Karsten Brensing

Persönlichkeitsrechte
für Tiere

Die nächste Stufe
der moralischen Evolution

Mit einem Vorwort von
Hannes Jaenicke

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Gabriel Guiard Calleja

ISBN (E-Book) 978-3-451-34692-7

ISBN (Buch) 978-3-451-06822-5

Gemeinsam mit meiner Frau und Kollegin Katrin Linke hoffe ich, dass künftige Generationen mit Stolz auf unser moralisches Verhalten von heute zurückblicken können, und widme dieses Buch meinen Söhnen Vitus und Veverin.

Inhalt

Vorwort von Hannes Jaenicke

Was genau unterscheidet uns vom Tier?

Interview mit einem Delfin

Kommunikation

Haben Tiere Namen?

Die Geschichte des Pfiffs

Die Sprache der Delfine

Wann können wir mit Delfinen reden?

Flipper und seine Verwandten

Hast du Bewusstsein oder bist du Nahrung?

Spieglein, Spieglein an der Wand

Das Experiment

Falsche negative Ergebnisse

Können wir beweisen, dass Menschen ein Selbstbewusstsein haben?

Die Gesellschaft der Delfine: von Freunden, Verwandten und Lebenspartnern

Ein toller Tag im Leben eines jungen Delfinforschers

Die Fission-fusion-Society

Das soziale Leben von weiblichen Delfinen und ihren Männchen

Das soziale Leben von männlichen Delfinen und ihren Weibchen

Das Gehirn und was man damit tut

Intelligenz

Gehirnanatomie

Vom Denken

Sind Delfine Strategen?

Können Delfine neuartige Probleme lösen?

Werkzeuggebrauch – eine Frage des Lifestyles?

Können Delfine träumen?

Kennen Delfine Geld?

Haben Delfine einen eigenen freien Willen?

Der Delfin – kein Einzelfall

Primaten

Elefanten

Wie man mit Autos Nüsse knackt – Von weiteren Intelligenzbestien

Menschliche Gefühle, menschliches Denken?

Liebe

Lachen

Trauer

Von Mitgefühl und Theory of Mind

Fairness und Moral

Fälschliche Annahmen

Der große Unterschied!

Und nun? Eine Frage der Moral?

Personalität

Die Rechte

Die Rolle der Wissenschaft

Wem gehören Morgan und der Rest der Welt?

Schlusswort

Danksagung

Anhang

Vorwort
Von Hannes Jaenicke

Träumen Delfine und haben sie Namen? Können Ratten lachen? Haben Elefanten einen Wortschatz? Kennen Affen Geld? Die Wissenschaft hat unzählige Indizien zusammengetragen, die beweisen, dass viele Tiere genau wie wir Beziehungen, Freundschaften und Feindschaften führen, kreative Ideen entwickeln und eine Vorstellung von Raum und Zeit haben. Sie sind Persönlichkeiten, also reflektierende und empfindende Individuen.

Karsten Brensing verbindet seine Forschungsarbeit über Wale und Delfine mit Erkenntnissen, die seine Kollegen weltweit bei ihrer Forschung über die unterschiedlichsten Tierarten gewonnen haben, und entführt uns auf eine faszinierende Reise durch die Gefühls- und Gedankenwelt der Tiere. Ein überzeugendes und überfälliges Plädoyer, Delfine, Schimpansen und andere Arten als Persönlichkeiten anzuerkennen und ihnen entsprechende Rechte einzuräumen: Recht auf Mitsprache, Lebensraum, Unverletzlichkeit etc.

Viele Bücher, die sich mit Naturschutz beschäftigen, sind trocken, heben den moralischen Zeigefinger oder beschwören die Apokalypse, ohne einen Ausweg aufzuzeigen. Karsten Brensings Buch dagegen ist spannend, lehrreich, optimistisch – und überaus unterhaltsam.

Es stellt überliefertes Wissen auf den Kopf und eröffnet uns eine neue Welt: Wir begegnen im Meer, im Dschungel, im Stall oder in der Natur um die Ecke plötzlich Lebewesen mit Bedürfnissen, Absichten und Rechten – eine großartige neue Perspektive.

Ich wünsche mir, dass dieses Buch einen Prozess anregt, an dessen Ende wir Menschen endlich bereit sind, den Planeten mit anderen vernunftbegabten, selbstbestimmten und mitfühlenden Lebewesen zu teilen, anstatt sie zu verdrängen und auszurotten.

Was genau unterscheidet uns vom Tier?

Aus streng naturwissenschaftlicher Sicht sind wir Menschen Säugetiere. Also Tiere. Wir gehören zu einer kleinen Untergruppe der Trockennasenaffen und sind, als relativ junge Art in der biologischen Systematik, wahrlich nichts Besonderes. Dennoch leisten wir Menschen Herausragendes und sind die einzige uns bekannte Tierart, die Bücher liest. Zum Beispiel eines, das sich damit beschäftigt, was das »Tier Mensch« vom Rest der Tierwelt unterscheidet. Super, Problem gelöst, Sie können das Buch wieder zuschlagen, denn der Unterschied ist schon ermittelt: Tiere lesen keine Bücher!

Gut, Sie lesen weiter, Sie sind ein neugieriger Mensch und wollen es genauer wissen!

Viele, wenn nicht sogar alle unsere herausragenden Leistungen basieren auf recht weitverbreiteten Mechanismen. Keine Angst, ich will die Menschen nicht auf einfache biologische Roboter reduzieren und ich will auch nicht behaupten, dass wir uns nicht von Tieren unterscheiden. Nein, ich möchte eher versuchen, in einigen Tierarten Fähigkeiten aufzuspüren, die wir bis vor Kurzem nur unserer Art zugetraut haben. Ich möchte versuchen, Sie in die Köpfe einiger Tierarten blicken zu lassen, und es würde mich freuen, wenn Sie sich dann eine Vorstellung von tierischem Denken und Fühlen machen könnten.

