Donna Douglas wuchs in London auf, lebt jedoch inzwischen mit ihrer Familie in York. Ihre Romanserie um die Schwesternschülerinnen des berühmten Londoner Nightingale Hospitals wurde in England zu einem Überraschungserfolg. Neben ihrer Arbeit an weiteren Romanen schreibt die Autorin außerdem regelmäßig für verschiedene englische Zeitungen.
Mehr über Donna Douglas und ihre Bücher erfahren Sie unter www.donnadouglas.co.uk oder auf ihrem Blog unter donnadouglasauthor.wordpress.com.
Die
NIGHTINGALE
SCHWESTERN
Freundinnen fürs Leben
Roman
Aus dem Englischen von
Ulrike Moreno
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2012 by Donna Douglas
Titel der englischen Originalausgabe: »The Nightingale Girls«
Originalverlag: Arrow Books, an imprint of
The Random House Group Limited, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Britta Schiller, Eitorf
Titelillustration: © Mary Evans /SZ Photo /Scherl;
© Colin Thomas, London
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3397-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
»So, Miss Doyle, und nun sagen Sie mir bitte, warum Sie glauben, dass Sie hier jemals Krankenschwester werden könnten?«
Für die in den Slums von Bethnal Green herangewachsene Dora Doyle gab es kaum etwas, das ihr noch Angst einjagen konnte. Trotzdem kribbelte ihr Magen vor Aufregung an diesem warmen Septembernachmittag, als sie der Oberin des Nightingale Teaching Hospitals in ihrem Büro gegenübersaß. Eine imposante, ganz in Schwarz gekleidete Erscheinung, das Gesicht umrahmt von einer kunstvoll gefältelten weißen Haube, saß diese groß und aufrecht hinter einem massiven Mahagonischreibtisch und hielt ihre grauen Augen erwartungsvoll auf Dora gerichtet.
Dora wischte sich die feuchten Hände an ihrem Rock ab. Sie schwitzte in ihrem Mantel, wagte aber nicht, ihn auszuziehen, da die Oberin dann vielleicht die zerfransten Manschetten ihrer Bluse bemerken würde.
»Nun ja …«, begann sie und unterbrach sich gleich wieder. Die Frage der Oberin war berechtigt: Warum glaubte sie, dass sie jemals Krankenschwester werden könnte? Da sie auf der anderen Seite des dem Nightingale gegenüberliegenden Victoria Parks lebte, hatte sie immer wieder die jungen Frauen in ihren rotgefütterten Umhängen durch die Tore kommen und gehen sehen, und solange sie denken konnte, hatte sie davon geträumt, zu ihnen zu gehören.
Doch Träume wie dieser erfüllten sich nicht für Leute wie Dora Doyle. Wie jedem anderen Mädchen aus dem East End war ihr das Los beschieden, in den Ausbeuterbetrieben oder einer der Fabriken zu arbeiten, die das Ballungsgebiet am Ufer der Themse säumten.
Deshalb war sie mit vierzehn von der Schule abgegangen, um fortan bei Gold’s Garments ihren Lebensunterhalt zu verdienen und das Beste daraus zu machen. Aber ihr Traum war keineswegs erloschen, sondern mehr und mehr in ihr gewachsen, bis sie vier Jahre später all ihren Mut zusammengenommen und einen Bewerbungsbrief geschrieben hatte.
»Was hast du schon zu verlieren?«, hatte Mr. Golds Tochter Esther sie gefragt. »Du wirst es nie erfahren, wenn du es nicht versuchst, bubele.« Sie hatte Dora sogar ihre Glücksbringer-Halskette für das Vorstellungsgespräch geborgt. Auch jetzt konnte Dora das warme Metall unter ihrer Bluse spüren.
»Es ist eine Hamsa, die auch Hand der Fatima genannt wird«, hatte Esther ihr erklärt, als Dora die zierliche silberne Hand an ihrer feinen Kette bewunderte. »Mein Volk glaubt, dass sie Glück bringt.«
Dora hoffte, dass die Macht der Hamsa sich nicht bloß auf Juden erstreckte. Sie brauchte alle Hilfe, die sie nur bekommen konnte.
