unsere Gemütsbewegungen und Gefühle. So nehmen unsere Emotionen im wörtlichen Sinne »Gestalt an«. In verschiedenen Redewendungen wird dies deutlich, wie »Das bereitet mir Magenschmerzen« oder »Das tut mir in der Seele weh«, »Mir wird das Herz schwer«, »Mir kommt die Galle hoch«, »Das nimmt mir den Atem«, »Ich bekomme eine Gänsehaut« und andere. Man sagt auch »Jemand hat einen empfindlichen Magen« oder »Dieser Mensch hat viel Herz«. Sprachliche Wendungen, die eine Verbindung zwischen Gefühlen und Organen herstellen, gibt es viele. Die Organe reagieren unterschiedlich, je nach Intensität, Schwere und Dauer des Stresses. Man kann Stress, der durch den Verlust eines Schlüsselbundes entsteht, nicht mit Stress vergleichen, den der Verlust des Arbeitsplatzes oder der Bruch mit einem geliebten Menschen verursacht.
An der Spitze der emotionalen Belastungen steht der Tod eines nahen Angehörigen, gefolgt von Scheidung, Entlassung, ungewolltem Umzug – die Liste ist endlos lang. Die emotionalen Reaktionen reichen von einfachen Krämpfen der Gallenblase bis zu Magenbrennen, Erbrechen, Unwohlsein, Ohnmachtsanfällen, Geschwüren, Hepatitis oder schwereren Erkrankungen. Im Allgemeinen reagieren bei kleineren Ärgernissen die Gallenblase und der Solarplexus (in der Magengrube). Wie wir noch sehen werden, ist jedes Organ emotional und physisch mit dem Gehirn verbunden. Das Gehirn erkennt qualitative Unterschiede und lässt sich nicht vom erstbesten Stress beeinflussen. Die beiden größten »Emotionsspeicher« sind der Darm und die Leber.
Organe reagieren nicht nur auf Emotionen, sondern auch umgekehrt: Die Reaktion eines Organs löst wiederum bestimmte Verhaltensweisen bei uns aus. Nehmen wir als Beispiel den Darm. Hat jemand einen empfindlichen Darm und steht gerade in einer Krise, wird er möglicherweise eine plötzliche Putzwut an den Tagen legen oder sich wegen Nichtigkeiten mit anderen Menschen anlegen. Mehr dazu lesen Sie hier.
Was Funktionsstörungen unserer Eingeweide angeht, sind wir nicht alle gleich. Jeder von uns hat seinen individuellen Schwachpunkt, ein Organ, das verletzlicher ist als die anderen und in Stress-Situationen unter Beschuss gerät. Man sagt häufig: »Ich habe einen empfindlichen Darm, eine empfindliche Blase« oder Ähnliches. Das anfällige Organ ist häufig durch genetische Vererbung oder als Folge einer dem Organismus abträglichen Lebensweise beeinträchtigt. So wird ein Mensch mit empfindlicher Leber am Morgen nach einem zu schweren Abendessen oder nach dem Genuss von zu viel Alkohol besonders ausgeprägte Probleme haben. Er wird missmutig sein und beim geringsten Stress jähzornig und aggressiv werden. An einem solchen Tag sollte man ihm besser aus dem Weg gehen, denn da reicht ein nichtiger Vorwand als Anlass zum Streit. Die Funktionen des menschlichen Körpers sind aber viel komplizierter. In der weiten Welt der Emotionen hat jedes Organ sein bevorzugtes Gebiet. Hier nur einige einfache Beispiele zur Veranschaulichung:
Stress durchströmt in Stoßwellen die verschiedenen Teile des Körpers, doch der Mensch verfügt über ein ganzes Sortiment an Präventivlösungen, damit sein »Inneres« gut gepflegt und funktionstüchtig bleibt. Sie können Ihrer Gesundheit ein gutes Fundament bereiten, indem Sie für eine ausgewogene Ernährung sorgen, Giftstoffe meiden, sich ausreichend bewegen und bei Bedarf sanfte Entspannungsmethoden oder Yoga praktizieren.
Das Gehirn stellt die untrennbare Verbindung zwischen Körper und Geist her. Es hat Befehlsgewalt über alle Vorgänge, empfängt, leitet weiter und speichert ab. Es ermöglicht uns zu denken, uns etwas vorzustellen, etwas zu erschaffen, zu sprechen, zu gehen. Das Gehirn entscheidet darüber, ob wir glücklich oder unglücklich werden, ob wir lachen oder weinen müssen, aktiv oder passiv sind. Genau genommen handelt es sich um 1,3 Kilogramm Hirnmasse, deren Geheimnisse bei weitem noch nicht gelüftet werden konnten. Als Denkfabrik, Transportunternehmen und Produktionsstätte ist das Gehirn die Schaltstelle zwischen unserer Beziehung zum Kosmos und der Realität unseres Körpers. Die biologischen Rhythmen – Tag-und-Nacht-Rhythmus, Mondphasen und Jahreszeiten –, die den Menschen unbewusst steuern, erreichen zuerst das Gehirn, bevor sie die Körperfunktionen beeinflussen.
