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Friedrich Orter

VERRÜCKTE WELT

 

Friedrich Orter

VERRÜCKTE WELT

 

Augenzeuge der Weltpolitik

 

 

 

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Inhalt

Vorwort

Guten Morgen, Bagdad!

Stunde Null am Tigris

Aufstand in Falludscha

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Opfer und Täter

Ein glücklicher Tag

Verloren am Hindukusch

Kapitel 2.

Verfluchte Berge

Freiheit oder Tod

Welcome to Sarajewo

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Zwischen den Fronten

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Epilog

Danksagung

Literaturverzeichnis

 

 

Walid Chaled zum Gedenken,

meinem irakischen Kameramann,

erschossen von US-Truppen am 28. August 2005 in Bagdad

 

 

„Sometimes mistakes are made.“

Kommentar von Zalmay Khalizad,

US-Botschafter in Bagdad, zum Tod Walids

Vorwort

„... Geschichte, die in der Tat nicht viel mehr ist als ein Register der Verbrechen, der Verrücktheiten und des Unglücks der Menschheit.“

(Edward Gibbon: Verfall und Untergang des Römischen Reiches,

Kapitel 3, London 1776)

 

Der vorliegende Band ist eine kurze Sammlung verstreuter Skizzen, Reisenotizen und Fotos aus den Jahren meiner bisherigen Arbeit als ORF-Radio- und Fernsehreporter in Krisen- und Kriegsgebieten.

Reporter werden Augenzeugen von Ereignissen, die Historiker später in größeren Zusammenhängen zu verstehen und zu erklären bemüht sind. Reporter gehen an die Front, Historiker ins Archiv. Unvollkommen bleibt jede menschliche Erkenntnis.

Der griechische Historiker Herodot, der „Vater der Geschichtsschreibung“ und der Reportage, schreibt im ersten Buch seiner Histories apodexis: „Niemand ist so töricht, Krieg dem Frieden vorzuziehen. Denn im Frieden begraben die Söhne die Väter, im Krieg aber die Väter die Söhne.“

Zweieinhalb Jahrtausende und hunderte Kriege später sind wir Toren nicht weiser geworden, vielleicht aufgeklärter und abgeklärter. Die globalisierten Krisen- und Kriegsschauplätze sind überschaubarer, durchschaubarer sind sie für die meisten Beobachter nicht.

Reportern, die aus Krisen- und Kriegsgebieten informieren, wird oft unbesonnen das Etikett „Kriegsberichterstatter“ zugeordnet. In unseren Breiten ein unseliger Terminus aus den schrecklichen Zeiten der Ersten-Weltkriegspropaganda und Goebbels infamer Propagandakompanie-Prosa.

Ich habe meine Arbeit in Kriegsgebieten stets als Friedensberichterstattung verstanden. Mit dem Bemühen, jenen eine Stimme zu geben, die in ihrem Leid meist keine haben: den Opfern.

Seit William Howard Russel, jenem leicht spleenigen Briten, der ab 1854 für die Londoner Times vom Krim-Krieg berichtete und seither als Erfinder des modernen „Kriegsberichterstatters“ gilt, schwankt dessen Berufsauffassung zwischen Auftrag und Resignation, zwischen Abenteuer und Herausforderung, zwischen Aufklärung und Verklärung.

Russels Berichte brauchten drei Wochen, bis sie die Redaktion erreichten. Diese Zeiten sind vorbei. Heute ist der Reporter live auf Sendung. Jederzeit und überall.

Das mitunter romantisch verklärte Zerrbild des abgebrühten Haudegen mit kugelsicherer Weste, der an der Hotelbar seine Informationen einholt, mag in Einzelfällen zutreffen, dem journalistischen Vorbild jener, die ihren Beruf ernst nehmen, entspricht es nicht.

In aller Bescheidenheit, in Kriegen kommen auch Journalisten ums Leben. Allein im Irakkrieg, um ein Beispiel zu nennen, mit bisher mehr als sechzig getöteten Kolleginnen und Kollegen, viel zu viele.

Kriege sind Medienereignisse. Eine Binsenweisheit. Das Problem ist nicht, dass wir von Kriegen nichts erfahren. Das Problem ist, dass Kriege heute zum Pseudoereignis werden können, zur Inszenierung, während hinter den Informationskulissen ein ganz anderer Krieg geführt wird. Der Krieg, wie er immer war: brutal, dreckig, unmenschlich.

Die Gefahr der Instrumentalisierung des Journalismus besteht nach wie vor. Die Verfälschung von Nachrichten und die Unterdrückung missliebiger Informationen durch Kommandierende an allen Fronten ist ein Teil der militärischen Öffentlichkeitsarbeit. Regierungen entscheiden, wer wann und wo als Journalist arbeiten darf und wer nicht. Manipulationsgefahr ist die ständige Begleiterin in Kriegszonen. Der Zusammenschluss von Journalisten in „reporter pools“ oder die Erfindung der „embedded journalists“ im Golfkrieg 2003 ist direkte oder indirekte Zensur.

 

„Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen

Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,

Wenn hinten, weit, in der Türkei,

Die Völker aufeinander schlagen.

Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus

Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten;

Dann kehrt man abends froh nach Haus

Und segnet Fried und Friedenszeiten.“

 

Das pharisäerhafte Glücksgefühl des Spießers aus Goethes Faust ist in der Nach-Gutenberg-Ära, wo wir vielleicht weniger belesen, aber immer mehr bebildert sind, nicht mehr möglich. Stell dir vor, es ist Krieg, und der Fernseher ist kaputt. Auch solch ein Missgeschick ändert nicht die visuelle Wirklichkeit.

„The first casualty when war comes, is truth.“ Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst. Dieser Satz des Senators Hiram Johnson aus dem Jahr 1917 ist heute auch auf einer Gedenktafel im Stadtzentrum Sarajewos zu lesen. Auf einer Hauswand gegenüber der Ewigen Flamme des Heldendenkmals der jugoslawischen Weltkriegsopfer.

Dieser Satz wird gerne und oft zitiert. Mit Vorliebe von politischen Sonntagsrednern und Leitartiklern, die Kriege nur vom Hörensagen kennen, auch wenn sie an deren Entstehung mitbeteiligt sind.

„Das erste Opfer im Krieg ist die leer gesoffene Bar in dem der Front nächstgelegenen Hotel“, klärte mich im Bosnienkrieg zu fortgeschrittener Stunde ein hart gesottener Zunftbruder auf. So zynisch darf man nicht sein. Realistisch schon.

Die Wahrheit ist oft das erste Opfer im Frieden, was dazu führt, dass Lügen Kriege möglich machen. Dieser Mangel an Wahrheit in einer Welt virtueller Nachrichten ist erschreckend, gefährlich, alarmierend.

Wahr ist, was uns der große Reporter, Gelehrte und Forschungsreisende Alexander von Humboldt lehrt: Bevor man eine Weltanschauung hat, muss man sich die Welt anschauen. Auch wenn sie noch so verrückt ist.

 

 

 

VERRÜCKTE WELT

Guten Morgen, Bagdad!

Guten Morgen, Bagdad!

Bagdad ist keine schöne Stadt, aber eine sehr menschliche.

„Bribe!“ Der Zöllner erwartet Schmiergeld.

Bakschisch hätte ich auch verstanden. Die Aufforderung auf dem International Saddam Airport ist unmissverständlich. Die Maschine der Royal Jordanian aus Amman war mit Stunden Verspätung auf dem Bagdader Flughafen gelandet. Die Zollabfertigung entspricht dem Standard eines Polizeistaates, wie er mir aus Ostblockzeiten in Erinnerung ist. Der Koffer mit Privatgepäck war in der Ankunftshalle unauffindbar – und wurde auch nie wieder gefunden. An dieser misslichen Lage konnten auch bündelweise verteilte Ein-Dollar-Scheine nichts ändern. Der Koffer war abhanden gekommen, vielleicht auch schon in Amman. Dieser Verlust ist nicht meine größte Sorge. Viel wichtiger ist die Einfuhr eines Satellitentelefons in ein diktatorisch regiertes Land, in dem Auslandstelefonante selten funktionieren, und wenn, abgehört werden. Dank „bribe“ ist die Einfuhr kein Problem, die Ausfuhr Wochen später allerdings schon.

Das Kürzel IBM ist mir seit Aufenthalten in mehreren arabischen Ländern vertraut, es scheint auch im Irak bekannt zu sein

 

I – wie inschallah – so Gott will!

B – wie bukra – morgen

M – wie malesch – macht nichts!

 

Im Jänner 2003 bin ich nicht der einzige Journalist, der nach monatelangem Warten auf ein Visum in Saddams Polizeistaat eingelassen wird. Jedem von uns ist klar, dass der erwartete Angriff der Amerikaner nur noch eine Frage von Wochen sein kann. Das Baath-Regime erlaubt uns einen kontrollierten Blick auf Saddams Paralleluniversum.

Seit zwei Wochen sind die UNO-Waffeninspekteure wieder im Land unterwegs, mit der vagen Hoffnung, dass Saddam mit ihnen kooperieren möge, während für Bush, beseelt von seinem Antiterrorkampf, der Beginn des Irakkrieges eine längst beschlossene Entscheidung ist. Bush und Blair wollen den Machtwechsel, in Washington und London üben Exil-Iraker die Regierungsübernahme. Pläne, die US-Vizepräsident Cheney schon Anfang der 90er Jahre entwickelt hatte. Eine neue Pax americana, der Brüssel-Europa mit keiner balance of power Paroli bieten kann.

Washingtons National Securitiy Strategy vom September 2002 ist kein Übungsprogramm für Politologie-Seminaristen, sondern ideologisches Rüstzeug für einen Präventivschlag, wenn es heißt: „In der Ausübung unserer Führerschaft werden wir die Werte, Entscheidungen und Interessen unserer Freunde und Partner respektieren. Aber wir sind bereit, allein zu handeln, wenn es unsere eigenen Interessen und unsere einzigartige Verantwortung erfordern.“

Klare Worte, die auch im Zweistromland verstanden werden.

Es herrscht Endzeitstimmung in Bagdad.

Die Zimmerreservierung im Hotel Raschid hat geklappt. Jeder Gast, der Gelegenheit hat, seinen Fuß über die Schwelle von Bagdads bestem Hotel zu setzen, muss über ein Mosaik-Porträt von Bush senior stapfen, dem Vater des Zweiten Golfkrieges von 1991. Der Symbolgehalt dieses Fußtrittes ist unmissverständlich, wenn man berücksichtigt, dass die Höflichkeit dem Gast gebietet, eine irakische Wohnung ohne Schuhe zu betreten.

