Nina Blazon
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Covergestaltung: Geviert, Grafik & Typografie
Covermotive: Shutterstock (Anastasiia Golovkova, anmo, JJ-Whic, Gizele)
Karte: Georg Behringer
mi ∙ Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-64115051-8
V003
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Feenlicht
Meine Schwester Tajann war schon immer ein Kind der Feen. Solange ich mich erinnern kann, sah ich jedes Mal, wenn ich nachts aufwachte, die geisterhaften Frauen an ihrem Bett sitzen. In diesem Land nennt man sie »Wilen«. Sie flüsterten miteinander und ließen dabei behutsam, um Tajann nicht zu wecken, eine ihrer Haarsträhnen durch die Finger gleiten. Tajanns dunkle Locken glänzten im fahlen Leuchten, das von den Feenfrauen ausging. Tajann lächelte im Schlaf, aber sie erwachte niemals. Wispernd unterhielten sich die Wilen darüber, dass meiner Schwester eine große Zukunft bevorstand. Reichtum und Macht auf jeden Fall! Dazu die Liebe eines Mannes mit Samthänden und ein Leben in Leichtigkeit, fernab der grauen frostkalten Morgen auf den Hirschweiden und noch weiter entfernt vom Fleischgeruch in der Werkstatt unseres Vaters, in der wir unsere Tage verbrachten. Nein, für Tajann hatten die Wilen andere Pläne: Sänger sollten Lieder über sie schreiben, Männer ruhelos von ihrer Schönheit träumen und Rosen in den Gärten mächtiger Lords und Ladys ihren Namen tragen.
Heute weiß ich, dass auch die weißen Frauen nicht die ganze Zukunft sehen können. Hätten sie sonst diese unvorsichtigen Wünsche ausgesprochen?
Schon als kleines Mädchen beobachtete ich nachts die Erscheinungen durch den Spalt meiner beinahe geschlossenen Lider und wünschte mir voller Neid, sie würden mich mit derselben Zärtlichkeit betrachten wie meine Schwester. Doch mich nahmen sie kaum wahr. Oder vielleicht ignorierten sie mich mit Absicht.
Meine Schwester hörte die geflüsterten Gespräche nicht und regte sich nie, wenn eine Wile nach der anderen aufstand, sich über sie beugte und sie federleicht auf beide Augenlider küsste. Dann gingen sie lautlos davon. Noch heute staune ich über ihre Fähigkeit, durch die Wände zu gleiten wie durch Wasser, plaudernd und ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob ihnen Steine oder Bannworte den Weg versperren. Für meine heimliche Gabe sind sie unempfänglich. Ich konnte seit jeher so viele unsichtbare Grenzen weben, wie ich wollte: Was die Raubtiere zurückhielt und auch die Menschen mit verwirrtem Stirnrunzeln an der von mir bestimmten Linie innehalten und umkehren ließ – die Wilen ließen sich von meinem Schwellenzauber weder verwirren noch fesseln. Achtlos traten sie in meinem Vaterhaus über meine magischen Grenzen hinweg, als würden sie über meine Gabe spotten.
Wenige Augenblicke, nachdem die Frauen sie verlassen hatten, erwachte meine Schwester stets und lächelte mir zu – glücklich über einen Traum, den sie mir nie erzählen wollte. »Ach, Mirahar«, murmelte sie und streckte sich gähnend. »Mirahar, wir werden alt und grau und nichts passiert in dieser Einöde. Lass uns zusammen weglaufen! Noch heute!«
Ich lächelte nur, Tajann erwartete sowieso keine Antwort. Nicht von mir, der schweigsamen Schwester, die das Verborgene und die Kammern mehr liebte als die gestohlenen Tänze mit den Grenzsoldaten unter freiem Himmel und die heimlichen Küsse, für die meine Schwester so leicht entflammte.
Ich heiße nicht Mirahar. In der Sprache der Einheimischen bedeutet das Wort »Schwesterchen«. Wahrscheinlich war dieser Spitzname Tajanns Art, über mich zu spotten – über meine Neigung zu den Wildländern und ihrer Sprache, für die mein Vater nur Verachtung übrighat. Sie klingt so weich und doch so scharf, sie kann verletzen und streicheln – ganz anders als unsere nüchterne Muttersprache, die unserem Namen ein Siegel von Fremdheit aufdrückt: VanTorra.
Wir waren noch nicht geboren, als unsere Eltern im Gefolge der Lady von Caila in diese Gegend kamen, in das neue, fremde Land am Fuße der steilen Granitberge, das die Lady in einem blutigen Krieg erobert hatte und nun in Besitz nahm. Einfach war dieser Eroberungskrieg nicht gewesen. Die Schluchten hier sind schmal und tief und die Wälder dicht und undurchdringlich. Die Flechten und Ranken, die die ältesten Bäume einspinnen, raunen den Vorübergehenden Geschichten zu und die Flüsse und Seen haben Augen und oft genug auch Zähne. Mein Vater hasst dieses Land mit all seinen Geheimnissen, doch meine Mutter liebte es von dem Moment an, als sie, bereits mit uns schwanger, den Fuß auf den Boden ihrer neuen Heimat setzte. Die Wilen, deren Herzen den Glücklichen gehören, empfingen sie mit offenen Armen. Für sie war meine Mutter die Frau, die ihnen Tajann brachte. Von mir redeten sie nie.
