Rick Riordan:
Die Abenteuer des Apollo – Die dunkle Prophezeiung

 

Apollo muss sich ja neuerdings als pickliger Junge Lester auf der Erde durchschlagen. Aber nun weiß er, was er tun muss, um seine Unsterblichkeit zurückzuerlangen: Er muss die alten Orakel, sein eigentliches Wirkungsfeld, wieder zum Leben erwecken. Mit dem Bronzedrachen Festus fliegt er quer durch die USA, um nach einem Höhlenorakel zu suchen. Doch seine Gegenspieler, der alte römische Kaiser Nero und seine zwei Mitstreiter, wollen ihn daran hindern und laufen zu ganz neuer Fiesheit auf …

Die Serie »Die Abenteuer des Apollo« ist auf fünf Bände angelegt, dieses ist der zweite Band.

Wohin soll es gehen?

 

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Für Ursula K. Le Guin,

von der ich gelernt habe, dass in den Reaches andere Regeln gelten

1

Lester (Apollo)

Leider immer noch menschlich

Ich hass mein Leben

Als unser Drache dem Staat Indiana den Krieg erklärte, wusste ich, dass es ein mieser Tag werden würde.

Wir reisten seit sechs Wochen nach Westen und Festus hatte bisher keinem Staat eine solche Feindseligkeit entgegengebracht. New Jersey ignorierte er. Pennsylvania schien ihm zu gefallen, trotz unserer Schlacht mit den Zyklopen von Pittsburgh. Ohio nahm er hin, selbst nach unserer Begegnung mit Potina, der römischen Göttin der Kindergetränke, die uns in Gestalt eines riesigen roten Kruges mit einem Smiley-Gesicht verfolgte.

Doch aus irgendeinem Grund fasste Festus einen Widerwillen gegen Indiana. Er landete auf der Kuppel des Regierungsgebäudes, schlug mit seinen Metallflügeln und stieß einen Feuerschwall aus, der die Flagge des Staates glatt vom Flaggenmast sengte.

»He, Kumpel!« Leo Valdez riss an den Zügeln. »Darüber hatten wir doch gesprochen. Öffentliche Gebäude werden nicht abgefackelt.«

Kalypso, die hinter ihm auf dem Rücken des Drachen saß, packte Festus’ Schuppen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Könnten wir bitte auf den Boden gebracht werden? Und diesmal sanft

Kalypso, eine ehemals unsterbliche Zauberin, der die Geister der Luft gehorcht hatten, war keine begeisterte Fliegerin. Kalter Wind wehte mir ihre kastanienbraunen Haare ins Gesicht und ich musste blinzeln und ausspucken.

Ihr habt richtig gehört, liebe Leserin und lieber Leser.

Ich, der wichtigste Passagier, der Jugendliche, der einst der strahlend schöne Gott Apollo gewesen war, musste auf dem Rücken des Drachen hinten sitzen. Oh, was hatte ich für Demütigungen ertragen müssen, seit Zeus mich meiner göttlichen Kräfte beraubt hatte! Es reichte nicht, dass ich jetzt ein sechzehn Jahre alter Sterblicher mit dem schrecklichen Namen Lester Papadopoulos war. Es reichte nicht, dass ich auf der Erde Sklavendienste leisten und auf heldenhafte Einsätze ausziehen musste (uäh!), bis ich eine Möglichkeit fand, von meinem Vater in Gnaden wieder aufgenommen zu werden, oder dass meine Akne nicht auf rezeptfreie Medikamente reagierte. Trotz meines vom Staat New York ausgestellten Führerscheins traute Leo Valdez mir nicht genug, um mich sein bronzenes Luftross lenken zu lassen!

Festus’ Krallen suchten kratzend Halt auf der grünen Kupferkuppel, die viel zu klein war für einen Drachen von seinen Ausmaßen. Ich musste für einen Moment an damals denken, als ich eine lebensgroße Statue der Muse Kalliope auf meinem Sonnenwagen angebracht hatte. Daraufhin hatte mich das zusätzliche Gewicht gezwungen, im Sturzflug in China zu landen und die Wüste Gobi zu erschaffen.

Leo schaute sich um, sein Gesicht war von Ruß gestreift. »Apollo, spürst du irgendetwas?«

»Warum soll immer ich etwas spüren? Bloß weil ich mal der Gott der Weissagung war …«

»Du bist hier der mit den Visionen«, erinnerte mich Kalypso. »Du hast gesagt, deine Freundin Meg werde hier sein.«

Wenn ich Megs Namen auch nur hörte, wand ich mich vor Schmerzen. »Das bedeutet nicht, dass ich gedanklich ihre Position anpeilen kann. Zeus hat meinen Zugang zum GPS gesperrt.«

»GPS?«, fragte Kalypso.

»Göttliches Peilsystem.«

»Das gibt es doch gar nicht!«

»Ganz ruhig, Leute.« Leo streichelte den Hals des Drachen. »Apollo, mach einfach einen Versuch, ja? Sieht das aus wie die Stadt, von der du geträumt hast, oder nicht?«

Ich suchte den Horizont ab.