Ich werde Sie im Verlauf des Buches tief, bei Walen und Delfinen, meinem Arbeitsgebiet, sogar sehr tief in die Welt der Forschung und des wissenschaftlichen Denkens und Argumentierens entführen. Ich werde Sie dabei jedoch nicht mit Details langweilen und ich verspreche Ihnen: Sie werden sich unterhalten fühlen. Die Fragen, die dabei beantwortet werden sollen, lauten: Gibt es Tierarten, deren Vertreter mitfühlende, selbstbewusste Individuen mit einer Vorstellung von Raum und Zeit und der Fähigkeit zu strategischem Denken und planvollem Handeln sind? Leben sie in ihrer eigenen Kultur, haben sie ein gutes Gedächtnis und die Fähigkeit, im Rahmen einer einfachen Grammatik zu kommunizieren? Kennen sie Moral und können sie überhaupt lügen? Haben Tiere Berufe und vielleicht sogar Namen und müsste man vielleicht von tierischen Personen sprechen?

Doch Vorsicht, die Antworten auf diese Fragen sind mit Konsequenzen verbunden, denn Personen haben Rechte, umgangssprachlich auch Menschenrechte genannt.

Klingt das für Sie abwegig oder ist es weit von Ihren heutigen Vorstellungen entfernt? Sind Sie bereit, »tierischen Personen« ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zuzusprechen? Sollen diese »Personen« Schutz vor Folter und Qual genießen, ein Recht auf Freiheit, Eigentum und Sicherheit der Person und ein Recht auf Privatsphäre haben? Mit anderen Worten: Sind Sie bereit »unseren« Planeten mit anderen vernunftbegabten, selbstbestimmten und mitfühlenden Wesen zu teilen? Sind wir bereit, Macht und Territorium abzugeben? Treffen Sie diese Entscheidung bitte nicht leichtfertig, denn sowohl in die eine als auch in die andere Richtung tragen Sie die Verantwortung.

Obwohl das Buch den Anspruch erhebt, ein Sachbuch zu sein, begeben wir uns auf den ersten Seiten in eine rein fiktionale Geschichte. Ich entführe Sie in eine Zeit, in der zumindest Delfinen eine Persönlichkeit zugesprochen wird und sie damit auch Persönlichkeitsrechte haben. Diese kleine Fantasiereise in das Jahr 2073 soll uns den Blick weiten, unsere Gedanken ein wenig lockern und uns zeigen, wie die nächste Stufe der moralischen Evolution aussehen könnte.

Interview mit einem Delfin

Mein Dank geht an die große deutsche Zeitung »Der S T I E C U S«, die mir die Genehmigung gegeben hat, das Interview mit dem weltberühmten Forscher und Nobelpreisträger Professor Tarik aus dem Jahr 2073 abzudrucken.

Der STIECUS im Gespräch mit Prof. Tarik
Aus: Der STIECUS 4567 im Jahr 2073

Sehr geehrter Herr Professor Tarik, wie fühlt es sich an, wenn man von einem Tag auf den anderen die Weltbevölkerung um einige Millionen Personen vermehrt hat?
Na ja, so viele mehr sind es gar nicht gewesen. In meinem Geburtsjahr, 2003, gab es circa 0,6 Millionen Delfine und mehr als 6.000 Millionen Menschen auf der Erde, damit kamen auf jeden Delfin ungefähr 10.000 Menschen. Wie Sie wissen, hatte sich 2057, im Jahr der UN-Resolution, die Zahl der Delfine drastisch verringert und die Zahl der Menschen drastisch erhöht. Es war damals praktisch erforderlich, so etwas wie »Personenschutz« für Delfine einzuführen. Heute ist es für jeden selbstverständlich, dass die Verletzung oder gar der Tod eines Delfins juristisch genauso behandelt wird wie der eines Menschen. Aber damals mussten die Menschen erst verstehen, dass Menschenrechte eigentlich Persönlichkeitsrechte sind und dass somit auch tierischen Persönlichkeiten bestimmte Rechte zugesprochen werden müssen. Aber Sie haben schon recht, für mich als Mensch war es ein großer Moment, als sich die UN-Mitgliedsstaaten dafür ausgesprochen haben, Delfine in den Stand von Personen zu erheben und damit den Grundstein für die Entwicklung von Persönlichkeitsrechten für Tiere legten.

Was genau macht eigentlich Ihrer Meinung nach ein Lebewesen zu einer Person – oder sollte ich sagen: Persönlichkeit?
Wie Sie das nennen, ist letztlich egal. Wichtig ist die Tatsache, dass unsere vielgerühmten Menschenrechte eigentlich Persönlichkeitsrechte sind. Man muss sich nur daran erinnern, was mit unseren Menschenrechten eigentlich geschützt werden soll. Es sind die Rechte einer Person: das Recht auf Selbstbestimmung, auf Leben und Unversehrtheit, das Recht auf Eigentum und Meinungsfreiheit, das Recht, sich für einen bestimmten Beruf entscheiden zu können, und auch das Recht auf Bildung. Alles bezieht sich auf das Recht einer sich selbst bewussten Persönlichkeit. Was, wenn es nun auch nichtmenschliche bewusste Persönlichkeiten auf unserem Planeten gibt? Thomas White, ein Professor der Wirtschaftsethik, hatte diesen Standpunkt in seinem Buch »In Defense of Dolphins«1, also »Zur Verteidigung der Delfine«, im Jahr 2007 erstmals deutlich gemacht und argumentiert, dass Menschenrechte Persönlichkeitsrechte seien und somit allen Persönlichkeiten unabhängig von Rasse oder Art zustehen. Die Idee war aber gar nicht so neu, denn bereits der australische Philosoph Peter Singer betitelte 1975 sein Buch mit »Animal Liberation« und warb mit einer vergleichbaren Argumentation für die Befreiung der Tiere. Beide hatten Recht, und ihre Thesen waren schlüssig, aber geändert hat sich lange nichts. Der Egoismus unserer Art hatte jegliche ethische Weiterentwicklung verhindert, und dass, obwohl die Erkenntnisse aus der Verhaltensbiologie, der Psychologie und der Neurologie durchaus überzeugende Belege geliefert hatten.