Im Verhältnis zu seinem Gewicht, das nur zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht, verbraucht das Gehirn sehr viel Sauerstoff: 20 Prozent des Sauerstoffverbrauchs des gesamten Körpers. Die beste Möglichkeit, das Gehirn mit einer ausreichenden Sauerstoffmenge zu versorgen, ist genügend körperliche Aktivität. Wenn man sich klar macht, dass das Gehirn die Muskeln, Gliedmaßen, Nerven, Hormone, Reaktionen, das Denken und den Willen steuert, dann erkennt man, dass der Körper funktioniert wie eine weitgehend perfekte Maschine, die sich selbst steuert. Aber autonom ist sie nicht, denn um gut funktionieren zu können, benötigt diese Maschine die Zufuhr von Stoffen und Anregungen aller Art. Nahrung ist ihr Kraftstoff, aber das allein reicht nicht aus: Liebe, Anerkennung, Wertschätzung und geistige Arbeit sind Faktoren, die für das richtige Gleichgewicht sorgen.
Bleiben wir bei dem Vergleich Mensch – Auto, so entspricht unser Körper einer Karosserie mit einem Motor. Dabei wird allerdings außer Acht gelassen, was den Menschen von einer Maschine unterscheidet: das Denken, die Gefühle, erworbene, genetische und kulturelle Eigenschaften. Alles, was der Mensch an solider Struktur und Positivem mitbekommen hat, trägt zu seiner Gesundheit bei. Weniger Günstiges macht sich negativ bemerkbar. Unser Körper und unsere Organe führen unbewusst Buch und registrieren alle Einflüsse. Wir tragen das Gedächtnis unserer Vorfahren in uns, unser genetisches Erbe. Das kann Kraft und ein langes Leben bedeuten, aber auch mehr oder weniger sichtbare Krankheiten, wie Allergien, Diabetes, Asthma, Schuppenflechte oder Ekzeme. Es gibt verborgene Krankheiten, die nur darauf warten, wieder hervorzubrechen wie die Lava eines Vulkans. So kann beispielsweise emotionaler Stress eine bislang nicht bekannte genetische Krankheit »aufwecken«.
Eine junge 25-jährige Patientin konsultierte mich wegen eines großen Ekzems, das zwei Tage zuvor heftig ausgebrochen war. Ich wusste, dass die Patientin sehr sensibel ist, und fragte sie, ob sie einen emotionalen Schock erlitten hatte? Mit einem tiefen Seufzer, der klang, als trage sie alle Last der Welt auf ihren Schultern, erzählte sie: »Nein, es war kein Schock. Ich hatte aber letzte Woche ein Bewerbungsgespräch und war wahnsinnig aufgeregt.« Ich fragte sie weiter: »Gibt es in Ihrer Familie Angehörige mit Ekzem?« »Meine Großmutter«, antwortete sie mir. Unter dem Druck des Bewerbungsgesprächs, ihrem ersten großen Stress als eigenverantwortliche junge Frau, entwickelte sich aus der Anlage heraus der Ausschlag.
Das Gehirn empfängt so viele Informationen, dass es nicht alle speichern kann. Unter normalen Bedingungen empfängt es von allen fünf Sinnen gemeinsam ungefähr 100 Milliarden Informationen pro Sekunde, und bei Gefahr wird es von 100 Millionen zusätzlichen Stimuli überflutet. Alle Informationen, die dort zusammenkommen, werden glücklicherweise selektiert und von der Formatio reticularis, einer Hirnregion, geordnet. Das Gehirn verarbeitet wie ein Computer Daten für die Somatisierung und kanalisiert die Informationen beziehungsweise Emotionen. Die Somatisierung ist sozusagen der Abfluss für das Zuviel an Emotionen in unseren Organen. Solange sich das in einem vernünftigen Rahmen hält und uns nicht gefährdet, ist die Somatisierung ein begrüßenswertes Phänomen und hält uns geistig gesund.