Die Herren an der Rezeption in ihren braunen, uniformähnlichen Anzügen sind höflich, aber nicht immer hilfsbereit. Gut geschulte Geheimdienstler, die ihren Chefs über die Hotelgäste berichten müssen. Besonders freundlich ist ein älterer Herr, der den Liftboy mimt und vermutlich jedem Besucher vom tragischen Schicksal seines kranken Sohnes erzählt, was die Spendierfreudigkeit der Aufzuggäste erhöht. Eine Bar dient als Internetcafé, in dem unauffällige Auffällige surfen, gemeinsam mit einigen amerikanischen Friedensaktivistinnen, die, wie mir eine ihrer Sprecherinnen erklärt, „dagegen sind, dass die amerikanische Regierung Unschuldige nur wegen des Öls umbringt.“

Über die Zimmer im Raschid kursieren die verrücktesten Gerüchte. Angeblich sind in den Fernsehapparaten Videokameras eingebaut. Videos von Hochzeitsnächten im Raschid sollen ein Renner auf dem Schwarzmarkt sein. Ich beruhige mich mit der Vermutung, dass, wie so vieles in Saddams Irak, auch diese Kameras inzwischen kaputt sind. Selbst beobachtete paranoide Schübe lassen sich allerdings nicht vermeiden: Man beginnt, das Telefon und die Nachttischlampe zu durchsuchen. Kollegen erzählen von unangenehmen Begegnungen in frühen Morgenstunden, als Putzbrigaden mit dem seltsamen Begehren an die Zimmertür klopften, nach einem angeblich unter dem Bett versteckten illegalen Hotelgast suchen zu müssen.

Nichts von all dem fällt mir auf. Das unfreiwillig Aufregendste sind die Programme des staatlich irakischen Fernsehens. Ähnlich Erbauendes sah ich nur in Ceaus¸escus Rumänien: Der omnipräsente, allseits geliebte Führer gibt den geknechteten Untertanen Ratschläge, beklatscht von einer untertänigst schleimenden Kamarilla.

Der Film zeigt den Sportsmann Karl Heinz. So nennen Iraker ihren gefürchteten Präsidenten, ohne ihn zu nennen. Im Mao-Stil schwimmt er bei Tikrit in den Fluten des Tigris. Saddam, der Star eines Schwimmturniers, verhöhnt im Film die USA: „Das letzte Mal, als wir diesen Fluss durchquerten, haben die Amerikaner gesagt, dass ist wieder der Doppelgänger. Aber der schafft nicht drei Flussdurchquerungen. Das schaffe nur ich. Wir sollten mein Double mehr trainieren lassen.“

Ein anderer TV-Auftritt zeigt Saddam mit Zigarre, inmitten seiner Entourage: eine Sitzung mit seinen militärischen und politischen Führern, schnauzbärtige Saddam-Klone mit versteinerten Minen, die Bericht erstatten über die Einsatzbereitschaft von Armee, Polizei und Spezialtruppen. Die Bilder müssen auch dem irakischen Zuschauer ungewollt das Gegenteil der Propagandabotschaft vermitteln: Die Götterdämmerung des Saddam-Regimes hat begonnen. Auch wenn Saddam das Schauspiel zu genießen scheint, dass sein innerster Kreis den irakischen Präsidenten offenbar mehr fürchtet als den amerikanischen.

„Öffnet das Fenster. Im Saal ist es heiß. Vielleicht deshalb, weil wir so begeistert sind.“

Beflissen lacht die Gefolgschaft wie auf Befehl. Mit Scherzen eines Tyrannen ist nicht zu spaßen.

Auch Saddams Getreue erkennen die Zeichen an der Wand, müssen aber blinden Gehorsam bekunden:

„Irak will keinen Krieg. Aber wenn es dazu kommt, wird das Volk geschlossen hinter dem Präsidenten stehen.“ Parlamentspräsident Sadun Hasmadi glaubt offenbar, was er im Interview sagt, auch wenn sein Gesichtsausdruck verrät, dass er zu ahnen scheint: Der Interviewer glaubt mir nicht.

Um in Bagdad weiterarbeiten zu können, fehlt mir das Wichtigste für die journalistische Arbeit in einem Staat mit Orwellschen Ordnungsprinzipien: die befristete Akkreditierung und die Bestätigung eines Aidstestes. Beides zu bekommen, kostet Zeit, Nerven und Geld.

Im Informationsministerium, wo die erforderlichen Papiere ausgestellt werden, arbeitet das Personal im Stil einer Mafiafamilie. Don Corleone ist ein Herr Mohsen. Er entscheidet, wer wie lange auf die Presseausweise wartet und wie viel dafür bezahlt.

Hunderte ausländische Reporter, Kameraleute und Techniker sind in der Stadt, werden auf Schritt und Tritt vom Staatssicherheitsdienst überwacht. Jeder ausländische Journalist bekommt einen so genannten „minder“ zugeteilt. Diese Bezeichnung klingt besser als Bewacher oder Aufpasser.

Offiziell werden uns diese Nothelfer zugeteilt, um für unsere Sicherheit zu sorgen, tatsächlich, um unsere Arbeit zu behindern. Saddams Überwachungssystem ist eine Kopie der Methoden, die KGB, Securitate und Stasi vor dem Fall der Mauer 1989 in Osteuropa praktizierten. Aber wie schon seinerzeit bei den Dreharbeiten im Ostblock gelingt die Überwachung nicht immer. Journalisten nützen das Organisationschaos überforderter Aufpasser und Spitzel.