Indiana war ein flaches Land – Highways, die sich kreuz und quer durch braune Stoppelfelder wanden, Schatten von Winterwolken, die über den Straßen der Stadt dahinzogen. Um uns herum erhob sich eine magere Ansammlung von Hochhäusern – Haufen aus Stein und Glas, wie Schichten aus weißem und schwarzem Lakritz. (Und nicht von der leckeren Lakritzsorte, sondern von der ekligen, die eine Ewigkeit nach der anderen in der Schüssel auf dem Kaffeetisch deiner Stiefmutter liegen bleibt. Und nein, Hera, wieso meinst du, ich könnte dich gemeint haben?)

Da ich in New York auf die Erde gefallen war, fand ich Indianapolis öde und langweilig. Es sah aus, als ob sich ein normales New Yorker Viertel über die ganze Grundfläche von Manhattan ausgedehnt und sich zwei Drittel seiner Bevölkerung entledigt hätte, um sich dann noch gehörig abspülen zu lassen.

Ich konnte mir nicht vorstellen, warum ein tückisches Triumvirat aus antiken römischen Kaisern sich für einen solchen Ort interessieren sollte. Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, warum Meg McCaffrey hier hergeschickt worden sein sollte, um mich zu fangen. Aber meine Visionen waren deutlich gewesen. Ich hatte diese Skyline gesehen. Ich hatte gehört, wie mein alter Feind Nero Meg befahl: Geh nach Westen. Fang Apollo, ehe er das nächste Orakel finden kann. Wenn du ihn nicht lebend zu mir schaffen kannst, dann töte ihn.

Das Traurigste daran war: Meg war eine meiner besten Freundinnen. Sie war, dem perversen Humor des Zeus sei Dank, dazu auch noch meine halbgöttliche Herrin. Solange ich sterblich blieb, konnte Meg mir jeden Befehl erteilen, sogar, Selbstmord zu begehen … Nein. Besser nicht an solche Möglichkeiten denken.

Ich rutschte auf meinem Metallsitz hin und her. Nach so vielen Wochen unterwegs war ich müde und wund geritten. Ich wollte eine sichere Ruhestätte finden. Diese Stadt hier war keine. Etwas an der Landschaft unter uns machte mich ebenso nervös wie Festus.

Leider war ich sicher, dass das hier unser Bestimmungsort war. Wenn ich eine Möglichkeit hatte, Meg McCaffrey wiederzusehen, sie aus dem Zugriff ihres schurkischen Stiefvaters zu befreien, dann musste ich das versuchen, trotz aller Gefahr.

»Hier ist es«, sagte ich. »Ehe diese Kuppel unter uns zusammenbricht, sollten wir uns wohl mal auf den Boden begeben.«

Kalypso murmelte auf Minoisch: »Das habe ich auch schon gesagt.«

»Ach, entschuldige bitte, Zauberin«, antwortete ich in derselben Sprache. »Wenn du vielleicht ein paar nützliche Visionen hättest, würde ich dir häufiger zuhören!«

Kalypso belegte mich mit einigen Bezeichnungen, die mich daran erinnerten, wie farbenprächtig die minoische Sprache vor ihrem Aussterben gewesen war.

»He, ihr zwei«, sagte Leo. »Keine antiken Dialekte. Spanisch oder Englisch, bitte. Oder Maschinisch.«

Festus krächzte zustimmend.

»Ist schon gut, Junge«, sagte Leo. »Ich bin sicher, dass sie uns nicht ausschließen wollten. Und jetzt fliegen wir mal runter aufs Straßenniveau, was?«

Festus’ Rubinaugen leuchteten. Seine Zähne drehten sich wie wild um sich selbst. Wahrscheinlich dachte er, Illinois wäre mir lieber!

Aber er schlug mit den Flügeln und sprang von der Kuppel. Wir schossen abwärts und landeten mit ausreichend Wucht, um vor dem Regierungsgebäude das Straßenpflaster aufzubrechen.

Festus bewegte den Kopf hin und her und Rauch quoll aus seinen Nasenlöchern.

Ich sah keine direkte Bedrohung. Autos fuhren in gemächlichem Tempo durch die West Washington Street. Fußgänger schlenderten vorüber; eine Frau mittleren Alters in einem geblümten Kleid, ein untersetzter Polizist, der Kaffee aus einem Pappbecher mit der Aufschrift CAFÉ PATACHOU trank, ein Mann mit scharfen Zügen in einem blauen Seersucker-Sommeranzug.

Der Mann in Blau winkte höflich im Vorübergehen. »Morgen.«

»Wasn los, Blödmann?«, rief Leo.

Kalypso legte den Kopf schräg. »Warum war der denn so freundlich? Sieht er nicht, dass wir oben auf einem fünfzig Tonnen schweren Metalldrachen sitzen?«

Leo grinste. »Das ist der Nebel, Süße – führt sterbliche Augen an der Nase herum. Lässt Monster aussehen wie streunende Hunde. Lässt Schwerter aussehen wie Regenschirme. Lässt mich sogar noch hübscher aussehen als sonst!«

Kalypso bohrte Leo die Daumen in die Nieren.

»Au!«, rief er empört.

»Ich weiß, was der Nebel ist, Leonidas …«

»He, ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht so nennen.«

»… aber der Nebel muss hier sehr stark sein, wenn er ein Monster von Festus’ Größe bei so geringer Entfernung verstecken kann. Apollo, kommt dir das nicht ein bisschen komisch vor?«

Ich sah mir die Fußgänger an.