Ich glaube sogar, die Feenfrauen haben unsere Eltern bei unserer Geburt in die Irre geführt. Tajann und ich wurden im Abstand von wenigen Augenblicken geboren. Die Hebamme schwor, ich sei die Ältere von uns, aber ich habe die Wilen in Verdacht, uns vertauscht zu haben, damals, als wir beide noch blaue Augen hatten wie alle Säuglinge. Es ist klar, warum sie es taten: Das Zweitgeborene ist das Kind der Freiheit. Es ist nicht dazu bestimmt, die Eltern mit spätestens siebzehn Jahren zu verlassen, den Namen der Familie in die Welt zu tragen und neue Welten zu erobern. Dieses Privileg gebührt nur dem Erstgeborenen. Niemals darf das Erste in das Haus der Kindheit zurückkehren, das wäre wider jedes Gesetz und die Natur. »Ein Fluss fließt nie zurück zur Quelle«, so sagt das Sprichwort. Das Schicksal der Ersten ist also vorbestimmt. Den Zweitlingen bleibt weniger Ehre, aber dafür die Wahl. Sie können bleiben oder gehen. Der Vater mustert eine Zweitgeborene nicht während des Essens mit berechnendem Blick, als würde er abschätzen, wann er sie freisprechen und ihr damit für immer die Tür weisen muss. Die Jüngere muss also lediglich ausharren, bis sie frei ist zu tun, was immer sie will.
Und so – vielleicht nach dem Willen der Wilen – wurde ausgerechnet ich nach der stolzen weißen Blume der Mutigen und der Eroberer benannt: Liljann. Und meine Schwester, deren Haut zu leuchten scheint, die spöttisch und stolz ist, trägt seitdem den Namen der züchtigen und sanften Heiligen Tajann.
Unter den Soldaten, die ab und zu in der Nähe unseres Jagdhauses Quartier machten, gab es keinen, der sich nicht in Gedanken ausmalte, wie meine Schwester früh am Morgen aussah – mit roten Lippen und offenem Haar, die Locken noch zerzaust von der Nacht. Und seit unser siebzehnter Geburtstag näher rückte, gab es auch keinen Jungen im Walddorf, der mich nicht angestarrt hätte, wenn ich zum Brunnen ging. Sie betrachteten mein Gesicht, in dem nicht viel Verträumtes war, die Augen grün – nicht blau wie die meiner Mutter –, das Haar dagegen so hell wie das meines Vaters, glatt und dick, kaum dazu geeignet, die lockigen, juwelengeschmückten Frisuren daraus zu machen, die bei den Adeligen so beliebt waren. Nichts an mir verleitete zum Träumen. Aber das war nicht der Grund, weshalb die Männer mich so finster anstarrten. Nein, sie sahen in mir nur die Todgeweihte. Oft weinte ich nachts vor Angst, dass mein Vater mich am nächsten Morgen doch fortschicken würde. In unserem Heimatland wäre ich vielleicht ohne Angst fortgegangen, aber hier in der Wildnis war es etwas anderes. In die Stadt konnte ich nicht. Die Tradition sieht vor, dass das erste Kind mindestens zehn Tagesritte entfernt in sein neues Leben geht. In welche Himmelsrichtung das Erste aufbrechen wird, bestimmt es selbst: mit der Richtung des ersten Striches, das es mit seinem mit Kohle geschwärzten Finger auf einem Papier zieht, lange bevor es sprechen und verstehen kann.
In meinem Fall hieß das, mein Weg sollte mich ins Grauland führen, ein Niemandsland weit hinter dem Wilden Wald. Und schon in den wagten sich nicht einmal die Soldaten. Die Einheimischen setzten keinen Fuß in das Grauland, weil dort das Totenwesen umging. Mila wagte nur, im Flüsterton von ihm zu sprechen. Sie nannte ihn den »Corent« und machte mit dem Zeigefinger sofort ein Bannzeichen über ihren Lippen, wenn sie diesen Namen ausgesprochen hatte. Es war ein Dämon, der Mensch und Tier verschlang, mit Haut und Seele, und nur den Schmerz zurückließ.
Aber noch hatte ich eine Galgenfrist. Mein Vater sprach mich auch in diesem Sommer nicht frei und ich war weiterhin das Schloss vor Tajanns Tür.