Wenn ich Sie hier kurz unterbrechen darf: Was genau meinen Sie? Welche Belege wurden damals ignoriert?
Wir Menschen glaubten damals, wir seien die einzige sich selbst bewusste Art auf unserem Planeten. Wir hingen an der Vorstellung fest, dass nur wir zu logischem und strategischem Denken in der Lage seien und dass nur wir abstrakt und mithilfe einer Grammatik kommunizieren könnten. Nicht zuletzt hielten wir uns für die einzige Spezies mit Kultur. Ich könnte diese Liste beliebig fortsetzen. Es bedurfte einfach eines überzeugenden und nicht von der Hand zu weisenden Beweises. Letztlich war es genau das, wofür mein Sohn, vermutlich bei vollem Verstand und sich gänzlich der Konsequenzen bewusst, sein Leben gegeben hat.

Das bringt mich gleich zu meiner nächsten Frage: Sie haben in unserem Vorgespräch angedeutet, dass Sie erstmalig bereit sind, über die Details des Tods Ihres Sohnes vor 25 Jahren zu sprechen …
Ja, das ist richtig. Wie Sie wissen, bin ich damals vielfach angegriffen und kritisiert worden. Es ist eine Tatsache, dass mich der Selbstversuch meines Sohnes berühmt gemacht hat, und vermutlich hätte ich ohne sein Experiment wohl kaum den Nobelpreis bekommen. Doch bitte glauben Sie mir: Ich würde liebend gerne auf all den Ruhm und das Geld verzichten, wenn ich meinen Sohn dafür wiederbekommen könnte.

Ihr Sohn ist als erster Mensch an den Folgen der Resonanztelepathie gestorben. Sie haben immer bestritten, von dem Experiment gewusst zu haben, ist das die Wahrheit?
Mein Sohn hatte schon im Studium damit begonnen, gezielt elektromagnetische Potenziale im Gehirn zu erzeugen. Seine Vision war, auf diese Weise Gedanken, Gefühle und Sinneswahrnehmungen direkt im Gehirn künstlich zu erzeugen. Wir hatten damals allerdings unsere gesamte gemeinsame Energie in das Gedankenlesen gesteckt. Wie Sie wissen, ist das ein völlig anderer Vorgang, denn beim Gedankenlesen wird vollständig passiv gearbeitet, man horcht sozusagen nur in das Gehirn des anderen hinein. Es ging bei unserer Forschung darum, unsere Sensoren und die Algorithmen so weit zu verbessern, dass wir praktisch die gesamten elektrochemischen Vorgänge im Gehirn messen und aufzeichnen konnten. Mein Forschungsteam war damals das führende weltweit, und wir waren schon recht erfolgreich beim Gedankenlesen von Menschen2. Allerdings war die Datenmenge mit der damaligen Technik überhaupt nicht zu bewältigen. Für mich war das eher ein Versuch, um zu beweisen, dass es überhaupt möglich ist, über einen längeren Zeitraum Gedanken und Sinneseindrücke aufzunehmen und zu speichern. Im Übrigen ist dies natürlich die Voraussetzung, um überhaupt die entsprechenden Computeralgorithmen trainieren zu können. Für meinen Sohn war es aber viel mehr. Er träumte davon, mit seinen Lieblingstieren in direkte Interaktion treten zu können. Letztlich ging es ihm darum, zweifelsfrei zu beweisen, dass Delfine Personen sind und somit auch ein Recht auf den Schutz ihrer Persönlichkeit haben.

Sehr geehrter Herr Professor Tarik, bitte entschuldigen Sie, aber das war keine Antwort auf meine Frage!
Ja, Sie haben recht, ich habe Ihnen versprochen, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Die Antwort lautet: Nein! Ich wusste nichts von dem Versuch. Die Firma, für die ich damals gearbeitet habe, hatte mich vertraglich zu einer Verschwiegenheit über eine Dauer von 25 Jahren verpflichtet, und daher durfte ich der Presse keinerlei Auskunft erteilen. Alle Informationen wurden zum Betriebsgeheimnis erklärt und standen nur dem Gericht zur Verfügung. Dies ist auch der Grund, weshalb ich damals von allen Anklagepunkten freigesprochen worden bin. Der Richter kam zu dem Schluss, dass mein Sohn niemanden, auch nicht die beiden Studenten, die ihn bei dem Experiment unterstützt haben, von den Risiken in Kenntnis gesetzt hatte. Bitte glauben Sie mir, ich hätte schon damals liebend gern über alle Details berichtet.

Was genau hat sich am 28. April 2048 ereignet?
Dies war der Tag, an dem mein Sohn aus dem gemeinsamen Urlaub mit seinen beiden Kommilitonen zurückkehren sollte. Doch er kam nicht. Stattdessen erhielt ich einen Anruf von der neurochirurgischen Intensivstation. Man hatte meinen Sohn aufgenommen, konnte sich aber die Symptome nicht erklären, und seine beiden Freunde sprachen von so etwas wie einem Unfall.

Wann haben Sie begriffen, dass das Gehirn Ihres Sohnes irreversibel geschädigt war?
Recht schnell. Ich bin natürlich sofort ins Krankenhaus gefahren. Dort habe ich die beiden Freunde meines Sohnes getroffen. Sie hatten einen Schock und faselten etwas von dem Erbe meines Sohnes. Dann gaben sie mir einen Datenträger. Auf meinen fragenden Blick hin sagten sie mir, dass darauf zwei Wochen Gedanken und Empfindungen von Pity gespeichert seien. In dem Moment war mir klar, was geschehen war: Mein Sohn hatte mithilfe des Resonanztelepathie-Helmes volle zwei Wochen Gedanken und Gefühle unseres nunmehr berühmten Versuchstieres, dem Delfin namens Pity, »miterlebt«. Mit anderen Worten: Er hat zwei Wochen lang Tag und Nacht – Delfine schlafen ja nicht – gedacht und gefühlt, was der Delfin während dieser Zeit gedacht und gefühlt hat. Alle seine Erlebnisse hat er aus menschlicher Sicht betrachtet und mit seinen Worten niedergeschrieben. Auf dem Datenträger waren also zwei Wochen kontinuierliche Sprache meines Sohnes gespeichert, wie er die Gedanken und Empfindungen eines Delfins nacherzählt und interpretiert.