Aber manchmal grübeln wir einfach zu viel und machen uns Sorgen. Wir fantasieren und dramatisieren, so dass eine kleine Ursache große Folgen haben kann. Dies war bei einer Patientin der Fall, die mich wegen wiederkehrender Rückenschmerzen aufsuchte, die sie zunehmend beunruhigten. CT und Kernspintomographie waren ohne Befund. Anstatt jedoch beruhigt zu sein, hatte sie sich das Schlimmste vorgestellt. Dadurch war sie depressiv geworden und litt unter Verdauungsstörungen. Fast jeder von uns wird schon einmal diese leise innere Stimme vernommen haben, die einem einflüstert: »Du bist vielleicht in Gefahr, mit solchen Beschwerden kann auch eine Krebserkrankung anfangen.«
Wiederkehrende Schmerzen erwecken in uns Menschen die Angst vor Krankheit und nahem Tod. Bei der Untersuchung der besagten Patientin zeigte sich bei der Mobilisierung des Thorax und der Rippen, dass eine Rippe auf der linken Seite, relativ weit von der Wirbelsäule entfernt, vollständig blockiert war. Druck auf genau diese Stelle war sehr schmerzhaft. »Genau hier tut es sehr weh!«, rief sie aus. »Wie haben Sie das gefunden?«
Oft findet man das Problem nicht, wenn man dem Patienten Fragen stellt, sondern indem man seinen Körper befragt und dessen Botschaften interpretiert. Schmerzhafte Bereiche ziehen im wahrsten Sinn des Wortes die Hand des Osteopathen an. Die Ärzte, bei denen die Patientin zuvor gewesen war, hatten die Ursache der Schmerzen nicht gefunden, weil sie sich nur auf die Wirbelsäule konzentriert hatten. Eine falsche Bewegung der Patientin beim Schließen der Fensterläden hatte zu der Blockade geführt. Dieses physische Problem hatte zu einer Dysfunktion der Bauchspeicheldrüse geführt, die wiederum die Angst genährt hatte.
Gelenke, Muskeln und Bänder haben gemeinsame Nervenzentren mit den Organen. Eine Organreizung kann daher ein Gelenkproblem verursachen. Doch auch das Gegenteil ist möglich: Ein Gelenkproblem kann zu einem Problem in den Eingeweiden führen. Der beschriebene Fall zeigt deutlich, welche Bedeutung kleine Ereignisse des täglichen Lebens für einen empfindlichen Menschen haben können. Manchmal kommt es auch vor, dass wir ein bisschen Theater spielen und die Situation dramatisieren, vor allem, wenn der Arzt uns nicht versteht oder unsere Schmerzen nicht nachempfinden und analysieren kann. Wer sich mit seinen Beschwerden nicht ernst genommen fühlt, wird ängstlich und ist frustriert.
Das Gehirn und der gesamte Organismus müssen miteinander kommunizieren. Die geringste Information beschäftigt unser Nervensystem, das wie ein Kommunikationszentrum aus einem Netz winziger Kabel aufgebaut ist. Diese verlaufen durch unseren Körper und enden in zwei Zentralen: dem Rückenmark und dem Gehirn. Würde man alle unsere Nerven aneinanderfügen, käme eine Länge von 100 000 Kilometern zustande. Diese Zahl unterstreicht einmal mehr, wie komplex der menschliche Körper ist. Zudem gehört zu jedem Nerv ein Blutgefäß. Es durchlaufen also auch 100 000 Kilometer Gefäße unseren Körper. Insgesamt ein perfekt konzipiertes System, dessen Ursprung uns nicht bekannt ist und das uns demütig machen sollte.
Emotionen finden ihren Ausdruck: Sie lassen sich vom Gesicht ablesen, wenn unsere Augen vor Freude glänzen oder unser Mund vor Erstaunen offen steht; sie lassen sich an der Haut erkennen, zum Beispiel wenn wir erröten, blass werden oder eine Gänsehaut bekommen; sie lassen sich aus Gesten erraten, wenn wir vor Schreck die Hände vors Gesicht schlagen. Bevor der Mensch lernte, sich durch Sprache mitzuteilen, war die nonverbale Kommunikation das erste Verständigungsmittel. Ursprünglich ist sie angeboren wie der Instinkt der Tiere. Mit zunehmender Zivilisation und Verfeinerung der Sitten lernte der Mensch, seine Gefühle zu kontrollieren. Aber noch immer springen wir vor Freude in die Luft, lachen vor Glück, lächeln vor Freude, weinen aus Kummer oder bekommen eine traurige Miene. Je nachdem, welche Art von Erziehung uns geprägt hat und in welchem Umfeld wir aufgewachsen sind, zeigen wir unsere Emotionen mehr oder weniger. Jemand müsste aber schon sehr beherrscht sein, um sein gesamtes emotionales Register verbergen zu können, was sich im Übrigen sehr nachteilig auf sein psychisches Gleichgewicht auswirken würde. Wir Menschen unterscheiden uns bei unseren Gefühlen und zeigen nicht alle dieselben Reaktionen auf bestimmte Ereignisse.
Vielleicht erinnern Sie sich noch an die »Flitzer«, die während der Fernsehübertragung großer Sportereignisse splitternackt übers Spielfeld rannten. Es war interessant, vor dem Fernseher die Reaktion des Publikums zu beobachten. Einige grölten, lachten und applaudierten, andere standen von ihren Sitzen auf, waren aber so verblüfft, dass ihnen der Mund offen blieb, wieder andere blieben sitzen und ihre verschlossenen Gesichter zeigten deutlich ihre Missbilligung. Man konnte sogar Zuschauer sehen, die voller Schreck eine Hand vor den Mund hielten und natürlich Polizisten, die die »Flitzer« verfolgten.