Die Gerüchte über die unglückliche Tajann waren wohl so laut geworden, dass sie bis in die Zitadelle hallten. Jedenfalls schickte die Lady in diesem Jahr überraschenderweise einen Kurier in unsere Einöde und wünschte ausdrücklich, die Zwillingstöchter des Hirschjägers zu ihrem Fest einzuladen.
Auch an dem Tag, an dem meine Schwester und ich zur Stadt reiten sollten, erwachte Tajann bei Sonnenaufgang, nannte mich Mirahar und trat ans Fenster, um einen Blick auf die stählerne Zitadelle der Lady Jamala von Caila zu werfen. Hoch oben auf dem Berg wartete sie auf Gäste oder Feinde. Im orangefarbenen Morgenlicht sah das Bauwerk immer aus wie vergoldet.
Sooft ich an Tajann denke, sehe ich sie an diesem Frühsommermorgen an unserem Fenster stehen – mit diesem neuen, wachen Blick voller Sehnsucht und Hoffnung. Sie trägt ihr Nachthemd, hat zerzaustes Haar und schaut lächelnd in die Ferne.
Nur in meinen Albträumen sehe ich sie auch so, wie ich sie vor zehn Tagen verlassen habe: am Fenster einer anderen Festung stehend, die Hände zu Fäusten geballt. Sie trägt ein prächtiges blaues Kleid mit Silberstickereien und ist ganz und gar eine Herrscherin. Mit schmalen Augen blickt sie in ein nebelgefülltes Tal. Blutleer sind ihre zusammengepressten Lippen. Schnee weht durch ein zerbrochenes Fenstermosaik und fängt sich wie fedriger Schmuck in ihrem Haar. Das gleißende Licht des Wintertages lässt die Rubine an ihrem Hals funkeln wie einen Kranz von Blutstropfen. Die Feen drücken sich an sie, jammern lauthals und flehen sie an zu fliehen.
Im Totenhaus
Meine Schwester Liljann sieht Gespenster. Zumindest glaube ich das. Oder vielleicht ist sie doch nur verrückt, wie unser Vater glaubt? Jedenfalls scheint sie ständig auf Worte zu lauschen, die nur sie in der Stille hört. Manchmal schreckt sie plötzlich zusammen, und wenn sie mit mir spricht, wandern ihre Blicke von links nach rechts, irren herum, als würden sie einem fremden Tanz folgen. Wenn ich mich umschaue, ist da nie jemand. Natürlich nicht. Zwillinge sollten sich nahe sein, aber Liljann ist mir fremd, so sehr ich sie auch liebe. Natürlich liebe ich sie! Alles andere wäre seltsam, oder nicht? Schließlich sind wir ja Schwestern! Aber manchmal frage ich mich trotzdem insgeheim, ob sie vielleicht ein Wechselbalg aus dem Wald ist. Warum sonst sollte sie so an diesem grässlichen, primitiven Volk hängen? Sie sieht den Frauen unserer Familie nicht besonders ähnlich. Sie hat wassergrüne, fast durchsichtige Augen wie eine Flussnixe. Und dann ihre Schüchternheit fremden Menschen gegenüber und die seltsame Art, sich in alles zu versenken, schweigend, mit unendlichem Ernst! Mache ich einen Scherz, runzelt sie die Stirn und denkt darüber nach. Nun, darin ähnelt sie zumindest unserem mürrischen, maulfaulen Vater. Nur unsere Gehilfin Mila lacht über meine Witze (wobei ich nicht glaube, dass sie wirklich viel versteht). Mila hat mausbraune, zum Nest gesteckte Haare und schwarze lichtlose Augen, wie so viele Wildländer. Sie versucht sich in unserer Heimatsprache mit mir zu verständigen, aber ihr Gestammel zerrt an meinen Nerven. Sie ist plump und schnauft bei jeder Treppenstufe, und sie fürchtet sich wie alle Barbaren vor finsteren Mächten, die uns angeblich immer bedrohen. Mit Liljann redet sie in ihrer Eingeborenensprache. Es ist beschämend, dass eine Tochter des Hauses VanTorra die Sprache der Besiegten lernt. Aber Liljann liebt dieses Volk und findet ihre Spukgeschichten interessant. Sie mag sogar die grässlichen Zeichnungen von Totenschädeln und Monstern an den Türschwellen, die Mila für Bannzeichen hält. Ich bin sicher, Liljann glaubt an die Gruselgeschichten. Oft ertappe ich sie dabei, wie sie verstohlen magische Fingerzeichen über den erlegten Hirschen macht. Und ich habe gesehen, wie sie ihren Haarkamm gegen die hässliche Holzfigur irgendeiner Hirschkreatur mit Menschenkörper eingetauscht hat. Einen wertvollen Kamm aus Silber, der aus unserer Heimat stammt!