Mir wird Herr Alaa als „minder“ zugewiesen. „Ich bin Reiseführer“, stellt er sich vor. „Weil zu viele Journalisten im Land sind, sucht das Informationsministerium neue Mitarbeiter. Ich bin einer von diesen.“

Wie sich bei einem ersten Erfahrungsaustausch rasch herausstellt, ist meinem „minder“ Alaa die große Vergangenheit irakischer Geschichte mit Assyrern und Sumerern vertrauter als der Gedanke an eine Zukunft ohne Saddam Hussein. Für seine Dienste muss der ausländische Journalist dem Informationsministerium täglich hundert Dollar bezahlen. Davon hat Herr Alaa nichts und erwartet sich ein tägliches Zubrot von 50 Dollar für die eigene Tasche.

Nach vier Wochen sind wir fast ein Team: Er beobachtet mich, ich ihn und uns beide der Geheimdienst muchabarat.

Das System, für das Alaa arbeitet, jagt ihm selbst Angst ein. Der mediale Handlanger des Regimes braucht Erfolgserlebnisse. Als gelernter Fremdenführer schlägt mein Aufpasser zum Auftakt eine Sightseeing-Tour vor.

Ninive bei Mosul bietet sich an.

Das vierhundert Kilometer nordwestlich von Bagdad am rechten Ufer des Tigris gelegene Mosul ist der wichtigste Verkehrsknotenpunkt im Norden des Landes. Außer dass der Kleiderstoff Musselin nach der Stadt benannt ist, liegt uns Mosuls Geschichte doch sehr ferne. Nahe Mosuls bewundern wir die historischen Ruinen von Ninive, der Hauptstadt der Assyrer in der Zeit von 704 bis 681 v. Chr. Archäologen haben seit den 1960er Jahren zwei Stadttore freigelegt. Mein irakischer Begleiter ist stolz auf diese Leistung. „Aber seit dem letzten Krieg plündern Diebe die Anlage und verkaufen die Kunstwerke ins Ausland“, trauert Alaa den verlorenen antiken Kunstschätzen nach. Zu Recht.

Eine im Hotel Ninive einquartierte Gruppe von UNMOVIC-Mitarbeitern holt uns rasch in die Gegenwart zurück und erinnert uns daran, dass auch hier im Norden des Irak nach Saddams Waffenverstecken gesucht wird. Wo sie suchen, wollen uns die UNO-Experten nicht verraten. Wir vermuten, dass Saddams Palastanlage das Interesse der UNO-Abrüstungskommission erweckt hat. Um Mosul sind Soldaten des fünften irakischen Armeekorps’ stationiert. Die Stadt ist eine arabische Enklave inmitten des Kurdengebietes.

„Die Kurden schleusen hier Spione ein“, warnt mich mein Begleiter Alaa aus Bagdad und zeigt auf eine Gruppe kurdischer Männer, die am Straßenrand auf Arbeit wartet. Den Vorschlag, mit ihm in die Kurdengebiete zu fahren, lehnt Alaa erschrocken ab: „Wenn Sie dorthin fahren, dürfen Sie nie mehr nach Bagdad zurück!“ Wir entscheiden uns für die Rückkehr nach Bagdad.

Der oberste Boss des Informationsministeriums ist Saddams Sohn Udai. In seinem eigenen Fernsehsender verspottet er die UNO-Inspekteure: „Was die sagen, ist bedeutungslos. Sie verhalten sich wie die Zionisten. Ihre Denkweise ist dieselbe. Einmal fordern sie dieses, dann jenes. Wie schon mein Vater gesagt hat. Wir lügen nicht, wir sagen die Wahrheit.“

Udai ist auch Zeitungsherausgeber. Babil – Babylon – heißt sein Blatt. Eine Ausgabe ist innerhalb einer Stunde ausverkauft. In dieser Nummer druckt Udai eine Internetseite ab, auf der die irakische Exil-Opposition die Namen jener Saddam-Getreuen veröffentlicht, die sie vor ein Gericht bringen will. „Unsere Ehrenliste“, titelt Babil.

Unter Saddam sind die meisten Iraker auf die Regierungsmedien angewiesen. Internationale Presse gibt es in Bagdad nicht, Satellitenschüsseln sind verboten, Kabelfernsehen können sich nur wenige leisten.

Wir brauchen für unsere Beiträge eigene Bilder.

Vor den Toren Bagdads soll ein wuchtiges Denkmal an ewige Heldentaten erinnern: die Moschee „Mutter aller Schlachten“. Vier große Minarette, nachgebaut der Form von Scud-Raketen. Jedes irakische Kind weiß, was die Zahlenkombination 37-4-28 bedeutet. Am 28. April 1937 kam nach offizieller Darstellung im Dorf Oudscha Saddam Hussein zur Welt.