Ein und derselbe Reiz ruft bei verschiedenen Menschen ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. Was zur Erheiterung der einen beiträgt, kann andere ängstigen. Jeder reagiert gefühlsmäßig so, wie es seinem Kulturkreis und seiner Erziehung entspricht.
Den Einfluss unserer Gefühle auf unseren Körper können wir mehr oder weniger gut kontrollieren, beispielsweise indem wir tief atmen und somit die Muskeln entspannen und den Herzschlag verlangsamen. Wenn wir unsere Triebe besser verstehen, wird es uns auch besser gelingen, sie zu leiten und zu regulieren. Erst dann können wir behaupten, dass der Geist die Gefühle beherrscht. Bis uns dieses Verhalten in Fleisch und Blut übergeht, haben wir jedoch noch eine lange Lehrzeit vor uns. Wenn wir Emotionen auch nicht völlig eliminieren können, ist es doch gut, ein Zuviel zu vermeiden. Die Lösung hierzu liegt in uns selbst, und es gibt zahlreiche Methoden, die uns helfen, mit unseren Emotionen gut umzugehen. Dabei werden die Ergebnisse bei jedem etwas anders aussehen, denn wir wissen ja: Das Gefühlsleben ist nicht bei jedem gleich.
Antonio Damasio, amerikanischer Neurologe und Forscher, internationaler Spezialist auf dem Gebiet der Emotionen, behauptet, dass unsere intellektuelle und moralische Urteilsfähigkeit von unseren Emotionen bestimmt wird und dass unsere Gefühle aus der Bewusstwerdung bestimmter Emotionen entstehen – kurz gesagt, dass die Emotionen der Vernunft vorausgehen und beide voneinander abhängen. In Situationen, die eine starke emotionale Reaktion provozieren, wird es nur wenigen gelingen, nicht die Kontrolle zu verlieren. In diesen Fällen zeigt sich die wahre emotionale Natur, und was man dann zu sehen bekommt, ist vor allem angeboren.
Lange galt der Intelligenzquotient (IQ) als einziges Standardmaß für die Intelligenz. Inzwischen stellt man ihm jedoch den Emotionalen Quotienten (EQ) zur Seite. Zwei identisch intelligente Individuen, die theoretisch in der Lage sind, ein und dasselbe Problem zu verstehen und zu lösen, werden nicht dieselben Entscheidungen treffen, da ihre emotionale Reaktionsfähigkeit unterschiedlich ist. Aber warum ist das so? Ganz einfach, weil wir keine Roboter sind, und weil jeder mit einem eigenen komplizierten Gefühlsleben ausgestattet ist. Die Gefühlsskala reicht von »sehr impulsiv« bis »durch Erziehung gedämpft«. Je nachdem, wie stark die emotionale Seite eines Menschen entwickelt ist, hilft sie ihm voranzukommen, lässt ihn auf der Stelle treten oder sie blockiert ihn so, dass er sich zurückentwickelt.
Man sagt, Erfahrung forme den Charakter. Wir wollen genauer sagen, es sind vor allem die Emotionen, die im Lauf der gesammelten Erfahrungen erlebt werden, die zur Konstruktion der Persönlichkeit beitragen. Ist das Erlebte schmerzlich, spricht man von Prüfungen. Zwei Individuen, die mit derselben Prüfung konfrontiert werden, können ganz verschieden reagieren und sich unterschiedlich entwickeln. Unbewusst werden die tiefen Emotionen zum Spielleiter für die Zukunft, wie das folgende Beispiel zeigt. Zwei Brüder verloren ihre Mutter im Alter von zwölf beziehungsweise 14 Jahren. Sie wurden von ihrem Vater aufgezogen, der bald wieder heiratete. 20 Jahre später ist der Ältere verheiratet und Vater eines Babys. Er sieht die Zukunft seines Kindes positiv. Der Jüngere ist ledig und leidet. Er klagt über verschiedene Beschwerden, empfindet ein starkes Gefühl von Ungerechtigkeit und hegt dem Leben gegenüber einen tiefen Groll. Von Geburt an hatten beide unterschiedliche psychische Fähigkeiten. »Schon als Kinder hatten sie nicht denselben Charakter«, erklärt der Vater. »Als ihre Mutter starb, reagierte der Apathischere erstaunlicherweise kämpferisch, während der bisher Eigenwilligere sich ganz in seinem Schmerz vergrub.«
Warum sind selbst bei jungen Menschen die Verhaltensweisen so unterschiedlich? Es heißt, mit sieben Jahren sei die Persönlichkeitsbildung weitgehend abgeschlossen und die elterliche Erziehung beendet. Im Alter von zehn bis zwölf Jahren kommen zum genetischen Erbe noch erzieherische und moralische Werte hinzu, durch die sich die schon sehr persönlich geprägte emotionale Welt der Kinder weiter ausdifferenziert.