Als wir fünf Jahre alt waren, wollte Liljann mir einmal weismachen, dass mich ständig weiße Geisterfrauen belauern, aber unser Vater trieb ihr den Unsinn sofort aus. »Reicht es nicht, dass wir hier unter Barbaren leben müssen?«, hatte er sie damals angeschrien. »Muss meine Tochter auch noch von Hexen herumfaseln? Du weißt, wo das endet, wenn die Lady davon hört!« Er hat Liljann verprügelt und gesagt, dass die Feuer der Scheiterhaufen viel heißer brennen als die Striemen auf ihrer Haut. Liljann lernt schnell. Nie wieder hat sie seitdem versucht, mir Angst einzujagen. Aber das Schlimme ist: In letzter Zeit zucke ich selbst schon zusammen, wenn ich allein bin. Seit einigen Monaten bilde ich mir ein, Geräusche zu hören und beim Aufwachen Lippen zu spüren, die meine Lider streifen. Aber nie ist jemand im Raum. Vielleicht werde ich schon verrückt vor Einsamkeit. Oder vor Angst, dass unser Vater Liljann niemals gehen lässt. Seit drei Jahren schon lässt er mich nicht mehr in die Stadt reiten. Sogar die Hirschfelle liefert er dort nur noch allein ab. Er bringt uns Geschenke und Bücher mit und die neuesten Gerüchte, aber es ist ein Leben aus zweiter Hand. Manchmal denke ich mir, er füttert uns wie Hunde, die ohne ihn an der Kette verhungern würden. Unser Jagdhaus steht zwar in Sichtweite der Zitadelle, aber der Weg dorthin und in die weiße Stadt am Fuß des Berges ist einen Halbtagesritt entfernt. Wir sind hier im Ödland auf uns selbst gestellt wie Aussätzige, im Grenzgebiet zum Wilden Wald, wo unser Vater und ich die schwarzen Hirsche für die Lady jagen. Ihre Felle machen unverwundbar und sind so kostbar, dass Liljann und ich pures Gold gerben. Aber leider ist Blut auch hier nur Blut und eine Schmeißfliege kein Schmetterling. Ich liebe die Jagd, sie ist Abwechslung und die Kunst unseres Standes, aber ich hasse es, die schwarzen Felle zu gerben, weil unser Vater keinen Einheimischen diese Kostbarkeit berühren lässt. Ich schäme mich, weil ich von der niederen Arbeit schwielige Hände habe wie eine Dienerin. Liljann macht es nichts aus. Sie arbeitet gern in der Werkstatt. Sogar jetzt, während wir die letzte Ladung Felle für den Transport verschnüren, ist sie so gut gelaunt, dass sie vor sich hin summt. Ich erkenne das schaurige Lied, das die alten Holzsucher-Frauen an der Waldquelle gern singen:
Frau Tod hat dünne Knochenbein’
Wohin sie geht, weiß Styx allein
Tralali Tralala
Wohin sie geht, weiß Styx allein.
Wohin sie kommt, ist Klag und Pein
Und niemand kann mehr fröhlich sein
Tralali Tralala
Und niemand kann mehr fröhlich sein
Du liebe Güte. Ich sitze mit zwei morbiden Langweilern und einer stammelnden, plappernden Wilden in diesem Totenhaus fest!
Meine Mutter war ganz anders als Liljann und mein Vater. Sie war schön, lebhaft und sie lachte gern. Als ich ein Kind war, erzählte sie mir davon, wie sie in unserer Heimat die Gesellschafterin der damals noch jungen Lady war und mit ihr die Nächte durchtanzte. Es heißt, unsere Lady trauerte sehr um unsere Mutter. Dieser Freundschaft ist es zu verdanken, dass unser Vater auch nach Mutters Tod in den Diensten der Lady bleiben durfte. In der Stadt wohnen darf er seitdem keine einzige Nacht mehr, aber sie gab ihm den Posten des Hirschjägers und dieses Jagdhaus. Ich kann die Lady verstehen. Niemand eignet sich weniger für das Leben am Hof als mein Vater. Er war nie, wie unsere Mutter, ein Meister der Netzwerke. Sie dagegen war bekannt für ihren scharfen Witz und Verstand. Die Söhne von Lords und Ladys schlugen sich auf Turnieren die Schädel ein, um ihr zu imponieren. Es ist schwer zu verstehen, warum sie sich ausgerechnet in unseren Vater verliebt hat. Sein verstaubter Adelstitel, der nur noch auf dem Papier existiert, kann es nicht gewesen sein. Ihn zu heiraten, war ihr freier Entschluss, sie war in ihrer Familie die Zweitgeborene. Ob sie diese Wahl manchmal bereut hat? Manchmal denke ich, sie ist gar nicht von dem Bär in diesem Wald getötet worden, als wir neun Jahre alt waren, sondern davongelaufen, weil sie hier an der Langeweile erstickte und zugrunde ging. Wie gut ich das verstehen könnte!