Ich hatte durchaus schon Orte gesehen, an denen der Nebel besonders dicht gewesen war. In Troja war die Luft über dem Schlachtfeld von Göttern dermaßen gesättigt gewesen, dass man seinen Wagen nicht wenden konnte, ohne gegen eine andere Gottheit zu knallen, und doch hatten Griechen und Trojaner höchstens Andeutungen unserer Anwesenheit wahrgenommen. 1979 auf Three Mile Island hatten die Sterblichen aus irgendeinem Grund nicht begriffen, dass die drohende Kernschmelze von einem legendären Kettensägenduell zwischen Ares und Hephaistos verursacht worden war. (Wenn meine Erinnerung nicht täuschte, dann hatte Hephaistos die Schlaghosen des Ares beleidigt.)

Aber ich glaubte nicht, dass dichter Nebel hier das Problem war. Irgendetwas an den Stadtbewohnern irritierte mich. Ihre Gesichter waren zu gelassen. Ihr benommenes Lächeln erinnerte mich an die antiken Athener unmittelbar vor dem Dionysos-Fest – alle guter Laune, mit ihren Gedanken schon bei den betrunkenen Krawallen und den Orgien, die ihnen bevorstanden.

»Wir sollten uns der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit entziehen«, schlug ich vor. »Vielleicht …«

Festus stolperte und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Aus seiner Brust kam ein Geräusch wie das einer abrutschenden Fahrradkette.

»Ach, nicht schon wieder«, sagte Leo. »Alle runter.«

Kalypso und ich stiegen eilig ab.

Leo rannte vor Festus und hob die Arme zu einer klassischen Drachenbezwinger-Geste. »He, Kumpel, alles bestens! Ich muss dich nur mal kurz abschalten, okay? Eine kleine Ruhepause, um …«

Festus spie eine Flammensäule aus, die Leo umhüllte. Zum Glück war Valdez feuerfest. Seine Kleider waren das nicht. Leo hatte erzählt, er könnte seine Kleidung normalerweise durch pure Konzentration vor dem Verbrennen bewahren. Wenn er jedoch überrascht wurde, funktionierte das nicht immer.

Als sich die Flammen gelegt hatten, trug Leo nur noch seine Boxershorts aus Asbest, seinen magischen Werkzeuggürtel und ein Paar rauchender, teilweise geschmolzener Turnschuhe.

»Verflixt«, sagte er empört. »Festus, hier draußen ist es kalt!«

Der Drache stolperte wieder. Leo legte den Hebel hinter dem linken Vorderbein des Drachen um. Festus sank in sich zusammen. Seine Flügel, Glieder, sein Hals und sein Schwanz zogen sich in seinen Leib zurück, seine Bronzeplatten schoben sich übereinander und falteten sich nach innen. In Sekundenschnelle war unser mechanischer Freund zu einem großen Bronzekoffer geschrumpft.

Das war natürlich physikalisch unmöglich, aber wie jeder anständige Gott, Halbgott oder Ingenieur ließ sich Leo Valdez von physikalischen Gesetzen nicht aufhalten.

Er musterte sein neues Gepäckstück stirnrunzelnd. »Mann … ich dachte, ich hätte seinen Ringkondensator repariert. Jetzt sitzen wir wohl hier fest, bis ich einen Ersatzteilladen gefunden habe.«

Kalypso schnitt eine Grimasse. Ihre rosa Skijacke glitzerte nach unserem Flug durch die Wolken vor Feuchtigkeit. »Und wenn wir so einen Laden finden, wie lange brauchst du dann, um Festus zu reparieren?«

Leo zuckte mit den Schultern. »Zwölf Stunden? Fünfzehn?« Er drückte auf einen Knopf an der Seite des Koffers. Ein Handgriff wurde ausgefahren. »Und wenn wir einen Laden für Herrenbekleidung finden könnten, wäre das auch nicht schlecht.«

Ich stellte mir vor, wie wir in ein Kaufhaus wanderten, Leo in Boxershorts und geschmolzenen Turnschuhen, während er einen bronzenen Koffer hinter sich herzog. Diese Vorstellung sagte mir gar nicht zu.

Dann rief eine Stimme vom Bürgersteig her: »Hallo!«

Die Frau in dem geblümten Kleid war wieder da. Wenigstens sah sie aus wie dieselbe Frau. Oder die Damen in Indianapolis trugen so oft sie konnten lila-gelbe Blümchenkleider und ließen sich die Haare im Stil der Fünfzigerjahre legen.

Sie lächelte mit leerem Blick. »Schönes Wetter heute!«

In Wirklichkeit war das Wetter erbärmlich – kalt und bewölkt, und es roch nach Schnee –, aber es wäre mir unhöflich vorgekommen, den Gruß einfach zu ignorieren.

Ich winkte ihr kurz zu – die Art von Handbewegung, die ich für meine Anbeter machte, wenn sie sich vor meinem Altar auf die Knie warfen. Für mich war diese Botschaft deutlich genug: Ich sehe dich, schwache Sterbliche; und jetzt geh weiter. Die Götter haben etwas zu besprechen.