Wie konnten Sie damals schon wissen, dass Ihr Sohn tot war?
Die Technik der Resonanztelepathie basierte auf den Ideen meines Sohnes, aber wir hatten sie gemeinsam weiterentwickelt. Für ihre Nebenwirkungen konnten wir allerdings keine Lösung finden, deshalb haben wir sie auch fallen gelassen. Wenn man den Resonanztelepathie-Helm aufsetzt und die Gedanken eines anderen Menschen oder Tieres übertragen bekommt, dann überschreiben die starken elektromagnetischen Impulse die eigenen elektrochemischen Prozesse. Schon nach wenigen Minuten ist das Gehirn unwiderruf lich geschädigt und funktioniert nur noch mit der externen Energie des Helms. Solange man den Helm trägt, kann man die übertragenen Gedanken und Gefühle wahrnehmen und zusätzlich die eigenen Gedanken denken. Man muss sich das so vorstellen, als würde man einen Film betrachten und über diesen nebenbei nachdenken und reden. Wenn man den Helm allerdings abschaltet, kommen von einer Sekunde zur anderen alle elektrochemischen Prozesse zum Erliegen, und das Gehirn kann diese nicht selbstständig wieder aufnehmen. Das bedeutet also: Exodus, Finito, Ende.

Was, glauben Sie, hat Ihren Sohn damals motiviert, sich zu opfern?
Frustration! Frust über die Ignoranz der Menschen oder besser der gesamten Menschheit. Es gab damals schon seit Jahrzehnten genügend wissenschaftlich fundierte Argumente, um den Schluss nahezulegen, dass Delfine und auch einige andere Arten genau wie wir eine Persönlichkeit entwickelt hatten. Demzufolge forderten Philosophen, Verhaltensbiologen, Umweltschützer, aber auch Experten für Menschenrechte vergleichbare Rechte für Tiere mit Persönlichkeit. Dennoch gelang es Kritikern immer wieder, die Argumentationskette infrage zu stellen. Wissenschaftlich ist dies vermutlich am besten mit der Klimadebatte im vergangenen Jahrhundert zu vergleichen: Es gab damals unzählige Untersuchungen und Beweise dafür, dass die Klimaverschiebung durch menschlichen Einfluss verursacht wurde. Doch es dauerte Jahrzehnte, bis diese Erkenntnisse anerkannt wurden.

Aus heutiger Sicht klingt sowohl die Klimadebatte als auch die Debatte über Persönlichkeitsrechte für Tiere völlig unverständlich. Mit welchen Argumenten gelang es damals den Kritikern, den Persönlichkeitsanspruch zu entkräften?
Oh, das war einfach. Es gab verschiedene Argumentationen. Allen gemeinsam war jedoch, dass sie wissenschaftlich nicht widerlegbar waren. Es gab schlichtweg nicht die entsprechenden Experimente. Ein einfaches Beispiel ist folgendes: Wir Menschen sind dazu in der Lage, mit ungefähr 1,5 kg wabbliger Masse, genannt Gehirn, über unsere Position in der Welt nachzudenken. Wir können uns vorstellen, dass wir gerade auf einem Stuhl mitten in Europa auf dem Planeten Erde sitzen und dass sich dieser um unsere Sonne dreht. Wir wissen, dass sich unsere Sonne in einem entfernten Abschnitt eines Spiralarmes unserer Milchstraße befindet und dass die Milchstraße nicht die einzige Galaxie im Universum ist. Wir können uns sogar Unendlichkeit vorstellen, zumindest können wir es versuchen. Der Clou ist, dass wir über uns selbst nachdenken können, wie wir auf einem Stuhl auf dem Planeten Erde sitzend und über das Universum nachdenken und so weiter. Sie wissen, was ich meine. So etwas lässt sich nicht experimentell bei Tieren nachweisen. Die Menschen glaubten damals, dass andere Menschen dies auch können, weil wir selbst es können und weil wir uns darüber sprachlich austauschen können, aber wir konnten und wollten uns nicht vorstellen, dass Tiere grundsätzlich auch dazu in der Lage sind.

Sie glauben, Ihr Sohn hat darum den Selbstversuch durchgeführt?
Ja, mit Sicherheit. Er wollte endlich beweisen, dass es Tiere gibt, die über sich und die Welt reflektieren. Er wollte als Übersetzer dienen und den Beweis erbringen, dass auch Delfine Personen sind und erreichen dass wir ihnen endlich entsprechende Rechte zugestehen.

Sehr geehrter Herr Professor Tarik, vielen Dank für dieses interessante Interview!

Das vollständige Interview mit Professor Tarik aus dem Jahr 2073 können sie als kostenloses Bonusmaterial von der Webseite www.walrecht.de herunterladen. Das umfassende Bonusmaterial enthält darüber hinaus noch ein Kapitel über Kultur bei Walen und Delfinen, entführt in den Lebensraum Ozean aus der Sicht der Wale und in die Welt der Mensch-Delfin-Interaktion, wie Sie sie bisher noch nicht kannten.

Ich hoffe, diese kleine Fantasiereise hat Ihnen gefallen. In den folgenden Kapiteln verlassen wir allerdings die Fiktion und wenden uns den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu. Wir prüfen, ob der Delfin ein Einzelfall ist, und welche ethischen Konsequenzen wir aus unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen ziehen müssten. Vielleicht brauchen wir gar keinen selbstmörderischen Versuch, vielleicht reichen unsere wissenschaftlichen Argumente!