Ich schaue verstohlen zu Liljann. In der Zimmerecke fällt das Nachmittagslicht auf sie, während sie ein schwarzes Fell zusammenrollt. Ihre unglaublich langen Wimpern werfen Schatten auf ihre Wangen. Sie ist auf eine stille Art hübsch, viele Männer wären sicher froh, sie heiraten zu dürfen. Aber ich habe sie noch nie verliebt gesehen. Im Gegenteil. In ihrer Schüchternheit wird sie einfach unsichtbar und fürchtet sich lieber allein in unserer Kammer vor den Hirngespinsten, die Mila ihr in den Kopf setzt. Aber selbst wenn Liljann sich verlieben würde – ich traue Vater zu, dass er sie nicht einmal mit einem Mann davonziehen lassen würde. Denn ihm ist völlig klar, dass auch ich ihn dann noch am selben Tag verlassen würde. Der Blick, mit dem er mich verstohlen betrachtet, verrät ihn schon lange. Und seit meine Mädchenkleider mir nicht mehr passen, ruht dieser Blick oft viel zu lange auf mir. Umso mehr muss ich hier weg, koste es, was es wolle! Heute Abend, denke ich. Die Lady hat mich gehört und wird mir helfen. Sie muss es! Beim Gedanken, wie es wäre, endlich frei zu sein, beginnt mein Herz zu rasen.
»Woran denkst du?«
Liljanns Frage schreckt mich auf. »Warum fragst du?«
»Du hast gelächelt.«
»Ich denke an das Fest. Freust du dich schon?«
Natürlich verzieht sie den Mund nur zu einem halben, scheuen Lächeln. »Ich bin neugierig auf den alten Teil der Zitadelle. Vater sagt, dass die Rote Nacht immer in König Jars altem Festsaal gefeiert wird.«
Typisch. Fast hätte ich aufgestöhnt. »Wen interessieren die Ruinen – Hauptsache, es gibt Musik!«, rufe ich. »Und die Lady hat bestimmt auch wieder Gäste von außerhalb eingeladen. Vielleicht verliebt sich ja heute Abend ein schöner Fremder in dich?«
Ihre Nixenaugen werden schmal. »Dann musst du dir aber eine Maske aufsetzen«, erwidert sie kühl. »Sonst habe ich keine Chance.«
»Ich locke die Kerle an und werfe sie in deine Arme. Einen nach dem anderen. Und am Ende des Abends entscheidest du dich für den, der am besten tanzt und küsst und dein Herz zum Flattern und Schmelzen bringt. Und hoffentlich nicht nur dein Herz.«
Das wäre der Moment, um miteinander zu lachen, aber meine Schwester senkt nur den Blick wieder auf das Hirschfell, das sie gerade mit den roten Bändern verschnürt.
»Komm schon, Mirahar«, sage ich unwillig. »Das war ein Witz. Und du musst den Tänzer ja nicht sofort küssen, aber versprich mir wenigstens, dass du nicht nur in der Ecke sitzt und unsichtbar wirst.«
»Du hoffst wohl, dass mich ein Abenteurer findet, der ins Grauland will?«, sagt sie trocken. »Ich kann verstehen, dass du mich loswerden willst. Aber ich gehe nicht mit dem Erstbesten weg, nur damit du frei sein kannst.«
Das ist das Schlimme an Liljann. Man kann ihr nichts vormachen. Da ist sie ein härterer Brocken als unser Vater.
»Ich will doch nur, dass du glücklich bist«, erwidere ich. Aber was würde dich glücklich machen?, denke ich dabei. Wirklich glücklich? Ich weiß es nicht.
»Was würdest du tun, wenn du frei wärst?«, fragt sie plötzlich.
Als ob du das nicht wüsstest!, denke ich grimmig. Aber als sie lächelt und sich unsere Blicke kreuzen, sind wir uns für einen Moment doch so nah wie selten. Ich muss schlucken und senke die Stimme für den Fall, dass unser Vater in der Nähe ist und lauscht. »Sofort mein Pferd satteln und fortreiten«, flüstere ich. »In die Stadt! Mich in die Dienste der Lady stellen. Mir meinen eigenen Stand erobern, am Hof reich und mächtig werden. Vielleicht auch einen Mann finden, der mir gefällt. Jedenfalls würde ich nie, niemals wieder auf einer Holzpritsche schlafen oder ein Hirschfell gerben.«
Wieder schaut Liljann an mir vorbei, betrachtet irgendetwas neben mir. Und ich fröstle und sehe unwillkürlich über die Schulter. Aber da hängen nur unsere zwei neuen Kleider, die unser Vater wohl oder übel auf Befehl der Lady für uns besorgen musste. Ich habe auf azurblauem Samt bestanden – in derselben Farbe wie meine Augen. Natürlich hat mein Vater das weiteste und matronenhafteste Kleid gekauft, das er finden konnte. Es muss einer dicken, langweiligen alten Dame gehört haben. Aber ich habe nicht umsonst gelernt, mit Ledernadeln und Garn umzugehen. Ich habe die Ärmel und den hochgeschlossenen Kragen abgetrennt und die Schultern nach unten gerafft, das Kleid enger genäht und den Rock auf meine Figur zugeschnitten. Wenn ich tanze, wird man jede Bewegung meiner Beine sehen.