»Ich bin sehr tatkräftig und fleißig«, sagte sie schließlich zu der Oberin. »Und ich lerne schnell. Man braucht mir nichts zweimal zu sagen.«
»So steht es in Ihrem Empfehlungsschreiben.« Die Oberin blickte auf den Brief vor sich herab. »Diese Miss Gold hält offenbar sehr viel von Ihnen.«
Dora errötete bei dem Kompliment. Esther hatte einiges damit riskiert, hinter dem Rücken ihres Vaters diesen Brief zu schreiben; der alte Jacob würde an die Decke gehen, falls er herausfand, dass seine Tochter einer seiner Angestellten half, eine andere Beschäftigung zu finden. »Miss Esther ist der Meinung, dass ich eines ihrer besten Mädchen an den Nähmaschinen bin. Sie sagt, ich hätte sehr geschickte Hände.«
Die Oberin warf einen Blick auf Doras Hände, die sie schnell auf dem Schoß verschränkte, um ihre abgekauten Nägel und die Schwielen an den Fingern, die groß wie Mottenkugeln waren, zu verbergen. ›Die Hände eines Arbeitstiers‹ pflegte ihre Mutter sie zu nennen. Doch sie sahen nicht aus wie die richtige Art von Händen, um beruhigend über eine fieberheiße Stirn zu streichen.
»Ich zweifle nicht daran, dass Sie eine fleißige Arbeiterin sind, Miss Doyle«, sagte die Oberin. »Aber das ist auch jedes andere Mädchen, das hierherkommt. Und die meisten von ihnen sind viel besser qualifiziert als Sie.«
Dora schob das Kinn vor. »Ich habe meine Zeugnisse. Ich bin zur Abendschule gegangen, um sie zu erlangen.«
»Das sehe ich.« Die Stimme der Oberin war sanft, hatte aber einen sehr entschiedenen Unterton. »Wie Sie vermutlich jedoch wissen, ist das Nightingale eines der besten Lehrkrankenhäuser Londons. Wir haben Mädchen aus dem ganzen Land, die hier eine Ausbildung machen möchten.« Ruhig erwiderte sie über den Schreibtisch Doras Blick. »Warum sollten wir also Sie annehmen und nicht die anderen? Was macht Sie so besonders, Miss Doyle?«
Dora senkte ihren Blick auf das Fischgrätenmuster des glänzenden Parkettbodens unter ihren Füßen. Sie wollte dieser Frau erzählen, dass sie nicht nur ihre jüngeren Geschwister versorgte, sondern sogar geholfen hatte, Little Alfie, den Jüngsten, vor zwei Jahren zur Welt zu bringen. Sie wollte ihr beschreiben, wie sie Oma Winnie im letzten Winter während einer schweren Bronchitis gepflegt hatte, von der alle anderen angenommen hatten, dass sie ihr mit Sicherheit den Tod bringen würde.
Vor allem jedoch wollte sie über Maggie sprechen, ihre wunderschöne Schwester, die gestorben war, als Dora gerade mal zwölf Jahre alt gewesen war. Drei Tage lang hatte sie an Maggies Bett gesessen und zugesehen, wie sie für immer von ihnen ging. Mehr als alles andere war es Maggies Tod gewesen, der in ihr den Wunsch geweckt hatte, Krankenschwester zu werden und andere Familien davor zu bewahren, so zu leiden, wie ihre eigene gelitten hatte.
Aber Doras Mutter mochte es nicht, wenn sie mit anderen über private Dinge sprachen. Und wahrscheinlich war es ohnehin nicht die gescheite Antwort, die die Oberin erwartete.
»Nichts«, erwiderte sie bedrückt. »Ich bin nichts Besonderes.« Nur die unscheinbare, rotblonde Dora Doyle von der Griffin Street.
Nicht einmal in ihrer eigenen Familie war sie etwas Besonderes. Peter war der Älteste, Alfie der Jüngste, Josie die Hübscheste und Bea die Frechste. Und irgendwo in der Mitte war dann auch noch Dora.
»Verstehe.« Die Oberin schwieg einen Moment und wirkte schon fast enttäuscht auf Dora. »Wenn das so ist, glaube ich nicht, dass es noch sehr viel mehr zu sagen gibt.« Sie begann, ihre Notizen einzusammeln. »Wir werden Ihnen schreiben und Sie unsere Entscheidung zu gegebener Zeit wissen lassen. Vielen Dank, Miss Doyle …«
Dora wurde von Panik ergriffen. Sie hatte sich nicht bewährt. Sie fühlte ihre Chance und mit ihr all ihre Hoffnungen sinken. Sie würde nie den rot gefütterten Umhang tragen und stolz und erhobenen Hauptes durch die Krankenhaustore gehen wie diese anderen Mädchen. Für sie hieß es wieder zurück zu den Maschinen bei Gold’s Garments, bis ihre Sicht so schlecht würde oder ihre Finger so gekrümmt vom Rheumatismus, dass sie nicht mehr in der Lage wäre zu arbeiten.