Kommunikation

Unsere menschliche Kommunikation, unsere Sprache gilt als die Königsdisziplin des Denkens. Für viele ist sie die Grundlage des Erfolges unserer Art, und wir können uns unser Ich, unsere Persönlichkeit, nicht ohne Sprache denken, ja, wir können uns ein Denken ohne Sprache nicht vorstellen. Es liegt daher nahe zu fragen, ob auch Tiere sprechen können. Verstehen sie eine einfache Grammatik, können sie abstrakte Begriffe verwenden, und haben sie vielleicht sogar einen abstrakten Begriff für sich selbst? Gerade der letzte Aspekt ist im Hinblick auf das Thema dieses Buches von immenser Bedeutung. Haben Tiere Namen? Sind sie ein »Etwas« oder ein »Wer«?

Haben Tiere Namen?

Beginnen wir ganz einfach und betrachten wir einige Lautäußerungen von verschiedenen Tierarten: Miau, Kikeriki, Wuff, Ia, Möh, Wüff, Muh – vermutlich haben Sie die einzelnen Arten erkannt. Doch haben Sie auch den kleinen und den großen Hund gehört? Ja, richtig: Wuff und Wüff. So, wie Sie einen großen Hund und einen kleinen Hund am Bellen unterscheiden können, so können Hunde auch andere Hunde am Gebell erkennen3: »Dies ist mein Nachbarhund, jener ist der von der Ecke, und der andere ist der Böse hinter dem Zaun.« Jeder Hund hat eine charakteristische »Belle«, und an ihr kann er erkannt werden. Diese Fähigkeit ist nicht selbstverständlich, und sie wurde bisher nur bei wenigen Tierarten beobachtet. Der gemeinsame Nenner dieser Arten ist aber das hohe Maß an kooperativem Handeln. Kooperatives Handeln funktioniert nur durch Koordination, und diese bedarf der Kommunikation, beispielsweise mittels Sprache, so wie bei uns Menschen. Doch haben auch Tiere eine Sprache? Wir werden sehen!

Natürlich können Tiere kommunizieren. Im einfachsten Fall können sogar Einzeller miteinander kommunizieren, und auch Insekten wie zum Beispiel die Bienen haben mit dem Schwänzeltanz ein beeindruckendes Kommunikationssystem entwickelt. Doch gemeinhin ordnen wir eher höher entwickelte sozial lebende Tiere in die Kategorie »kommunikativ« ein. Es wird gemeinsam gejagt und beschützt, und oftmals gibt es sogar kontextspezifische Laute. So zum Beispiel bei verschiedenen Erdhörnchenarten: Sie haben Rufe für »Feind aus der Luft«, was bedeutet, dass sie sich schnell verkriechen müssen, oder »Feind am Boden«, was heißt, erst mal orientieren und den Räuber identifizieren und dann weg4. In dieser aber auch in anderen sozialen Gemeinschaften ist es oft wichtig zu wissen wer gerade ruft. Warum? Ein wichtiger Punkt ist Betrug. Bei Erdhörnchen ist es beispielsweise so, dass es immer einen gibt, der nach Feinden Ausschau hält. Wenn er seinen Job richtig macht, hat er keine Zeit für die Nahrungssuche und wird deshalb von den anderen mitversorgt. Zudem genießt er einen hohen Stellenwert in der sozialen Gemeinschaft. Was aber, wenn er »lügt«, also faul herumsitzt und sich von den anderen füttern lässt? Irgendwann passiert das Unvermeidliche: Der Warnruf bleibt aus und einer der Gemeinschaft muss den Preis zahlen. In einem solchen Fall wäre der Nutzen dieser Kooperation zunichte gemacht, und die Evolution würde dafür sorgen, dass nur die überleben, die fressen und zusätzlich aufmerksam sind. So etwas wie Arbeitsteilung wäre dann evolutiv sinnlos. Tatsächlich ist es aber so, dass die Gemeinschaft den Faulpelz erkennt und ihm sein Verhalten nicht durchgehen lässt. Sie weiß dann auch: Ach, das ist wieder der Faulpelz, der da gerade ruft, nur, um so zu tun, als wäre er aufmerksam. Ganz nebenbei haben wir übrigens gerade zwei unserer am Anfang des Buches gestellten Fragen beantwortet: Auch Tiere können lügen und ein Betrüger bekommt sozialen Druck, und ja, es gibt Arbeitsteilung, also so etwas wie den Grundstein unserer Berufe.

Für kooperativ agierende soziale Tiere ist es wichtig, andere Artgenossen an ihrer Stimme zu erkennen, und genau dies ist bei den Erdhörnchen der Fall5. Doch wozu braucht man denn nun Namen, wenn doch die Individualität schon durch die Stimme übertragen wird? Auch wir Menschen haben eine charakteristische Aussprache. Wenn Sie mich hören könnten (und wüssten, wie meine Stimme klingt), so könnten Sie meine Stimme schon nach wenigen Worten wiedererkennen. Demnach brauchten wir eigentlich auch keine Namen, oder? Aber eigentlich fühlt es sich doch gut an, einen Namen zu haben! Das bin doch ich, und wehe, wenn ich auf eine Personalausweis-, Steuer- oder Versicherungsnummer reduziert werde – das tut ganz schön weh.

Um ehrlich zu sein, unser Name ist uns heilig, und wer könnte sich ein Leben ohne eine individuelle Bezeichnung vorstellen? Könnten wir uns mit einer individuellen Aussprache trösten? Wohl kaum! Unser Name, das sind wir. Ist das nicht eine unglaubliche menschliche Errungenschaft, trennt uns das nicht vom Tier, hebt uns das nicht heraus aus dem Leben auf unserem Planeten? Macht uns das nicht zur Krone der Schöpfung?