Die Frau verstand den Wink nicht; sie kam näher und baute sich vor uns auf. Sie war nicht besonders groß, aber etwas an ihren Proportionen schien nicht zu stimmen. Ihre Schultern waren zu breit für ihren Kopf. Ihre Brust und ihr Bauch ragten wie ein Kloß hervor, als ob sie sich einen Sack voller Mangos in ihr Kleid gestopft hätte. Mit ihren spindeldürren Armen und Beinen erinnerte sie mich an eine Art Riesenkäfer. Wenn sie jemals rückwärts umkippte, würde sie sicher nicht wieder auf die Beine kommen.

»Ach du meine Güte«, sie packte ihre Handtasche mit beiden Händen. »Was seid ihr für niedliche Kinder!«

Ihr Lippenstift und ihr Lidschatten waren beide von einem heftigen Lila. Ich fragte mich, ob ihr Gehirn ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurde.

»Gnädige Frau«, sagte ich. »Wir sind keine Kinder.« Ich hätte hinzufügen können, dass ich über viertausend Jahre alt war und Kalypso sogar noch älter, aber ich beschloss, darauf nicht weiter einzugehen. »Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte, wir müssen einen Koffer reparieren und mein Freund braucht dringend eine Hose.«

Ich versuchte, um sie herumzugehen. Sie versperrte mir den Weg.

»Ihr dürft noch nicht gehen, mein Lieber! Wir haben euch in Indiana ja noch gar nicht gebührend willkommen geheißen.« Sie zog ein Smartphone aus ihrer Handtasche. Das Display leuchtete wie bei einem laufenden Gespräch.

»Er ist es wirklich«, sagte sie ins Telefon. »Alle sofort herkommen. Apollo ist da!«

Meine Lunge schrumpfte zusammen.

In den alten Zeiten hätte ich natürlich damit gerechnet, beim Eintreffen in einer Stadt sofort erkannt zu werden. Natürlich würden die Einheimischen zusammenströmen, um mich willkommen zu heißen. Sie würden singen und tanzen und Blumen werfen. Sie würden sofort mit dem Bau eines neuen Tempels anfangen.

Aber als Lester Papadopoulos war ich nicht qualifiziert für eine solche Behandlung. Ich sah ganz und gar nicht aus wie mein früheres strahlend schönes Selbst. Die Vorstellung, dass die Leute in Indiana mich trotz meiner verfilzten Haare, meiner Akne und meines Hüftspecks erkennen könnten, war beleidigend und beängstigend zugleich. Was, wenn sie eine Statue von mir in meiner derzeitigen Gestalt errichteten – einen riesigen goldenen Lester mitten in ihrer Stadt? Die anderen Götter würden mir das auf ewig unter die Nase reiben.

»Gnädige Frau«, sagte ich. »Ich fürchte, Sie verwechseln mich …«

»Nicht so bescheiden!« Die Frau warf Telefon und Handtasche beiseite und packte meinen Unterarm mit der Kraft eines Gewichthebers. »Unser Herr wird entzückt sein, wenn er dich in seine Obhut nehmen kann. Und bitte, nenn mich Nanette.«

Kalypso ging zum Angriff über. Entweder wollte sie mich verteidigen (unwahrscheinlich) oder sie konnte den Namen Nanette nicht leiden. Sie boxte der Frau ins Gesicht.

Das an sich überraschte mich nicht. Seitdem sie ihre unsterblichen Kräfte verloren hatte, versuchte Kalypso, sich andere Fähigkeiten anzueignen. Mit Schwertern, Stangenwaffen, Wurfsternen, Peitschen und anderen improvisierten Stegreifkomödien hatte sie versagt (ich konnte ihre Frustration nachempfinden). Heute wollte sie also ihre Fäuste sprechen lassen.

Was mich überraschte, war das laute KRACK, das ihre Faust in Nanettes Gesicht verursachte – das Geräusch, mit dem Fingerknöchel brechen.

»Au!« Kalypso taumelte rückwärts und umklammerte ihre Hand.

Nanettes Kopf glitt rückwärts. Sie ließ mich los, um sich ans Gesicht zu fassen. Ihr Kopf fiel ihr von den Schultern, knallte auf den Asphalt und kullerte zur Seite, die Augen blinzelten noch und die lila Lippen zuckten. Das Kopfinnere bestand aus glattem, rostfreiem Stahl. Mit Klebeband und Klammern waren Haare daran befestigt.

»Heiliger Hephaistos!« Leo stürzte zu Kalypso. »Gute Frau, du hast mit deinem Gesicht meiner Freundin die Hand gebrochen. Was bist du, ein Automaton?«

»Nein, mein Lieber«, sagte die enthauptete Nanette. Ihre gedämpfte Stimme kam nicht von dem Kopf aus rostfreiem Stahl auf dem Bürgersteig. Sie ertönte irgendwo in ihrem Kleid. Oberhalb des Kragens, wo vorher ihr Hals gewesen war, war ein Büschel dünner blonder Haare mit Klammern festgemacht. »Und ich muss sagen, es war nicht gerade höflich, mich zu schlagen.«

Erst jetzt begriff ich, dass der Metallkopf eine Tarnung gewesen war. So, wie Satyrn ihre Hufe in Menschenschuhen versteckten, so gab sich dieses Wesen als Mensch aus, indem es vorgab, ein menschliches Gesicht zu haben. Seine Stimme kam aus seinem Unterleib, was bedeutete …

Meine Knie wurden weich.

»Eine Blemmierin«, sagte ich.