Und dann kamen ihr wieder Esther Golds Worte in den Sinn. Was hast du zu verlieren?
»Geben Sie mir eine Chance!«, entfuhr es ihr.
Die Oberin sah sie befremdet an. »Wie bitte?«
Dora konnte spüren, dass sie bis unter die Haarwurzeln errötete, doch sie durfte nichts unversucht lassen. »Ich weiß, dass ich keine solch umfassende Schulbildung habe wie die anderen Mädchen, aber ich verspreche Ihnen, dass ich mir wirklich sehr viel Mühe geben werde.« Ihre Worte überschlugen sich beinahe bei dem Versuch, sie hervorzubringen, bevor sie ihren Mut verlor.
»Also wirklich, Miss Doyle, ich glaube kaum …«
»Sie werden es nicht bereuen, das schwöre ich. Ich werde die beste Krankenschwester sein, die dieser Ort hier je gesehen hat. Geben Sie mir einfach nur eine Chance. Bitte«, flehte sie.
Die Augenbrauen der Oberin schossen in die Höhe, bis sie fast den gestärkten Rand ihrer Haube berührten. »Und wenn ich es nicht tue?«
»Werde ich mich erneut bewerben, hier oder woanders. Und ich werde mich so lange bewerben, bis irgendjemand Ja sagt«, erklärte Dora trotzig. »Eines Tages werde ich Krankenschwester sein. Und eine gute noch dazu.«
Die Oberin starrte sie so durchdringend an, dass Dora zu spüren glaubte, wie ihr das Herz bis in die geliehenen Schuhe sank.
»Danke, Miss Doyle«, sagte die Oberin. »Ich glaube, ich habe genug gehört.«
Oberin Kathleen Fox beobachtete durch das Fenster, wie Dora Doyle mit gesenktem Kopf und die Hände in den Manteltaschen über den Hof auf das Tor zueilte. Das arme Mädchen konnte scheinbar gar nicht schnell genug die Flucht ergreifen.
»Und?«, wandte sie sich an Miss Hanley. »Was denken Sie?«
»Ich glaube nicht, dass es mir zusteht, mich dazu zu äußern, Schwester Oberin.«
Kathleen lächelte im Stillen. Der Mund ihrer Stellvertreterin und Assistentin verkrampfte sich schon von der Anstrengung, ihre Meinung für sich zu behalten. Veronica Hanley war eine große, breitschultrige Frau mit markanten Zügen, kurzgeschnittenem, ergrauendem Haar, großen Händen und einer tiefen, dröhnenden Stimme. Kathleen hatte mitbekommen, dass einige der jüngeren Schwestern sie »Manley Hanley«, die »männliche Hanley«, nannten. Sie war gerade fünfzig geworden, also gut zehn Jahre älter als Kathleen selbst, und arbeitete schon seit dem Abschluss ihrer Ausbildung im Nightingale. Sie verbreitete Schrecken in den Herzen aller Schwestern, einschließlich der Oberschwestern. Selbst Kathleen musste sich bisweilen in Erinnerung rufen, wer das Sagen hatte.
»Trotzdem würde ich gerne Ihre Meinung hören«, sagte sie.
»Ihre Schuhe waren abgetragen, sie hatte ein Loch in ihrem Strumpf und einen losen Knopf an ihrem Mantel«, erwiderte Miss Hanley völlig unverblümt.
»Ich gebe zu, dass sie nicht gerade vielversprechend war.«
»Sie konnte kaum zwei Wörter aneinanderreihen.«
»Auch das ist wahr.«
Die Oberin war es gewohnt, Bewerbungsgespräche mit Mädchen zu führen, die es kaum erwarten konnten, von ihren Befähigungen, ihrem Enthusiasmus für die Krankenpflege und ihrer Bewunderung für Florence Nightingale zu schwärmen. Aber Dora Doyle hatte nur dagesessen und wie ein in die Enge getriebenes Kaninchen unter ihrem Wuschelkopf aus krausem rotem Haar hervorgeschaut.
Und dennoch hatte sie etwas an sich gehabt, etwas sehr Willensstarkes und Entschlossenes in diesen grünen Augen, das die Oberin ahnen ließ, dass sie echtes Potenzial besaß.
»Vielleicht sollte sie sich besser im Hospital bewerben?«, schlug Miss Hanley vor.