Wir können zwar stolz darauf sein, dass wir die einzige Menschenaffenart sind, die es geschafft hat, Namen zu benutzen. Aber ein »Alleinstellungsmerkmal« ist das nicht, denn bei mindestens einer weiteren Art scheint die Individualität innerhalb des sozialen Netzwerkes so wichtig zu sein, dass sich im Verlauf der Evolution der Bedarf für eine individuelle Bezeichnung entwickelt hat. Natürlich wissen Sie, welche, denn Sie lesen gerade ein Buch über nichtmenschliche Persönlichkeit von einem Autor, der sich mit Delfinen besonders gut auskennt. Ich würde Sie jetzt gerne überraschen und ein ganz anderes Beispiel nennen, aber Sie haben natürlich recht: Es ist, soweit wir bisher wissen, mindestens eine Delfinart, und welch Wunder, es ist der Große Tümmler, Flipper, unser Freund und Helfer, bekannt aus Funk und Fernsehen. Vielen Menschen ist der genaue Artenname nicht vertraut, und daher werde im Verlauf des Buches bei dem Begriff »Delfin« bleiben, auch wenn mit Delfinen eigentlich eine ganze Gruppe von Arten gemeint ist. Sollte ich von dieser Regel abweichen, werde ich das kennzeichnen.

Ein Delfin heißt natürlich nicht Conrad, Ferdinand oder Kristine und somit haben sie keine Namen im klassischen, im menschlichen Sinn, aber sie haben individuelle Pfiffe, und so spricht man auch vom Signaturpfiff (signature whistle). Dieser Pfiff ist tatsächlich etwas Besonderes, denn unabhängig von der Aussprache, trägt der Pfiff die abstrakte Information einer Individualität, und genau dies gilt auch für unsere Namen. In unserer menschlichen sozialen Umwelt ist es wichtig, individuelle Bezeichnungen zu haben, und vermutlich leben auch Delfine unter sozialen Bedingungen, bei denen die Individualität eine wichtige Rolle spielt (Warum, das erfahren wir im Kapitel: »Die Gesellschaft der Delfine«).

Doch zurück zum Pfeifen: Mir persönlich ist pfeifen recht vertraut, denn der erste Pfiff, den ich konnte, war unser »Familienpfiff«, eine kleine Sequenz aus dem Chor des »Fliegenden Holländers«, überliefert von meinem Großvater, der Schauspieler war. Der Pfiff wurde somit als Kulturgut innerhalb unserer Familie von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das praktische an dem Pfiff war die Tatsache, dass ich selbst als Kleinkind meine pfeifenden Eltern in einer lärmenden Menschenmenge identifizieren konnte, und umgekehrt. Wer sich die Vielfalt und Kombinationsmöglichkeiten von Tönen, ob gepfiffen oder nicht, vorstellt, dem wird auch schnell klar, dass unsere Sprache nicht das einzige geeignete Medium zur Informationskodierung ist.

An dieser Stelle muss ich kurz erklären, welche Rahmenbedingungen aus der Sicht eines Verhaltensbiologen für eine funktionierende Kommunikation erforderlich sind. Das wichtigste an der Kommunikation sind ein möglichst fehlerfrei funktionierender Sende- und Empfangsmechanismus (Abb. 1). Sie brauchen einen Vorrat an eindeutigen Signalen (einen Code oder eine Sprache), eine Konvention über die Bedeutung (eine Semantik, wer Baum sagt muss auch Baum meinen), einen Sender, der die gewünschte Information in das Signal verwandelt (z. B. der menschliche Rachenraum), ein ungestörtes Übertragungsmedium (Luft oder Wasser) und schließlich einen Empfänger, der die Signale entsprechend ihrer Information entschlüsseln und interpretieren kann (z. B. ein Erdhörnchen, das den Ruf »Feind aus der Luft« hört).

Abbildung 1: Sender-, Kommunikationskanal- und Empfängermodell

Anders als wir Menschen nutzen Delfine und Wale Wasser und nicht Luft als Übertragungsmedium für ihre Kommunikationssignale. Damit sind sie uns gegenüber im Vorteil. Wasser ist ein ausgesprochen gutes Übertragungsmedium für akustische Signale, und einige Arten können über weit mehr als eintausend Kilometer kommunizieren. Für mich stellt sich an dieser Stelle immer die Frage, ob wir Menschen, wenn wir uns unter ähnlich günstigen akustischen Bedingungen entwickelt hätten, überhaupt auf die Idee gekommen wären, Fernkommunikation zu betreiben. Hätte ich dann heute wohl ein Handy?

Doch betrachten wir nun die delfinische Kommunikation ein wenig genauer. Als Erstes möchte ich aber mit einem Mysterium aufräumen, dass sich seit der ersten Ausstrahlung des Films »Flipper« in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat. Vielleicht können Sie sich noch an das typische Schnattern von Flipper erinnern. Ich persönlich hatte immer den Eindruck, dass er sich in dem Moment über irgendetwas freut und schallend lacht. Für die meisten ist aber seither dieses Schnattern gleichbedeutend mit der Sprache der Delfine. Beides ist kompletter Unsinn. Einerseits ist das vermeintliche Lachen der Delfine, also die hochgezogenen Mundwinkel, Teil ihrer Physiognomie und lässt sich nicht verändern. Mehr noch: Delfine haben überhaupt keine Mimik, ihr Gesichtsausdruck bleibt immer starr und nur sehr wenige Menschen haben den Eindruck in den Augen und Gesichtern von Delfinen lesen zu können. Andererseits kommt das Schnattern in der Natur vermutlich gar nicht vor, es ist einfach nur ein Geräusch, das Delfine an Luft gut produzieren können, und das müssen die Filmemacher damals entdeckt haben. Komischerweise wird dieses Geräusch auch heute noch in Delfinarien als Kommunikationslaut dargestellt. Aber verzeihen wir den angestellten Biologen und Trainern diesen Unsinn, vielleicht wissen sie nicht, das Delfine ausschließlich unter Wasser kommunizieren.