Alles, was das Individuum an Angeborenem besitzt, und alles, was es im Lauf seines Lebens erwirbt, schreibt sich mit Bild und Ton in seinen Körper ein, ähnlich wie auf einem Videoband. Bei einem Unfall beispielsweise tritt plötzlich ein Schock auf und als Folge Schmerzen und Emotionen. Die Zeit vergeht, und schließlich glaubt man, alles vergessen zu haben, doch in Wirklichkeit genügt eine vergleichbare Stresssituation, um Gegenwart und Vergangenheit zu verknüpfen und die alten Ängste wieder aufleben zu lassen, denn der Film mit dem früheren Ereignis wurde im Gedächtnis gespeichert, das wie ein Archiv funktioniert.
Eine meiner Patientinnen hatte einen Fahrradunfall. Ein Hund war ihr vor das Rad gesprungen, sie hatte zu heftig gebremst, so dass die Räder blockierten und sie über das Lenkrad auf die Straße stürzte. Im selben Moment nahm sie das Geräusch eines Lastwagens wahr, der sich von hinten näherte. Da sie nicht wusste, wohin sie genau gestürzt war, hatte sie große Angst, überfahren zu werden, aber der Lastwagen war weit genug von ihr entfernt. Die Bilanz des Unfalls: eine Kieferfraktur und eine Halsverstauchung. Ich behandelte sie sehr viel später wegen anhaltender Kopfschmerzen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Schmerzen mit dem Gedächtnis ihrer Halswirbel zusammenhängen könnten. Dabei gestand sie mir, dass sie beim Radfahren, wenn sie einen Lastwagen kommen hört, so in Panik gerät, dass sie sich am liebsten in den Graben fallen lassen würde. Die Angst hatte eine tiefere Prägung hinterlassen als die physischen Schmerzen.
Das menschliche Individuum besitzt eine vierstufige Struktur. Sie besteht aus:
Wir wissen, dass der Körper unter anderem physische wie auch emotionale Schocks in Erinnerung behält. Erstere sind etwas Direktes: Sie bereiten Schmerzen und lassen den Körper unmittelbar durch den Schmerz reagieren, den sie verursachen. Das Gehirn zeichnet gleichzeitig das körperliche Leiden und das Gefühl dabei auf. Folgendes prägt sich in unser Unterbewusstsein ein:
Schocks hinterlassen unweigerlich ihre Spuren. Negative emotionale Belastungsfaktoren, wie Angst, Spannung, Stress, Frustration, Wut, Überforderungen und Schuldgefühle, erreichen das Gehirn. Das Gehirn versucht diese unangenehmen Emotionen abzuwälzen, und die Organe sind hierfür ein ausgezeichnetes Auffangbecken. Erreicht eine besonders intensive Emotion das Gehirn, wird sie wie die sprichwörtliche »heiße Kartoffel« an unsere Organe weitergereicht und dort gespeichert. Je nach Stärke des Schocks können unsere Abwehrmechanismen standhalten, erschüttert werden oder komplett zusammenbrechen.
Das Unterbewusstsein kann einen Unfall innerhalb von zwei Tausendstel Sekunden speichern. Bei einem derartigen Ereignis gibt es eine sichtbare Verletzung, die tastbar und behandelbar ist, aber es gibt auch die Angst, deren Weg vom Gehirn in die Organe wir nicht unter Kontrolle haben. Sie sucht sich ihren Weg und speist das Unterbewusstsein mit den kleinsten Erinnerungen aus der Umgebung: mit einem Geruch, einem Geräusch, einer Bewegung, Geschäftigkeit oder Reglosigkeit, mit dumpfer und lastender Stille. Nach einem Unfall kann der Organismus beispielsweise eine immer wiederkehrende Harnwegs- oder Lungeninfektion entwickeln. Auf die Dauer führt diese zu einer Empfindlichkeit des betroffenen Organs, das künftigem Stress gegenüber sensibler wird.
Ein geübter Therapeut kann den körperlichen Schwachpunkt eines kranken Menschen durch Handkontakt finden. Er lässt seine Hand mit einem Druck, der dem Gewicht der Hand entspricht, über den Körper gleiten. Die Hand wird unweigerlich von der Problemzone angezogen. Die mechanische Anziehungskraft der Gewebe wirkt auf die Hand wie ein Magnet. Zur Empfindung des Emotionalen muss der Handkontakt extrem leicht sein, an der Grenze des Fühlbaren. Wird die Hand auf den Kopf gelegt, wird sie ebenfalls auf die Stelle reagieren, wo das Gehirn die größten emotionalen Spannungen speichert.