Das Städtische Hospital war ein altes Armenspital, ein ehemaliges Arbeitshaus, das gleich unten am Fluss in Poplar lag. Es war klein und unterfinanziert und wurde von schlecht ausgebildetem Personal und Hilfskräften geführt. Im Übrigen hatte es einen denkbar schlechten Ruf unter den Einheimischen, die es als »Friedhof« zu bezeichnen pflegten.
»Ich meine, sie hat ja wohl kaum das Zeug für das Nightingale, nicht wahr?«, fuhr Miss Hanley fort.
Sie wurden von dem Dienstmädchen unterbrochen, das den Nachmittagstee brachte. Beide Frauen schwiegen, während das junge Mädchen das Tablett auf dem kleinen Tisch neben der Tür absetzte und die Tassen und Untertellerchen aus feinstem Porzellan zurechtstellte.
»Was veranlasst Sie zu dieser Annahme, Miss Hanley?«, nahm Kathleen den Faden wieder auf, sowie das Dienstmädchen gegangen war.
»Nun ja, ich würde meinen, das liegt doch auf der Hand. Wir nehmen hier nur Mädchen mit guter Ausbildung und ausgezeichneter Erziehung an.«
»Miss Doyle ist ausreichend qualifiziert.«
»Durch den Besuch einer Abendschule!« Miss Hanleys Lippen kräuselten sich verächtlich bei den Worten.
»Was doch wohl auf jeden Fall Charakter und Entschlossenheit beweist.« Kathleen ging zu dem Tischchen hinüber, um den Tee einzuschenken. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es leicht war für ein junges Mädchen, nach vielen Stunden Arbeit in einer Textilfabrik auch noch die Abendschule zu besuchen, um die halbe Nacht zu lernen. Sie vielleicht?«
»Das mag ja sein. Aber es gehört mehr als das dazu, um sich für eine Ausbildung im Nightingale zu eignen.«
In der Tat, dachte Kathleen, als sie Miss Hanley eine Tasse Tee reichte.
Da das Nightingale ein sehr angesehenes Lehrkrankenhaus war, zog es vor allem Mädchen einer bestimmten Herkunft an. Guterzogene, gebildete Mädchen aus der Mittelschicht, die eine achtbare Beschäftigung suchten, um die Zeit zu überbrücken, bis sie einen jungen Arzt zum Heiraten gefunden hatten.
In den meisten Krankenhäusern war es das Gleiche, wie Kathleen wusste, doch für das Nightingale galt dies in besonderem Maße. Wenn sie die Schwesternschülerinnen untereinander reden hörte, fragte sie sich manchmal, ob sie sich nicht in ein exklusives Mädchenpensionat verirrt hatte.
Miss Hanley hatte sich schon oft damit gebrüstet, dass die vorherige Oberin eine todsichere Methode gehabt hatte, um herauszufinden, ob eine junge Frau zur Ausbildung geeignet war. Diese »Methode« bestand schlicht und einfach nur darin, die Betreffende zu fragen, ob sie Mitglied eines Tennisclubs war. Kathleen bezweifelte, dass Dora Doyle je auch nur einen Tennisschläger gesehen, geschweige denn in der Hand gehalten hatte. Aber sie war voller Enthusiasmus, zielstrebig und harte Arbeit offenbar gewöhnt. Was mehr war, als von vielen der Schülerinnen des Nightingale behauptet werden konnte. Die meisten von ihnen waren völlig unvorbereitet auf die Strapazen der Krankenpflege, und viele von ihnen hielten nicht einmal das zwölfwöchige, vorbereitende Praktikum durch.
»Natürlich ist es Ihre Entscheidung, Schwester Oberin«, räumte Miss Hanley mit schmalen Lippen ein. »Aber ich muss sagen, dass Mädchen aus dieser Gesellschaftsschicht nur selten gute Krankenschwestern werden. Sie haben einfach nicht die nötige Persönlichkeit dafür.«
»Oh, ich glaube nicht, dass es Miss Doyle an Persönlichkeit fehlt.« Kathleen hob ihre Tasse an, um ein Lächeln zu verbergen.
Sie fragte sich, was Miss Hanley sagen würde, wenn sie wüsste, dass Kathleen einst genau wie Dora Doyle gewesen war, die Tochter eines Textilarbeiters aus einer kleinen Stadt in Lancashire, die sich etwas mehr vom Leben erhofft hatte als die Arbeit in einer Baumwollspinnerei. Auch sie hatte einmal vor dem Schreibtisch einer furchteinflößend aussehenden Oberin gesessen und um die Chance gebeten, beweisen zu dürfen, was sie konnte. Und wo war sie heute? Mit gerade mal vierzig Jahren trug sie die Verantwortung für das gesamte Pflegepersonal in einem der besten Lehrkrankenhäuser des ganzen Landes. Manchmal musste sie sich kneifen, um zu glauben, dass es tatsächlich so war. Natürlich waren längst nicht alle damit einverstanden. Kathleen war sehr wohl bewusst, dass es einige Leute im Nightingale gab, die glaubten, dass sie und ihre neumodischen Ideen den guten Ruf des Krankenhauses ruinieren würden.