Und noch eine Sache möchte ich hier gleich zu Anfang richtigstellen, denn ich will nicht, dass Sie mir später vorwerfen, ich hätte Ihnen Quatsch erzählt: Delfine pfeifen gar nicht! Es klingt zwar so, aber es ist kein Pfiff, wie Menschen ihn produzieren. Wenn wir pfeifen, dann füllen wir unseren Mund mit Luft und formen mit unseren Lippen eine Öffnung, mit der wir den Luftstrom kontrollieren. Die Resonanz unseres Rachenraumes ist dann für die Frequenz verantwortlich. Diese Resonanz ist aber abhängig von der Schallgeschwindigkeit des Übertragungsmediums. Haben Sie schon einmal Helium eingeatmet und dann etwas gesagt? Ich habe einmal eine recht lustige Erfahrung damit gemacht, auf die ich nicht wirklich vorbereitet war: Zur Tauglichkeitsuntersuchung eines Forschungstauchers gehört eine Druckkammerfahrt. Je nachdem, ob der Taucherarzt Ihnen zeigen möchte, wie sich die Symptome des Tiefenrausches anfühlen, werden sie auf eine Tiefe von vierzig Metern und mehr gebracht. Die Symptome sind übrigens gar nicht so uninteressant. Bei meiner ersten Druckkammerfahrt saß ich alleine mit drei Berufstauchern in der Kammer und kam mir wie ein Hänfling vor. Nun hatten die rauen Seebären außer einer knorrigen Begrüßung und »Rutsch mal rüber« nicht viel gesagt, bis wir auf vierzig Metern Tiefe ankamen. Aber dann ging es los: »Kennst du den schon …« – und dann kam der blödeste Witz, den ich je gehört und den ich auch schon wieder vergessen habe, aber er wurde mit einer so lächerlichen Micky-Maus-Stimme vorgebracht, dass wir alle nach wenigen Sekunden praktisch auf dem Boden lagen, es war einfach nicht auszuhalten. Noch heute frage ich mich, ob die extreme Reaktion wirklich nur dieser seltsamen Stimme oder vielleicht doch auch ein bisschen dem Tiefenrausch zuzuschreiben war. In jedem Fall wussten die drei genau, was sie taten, und hatten ihre Freude an dem Effekt, dass die zusammengedrückte Luft Schall schneller transportiert und daher ein ausgewachsener Bass nach Micky Maus klingt.

Wenn Sie nun bei Überdruck oder in einer Heliumatmosphäre pfeifen, klingt auch Ihr Pfiff um einiges höher. Überraschenderweise ist das bei Delfinen nicht der Fall. Ihr Pfiff behält die gleiche Tonhöhe bzw. Frequenz bei. Dies ist von entscheidender Bedeutung, denn sonst würden ihre Laute bei jedem Tauchgang je nach Tiefe unterschiedlich klingen, und eine Kommunikation in der Tiefe wäre kaum möglich. Tatsächlich produzieren Delfine ihre »Pfiffe« nicht pfeifend, sondern indem sie bestimmte Gewebebereiche in ihrem Rachenraum zum Schwingen bringen. Das können sie unabhängig vom sie umgebenden Trägermedium, und darum pfeifen Delfine nicht im eigentlichen wörtlichen Sinne.

Delfinen stehen drei Hauptkategorien von Lauten zur Kommunikation zur Verfügung. Eine Kategorie sind die Echolokationsklicks. Deren Hauptenergie liegt im Ultraschall und damit weit außerhalb unseres Hörvermögens. Daher können wir mit unseren Ohren nur einen kleinen Teil der Laute hören. Die anderen beiden Kategorien können wir gut hören. Da gibt es sogenannte »Burst-pulse-Sounds«, Laute, die wie kreischen, piepsen, blöken, brummen oder stöhnen klingen. Diese Laute werden meist im sozialen Kontext wie in aggressiven Situationen eingesetzt6 und gehen oft auch mit entsprechendem körpersprachlichen Ausdruck einher. Beobachtet man ein solches Verhalten unter Wasser, so kann einem schon ein bisschen mulmig werden. Ich persönlich hatte aber auch manchmal den Eindruck, dass die Tiere diese Laute einsetzten, um eine bestimmte Situation zu verstärken, also Aggression noch aggressiver und Spiel noch ausgelassener zu machen. Ich wäre auch nicht überrascht, wenn künftige Untersuchungen zeigen würden, dass die Tiere auf diese Weise ihren emotionalen Status viel deutlicher als bisher bekannt zum Ausdruck bringen. Derzeit sind dies aber nur Spekulationen, und die meisten Autoren sind ausgesprochen vorsichtig, entsprechende Behauptungen aufzustellen. Die dritte und vorerst interessanteste Kategorie sind die Pfiffe, und genau diesen wollen wir uns jetzt zuwenden, denn sie sind bisher einmalig in der Tierwelt – auch wenn nicht jeder Forscher und jede Forscherin meine Begeisterung dafür teilt, wie das folgende Beispiel zeigt: Ich kann mich noch gut an eine Situation erinnern, in der ich einer Primatenforscherin gegenüber behauptet habe, dass Delfine so etwas wie Namen hätten und wie grandios das doch sei und dass es immer weniger Unterschiede zu uns Menschen gäbe. Sie blickte mich mit einem süffisanten Lächeln an und sagte: »Sind die auch arbiträr?« Der blöde Ausdruck in meinem Gesicht beendete die Diskussion, noch bevor sie begonnen hatte. Was hat sie gesagt, und vor allem: Was hat sie gemeint? Und hat sie überhaupt recht? Ich war damals neu in der Verhaltensbiologie, sie hatte einen Doktor und sah gut aus, mit anderen Worten: Dieses kurze Gespräch hat mich lange beschäftigt. Zunächst einmal musste ich nachlesen, was eigentlich arbiträr bedeutet. Es heißt so viel wie »willkürlich festgelegt«. Also hatte sie mich gefragt, ob Delfine willkürlich ihren Namen festlegen bzw. ob diese ihn auch willkürlich ändern können. Wir können das, und wir können sogar mehrere Namen haben: einen Spitznamen für Freunde, einen für »Facebook« und einen in unserem Job. Wir können auch von einem Tag auf den anderen festlegen, dass ein Baum plötzlich Leuchtturm und das Kriegsministerium plötzlich Verteidigungs- oder Friedensministerium heißen soll. Wir müssen uns nur alle einig sein, sonst kommt es zu Verwechselungen. Zum Zeitpunkt, als wir das Gespräch führten, galt aber gerade die lebenslange Stabilität des Signaturpfiffes als das eigentlich Beeindruckende, und nun wollte diese Frau wissen, ob Delfine ihren individuellen Pfiff auch ändern können. Erst einige Jahre später half mir eine Veröffentlichung aus diesem Dilemma, und ich war wieder mit der Welt versöhnt. Scheinbar können Delfine tatsächlich ihren individuellen Pfiff ändern. Eine Gruppe von Forschern hatte herausgefunden, dass junge Männchen, nachdem sie sich aus ihrer Familie gelöst hatten, etwas ganz Erstaunliches tun: Nachdem sie eine intensive Freundschaft eingegangen sind, scheinen ihre Pfiffe zu verschmelzen.7 Auch wenn diese Beobachtung noch auf geringer Datengrundlage beruht und nicht klar ist, ob die Pfiffe wirklich verschmelzen oder ob ein Tier den Pfiff des anderen annimmt, so machen die Beobachtungen doch deutlich, dass Delfine ihren Signaturpfiff nicht ihr Leben lang behalten müssen. Sie sind also grundsätzlich dazu in der Lage, ihre Signaturpfiffe zu ändern – welche Erleichterung für mich! Das Spannende an dieser Beobachtung ist aber, dass die beiden Männchen mit diesem gemeinsamen Pfiff vermutlich ihre Gemeinsamkeit gegenüber anderen zum Ausdruck bringen.

