1. Kapitel
LONDON, JUNI 1914
Ella geriet ins Stolpern, als sie die Stufen des St.-Thomas-Hospitals hinunterhastete, und landete unsanft auf dem Gehweg. Aus ihren Augen, die nach der Strafpredigt der Oberschwester immer noch brannten, sprach das Gefühl der Demütigung, als verschiedene Passanten herbeieilten, um ihr aufzuhelfen.
Nein, wirklich, ihr fehlte nichts. Sie hielt ein eben vorbeifahrendes Taxi an. Warum nur hatte sie sich auf das Gespräch mit der Oberschwester eingelassen? Ausgerechnet heute. Was hatte sie erwartet? Eine Entschuldigung für den Wutausbruch anlässlich ihres Ausstiegs im vergangenen Jahr? Das verschämte Zugeständnis, bei genauerer Betrachtung seien Besuche und Gartenpartys sehr wohl eine bewundernswerte Art und Weise, sein Leben zu verbringen? Die Beteuerung, nach nur zwei Jahren aufzugeben sei kein Versagen?
Eins stand für Ella fest: Niemals hätte sie geahnt, dass sie es dazu würde kommen lassen.
Kurz spielte sie mit dem Gedanken, den Taxifahrer anzuweisen, sie zur Paddington Station zu bringen, und den nächsten Zug zurück nach Oxfordshire zu nehmen. Der knappe Ton, in dem sie ihn schließlich nach Pimlico dirigierte, sagte ihr, was sie bereits wusste. Sie konnte Violet nicht im Stich lassen. Sie musste hinfahren. Wie viele widerwillige Entscheidungen würde sie an diesem Nachmittag wohl noch treffen?
Sie wippte ungeduldig mit dem Fuß, während das Taxi sich durch den nachmittäglichen Verkehr kämpfte. Die Straßen rund um Victoria Station waren hoffnungslos mit Omnibussen und Kraftfahrzeugen verstopft; offenbar brach halb London zur Küste auf. Ein Zeitungsjunge verkündete lautstark das Neueste vom Attentat auf Erzherzog Ferdinand, aufgekratzte Familien strömten in den Bahnhof, Kinder thronten hoch über ramponierten Koffern auf Gepäckkarren. Bei ihrem Anblick erschien der drohende Krieg fast unvorstellbar. Ella presste die Hände im Schoß zusammen und wollte nur noch fort von der heiteren Sommerszenerie.
Violet würde mittlerweile schon dort sein, am Rose Square, vor dem Haus. Sie würde die Tür im Blick behalten und versuchen, nicht darauf zu warten, dass sich etwas tat. Sie würde auf der Bank sitzen, die Ella bei ihrem ersten Besuch gar nicht aufgefallen war und die im Lauf der Jahre eine so schreckliche Bedeutung bekommen hatte.
Sie holte tief Luft. Ein nervöser Schauer überlief sie.
Walter erhob sich, als Robert mit Verspätung zu ihrer Mittagsverabredung in dem überfüllten Restaurant eintraf. Die Entschuldigungen seines ältesten Freundes wischte er mit einer Handbewegung beiseite und unterbrach ihn, bevor er allzu detailliert über die Nierenblutung eines Patienten im OP berichten konnte. Das bisschen Appetit, das er verspürte, wollte er sich gern bewahren.
»Deine Schwester war auch keine große Hilfe«, sagte Robert, warf seinen Hut auf den Tisch und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Da stecke ich bis zum Ellbogen in dem armen Kerl drin und kann an nichts anderes denken, als dass ich sie heute noch sehen werde.«
»Das ist ja wohl kaum Ellas Schuld. Wenn du immer noch so empfindest, dann verstehe ich nicht, wieso …«
»Du weißt genau wieso.« Robert griff ungeduldig nach der Speisekarte. »Ich kann ihr nicht mehr vertrauen. Ich weiß nicht mal, warum ich überhaupt hier bin. Wieder einmal.«
Walter zog die Augenbrauen hoch. Sie hätten beide an diesem Nachmittag durchaus anderes zu tun. Ihm jedenfalls brannte die Arbeit unter den Nägeln, die sich zu Hause, in der Oxforder Zentrale der Bäckerei, türmte. »Vielleicht kommen sie ja dieses Jahr gar nicht«, sagte er – eine schwache Hoffnung, die sein Tonfall noch schwächer klingen ließ.