„Ich habe ein Buch gelesen, in dem geschildert wird, dass zu jener Zeit in der Gegend von Oudscha kein einziges männliches Familienmitglied eines natürlichen Todes gestorben ist“, erzählt Faisal al Yasiri im schönsten Wiener Deutsch. Der am Reinhardt-Seminar ausgebildete Schauspieler und Regisseur machte als Filmproduzent im arabischen Raum Karriere und ein Vermögen. Wir sind in seinem Bagdader Büro Untermieter. Faisal stellt uns seine Infrastruktur zur Verfügung und hilft uns mit seinem Wissen und seinen Kontakten weiter. Eine unbezahlbare Unterstützung in diesen Tagen, in denen hier in Bagdad jeder auf den Kriegsausbruch wartet.

„Auf dem Dach kannst Du noch die Sandsäcke sehen, die uns 1998 vor den amerikanischen Bomben schützen sollten. Wenn sie wieder bombardieren, wird es nicht viel nützen.“

Inzwischen dürfen wir die „Mutter-aller-Schlachten“-Moschee filmen. Herr Alaa ist in seinem Element, als er uns im prachtvoll dekorierten Gotteshaus auf eine 600 Seiten starke Koranschrift hinweist.

„Dieser Koran ist mit dem Blut des rais, des Führers, geschrieben. 28 Liter Blut hat er dafür geopfert. Drei Jahre lang haben Saddam die Ärzte dafür zur Ader gelassen.“

„Ich weiß nicht, ob diese Erzählungen alle stimmen“, meint Faisal.

Am liebsten sehen uns die Herren vom Informationsministerium bei Dreharbeiten mit den UNO-Fahndern auf deren erfolglosen Missionen bei der Suche nach Massenvernichtungswaffen.

In der Resolution 1441 vom 8. November 2002 wurde festgelegt, dass die UNMOVIC ohne jede Einschränkung und ohne jede Vorankündigung alle von ihr ausgesuchten zivilen und militärischen Anlagen im Irak untersuchen kann. Sie darf auch irakische Wissenschaftler und ehemalige Mitarbeiter von Rüstungsprogrammen im Ausland befragen.

Das Drehszenario folgt einem grotesk eingespielten Ritual. In aller Früh warten wir Journalisten vor dem Hotel Canal, dem Sitz der UNO-Inspekteure, bis sich der erste Konvoi der IAEO-Pfadfinder auf den Weg macht. Wohin, wissen wir nicht. In affenartiger Geschwindigkeit rasen unter Polizeischutz Inspekteure, Saddams Geheimdienstleute und Journalisten durch Bagdad zu angeblich geheimen ABC-Produktionsstätten auf Bauernhöfen, in Fabrikanlagen, in Laboratorien.

Eine Gruppe nimmt Messungen in Bagdader Fußballstadien vor, eine andere untersucht einen Betrieb, in dem alkoholische Getränke hergestellt werden. Auf einer Hühnerfarm in der Nähe von Al Kut filmen wir Inspekteure, die mit Spezialsonden in Haufen von Futtermitteln stochern. Sie finden nichts. Auch nicht in Saddams Palästen. Saddams Aufenthaltsort bleibt ein Geheimnis. Es gibt von Geheimdiensten lancierte Gerüchte, dass Saddam aus Angst vor Attentaten sich nur noch selten in seinen Palastanlagen aufhalte und in Privathäusern übernachte.

„Filmen strengstens verboten!“ ruft Alaa.

Wir stehen mit der Kamera auf dem Ausgrabungsgelände von Babylon. Auf einem Hügel im Hintergrund protzt einer von Saddams Palästen, umgeben von der Kulisse eines mesopotamischen Disneylands. Der Diktator ließ Palastanlagen des antiken Babylon wieder aufbauen und lässt sich nun als Erbe Nebukadnezars feiern, als Vollender der mesopotamischen Zivilisation. Der Wohnsitz des Königs vor 2.600 Jahren wurde rekonstruiert, mit Bausteinen, die Saddams Siegel tragen. Mit Reliefs, auf denen Saddams Gesichtszüge jenen Nebukadnezars gleichen. Ein Labyrinth von Gängen und Hallen mit meterhohen Wänden aus gelben Ziegeln. Ich möchte Aufnahmen von Saddams Palazzo in Babylon. Unmöglich, auch wenn der Kameramann mit allen Tricks versucht, die Aufpasser abzuschütteln.

„Hier dürfen wir filmen.“ Herr Alaa ist erleichtert. Am zwölften Jahrestag der „Operation Wüstensturm“, dem Beginn des Zweiten Golfkrieges, mit dem die irakische Armee aus dem von ihr besetzten Emirat Kuwait vertrieben wurde, trommelt das Regime tausende Demonstranten auf den Straßen Bagdads zusammen.

„Saddam, Saddam! Für dich geben wir unser Blut und unsere Seele!“ brüllen sie. Männer, Frauen, Kinder.

„Ich werde die Amerikaner mit meinen eigenen Händen vertreiben!“ droht Ahmed, ein Student und Jungfunktionär der Baath-Partei. Die eingetrichterten Parolen sind leere Phrasen. „Wir fürchten den Krieg und die Amerikaner nicht. Wir sind das Land, in dem die Zivilisation geboren wurde“, sagt Saleh, ein Germanistikstudent. Und klagt, dass sein Institut infolge des Wirtschaftsembargos kaum noch Lehrbücher hat.

Die Demonstranten verbrennen amerikanische Fahnen und nennen Bush einen „Mörder“.