Als Zeichen eines besonderes Privilegs, das die Lady ihren Hirschjägern gewährt, ist der Ausschnitt gesäumt mit einem schmalen Streifen des kostbaren schwarzen Hirschfells. Auch Liljanns glockenförmiges Seidenkleid hat diesen Pelzbesatz. Er hebt sich sehr dunkel gegen das helle Lindgrün des Stoffes ab. Ich habe das Fell selbst angenäht und den Ausschnitt dabei ein Stück aufgetrennt und so gerafft, dass man mehr von Liljanns hübschen, sehr runden Brüsten sieht. Mal sehen, ob sie protestieren wird, wenn wir uns nachher umziehen.
Im Moment allerdings bewegen sich die leeren Kleider im Windzug des offenen Fensters und sehen so aus, als würden zwei Gespenstermädchen vor dem Schrank stehen, sich zu einer unhörbaren Melodie leicht wiegen und mich dabei lauernd beobachten.
Liljann lächelt in sich hinein, als hinter mir plötzlich ein Gerbeisen vom Tisch fällt. »Oh, ich habe es wohl zu nah am Rand liegen lassen«, murmelt sie und beugt sich wieder über die Felle.
Ich wünschte damals, Tajann hätte die Wilen sehen können. Sie waren außer sich vor Aufregung, sie zupften an unseren aufgehängten Kleidern, hüpften herum und drehten sich im Zimmer, als hätte das Fest schon begonnen. Eine fegte in ihrem Übermut das Gerbeisen vom Tisch und die ganze Bande flüchtete lachend und übermütig aus dem Fenster und ließ uns in der Werkstatt zurück. Tajann schaute sicher zum hundertsten Mal an diesem Morgen hinaus zur Zitadelle. Der Berg in der Ferne sah aus, als wäre es über Nacht Herbst geworden, aber es waren nur die roten Bänder und Wimpel, die bereits in den Baumkronen flatterten. Am Abend würden die Stadt und der ganze Bergwald von Lampions erleuchtet sein. Bisher hatten wir dieses Fest jedes Jahr nur aus der Ferne betrachten können, und nicht nur Tajann zählte die Stunden, bis wir endlich das eiserne Tor zur Zitadelle passieren durften. Ja, auch ich freute mich – den berühmten Saal des Hirschkönigs zu sehen.
Es gibt viele Märchen und Geschichten über den letzten König der Burg. Als ich nach dem Tod unserer Mutter keinen Abend mehr einschlafen konnte, erzählte Mila mir von ihm. Sein Wappen zeigte einen weißen Hirsch, der den Vollmond im Geweih über den Himmel trägt. Und so hell wie dessen Fell war auch das lange Haar des Hirschkönigs. Es war schon in seiner Jugend weiß geworden. Ein Geschenk der Geister, wie Mila sagte. Angeblich war König Jar nämlich in beiden Welten zu Hause – in der der Menschen und der magischen Welt der Wälder. In seiner Hirschgestalt jagte er in den Nächten durch die lichtlosen Schluchten seines Landes und besuchte die Untertanen, die keine Menschenworte sprachen. Seine Feinde nannten ihn deshalb verächtlich Menschtier, aber die Wildländer verehren ihn immer noch heimlich als den Mann, der den Mond und die Nacht beherrscht. Viele glauben, unsere Lady hätte ihn gar nicht getötet, er hätte sich in einen weißen Adler verwandelt und sich von den Zinnen seiner Burg in den Wind gestürzt. Seitdem herrscht er nur noch über den Teil seines Volkes, der Schuppen, Fell und Federn hat, und wartet darauf, sich seinen Thron zurückzuholen. Wenn du ihn bei Vollmond darum bittest, spricht er im Schlaf auch zu dir, so hatte Mila mir damals erzählt. Stell ihm eine Frage und im Traum wirst du die Antwort hören. Damals beschäftigten mich nur zwei Fragen: Wohin die Toten wandern und ob ich meine arme Mutter jemals wiedersehen werde. Der Hirschkönig gab mir keine Antworten darauf. Das Einzige, was ich in den Träumen sah, war immer wieder und wieder der Morgen in unserem damaligen Stadthaus. Die Stunde, in der unsere Mutter allein zu einem Ausritt aufgebrochen war und sich noch einmal lachend nach mir umgesehen hatte. Doch in den Träumen ritt sie nicht auf ihrer Falbstute, sondern auf dem Rücken eines weißen Hirsches und ihre Stirn leuchtete wie der Mond. Auch Mila konnte mir nicht sagen, was diese Antwort bedeutete. Sie vermutete, dass es ein gutes Zeichen war und dass meine Mutter ihren Frieden gefunden hatte und nicht als schreiendes, in blutige Fetzen gehülltes Gespenst durch die Wälder spuken musste.