Das Organ hat ein Gedächtnis. Es speichert Emotionen und ist bereit, sie bei neuem Stress in Form einer Krankheit zu materialisieren. »Solange er sterblich ist, wird der Mensch niemals vollkommen entspannt sein«, erklärte Woody Allen mit seinem beunruhigenden Humor. Es stimmt, dass wir in uns immer verdrängte Ängste verbergen. Die Menschen haben die Ängste ihrer Vorfahren vergessen, die in der Steinzeit dafür sorgten, dass sie gegenüber den Angriffen der Natur wachsam blieben: die Angst vor Feuer, Unwetter, wilden Tieren und dem Tod. Die Menschen von heute haben sich neue Ängste zugelegt, die aufgrund der Komplexität unserer Welt und der Verfeinerung der Sitten heimtückischer geworden sind.
Beginnen unsere Organe zu denken? Was wird dann aus unserem Gehirn? Keine Sorge, es bleibt Herr über die Gedanken. Die Organe unterhalten aber dank nervöser und hormoneller Verknüpfungen enge Verbindungen zum Gehirn. Bei starkem Stress schickt das Gehirn alles, was ihm zu viel wird, an die Organe, die diese Emotion sofort in ihrem Innersten abspeichern. Dieser Vorgang löst die Somatisierung aus, und ein Leberproblem, Kopfschmerzen, Erbrechen, Durchfall oder Verstopfung können die Folge sein. Stress geht mit Somatisierung einher. Das Gehirn und die Organe reagieren im Einklang oder besser gesagt, im menschlichen Körper ist der Kreislauf »Emotion – Organ – Verhalten – Organ« ständig in Bewegung.
Die Dysfunktion eines Organs beeinflusst den allgemeinen Stoffwechsel und macht uns müde. Diese »schlechte Form« verändert unsere Energie, unsere Sensibilität, unsere Anfälligkeit und die Züge unseres angeborenen Charakters. Jedes Individuum besitzt ein Energiepotenzial, aber auch ein Organ, das stärker oder empfindlicher reagiert als die anderen, jeder hat seinen berühmten »Schwachpunkt«. Bei der geringsten Schwäche wird ein Anpassungsprozess in Gang gesetzt, um mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das Gleichgewicht wieder herzustellen. Wiederholt sich die Organschwäche, ermüdet das den Organismus immer mehr, was auch negative Auswirkungen auf das Verhalten hat. Ein einfaches Beispiel: Sie essen im Restaurant und haben ein Gericht gewählt, das Ihnen einige Stunden später Sodbrennen und Magenschmerzen bereitet. Am nächsten Morgen fühlen Sie sich nicht besonders gut, Teint und Herz zeigen die Folgen. Sie fühlen sich nicht erholt, sondern eher angespannt. Im Büro macht einer Ihrer Kollegen eine Bemerkung über eine Akte, an der Sie gerade noch arbeiten. Zum großen Erstaunen Ihrer Kollegen reagieren Sie mit einem Gefühlsausbruch. Stellen Sie sich nun vor, eines Ihrer Organe wäre chronisch überstrapaziert oder geschwächt, dann wäre Ihr Verhalten ebenfalls dauerhaft beeinträchtigt.
Es ist interessant, sich einmal diese Definition für »Emotion« aus einem medizinischen Lexikon anzusehen: »Starke psychische oder schmerzhafte Reaktion, die einen starken Einfluss auf zahlreiche Organe ausübt.« Die Medizin bestätigt also, dass eine Emotion immer eine Auswirkung auf die Organe hat.
Stellen wir uns einmal vor, Sie würden übermäßig nach Zuneigung und Anerkennung suchen, nach Anzeichen einer Zuwendung, die »zu Herzen geht«. Das ist, als wäre Ihr Herz immer auf der Suche nach Zeichen der Zuneigung. Das Bedürfnis ist so stark, dass das Herz auf die geringste Emotion reagiert. Sie fordern es ständig, sowohl emotional als auch physisch. Durch zu intensive Stimulation wird es sehr empfindlich. Das kann zu Rhythmusstörungen oder Krämpfen der Koronararterien führen. Verhaltensweisen beeinflussen tatsächlich die Organe. Natürlich könnte jemand darauf entgegnen, dass die Anfälligkeit des Herzens ein angeborener Faktor sei, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass eine Beziehung zwischen dem Verhalten und den Organen besteht.
»Ein psychisches Leiden kann ein echtes physisches Leiden hervorrufen, das man häufig fälschlich für einen Infarkt hält. Unter dem Schock verkrampft der Herzmuskel, verursacht eine schmerzhafte Kontraktion in der Brust, eine Stauung in den Lungen mit erschwerter Atmung und stechendem Schmerz in den Armen.« Die Angelsachsen nennen dies das Syndrom des »gebrochenen Herzens«, verursacht durch affektiven Stress und verbunden mit einer Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin ins Blut. Das kann tödlich sein, wenn die Person bereits eine Herzkrankheit hat. Bei gesunden Menschen hingegen verschwinden die Symptome innerhalb weniger Tage.