In Mosul filmen wir die Al-Quds-Armee, die Jerusalem-Armee, die Volksmiliz: zum Widerstand entschlossene Mitglieder der Baath-Partei, aber auch Zivilisten, die den Eindruck erwecken, dass sie nicht alle freiwillig zu Fanfarenklang und Marschmusik marschieren. Eine Gruppe Vermummter in weißen Gewändern kündigt Selbstmordattentate an.

Unterstützt werden diese Aufmärsche von Friedensbewegten aus dem Westen, die freiwillig nach Bagdad kommen, im guten Glauben, als „menschliche Schutzschilde“ die Bombardierung Bagdads verhindern zu können. Sie geraten in ein propagandistisches Minenfeld. Unter den Friedensaktivisten ist auch der deutsche Liedermacher Konstantin Wecker. Vor seinem Konzert erklärt er mir im Hotel Andalus die Beweggründe seines Bagdader Auftritts:

„Ich habe gesehen, dass das Wirtschaftsembargo kontraproduktiv ist. Zweifellos ist hier eine Diktatur. Das habe ich auch nie in Abrede gestellt. Zweifellos ist es gefährlich, von einer Diktatur vereinnahmt zu werden. Die irakische ist nicht die einzige im Mittleren Osten. Aber es gilt, einen unglaublich brutalen Krieg zu verhindern, der meines Erachtens unsere ganze Zivilisation in eine Zeit vor der Aufklärung zurückbomben würde. Es würde nicht das Recht gestärkt werden, es würde das Recht der Stärkeren herrschen.“

Weckers Konzert ist für die Professoren und Germanistikstudenten der Bagdader Universität eine willkommene Abwechslung.

„Ich glaube, solche Konzerte und Solidaritätskundgebungen helfen uns“, sagt Professor Ibrahim Fuad, der Leiter des Germanistikinstituts.

„Und wenn die Amerikaner und Briten trotzdem angreifen?“

„Dann müssen wir kämpfen und uns verteidigen.“

In den Nachkriegswirren wird Professor Ibrahim Fuad erschossen. Ein Opfer des Terrors.

Mit den zweitgrößten Ölreserven der Welt ist der Irak kein armes Land. Und dennoch ist die Armut unübersehbar. In den Straßen Bagdads, einer Stadt mit fünf Millionen Einwohnern, ist das Elend Dauergast. Auf Marktplätzen bieten unterernährte Kinder Lebensmittel und Kleidungsstücke zum Verkauf an. Arbeitslose Professoren verhökern auf dem Bücherbasar ihre letzten bibliophilen Kostbarkeiten.

Zwölf Jahre nach dem Ende des Golfkriegs 1991 verschlimmern die Kriegs- und Embargofolgen den Überlebenskampf der verarmten Bevölkerung, während sich die Oberschicht alles leisten kann. Die Reichen kümmern sich nicht um die Armen, das Regime nützt das Leid der Mittellosen zynisch für Propagandazwecke.

„Wir haben die Dreherlaubnis“, frohlockt Herr Alaa.

Wir dürfen im Al-Mansur-Kinderspital drehen. Das Krankenhaus zählt zum Pflichtprogramm für alle Friedensaktivisten, internationalen Helfer und Reporter, die sich in diesen Vorkriegstagen in Bagdad aufhalten. Im Al-Mansur-Kinderspital sterben Säuglinge an Durchfallerkrankungen, stöhnen leukämiekranke Babies, sehen wir missgebildete Neugeborene, ein furchtbarer und herzzerreißender Anblick.

„Das sind die Folgen von 50 Tonnen uranhaltiger Munition, die seit dem letzten Krieg noch immer in unseren Böden liegen“, sagt Doktor Selma Haddad. „Aufgrund des UNO-Embargos fehlen uns die lebensnotwendigen Medikamente und Ersatzteile für medizinische Geräte. Wir haben zu wenig Antibiotika. Wir können den Patienten nur die halbe Dosis geben und müssen die Behandlung immer wieder abbrechen.“

Kleinkinder leiden unter der Tropenerkrankung Kala Azar. Sie wird durch Parasiten und Fliegen übertragen, eine Plage, die den Irak wieder heimsucht, seit Insektizide wegen der Sanktionsbestimmungen nicht mehr importiert werden dürfen. Sie könnten militärisch genützt werden, lautet die Erklärung für das Einfuhrverbot.

Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. Noch sind internationale Hilfsorganisationen in Bagdad, doch es ist ungewiss, ob sie nach Kriegsbeginn bleiben oder weiterarbeiten können. Der Rote Halbmond, der Partner des Roten Kreuzes, sorgt sich in 23 Kliniken und 19 Orthopädiezentren um die Kranken, kümmert sich auch um 38 Wasserwerke und 16 Abwasserstationen. Doch täglich wächst die Angst, dass die für vier Wochen auf Vorrat gelagerten Medikamente im Kriegsfall rasch aufgebraucht sind.

Seit Jahren kämpfen die Menschen ums Überleben. Jedes vierte irakische Kind ist chronisch unterernährt. Tausende sterben, weil sich mittellose Familien die Medikamente auf dem Schwarzmarkt nicht leisten können. Ein Teil der Bevölkerung hungert, 60 Prozent der Bevölkerung sind jeden Monat auf staatliche Hilfe angewiesen. Sie soll den Tagesbedarf von 2.230 Kalorien sicherstellen. 400.000 Tonnen Nahrungsmittel müssen pro Monat landessweit verteilt werden. Finanziert wird die Verteilung durch das UNO-Programm „Öl für Lebensmittel“. Der Despot und seine Bürokratenclique verdienen daran.