Veränderung war ein anstößiges Wort im Nightingale. Das Krankenhaus war in den letzten dreißig Jahren unter der eisernen Hand seiner alten Oberin immer gleich geführt worden. Und als diese in den Ruhestand ging, hatten viele geglaubt, Miss Hanley sei die plausibelste Wahl, um ihre gute Arbeit fortzuführen. Natürlich glaubte das auch Miss Hanley selbst. Der Verwaltungsrat war jedoch der Meinung, dass das Nightingale frisches Blut benötigte, und so war Kathleen zur Oberin und Leiterin des Krankenhauses ernannt worden.
Heute, nach einem Monat in ihrer neuen Position, kam sie sich noch immer wie »die Neue« vor. Bei ihren morgendlichen Runden konnte sie das Geflüster der älteren Mitarbeiterinnen hören, die sich scheinbar alle fragten, was sie von der neuen Oberin halten sollten, die zu viel lächelte und genauso freundlich zu den jungen Schwestern war wie zu den Oberärzten.
Es half auch nicht, dass Miss Hanley keine Gelegenheit ausließ, zu bemerken: »Das ist wirklich nicht die Art und Weise, wie wir hier arbeiten, Schwester Oberin.«
Kathleen trat ans Fenster. Hinter der eleganten georgianischen Fassade des Hauptgebäudes, das zu der Straße vor dem Victoria Park hinausging, war das Nightingale Hospital eine lockere Ansammlung von Häuserblocks, Anbauten und Nebengebäuden, die um einen gepflasterten Hof mit einigen Platanen angeordnet waren. Hier befanden sich die Krankenstationen, die Operationssäle und die Apotheke. Dahinter lagen jedoch noch mehr Gebäude, darunter auch die Speisesäle, das Schwesternwohnheim und die Arztquartiere.
Bis vor ein paar Wochen hatte sich dort auch Kathleens Büro befunden. Als sie dann jedoch das Amt der Oberin antrat, hatte sie auf einem Umzug in das Hauptgebäude bestanden, um den Stationen näher sein zu können.
Das hatte für große Bestürzung unter dem langjährigen Pflegepersonal gesorgt. »Warum glaubt sie, uns auf die Finger schauen zu müssen?«, hatten die verstimmten Schwestern und Oberschwestern sich untereinander gefragt – aufgehetzt von Miss Hanley, wie Kathleen stark vermutete. Doch es war den Ärger wert, denn jetzt befand sie sich im Herzen des Krankenhauses, wo sie ihrer Meinung nach auch hingehörte. Sie war nicht nur in greifbarerer Nähe, um sich um Notfälle auf den Stationen zu kümmern, sondern hatte auch vom Fenster ihres neuen Büros einen guten Ausblick auf den Hof, wo sie alle ihren Beschäftigungen nachgehen sehen konnte.
Die feuchte Kälte des beginnenden Septembers war einigen herrlichen Altweibersommertagen gewichen. Im Schatten der Platanen saßen Patienten in ihren Rollstühlen und genossen den herbstlichen Sonnenschein. Während Kathleen sie müßig beobachtete, kam eine junge Schwester aus dem Durchgang zum Speisesaal und ging schnellen Schritts, aber ohne die »Nicht laufen«-Regel zu übertreten, über den Hof zu den Krankenstationen zurück.
Als wüsste sie, dass sie beobachtet wurde, fing das Mädchen plötzlich Kathleens Blick auf. Sie senkte schnell den Kopf, doch Kathleen hatte ihr schuldbewusstes Erröten schon gesehen.
Die Oberin lächelte im Stillen und wandte sich vom Fenster ab. »Sie finden also nicht, dass wir Miss Doyle eine Chance geben sollten?«, fragte sie Miss Hanley.
»Ich glaube nicht, dass sie sich hier einfügen würde.«
Ich weiß sehr gut, wie sie sich fühlt, dachte Kathleen.
Und vielleicht hatte Miss Hanley ausnahmsweise einmal nicht ganz Unrecht. Wenn nicht einmal die neue Oberin sich hier einfügen konnte, wie sollte jemand wie Dora Doyle es dann zustande bringen können?