Nanette kicherte. Ihre gewölbte Mittelpartie wand sich unter dem Blümchenstoff. Sie riss ihre Bluse auf – etwas, worauf eine gesittete Dame aus dem Mittleren Westen der USA niemals verfallen wäre – und zeigte ihr wahres Gesicht.

Wo bei einer Frau der Büstenhalter gewesen wäre, sahen mich zwei gewaltige Glupschaugen an. Aus ihrer Brust ragte eine große glänzende Nase hervor. Auf ihrem Unterleib kräuselte sich ein furchtbarer Mund – leuchtende orange Lippen, Zähne wie ein Blatt weißer Spielkarten.

»Genau, mein Lieber«, sagte das Gesicht. »Und ich verhafte dich im Namen des Triumvirates.«

Überall auf der Washington Street drehten sich freundlich aussehende Fußgänger um und marschierten auf uns zu.

2

Kopflosmann und -frau

Vergällen uns Indiana.

Schaut – ein Käsegeist!

Ihr denkt jetzt vielleicht, Himmel, Apollo, warum hast du nicht einfach zum Bogen gegriffen und sie erschossen? Oder sie mit einem Lied auf deiner Kampfukulele bezaubert?

Ich hatte beides zusammen mit meinem Köcher über dem Rücken hängen. Leider brauchten auch die besten Halbgottwaffen etwas, das Wartung genannt wird. Meine Kinder Kayla und Austin hatten mir das erklärt, ehe ich Camp Half-Blood verlassen hatte. Ich konnte nicht einfach Bogen und Köcher aus der Luft greifen, wie früher als Gott. Ich konnte mir meine Ukulele nicht mehr in die Hände wünschen und erwarten, dass sie perfekt gestimmt wäre.

Meine Waffen und mein Musikinstrument waren sorgfältig in Decken gewickelt. Sonst hätten sich beim Flug durch die feuchte Luft Pfeile und Bogen verzogen und die Saiten der Ukulele wären zum Hades. Beides jetzt hervorzuholen hätte mehrere Minuten verlangt, die ich nicht hatte.

Und ich glaubte auch nicht so recht, dass sie mir gegen eine Blemmierin eine große Hilfe gewesen wären.

Ich hatte seit den Zeiten von Julius Cäsar nichts mehr mit Blemmiern zu tun gehabt, und ich wäre glücklich gewesen, wenn ich auch für die nächsten zweitausend Jahre keine hätte sehen müssen.

Was konnte ein Gott der Dichtkunst und Musik schon gegen Wesen ausrichten, deren Ohren in ihre Achselhöhlen geklemmt waren? Und die Blemmier hatten auch weder Angst noch Respekt vor der Kunst des Bogenschießens. Sie waren kräftige Ringer mit dicker Haut und unempfänglich für die meisten Krankheiten, was bedeutete, dass sie mich nie um medizinische Hilfe anriefen oder meine Pestpfeile fürchteten. Und das Schlimmste war, dass sie fantasielos waren und keinen Humor besaßen. Sie hatten kein Interesse an der Zukunft, deshalb wussten sie auch nicht, wozu Orakel oder Weissagungen gut sein sollten.

Kurz gesagt, eine Spezies, die sich weniger für einen attraktiven, vielseitig begabten Gott wie mich interessierte, hätte man gar nicht erschaffen können. (Und ihr könnt mir glauben, Ares hatte das versucht. Diese hessischen Söldner im achtzehnten Jahrhundert, die er sich aus den Fingern gesogen hatte – uäh. Die hatten George Washington und mir verdammt zu schaffen gemacht.)

»Leo«, sagte ich. »Du musst den Drachen aktivieren.«

»Ich habe ihn gerade erst in Schlafmodus versetzt.«

»Beeil dich!«

Leo fummelte an den Knöpfen des Koffers herum. Nichts passierte. »Sag ich doch, Mann. Selbst wenn Festus total funktionsfähig wäre, wäre es verdammt schwer, ihn aufzuwecken, wenn er gerade erst eingeschlafen ist.«

Na, wunderbar, dachte ich. Kalypso beugte sich über ihre gebrochene Hand und murmelte minoische Obszönitäten. Leo zitterte in seiner Unterhose. Und ich … na ja, ich war Lester. Statt unseren Feinden mit einem riesigen feuerspeienden Automaton gegenüberzutreten, würden wir sie nun mit einem kaum tragbaren Stück Metallgepäck bekämpfen müssen.

Ich fuhr zu der Blemmierin herum. »HEB DICH HINWEG, eklige Nanette!« Ich versuchte, meinen alten GÖTTLICHEN ZORN in meine Stimme zu legen. »Wenn du meine erhabene Person auch nur mit dem kleinen Finger antippst, wirst du VERNICHTET werden!«

Als ich noch ein Gott war, reichte diese Drohung aus, um eine ganze Armee ihre Tarnhosen nass machen zu lassen. Nanette blinzelte nur mit ihren kuhbraunen Augen.

»Jetzt mach keinen Ärger«, sagte sie. Ihre Lippen waren auf groteske Weise hypnotisch. Sie sahen aus wie ein chirurgischer Schnitt, der als Handpuppe benutzt wurde. »Außerdem, mein Schatz, bist du gar kein Gott mehr.«

Warum musste alle Welt mich dauernd daran erinnern?