Den Hoffnungsschimmer, dass ein Krieg und der folgende Machtwechsel die Bevölkerung aus ihrer Lethargie und Hoffnungslosigkeit reißen werden, kann ich nirgends sehen.

„Nach dem Krieg werden wir uns gegenseitig umbringen“, befürchtet Abdul, mein Kameramann, ein Schiit. Ihn plagen Alpträume. Jahrelang war er einer der besten Kameraleute des staatlich irakischen Fernsehens. Jetzt, als Pensionist, kann er von seiner Fünf-Dollar-Monatsrente nicht leben und versucht, bei westlichen Korrespondenten Arbeit zu finden.

Mit Abdul fahren wir zu Dreharbeiten nach Kerbala, 100 Kilometer südlich von Bagdad.

Für die Schiiten ist Kerbala eine der heiligsten Stätten. Die Abbas- und Hussein-Moschee leuchten mit ihren goldenen Kuppeln aus der Ferne. Die beiden Moscheen im Stadtzentrum erinnern an die Schlacht von Kerbala im Jahr 680, jenes Jahr, in dem sich der Islam in eine sunnitische und schiitische Richtung abspaltete. Es ging damals um die Entscheidung, wer der rechtmäßige Nachfolger Mohammeds ist und wer die Führung im rasch expandierenden islamischen Weltreich übernehmen soll. In Damaskus hatte sich die Dynastie der Omaijaden durchgesetzt, eine der führenden Familien in Mekka zu Mohammeds Zeiten.

Sein Sohn Hussein stellt sich in Kerbala einem Heer der Omaijaden-Kalifen. Er wird niedergemetzelt.

Der Verwalter der Hussein-Moschee, Abdul Sahib Naser Nasrallah, weist uns im Empfangssaal seiner Residenz auf die Bedeutung der auch hier unvermeidbaren Saddam-Porträts hin und erklärt, sichtlich wider besseres Wissen, einen Lebensbaum Saddam Husseins, der eine Wand des Gebäudes schmückt.

„Saddam ist in der 36. Generation ein Nachfolger des Imam Hussein“, muss der Moscheenverwalter lügen und für Saddam Hussein, den Schiitenschlächter, schwärmen: „23 Kilogramm Gold und 233 Kilogramm Silber hat unser Präsident für den Hussein-Schrein gespendet.“ Was Abdul Sahib aus Angst verschweigt, ist die Vorgeschichte dieser Spende.

Als 1991 Saddams Armee aus Kuwait verjagt worden war, revoltierten die Schiiten in Kerbala, Nadschaf und Basra gegen die vermeintliche Schwäche des Regimes, lynchten Funktionäre der Baath-Partei und der Geheimdienste. Ein Aufstand, den die USA nicht wollten und deshalb auch nicht unterstützten. Sie überließen das Schicksal der Schiiten Saddams Schergen. Mit Hubschraubern mähten die im Krieg ungeschoren davongekommenen Elitedivisionen der Republikanischen Garden zehntausende schiitische Gegner nieder und bombardierten die Heiligen Stätten.

Spuren dieser Vernichtungsaktion sind noch während unserer Dreharbeiten zu sehen.

„Die Revolte war eine vom Iran gesteuerte Provokation. Die Menschen haben begriffen, dass solch ein Verhalten gegen die Gesetze war.“ Abdul Sahib wiederholt die von offizieller Seite vorgegebene Interpretation des erfolglosen Schiitenaufstandes von 1991. Herr Alaa, mein „minder“, ist mit dieser Erklärung zufrieden.

Zurück in Bagdad, registrieren wir im Hof des Informationsministeriums eine seltsam beflissene Hektik. Bauarbeiter beginnen Gräben auszuheben, offenbar für Fundamente neuer Büroräume. Dass bei diesen Vorkehrungen ein Arbeiter das Kabel eines Satellitentelefons durchschneidet, macht nervöse Journalisten noch nervöser.

„Ich glaube nicht, dass wir die neuen Büros noch brauchen werden“, sage ich zu Herrn Alaa. Er findet diese Bemerkung nicht besonders witzig.

In einem Saal des Informationsministeriums lauschen wir Colin Powells Auftritt vor dem UNO-Sicherheitsrat in New York. Die CNN-Live-Übertragung wird dem Bagdader Pressekorps zugeschaltet. Der USA-Außenminister legt Tonband- und Satellitenaufnahmen vor, die beweisen sollen, dass der Irak geheime Rüstungsprogramme entwickelt. Powell präsentiert unter anderem Abhörprotokolle, denen zu entnehmen ist, wie sich irakische Militärs und Regierungssprecher über Verstecke von verdächtigem Material unterhalten.

„Schaffen Sie es weg, wo immer etwas auftaucht!“ sagt laut Powell ein Offizier.

„Das hätten unsere Geheimdienstleute besser gefälscht!“ sagt Herr Alaa.

Ich beginne, ihm zu glauben.

Die Iraker, die das Regime nicht lieben, fürchten nur eines noch mehr: dass es wieder Krieg geben wird. Und die meisten wissen, dass die Botschaften, die das Regime verkündet, Lügen sind.