Robert stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. »Vielleicht.«
Während des Essens mieden sie das Thema. Erst als sie das Restaurant verlassen und sich Richtung Pimlico aufgemacht hatten, brachte Walter es erneut zur Sprache. »Schwer zu glauben, dass es schon vier Jahre her sein soll. Meistens vergesse ich es. Aber heute habe ich das Gefühl, als wäre es gestern gewesen.«
»Ich wünschte, ich könnte es vergessen«, erwiderte Robert. »Aber es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht daran denke.«
Damals hatte für Robert natürlich viel mehr auf dem Spiel gestanden. Bei dem, was er getan hatte. Und was Violet, seine eigene Schwester, im Gegenzug ihm angetan hatte. In jüngster Zeit hatte Robert kaum noch etwas mit Violet zu tun. Was Ella anging, so musste es Monate her sein, seit er sie zuletzt gesehen hatte, auf keinen Fall mehr nach Weihnachten. Obwohl Roberts Eltern im selben Dorf wohnten wie die von Walter – keinen Kilometer voneinander entfernt in Tebstock –, kam Robert nie vorbei, seit Ella wieder dorthin zurückgekehrt war. Walter erzählte ihr nichts mehr davon, wenn Robert zu Hause auf Besuch war. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht ertragen.
Als sie den Rose Square erreichten, saßen Ella und Violet schon wie üblich an den beiden Enden ihrer Bank. Walter und Robert versteckten sich hinter einer Ecke und warteten. Ella fingerte am Griff ihres Sonnenschirms herum. Violet zupfte am Ärmel ihres Mantels, der Teil einer Krankenschwestertracht war. Walter musste zweimal hinsehen, bevor er erkannte, dass es sich um die Uniform des Queen Alexandra Imperial Military Nursing Service handelte.
»Seit wann ist Violet beim QAIMNS?«, fragte er Robert.
»Sei bloß still! Seit letzter Woche. Sie hat keiner Menschenseele ein Wort davon gesagt, typisch Violet natürlich, ohne Rücksicht auf die Folgen. Unsere Eltern sind außer sich. Das bedeutet, dass sie sofort bei Kriegsbeginn ins Ausland geschickt wird.«
Walter verdaute die Neuigkeit schweigend. Es war schwer zu sagen, ob Violets Entschluss Mitleid oder Beifall verdiente. Damals hatte sie sich nicht gerade darum gerissen, Krankenschwester zu werden. Warum also jetzt? Wo niemand verwundert gewesen wäre, wenn sie es nicht getan hätte?
»Was meinst du, worüber unterhalten sie sich?«, fragte Robert mit einer Kopfbewegung zu ihren Schwestern hin.
Violet und Ella hatten die Gesichter voneinander abgewandt und sahen starr geradeaus zu dem Haus. Nur ihre Lippenbewegungen verrieten, dass sie tatsächlich miteinander sprachen.
»Weiß der Himmel«, erwiderte Walter. »Ich will es jedenfalls nicht wissen.«
»Ich dachte schon, du würdest nicht kommen«, sagte Violet. »Du bist spät dran.«
»Natürlich komme ich«, entgegnete Ella. »Ich bin nur aufgehalten worden, im St. Thomas.«
»Was hast du da gemacht?«
»Der Oberschwester versprochen, dass ich wieder einsteige und meine Ausbildung beende, falls es Krieg gibt.«
»Oh!« Violet wirkte so überrascht, wie Ella selbst es immer noch war.
»Es ist offenbar geplant, ein Militärkrankenhaus in der Nähe von Tebstock einzurichten«, fuhr Ella fort. »Mir wurde gesagt, ich solle das zum Anlass nehmen, um mich zusammenzureißen und nicht mehr alle so fürchterlich zu enttäuschen.«
»Das hast du sicher gern gehört. Als Nächstes erzählst du mir noch, dass du dem QAIMNS beitrittst.«
»Kann gut sein.« Wo um alles in der Welt kam das auf einmal her? »Ich habe nur noch ein Jahr Ausbildung vor mir, dann wäre ich dafür qualifiziert.«
»Oh«, kam es ein zweites Mal von Violet. Etwas wie widerwillige Hochachtung sprach aus ihrem Blick.