New England Journal of Medicine
Die gegenseitige Abhängigkeit ist offensichtlich: Durch Behandlung der Psyche wird der Körper beeinflusst, und eine körperliche Behandlung wirkt sich auch auf die Psyche aus. Es ist wichtig ist, unterscheiden zu können, wer von beiden tatsächlich für eine Dysfunktion verantwortlich ist. Auch das Gehirn ist ein Organ mit physiologischen Störungen. Gegenwärtig wissen wir, dass bestimmte psychische Krankheiten nicht nur durch psychologische Störungen bedingt sind, wie man früher annahm, sondern dass sie das Ergebnis chemischer und hormoneller Prozesse sind.
Wenn seitens unserer Organe etwas nicht funktioniert, wundern wir uns, obwohl es sehr oft eine logische Erklärung dafür gibt. Dysfunktionen sind der körperliche Ausdruck unserer inneren Spannungen. Das ist so, als würden Sie eines Morgens den Zündschlüssel im Schloss drehen, aber der Anlasser funktioniert nicht, und der Motor springt nicht an. Sie schimpfen auf Ihren Wagen, aber überlegen Sie einmal: Haben Sie nicht die letzte Inspektion vergessen? Haben Sie sich um diese merkwürdigen Geräusche gekümmert, die in letzter Zeit bei jedem Start zu hören waren? Was für eine Nachlässigkeit! Es war klar, dass Sie über kurz oder lang eine Panne haben würden! Genau so ist es mit Ihrem Körper, der – das sollten Sie nicht vergessen – eine kostbare Maschinerie ist.
Schauen wir uns ein Beispiel an: Plötzlich werden Sie durch einen Hexenschuss blockiert. Sind Sie sicher, dass Sie nicht einige Warnzeichen übergangen haben? Waren da nicht leichte Muskelschmerzen im Rücken morgens beim Aufwachen? Und dann haben Sie auch noch vor zwei Tagen diesen schweren Karton gehoben! Ja wirklich, sagen Sie sich, da hätte ich besser aufpassen sollen. Dann fällt Ihnen ein, dass Sie vor einigen Jahren einmal aufs Steißbein gefallen sind. Sie hatten sich nicht weiter darum gekümmert, obwohl Sie nachts leichte Beschwerden hatten. Am nächsten Morgen beim Aufstehen taten Sie sich schwer und spürten eine extreme Steifheit in der Wirbelsäule, die natürlich (ohne dass Ihnen das bewusst war) den Schock gespeichert hatte. Indem Sie auf diese ersten Symptome nicht weiter geachtet haben, sind Sie für die Zukunft ein gewisses Risiko eingegangen.
Niemand ist völlig intakt. Jeder hat, wie wir schon gesehen haben, seinen Schwachpunkt, seine Empfindlichkeiten. Wir tragen alle ein pathologisches Potenzial in uns, das wir von unseren Vorfahren übernommen oder durch unsere Lebensgewohnheiten erworben haben. Dem genetischen Gedächtnis werden familiäre Gepflogenheiten hinzugefügt (dazu gehört die schlechte Ernährung) und persönliche Gewohnheiten (zum Beispiel das Rauchen), die der Körper in seinem »traumatischen« und emotionalen Gedächtnis abspeichert. Dies alles zusammen kumuliert im Laufe eines Lebens und ist Ursache für vieles, was die gesunden Funktionen des Menschen beeinträchtigt. Auf längere Sicht entwickelt sich eine psychische oder physische Krankheit. Die Krankheit entwickelt sich langsam im Verborgenen, um dann unerwartet auszubrechen. Wir sind für Bakterien und Viren anfälliger, wenn wir erschöpft, kraftlos und verärgert sind.
Warum bekommen nur 15 Prozent der Bevölkerung bei einer Epidemie Grippe? Weil diese 15 Prozent einen günstigen Nährboden bieten: Anfälligkeit der Lunge, Altersschwäche, psychische Schwäche, Ernährungsfehler, Mangel an körperlicher Aktivität …
Müdigkeit, Frieren, Augenblicke der Entmutigung sind ebenfalls Symptome, die gerade im Winter nicht vernachlässigt werden sollten. Natürlich tragen auch andere, weniger bekannte Faktoren dazu bei, dass sich eine Krankheit entwickeln kann, aber ein gesunder Lebensstil und eine regelmäßige ärztliche Kontrolle sind für die Gesundheit unverzichtbar.
Stellen wir uns einmal unsere Empfängnis vor. Ist unsere Existenzchance ursprünglich nicht unendlich klein? Eine Frau produziert während der Geschlechtsreife etwa 400 000 Eizellen. Im Augenblick der Empfängnis hat der Mann etwa 80 Millionen Spermien ausgesandt, und das Ei dieses ganz besonderen Tages behält nur eines davon zurück. Wie außergewöhnlich ist dieses Zusammentreffen zwischen Ei und Spermium, die beide mit einem einmaligen genetischen Gedächtnis ausgestattet sind, das die Grundlage für unsere persönliche Gestalt als Individuum bildet! Am Leben zu sein ist eine einmalige Chance. Dieses Kapital, das uns geschenkt wurde, sollte unsere ganze Pflege bekommen.