Zum islamischen Neujahrsfest lässt Saddam Hussein im Fernsehen einen Brief verlesen, der vor Selbstbewusstsein strotzt: „Die USA werden bei einem Angriff eine schwere Niederlage erleiden.“

Bagdads Bevölkerung bereitet sich indes auf den Krieg vor. Wer es sich leisten kann, gräbt einen eigenen Brunnen. Die Behörden öffnen die Luftschutzbunker, die Wohlhabenden wollen sich noch einmal amüsieren.

Bagdads Kunstszene boomt.

„Gemessen an den Sanktionsfolgen haben wir uns ganz gut gehalten“, meint eine junge Malerin.

Die Menschen strömen in die Theater, Dichter lesen aus ihren neuesten Werken. Das Nationalmuseum beruhigt mit einer Konferenz über die Renovierung der 10.000 archäologischen Stätten eigene Ängste. Donny George, wie seine Kollegen in eine militärische Phantasieuniform gezwängt, weiß, dass die Veranstaltung mehr der Stärkung der Moral seiner Mitarbeiter als der Abwehr realer Gefahren nützt.

Wer kann, verlässt Bagdad und fährt zu Verwandten auf das Land oder nimmt an der jährlichen Pilgerreise nach Damaskus zum schiitischen Zeinab-Schrein teil. Die Pilgerreise kostet 30 Euro, das Einkommen eines Beamten in vier Monaten.

Verarmte Mittelstandsfamilien verkaufen ihre Häuser, um Geldreserven anzulegen. Neureiche Krisenprofiteure gehen auf Schnäppchenjagd, eröffnen teure Restaurants und Modegeschäfte. Aber das Geschäft lässt zu wünschen übrig. In der noblen Arasat-Straße klagt der Boutiquenbesitzer Amar al Ghilany über Umsatzeinbußen. „Die Zeit ist nicht gut für das Geschäft. Die Menschen horten ihre Ersparnisse für den Krieg.“ Sein Geschäft, früher ein Tummelplatz der Reichen und Schönen, ist gähnend leer. In der Al-Mutanabi-Straße, auf dem traditionellen Bücherbasar, hat der Buchhändler Mohammed Fahri auch schon bessere Zeiten erlebt. „Die meisten haben kein Geld. Sie kommen nur, um ihre Bücher zu verkaufen oder umzutauschen. Nicht zum Kaufen.“

Noch ist das Regime in der Lage, die Massen zu mobilisieren. „Ich werde meine Gruppe bewaffnen, sollte es zum Krieg kommen“, schwört Bilal Sahib, ein Jungfunktionär der Baath-Partei.

Seit 1991 war es dem Irak aufgrund des verhängten Embargos nicht möglich, durch Rüstungsimporte seine im Zweiten Golfkrieg stark angeschlagene Armee zu modernisieren. Waffenschmuggel und illegale Importe verhindern den völligen Kollaps. Eine irakische Marine existiert nicht mehr, die Luftwaffe wurde 1991 ebenfalls größtenteils zerstört.

Die US-Militärs präsentieren auch die neu entwickelte elektronische Bombe: Die Mikrowellenkanone erzeugt in einem Zeitraum von einer Millisekunde Spannungen von mehreren Millionen Volt. Dieser extrem starke Mikrowellenimpuls vernichtet in einem von der Leistung der Waffen abhängigen Radius sämtliche Computerprogramme.

Iraqi Airways

Der Basra International Airport wirkt überdimensioniert und verlassen, die einstige Handelsmetropole Basra wie ausgestorben. Die Elendsquartiere entlang der Flughafenstraße drücken aufs Gemüt. Wir sind auf dem Weg zur Familie von Ahmed Daud. Zu ihm wird vermutlich jeder ausländische Journalist geführt, der in diesen Vorkriegstagen nach Basra kommt. Sein kleiner Sohn wurde bei einem Bombenangriff schwer verletzt. Ein „Kollateralschaden“, der in keiner Statistik der alliierten Kampfverbände aufscheint. Dass sein Kind für Propagandazwecke missbraucht wird, weiß vermutlich auch Ahmed Daud, der Vater, der uns zum Abschied in seiner Werkstätte sagt: „Eigentlich will ich nichts anderes als ihr im Westen. Arbeiten und Überleben.“

„Zu uns kommen die Menschen, die sich die Medikamente nicht leisten können, die ihnen die Ärzte verschrieben haben“, sagt Pater Imad Abana.

Alaa beginnt an seinem Schnurrbart zu zupfen. Eine Drehgenehmigung für Abu Ghraib scheint ihm das Ansuchen eines arg Ahnungslosen. „Ich werde das Ansuchen beim Informationsministerium einreichen.“ Es wurde nie eingereicht.

Doch vor der Abreise muss ich noch zum Aidstest. Dem aus Wien mitgebrachten Attest fehlt nach Ansicht der irakischen Begutachter ein wichtiger Stempel. Welcher, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass die Laboranten im Bagdader Gesundheitszentrum die Ampulle mit dem mir abgezapften Blut nie ausgewertet haben. Als Gegenleistung hatte ich den für die Ausreise nötigen Gesundheitsstempel im Pass und wieder 50 Dollar weniger in der Tasche. Auf dem International Saddam Airport verabschiede ich mich von Herrn Alaa: in der Ungewissheit, ihn noch einmal, und in der Hoffnung, Bagdad bald wieder zu sehen. Guten Morgen, Bagdad!