Ella sperrte sich gegen den Drang, noch mehr zu sagen, und presste die Lippen fest aufeinander. Sie hatte sich geschämt, als sie von ihrer Mutter hörte, Violet sei in den Dienst des QAIMNS getreten. Erst jetzt ging ihr auf, dass sie unter anderem deswegen der Aufforderung der Oberschwester Folge geleistet hatte. Wahrhaftig nicht zuletzt deswegen.
»Warum glaubst du, dass du diesmal mehr Erfolg haben wirst?«, fragte Violet.
Ella zuckte mit den Achseln. Das war eine berechtigte Frage. Die Erinnerung an den Abend vor vier Jahren hatte nichts von ihrem Schmerz verloren. Die Reue nagte an ihr wie eh und je. Wer sagte denn, dass sie nicht wieder mit den gleichen Selbstzweifeln zu kämpfen haben würde, denen sie in ihrer Zeit am St. Thomas nachgegeben hatte. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Aber die Vorstellung, zweimal zu versagen, finde ich unerträglich.«
Violet seufzte. »Ja, verstehe. Das wäre nicht gerade ideal.«
Beim Warten dachte Ella über die Aussicht nach, sich erneut mit Visiten und Bettpfannen abgeben zu müssen. Violets Blick zuckte über die Straße. Bei jedem Neuankömmling auf dem Platz verspannte sie sich, beugte sich vor – und sackte wieder in sich zusammen, wenn sich herausstellte, dass es nicht er war. Ella rührte sich nicht. Er würde nicht kommen. Als Violet sie zum ersten Mal hierhergeschleppt hatte, gleich nach all den Vorkommnissen, hatte sie nur ein winziges Fünkchen Hoffnung gehabt, er könnte noch da sein. Natürlich war er längst auf und davon, das Haus neu vermietet. Sie suchten monatelang nach ihm, doch er hatte seine Spuren sorgfältig verwischt. Keine Nachsendeadresse. Nachdem sich sämtliche Wege als Sackgassen erwiesen hatten, entschied Violet, sie sollten am ersten Jahrestag herkommen, nur für den Fall der Fälle … Ella hatte gewusst, dass es vergebliche Liebesmüh sein würde. Der Gedanke, er könnte in einer sentimentalen Anwandlung zurückkehren – insbesondere, nachdem er sich so gezielt in Luft aufgelöst hatte –, war absurd. Trotzdem hatte sie sich zu Violet gesetzt und mit ihr bis tief in die Nacht hinein gewartet. Er war nicht gekommen. Weder da noch in den folgenden beiden Jahren. Und er würde auch jetzt nicht kommen.
Jahr für Jahr zuzusehen, wie Violets Hoffnung in Mutlosigkeit umschlug, war beschämend – und doch das Geringste, was Ella für sie tun konnte.
Nach mehr als einer Stunde sagte Violet matt und bedrückt: »Ich weiß nicht, wieso ich mir einrede, dass er vielleicht doch kommt. Du musst mich für verrückt halten.«
»Nein … das nicht.«
»Ich kann mich nicht damit abfinden, niemals zu wissen, was passiert ist. Immer wieder sage ich mir: Eines Tages wird es ihm so leidtun, dass er zurückkommt. Dass er herausfinden will, wo sie ist. Und es mir sagen wird.« Violets Blick, unverwandt auf die Tür vor ihnen gerichtet, wurde dunkel vor Schmerz. »Aber das wird wohl nicht geschehen.«
»Es tut mir so leid …«
»Ich höre sie immer noch, weißt du.«
Ella blickte auf ihre Hände. »Ich auch.«
Violet sagte nichts weiter. Ella stand auf. Sie musste nach Hause; ihre Eltern würden sich schon fragen, wo sie blieb.