Weitere Einheimische strömten herbei. Zwei Polizisten kamen die Treppe des Regierungsgebäudes herunter. An der Ecke der Senate Avenue ließen drei Müllkutscher ihren Wagen stehen und kamen Mülleimer schwenkend angetrottet. Aus der anderen Richtung marschierte ein Dutzend Männer in Schlips und Kragen über den Rasen vor dem Regierungsgebäude.

Leo fluchte. »Gibt es in dieser Stadt denn nur Metallköpfe? Und ich meine damit nicht die gute Sorte von Metallköpfen.«

»Keine Panik, Schatz«, sagte Nanette. »Ergebt euch, dann brauchen wir euch nicht besonders doll wehzutun. Das ist die Aufgabe des Kaisers.«

Trotz ihrer gebrochenen Hand hatte Kalypso offenbar keine Lust, sich zu ergeben. Mit einem trotzigen Schrei griff sie Nanette ein weiteres Mal an und richtete einen Karatetritt gegen die riesige Nase der Blemmierin.

»Nicht!«, schrie ich entsetzt, allerdings zu spät.

Wie schon gesagt, Blemmier sind kräftige Wesen. Es ist schwer, sie zu verletzen, und noch schwerer, sie umzubringen. Kalypsos Fuß traf sein Ziel und ihr Knöchel bog sich mit einem widerlichen Pop. Sie brach zusammen und röchelte vor Schmerz.

»Kal!« Leo stürzte zu ihr. »Weg da, Brustvisage!«

»Was für eine hässliche Sprache, mein Lieber«, tadelte Nanette. »Jetzt muss ich dich wohl leider platt treten.«

Sie hob einen ihrer Lacklederpumps, aber Leo war schneller. Er rief einen Feuerball herbei, schleuderte ihn wie einen Baseball und traf Nanette zwischen ihren riesigen Brustaugen. Flammen jagten über sie hinweg und ließen ihre Augenbrauen und ihr Blümchenkleid in Flammen aufgehen.

Als Nanette aufschrie und ins Stolpern geriet, schrie Leo: »Apollo, hilf mir!«

Mir ging auf, dass ich in Schockstarre dastand – was nicht weiter schlimm gewesen wäre, wenn ich die Szene aus der Sicherheit meines Thrones auf dem Olymp beobachtet hätte. Leider steckte ich hier unten bei den minderen Wesen im Schützengraben fest. Ich half, Kalypso auf die Beine zu ziehen (jedenfalls auf das unversehrte Bein). Wir legten uns ihre Arme über die Schultern (wobei Kalypso gewaltig losschrie, wenn ich aus Versehen ihre gebrochene Hand anfasste) und schleppten uns davon.

Nach zehn Metern rief Leo mitten auf dem Rasen plötzlich: »Ich hab Festus vergessen!«

»Lass ihn«, fauchte ich.

»Was?«

»Ihn und Kalypso können wir nicht schleppen. Wir holen ihn später. Die Blemmierin achtet vielleicht gar nicht auf ihn.«

»Aber wenn sie rauskriegen, wie man ihn aufmacht«, sagte Leo verzweifelt, »wenn sie ihm etwas antun …«

»ARRRGGGGH!« Hinter uns riss Nanette sich die Fetzen ihres brennenden Kleides vom Leib. Von der Hüfte abwärts war ihr Körper mit blondem Zottelfell bedeckt, ein bisschen wie bei einem Satyrn. Ihre Augenbrauen schwelten, ansonsten sah ihr Gesicht unversehrt aus. Sie spuckte Asche aus und schaute wütend in unsere Richtung. »Das war nicht nett! SCHNAPPT SIE!«

Die Geschäftsleute hatten uns fast schon erreicht und nahmen uns jegliche Hoffnung, Festus zu holen, ohne in Gefangenschaft zu geraten.

Wir entschieden uns für die unheldenhafteste Alternative von allen: Wir nahmen die Beine in die Hand.

Ich hatte mich seit meinem tödlichen Dreibeinlauf mit Meg McCaffrey damals im Camp Half-Blood nicht mehr so behindert gefühlt. Kalypso versuchte zu helfen, sie trat zwischen Leo und mir um sich wie ein Pogo-Stick, aber wann immer sie ihren gebrochenen Knöchel oder ihre geschundene Hand bewegte, wimmerte sie auf und sank gegen mich.

»T-tut mir leid, Jungs«, murmelte sie mit schweißüberströmtem Gesicht. »Nahkampf ist wohl nicht so ganz meine Stärke.«

»Meine auch nicht«, gab ich zu. »Vielleicht kann Leo sie abwehren, während …«

»He, sieh mich nicht so an«, protestierte Leo. »Ich bin nur ein Reparaturfuzzy, der ab und zu mal einen Feuerball werfen kann. Unser Kämpfer sitzt dahinten im Koffermodus fest.«

»Schneller humpeln«, schlug ich vor.