Aber natürlich waren zumindest das nur Geschichten.
Der Hirschkönig war nämlich kein magisches Menschtier gewesen, er war sehr sterblich. Als Clanführer hatte er seinen Titel von seinen Vorfahren geerbt und herrschte mehr als dreißig Jahre. Er war ein guter Stratege und Kämpfer, aber nicht stark genug, um dem Eroberungsfeldzug unserer Lady etwas entgegenzusetzen. Sein Land hatte das Glück und das Pech, reich an Erzen und Diamanten zu sein. Und Lady Jamala von Caila ist eine Erstgeborene. Mit sechzehn Jahren wurde sie freigesprochen und sammelte eine Armee von Erstgeborenen, Vertrauten, Söldnern und Abenteurern um sich. Sie versprach ihnen reiche Beute, schickte Späher in die Himmelsrichtung, die sie als Kind vorgezeichnet hatte, und entschied sich, noch weiter zu gehen, als die Tradition es befahl. Sie plante den Vorstoß über die Bergkette, die bis dahin als unüberwindliche Grenze zum Barbarenland gegolten hatte. Die Waffen des Hirschkönigs waren veraltet, archaisch. Schwerter hielten den Gewehrkugeln nicht stand und Pfeile nicht den Feuerwerfern, die sich durch den Bergwald fraßen und die weißen Mauern seiner Burg schwärzten.
In unserem Heimatland nannte man die Lady von Caila nur die Wölfin, gut zu den Ihren, gnadenlos zu den Feinden. Man sagt, noch in der Nacht der Eroberung der weißen Burg habe sie zur Feier ihres Sieges ein Fest feiern lassen und ihren Offizieren Krüge voller Diamanten aus den Schatzkammern geschenkt. Und mit eigener Hand habe sie König Jar den Dolch in den Hals gestoßen und seine Stimmbänder durchtrennt. Das Fest fand ihm zu Ehren statt, der an den Thron gefesselt war und stumm mitansehen musste, wie jeder seiner Gefolgsleute, der sich weigerte, seiner neuen Herrin die Treue zu schwören und zu tanzen, im geschmückten Festsaal erdolcht wurde. Blutige Tanzspuren färbten den weißen Marmor und gaben dem Fest, das wir heute feiern würden, seinen Namen: die Rote Nacht. Bei der Erstürmung der Burg hatte die Lady ihr rechtes Auge verloren, aber sie tanzte dennoch, einen versilberten Schleier über die Wunde gebunden. Schlag zwölf Uhr endete das Fest, die Musik hörte auf zu spielen und unsere Lady trat zum König, zückte ihren Dolch und tötete den Besiegten mit eigener Hand. Dann ließ sie sich einen Kristallbecher geben, schöpfte das Blut des Sterbenden und trank vor aller Augen einen Schluck davon, bevor sie das Glas auf dem Boden zerschmetterte – genau in dem Moment, in dem der König seinen letzten Atemzug tat. Ja, Lady Jamala von Caila hatte schon immer einen Sinn für große Gesten. Mila und die anderen Wildländer sind davon überzeugt, dass ihr Elfenbeinharnisch in Wirklichkeit aus den Knochen der Besiegten gemacht wurde und ihr Kronendiadem aus deren Zähnen.
Ich traue es ihr durchaus zu, sich mit ihren Feinden zu schmücken.
Für die Ureinwohner ist die Rote Nacht jedes Jahr ein Grund zur heimlichen Trauer. Obwohl es streng verboten ist, erblühen dort, wo sie heimlich die Körper ihrer Helden bestattet haben, wie von Zauberhand Blumen, und aus dem Wald erklingen Gesänge ohne Worte. Auch Mila hatte sich unter einem Vorwand geweigert, unsere roten Haarbänder auch nur anzufassen, und hatte sich schon am Mittag davongestohlen. Ich vermutete, sie würde irgendwo mit ihren Leuten ein anderes Fest feiern – eines, das sie den Kopf kosten könnte, falls ein Späher der Lady sie ertappen würde.
»Gut, dass sie weg ist«, sagte Tajann nur. »Dann vermiest sie uns den Festtag nicht mit ihrer tragischen Miene.«
Alle Felle waren inzwischen zusammengebunden und warteten darauf, auf das Packpferd geladen zu werden. Tajann hatte die Tür zu unserer Schlafkammer verriegelt und auch die Fensterläden geschlossen. Obwohl es draußen erst Mittag war, zogen wir bei Kerzenlicht die Arbeitshosen und Lederhemden aus, holten Mutters Spiegel aus dem Schrank und stellten ihn auf. Er stammte noch aus unserer Heimat und wirkte mit seinen versilberten Blumenornamenten in dem schlichten Jagdhaus seltsam fehl am Platz. Ungeduldig zog mir meine Schwester nun die Bürste durch das Haar. Wieder einmal versuchte sie es zu einer kunstvollen Frisur hochzustecken, aber bald gab sie es auf und flocht mir nur ein paar rote Bänder und Sternblumen ins Haar.