»Letzte Woche ist mir mein Bruder über den Weg gelaufen«, rief Violet ihr nach. Ella blieb stehen. »Er will Laura einen Antrag machen.«
Ella schnürte es die Kehle zu, und ihr blieb die Luft weg. Mit einem Mal fühlte ihr Inneres sich tonnenschwer an, es drohte sie fast zu zerreißen. »Das glaube ich dir nicht.« Mehr als ein Flüstern brachte sie nicht zustande. »Warum sollte Robert dir so etwas erzählen? Er redet doch kaum noch mit dir …«
Violets Mienenspiel zeugte vom Widerstreit verschiedenster Empfindungen; schließlich gewann äußerste Beherrschung die Oberhand. »Ich lüge nicht«, sagte sie. »Jetzt weißt du, was für ein Gefühl es ist, etwas wirklich Kostbares zu verlieren. Wobei ich dir Robert natürlich nicht weggenommen habe.«
»Aber so gut wie!«
»Nein. Du hattest eine Wahl.«
Ella sah die Herausforderung in Violets dunklen Augen. Wie so oft gelang es ihrer einstigen Freundin auch jetzt, sie über und über erröten zu lassen.
»Überleg doch«, redete Violet weiter. »Du wirst zu der Hochzeit gehen müssen. Es würde höchst merkwürdig wirken, wenn du fortbleibst.«
Ella schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, in einer Kirche zu sitzen und mit anzusehen, wie Robert sich bis ans Ende seines Lebens einer anderen versprach. Laura. Die Qual machte ihre Stimme brüchig. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass er mit ihr glücklich wird?« Laura war exakt der Typ Frau, den sie und Violet einträchtig verabscheut hatten, als sie noch befreundet waren: reizend und nett in männlicher Gesellschaft – und das pure Gift in Gegenwart weiblicher Wesen, die nicht vollkommen unscheinbar waren. Aus ihrer Abneigung gegen Ella hatte sie nie einen Hehl gemacht.
Nun war es an Violet zu erröten. »Nein. Aber ich kann mich auch immer noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, dich glücklich zu sehen.«
Beim Warten wechselten Walter und Robert kaum ein Wort. Auf der Straße war es still, nur ein laues Lüftchen wehte. Neben ihnen räkelte sich eine Katze auf der sonnenwarmen Mauer; eine Frau schob einen Kinderwagen über den Platz. Es war jedes Jahr das Gleiche. Sie standen an der üblichen Ecke, bis eine der beiden sich ohne Vorwarnung von der Bank erhob und ging. Trotz seines immer noch schwelenden Zorns folgte Robert dann widerwillig Violet, bis sie wohlbehalten zu Hause war, und Walter machte es genauso mit Ella. Im ersten Jahr hatten sie gar keine andere Wahl gehabt. Damals waren die Mädchen noch so jung und hatten so lange ausgeharrt, dass es unverantwortlich gewesen wäre, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Mittlerweile war es eher zu einem Ritual geworden.
Sie ließen sich nie blicken. Wenig entfachte den Zorn ihrer Schwestern so zuverlässig wie die Unterstellung, sie bräuchten in irgendeiner Hinsicht Beschützer.
»Sie ist nicht glücklich, oder? Auch jetzt nicht.«
Beim Klang von Roberts Stimme fuhr Walter zusammen. Er folgte dessen Blick zu Ella, die mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern dastand. Bei der Erinnerung an die sorglose junge Frau, die sie einmal gewesen war, zog sein Herz sich schmerzhaft zusammen.
»Rede mit ihr«, sagte Walter in einer spontanen Anwandlung. »Versuch wenigstens, irgendwas in Gang zu bringen. Lauf ihr wie zufällig über den Weg, und lad sie zu einem Kaffee ein. Ich sorge schon dafür, dass Violet sicher nach Hause kommt.«
Robert kniff die Augen zusammen und sah zu dem Platz hinüber. Dann seufzte er. »Nicht heute. Aber irgendwann muss ich sie treffen, ich habe etwas mit ihr zu besprechen.«
Walter wollte Robert – nicht zum ersten Mal – sagen, dass die Sache mit Laura ein Fehler war. Eine Frau mit mehreren Hunden an der Leine kam ihm dazwischen. Er trat beiseite, um sie vorbeizulassen, worauf die Katze loskreischte und fauchte und die Hunde wie verrückt zu bellen begannen. Mit einem Satz sprang die Katze von der Mauer und flitzte Richtung Rose Square. Ella wandte ruckartig den Kopf zur Quelle des Tumults. Walter und Robert wichen zurück, waren jedoch beide nicht schnell genug.
Sie hatte sie sofort entdeckt.