Wir erreichten die Straße nur lebend, weil die Blemmierin sich so langsam bewegte. Ich nehme an, mir würde das auch so gehen, wenn ich einen falschen Metallkopf auf meinem Rumpf balancieren müsste, aber sogar ohne Verkleidung waren die Blemmier nicht so schnell wie stark. Ihre schlechte Tiefenwahrnehmung ließ sie mit übertriebener Vorsicht gehen, als ob der Boden ein vielschichtiges Hologramm wäre. Wenn wir ihnen nur davonhumpeln könnten …

»Guten Morgen!« Ein Polizist tauchte mit gezogener Waffe rechts neben uns auf. »Stehen bleiben oder ich schieße! Danke!«

Leo zog eine zugestöpselte Glasflasche aus seinem Werkzeuggürtel, schleuderte sie dem Polizisten vor die Füße und grüne Flammen loderten auf. Der Polizist ließ seine Waffe fallen. Er versuchte, sich seine brennende Uniform vom Leib zu reißen, und entblößte dabei ein Brustgesicht mit zottigen Augenbrauen und einem Bauchbart, der unbedingt geschnitten werden musste.

»Puh«, sagte Leo. »Ich hatte gehofft, dass er ein Blemmier ist. Das war meine einzige Phiole mit Griechischem Feuer, Leute. Und ich kann nicht mehr viele Feuerbälle herbeirufen, falls ich nicht ohnmächtig werden will …«

»Wir müssen in Deckung gehen«, sagte Kalypso.

Vernünftiger Rat, aber in Indiana schien Deckung kein beliebter Begriff zu sein. Die Straßen waren weit und gerade, die Landschaft flach, es gab nur wenige Menschen und die Sichtweite war endlos.

Wir bogen in die South Capitol Street ab. Ich schaute mich um und sah, dass die Meute von lächelnden Einheimischen mit falschen Köpfen immer weiter aufholte. Ein Bauarbeiter blieb stehen und riss den Kotflügel von einem Ford-Pick-up, dann schloss er sich wieder der Prozession an und warf sich dabei seine neue Chromkeule über die Schulter.

Inzwischen kümmerten sich die normalen Sterblichen – jedenfalls die, die offenbar gerade keine Lust hatten, uns umzubringen – wieder um ihre Angelegenheiten, telefonierten, warteten an roten Ampeln, tranken in den Cafés in der Nähe ihren Kaffee und achteten kein bisschen auf uns. Ein schwergewichtiger, in Decken gewickelter Obdachloser, der an einer Ecke auf einem Milchkasten saß, haute mich um Unterstützung an. Ich unterdrückte den Drang, ihm zu erzählen, dass die Unterstützung dicht hinter uns kam und allerlei Waffen bei sich hatte.

Mein Herz hämmerte. Meine Beine zitterten. Ich hasste es, einen sterblichen Körper zu haben. Ich hatte schon so viele unangenehme Dinge erlebt: Angst, Kälte, Übelkeit und den Wunsch zu wimmern Bitte, nicht umbringen! Wenn sich Kalypso nur nicht den Knöchel gebrochen hätte, dann wären wir schneller vorangekommen, aber wir konnten sie ja nicht liegen lassen. Nicht, dass ich Kalypso besonders gut leiden konnte, aber ich hatte Leo schließlich schon überredet, seinen Drachen im Stich zu lassen, da wollte ich mein Glück nicht herausfordern.

»Da!«, sagte die Zauberin. Sie zeigte mit dem Kinn auf etwas, das aussah wie ein Durchgang hinter einem Hotel.

Mir schauderte, denn ich musste an meinen ersten Tag in New York als Lester Papadopoulos denken. »Und wenn das eine Sackgasse ist? Als ich zuletzt in einer Sackgasse gelandet bin, ist das nicht besonders gut gelaufen.«

»Wir versuchen es«, sagte Leo. »Vielleicht können wir uns da drinnen verstecken, oder … keine Ahnung.«

»Keine Ahnung« klang nicht wie ein guter Plan B, aber ich hatte keinen besseren anzubieten.

Die gute Nachricht: Es war keine Sackgasse. Am anderen Ende des Blocks konnte ich deutlich einen Ausgang erkennen. Die schlechte Nachricht: Die Laderampen auf der Rückseite des Hotels waren verschlossen, es gab also kein Versteck, und auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse stand ein Müllcontainer neben dem anderen. Oh, Müllcontainer. Wie ich die hasste!

Leo seufzte. »Wir könnten vielleicht in die Müll…«

»Nein!«, fauchte ich. »Nie wieder.«

Wir kämpften uns so schnell wir konnten durch die Gasse. Ich versuchte, meine Nerven zu beruhigen, indem ich in Gedanken ein Sonett über allerlei Methoden ersann, mit denen ein zorniger Gott Müllcontainer zerstören könnte. Ich war so in diese Arbeit vertieft, dass ich erst bemerkte, was vor uns schwebte, als Kalypso erschrocken die Luft einsog.

Leo blieb stehen. »Was zum … Hijo!«

Das Wesen leuchtete in schwachem Orange. Es trug einen traditionellen Chiton, Sandalen und ein in der Scheide steckendes Schwert wie ein griechischer Krieger im Vollbesitz seiner Kräfte … nur war es enthauptet worden. Anders als die Blemmier war diese Person offenbar einmal ein Mensch gewesen. Ätherisches Blut tropfte von seinem Halsstumpf und bespritzte den leuchtend orangen Kittel.

»Ein käsefarbenes Gespenst«, sagte Leo.

Der Geist hob eine Hand und winkte uns zu sich.