»Oh je, es ist hoffnungslos mit dir«, sagte sie und seufzte. »Egal, was ich mache, du siehst immer aus wie eines der Wildmädchen.«
Aber sie lächelte und strich mir zärtlich eine Strähne hinter das Ohr. Es war schön, ihre Hände auf meiner Haut zu spüren. Und wie so oft dachte ich auch heute, wie sehr ich ihre Nähe vermissen würde, wenn ich fortgehen müsste. »Hinstellen!«, befahl sie. »Ich helfe dir mit dem Kleid. Atme tief aus, wenn ich es zuschnüre.« Es sollte mir eine Lehre sein, meiner Schwester das Nähen zu überlassen! Das Mieder schnürte mich ein, als wäre ich im Würgegriff einer seidenen Schlange. Und Tajann zurrte es gnadenlos noch fester um meine Taille. »Na also!«, sagte sie zu meinem Spiegelbild. »Ich wusste doch, dass sich irgendwo hinter dem Dornengestrüpp eine Rose verbirgt.«
»In dem Kleid kann ich unmöglich reiten«, ächzte ich. »Und ich bin halbnackt. Wenn ich zu tief einatme, stehe ich oben ohne da!«
»Dann halt die Luft an, bis wir da sind«, erwiderte Tajann unbarmherzig. »Und der Ausschnitt ist überhaupt nicht zu tief. Du läufst ansonsten nur viel zu zugeknöpft herum. Jetzt hilf mir!«
Ihr Kleid ließ sogar die Schultern frei. Tajann lachte und drehte sich so schnell, dass der Rock um ihre Beine hochwirbelte. Neben dem Samtblau wirkte ihre Haut kühl und noch weißer als sonst, Schnee im Mondlicht. Ihre Lippen waren so rot wie der Schleier, den sie sich als Zeichen der Roten Nacht ins Haar gesteckt hatte. Er flirrte bei ihrer Drehung vor ihrem lachenden Mund. Sie legte mir den Arm um die Taille und zog mich an sich. »Wie heißt du, Schöne aus dem grünen Fluss?«, raunte sie im samtig-tiefen Tonfall eines Verführers. Es war selten, dass meine Schwester so fröhlich war, und heute konnte ich nicht widerstehen. Ich lachte und tanzte mit ihr im Zimmer, während die Wilen sie stolz betrachteten. Mein Seidenrock streifte den Spiegel, verfing sich an einer Silberlilie und brachte mich zum Stolpern und den Spiegel zum Kippen. Er polterte gegen den Türrahmen, bevor ich ihn abfangen konnte. Und fast im selben Moment hämmerte schon die Faust unseres Vaters an die Tür.
»Was treibt ihr da drin?«, herrschte er uns an. »Und wie oft soll ich euch noch verbieten, euch einzuschließen?«
»Wir kommen gleich!«, rief ich. Ich tat so, als würde ich mir einen Faden vom Rock zupfen und ihn mit einer zwirbelnden Bewegung von den Fingern streifen, damit er an der Türschwelle zu Boden fiel. Tajann spürte nicht, wie der feine Zauber sich wieder einmal als unsichtbares Band zwischen uns und Vater auf den Boden legte. Doch draußen vor der Tür verharrte unser Vater, als hätte er vergessen, dass er noch einmal klopfen wollte, dann hörten wir ihn wortlos davonschlurfen.
Aber es war zu spät. Der schöne Moment war verflogen. Ernst betrachteten wir nun die zwei Fremden auf der anderen Seite des Spiegels. Das heißt, fremd war nur das blonde Mädchen mit den Blumen im Haar und den umschatteten Augen. Die Tajann im Spiegel kannte ich nur zu gut. Heute war ihre Schönheit nur noch schneidender und klarer. Sogar die Wilen waren sprachlos. Im Spiegel waren ihre durchsichtigen Gestalten unsichtbar, aber als ich mich meiner Schwester zuwandte, sah ich sie von ihnen umringt. Eine zarte Nebelstreifhand befreite eine störrische Locke, die sich in Tajanns Schleier verfangen hatte. Meine Schwester zog mich plötzlich wieder an sich, ungestüm, zu fest, sie umarmte mich und küsste mich auf die Wange. »Versprich mir eines, Mirahar«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Wenn Vater dich freispricht, geh nicht so weit weg, dass wir uns nicht eines Tages wiedersehen könnten.«
Auch das war meine Schwester: Ich bin sicher, sie hasste mich für meine Feigheit und Angst, und sie betete an jedem einzelnen Tag darum, dass ich endlich aus ihrem Leben verschwand. Aber in manchen, kostbaren Augenblicken liebte sie mich auch so sehr, dass sie mich nicht loslassen wollte.