Der Organismus verfügt über ein Nervensystem mit zwei Geschwindigkeiten: einem Beschleuniger und einem Verlangsamer (dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem). Der Beschleuniger verstärkt die Reaktionen der Organe, während der Verlangsamer sie blockiert, so dass ein Organ auf Stress völlig widersprüchlich reagieren kann. Dieses »Phänomen des Zuviel oder Zuwenig« zeigt sich auch deutlich bei den verschiedenen Verhaltensweisen. Stellen Sie sich vor, dass Sie in einer Gruppe einen Waldspaziergang unternehmen, und plötzlich sehen Sie vor sich auf dem Weg eine Schlange. Nicht alle aus der Gruppe werden auf dieselbe Weise reagieren. Die einen werden gelähmt vor Angst stehen bleiben, die anderen die Flucht ergreifen und die Gefahr hinter sich lassen. Einige wenige werden sich der Gefahr stellen und die Schlange verjagen. Ein Ereignis kann bei verschiedenen Menschen völlig entgegengesetzte emotionale Reaktionen hervorrufen. Jeder kennt das Problem mit dem Lampenfieber. Diese Art Stress wirkt sich häufig auf den Darm aus. Bei den einen in Form von Durchfall (was einem Überlaufen entspricht), bei den anderen hingegen als Verstopfung (entsprechend dem Zurückhalten).
Normalerweise neigt der Menschentyp des »Zuviel« und der Menschentyp des »Zuwenig« von Natur aus zu immer ähnlichen Reaktionen. Gelegentlich kann sich diese Tendenz aber angesichts einer Stress-Situation anderen Ausmaßes oder anderer Art umkehren. Das sind die Paradoxa des Menschen! Wichtig ist es, sich zu merken, dass Stress unweigerlich mit Stressreaktionen einhergeht, die sich auf das Verhalten und durch dessen Resonanz auf die Organe auswirken.
Sehr ausgeprägte organische Störungen ziehen immer Verhaltensstörungen nach sich, die ebenfalls stark ausgeprägt sind. Angst, die zu Durchfall oder Verstopfung führt, kann auf der Verhaltensebene auch zu Logorrhö (ungehemmtem Redefluss) oder Mutismus (beharrlichem Schweigen) führen. Die einen teilen sich mit, die anderen schweigen, die einen sind cholerisch, die anderen zurückhaltend. Diese unterschiedlichen Veranlagungen lassen vorhersehen, wie die Reaktion der Organe sein wird: überschießend oder zurückhaltend.
Die Depression ist ein gutes Beispiel für das »Phänomen des Zuviel oder Zuwenig«: Die betroffene Person reagiert entweder zu stark oder zu wenig auf den Stress, dem sie ausgesetzt ist. Depression kann durch ein familiäres Gen hervorgerufen werden, doch auch eine chemische Störung im Gehirn kommt als Auslöser in Frage. Bei den Betroffenen ist die Rückkehr zum Gleichgewicht gestört oder gänzlich blockiert. Während man lange Zeit behauptet hat, alleine die Psyche sei für Depressionen verantwortlich, setzt sich inzwischen die Meinung durch, dass die Chemie im Gehirn ein Auslöser dafür sein kann, zum Beispiel eine gestörte Konzentration der Botenstoffe, Vitaminmangel, ein zu hoher pH-Wert …
Auch physiologische Faktoren können Depression beeinflussen. Treten Depressionen nach einem Schädeltrauma auf, haben Osteopathen die Möglichkeit, durch Manipulation der gelenkigen Verbindungen der Schädelknochen einzugreifen. Wussten Sie, dass die Schädelknochen unter dem Einfluss des Schädelinhalts eine Mobilität aufweisen, die man spüren kann, wenn man beispielsweise eine zu enge Mütze aufsetzt? Es handelt sich um Kontraktionen in der Größenordnung von 50 Mikrometern. Der Schädel führt pro Tag etwa 10 000 solcher Bewegungen aus. 50 Mikrometer sind wenig, eine geübte Hand kann dies jedoch wahrnehmen: Wenn wir zart über eine bemalte Fläche streichen, können wir eine Farbschicht spüren, die nur vier Mikrometer dick ist. Unsere Sinne sind außerordentlich sensibel – Weinprüfer, Duftprüfer in der Parfümherstellung oder Musiker mit absolutem Gehör sind dafür lebende Beispiele. Dies gilt auch für den Tastsinn. Wird der Schädel seiner Bewegungsfreiheit beraubt, kann dies die Ursache für einen allgemeinen Vitalitätsverlust des Organismus sein. Durch osteopathische Techniken können die Schädelbewegungen wieder aktiviert werden, was sich auf den gesamten Organismus wohltuend auswirkt.