Da ich nicht als Sterblicher geboren worden war, hatte ich keine besondere Angst vor Toten. Wenn man eine gequälte Seele kennt, kennt man sie alle. Aber etwas an diesem Geist machte mir zu schaffen. Er rührte an eine ferne Erinnerung, ein Jahrtausende zurückliegendes Schuldgefühl …

Hinter uns wurden die Stimmen der Blemmier lauter. Ich hörte, wie sie ihren Mitbürgern »Morgen!« und »Entschuldigung!« und »Schönes Wetter heute« zuriefen.

»Was machen wir?«, fragte Kalypso.

»Dem Geist folgen«, sagte ich.

»Was?«, wimmerte Leo.

»Wir folgen dem käsefarbenen Geist. Wie du immer sagst: Vaya con queso

»Das war ein Witz, Mann.«

Der orange Geist winkte ein weiteres Mal, dann schwebte er zum Ende der Gasse.

Hinter uns brüllte eine Männerstimme: »Da seid ihr ja! Schönes Wetter heute, was?«

Ich fuhr gerade rechtzeitig herum, um einen Lastwagen auf uns zufliegen zu sehen.

»Runter!« Ich zog Kalypso und Leo mit mir und entlockte der Zauberin damit weitere Schmerzensschreie. Der Kotflügel des Lastwagens segelte über unsere Köpfe, knallte gegen einen Müllcontainer und wirbelte eine fröhliche Explosion aus Müllkonfetti auf.

Wir kamen mühsam auf die Füße. Kalypso zitterte und klagte nicht mehr über die Schmerzen. Ich war ziemlich sicher, dass sie unter Schock stand.

Leo riss die Klammerpistole aus seinem Werkzeuggürtel. »Ihr geht schon mal vor. Ich werde sie so lange aufhalten, wie ich kann.«

»Was hast du vor?«, wollte ich wissen. »Sie sortieren und neu zusammentackern?«

»Ich werde sie mit Dingen bewerfen«, fauchte Leo. »Oder hast du einen besseren Vorschlag?«

»H-hört beide auf«, stotterte Kalypso. »Niemand w-wird zurückgelassen. Und jetzt los. Links, rechts, links rechts.«

Hinter der Gasse öffnete sich ein weiter, runder Platz. Warum konnten die Leute in Indiana bloß keine richtige Stadt mit engen, verschlungenen Straßen, einer Menge dunkler Ecken und vielleicht sogar einigen bombensicheren Bunkern an praktischen Stellen bauen?

Mitten auf einer runden Verkehrsinsel stand ein von schlafenden Blumenbeeten umgebener Springbrunnen. Im Norden ragten die Zwillingstürme eines weiteren Hotels auf. Im Süden sah ich ein älteres, prachtvolleres Gebäude aus rotem Klinker und Granit – vielleicht ein Bahnhof aus der viktorianischen Zeit. Auf der einen Seite dieses Bauwerks ragte ein Glockenturm fast siebzig Meter in die Luft und über dem Haupteingang funkelte unter einem Marmorbogen ein riesiges Rosettenfenster in einem grünen Kupferrahmen, wie eine Bleiglasversion des Dartboards, das wir an unserem wöchentlichen Spieleabend auf dem Olymp benutzten.

Bei diesem Gedanken tat mir vor Heimweh das Herz weh. Ich hätte alles dafür gegeben, zum Spieleabend zu Hause zu sein, auch wenn das bedeutet hätte, zuhören zu müssen, wie Athene mit ihren Scrabble-Punkten protzte.

Ich sah mich auf dem Platz um. Unser gespenstischer Führer war offenbar verschwunden.

Warum hatte er uns hergeführt? Sollten wir unser Glück im Hotel versuchen? Oder im Bahnhof?

Diese Fragen wurden überflüssig, als uns die Blemmier umzingelten.

Die Meute platzte aus der Gasse hinter uns. Ein Streifenwagen fuhr auf den Verkehrskreisel vor dem Bahnhof. Ein Bulldozer platzierte sich in der Auffahrt zum Hotel, der Fahrer winkte und rief fröhlich: »Hallo! Jetzt mach ich euch platt!«

Alle Ausgänge vom Platz waren jetzt versperrt.

Ein Schweißbach gefror in meinem Nacken. Ein nerviges Kreischen füllte meine Ohren und ich begriff, dass es meine eigene innere Stimme war, die immer wieder jammerte: Bitte, nicht umbringen, bitte, nicht umbringen.

Ich werde hier nicht sterben, versicherte ich mir selbst. Ich bin viel zu wichtig, um in Indiana ins Gras zu beißen.

Aber meine zitternden Beine und meine klappernden Zähne sahen das offenbar anders.

»Wer hat einen Vorschlag?«, fragte ich. »Bitte, irgendeine hervorragende Idee.«

Kalypso sah aus, als wäre es im Moment ihre hervorragendste Idee, nicht zu kotzen. Leo hob seine Klammerpistole, was die Blemmier aber nicht zu beeindrucken schien.

Aus der Meute tauchte nun unsere alte Freundin Nanette auf und ihr Brustgesicht grinste. Ihre Lacklederpumps bildeten einen grausamen Widerspruch zu ihrem blonden Beinfell. »Ihr Lieben, das war aber nicht nett von euch.«

Sie packte das nächstbeste Straßenschild und riss es mit einer Hand aus dem Boden. »Und jetzt haltet bitte still, ja? Ich werde euch nur schnell hiermit die Schädel einschlagen.«