Die Geschichte des Pfiffs

Taucht man gemeinsam mit einer Gruppe von Delfinen, so hört man eine Vielzahl von unterschiedlichen Pfiffen, und daher ist es nicht verwunderlich, dass viele Forscher am Beginn der Delfinforschung diese Pfiffe für eine Art Sprache hielten. Einer der bekanntesten Delfinforscher war John Lilly8. Er ging einen recht unkonventionellen Weg und gründete eine Wohngemeinschaft von Delfinen und Menschen. Natürlich ist es zwangsläufig etwas kompliziert, mit einem Delfin in einer Wohngemeinschaft zu leben, und so musste, wie in so vielen WGs, ein Kompromiss her. Der bestand darin, eine Wohnung mit etwa 30 Zentimeter Wasser zu fluten, diese mit seiner Kollegin Margaret Howe und drei Delfinen (Peter, Pam und Sissy) zu bevölkern und zu sehen, was passiert. Bekommt der Mensch nasse Füße und eine Erkältung, der Delfin eine Psychose, da er unter diesen Bedingungen nicht artgerecht gehalten wird, und kommt es unter diesen extremen Bedingungen zu so etwas wie einer Kommunikation zwischen den Arten? Das aus heutiger Sicht martialisch anmutende Experiment lieferte keine besonderen Ergebnisse – außer vielleicht, dass ein solches Experiment nicht funktioniert und dass Menschen und Delfine unterschiedliche Haltungsansprüche haben. Aber he, das waren die wilden Sechziger und Lilly ein echt cooler Typ! Dennoch kam er schon damals zu dem Schluss, dass Delfine besonders intelligent sind.9 Vermutlich ein wenig frustriert von der Tatsache, dass seine Experimente nicht die erwarteten Ergebnisse brachten, wandte sich Lilly in späteren Jahren dem Studium des menschlichen Bewusstseins zu. Allerdings experimentierte er hauptsächlich mit sich selbst und LSD. In dieser Hinsicht hat er aber einige hilfreiche Erkenntnisse gewonnen, und trotz aller Kritik muss man Lilly zugestehen, einen Beitrag zur menschlichen Bewusstseinsentwicklung und Ethik geliefert zu haben.

Erfolgreichere und teilweise bahnbrechende Experimente wurden fast zeitgleich von David und Melba Caldwell10 durchgeführt. Sie waren es auch, die erstmals die sogenannte Signaturpfiff-Hypothese aufgestellt haben. Doch was genau hatten sie beobachtet? Die von ihnen in Gefangenschaft untersuchten Tiere zeigten eine Tendenz, einen bestimmten Pfiff auszustoßen, wenn sie von ihren Artgenossen separiert wurden. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass sozial lebende Tiere unter Stress geraten, wenn sie von ihrer Gruppe getrennt werden, und in dieser Situation produzieren viele Tiere Stress- oder Alarmlaute. Interessant war aber, dass jeder Delfin seinen eigenen vermeintlichen »Stresslaut« produzierte. Ein Laut, der einen bestimmten Kontext beschreibt, muss aber bei allen Tieren gleich klingen, sonst macht er einfach keinen Sinn, denn man kann sich ja nicht bei jedem Artgenossen merken, wie er ruft, wenn er in Not ist. Demnach konnte es also kein Stresslaut sein. Doch was dann? Ein Signaturpfiff, also ein Individualruf, vielleicht so etwas wie ein Name? Ganz genau weiß man das auch heute noch nicht, und daher spricht man nach wie vor vorsichtig von der Signaturpfiff-»Hypothese«. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich jemand traut, aus der bestätigten Hypothese eine Theorie zur Namensgebung bei Delfinen abzuleiten. Doch sehen wir uns die Erforschung des Pfiffs genauer an. Wie jeder besondere Einzelfall löste die Veröffentlichung eine ganze Reihe von Folgeexperimenten aus, und fast alle lieferten weltweit praktisch das gleiche Ergebnis: Wird ein Delfin von seiner Gruppe separiert, gibt er einen individuellen Pfiff ab.

Vielleicht fragen Sie sich, ob diese Beobachtung überhaupt eine Bedeutung hat. Dazu sollte man sich kurz überlegen, wozu wir Menschen Namen brauchen. Wir können uns zwar kein Leben ohne Namen vorstellen, doch seien wir ehrlich: zum Nachdenken über Gott und die Welt und für andere beeindruckende kognitive Leistungen brauchen wir keine Namen. Wir können sogar über uns selbst nachdenken, ohne dass wir einen Namen für uns haben. Namen sind wichtig, wenn es um soziale Interaktion geht, wenn einer den anderen rufen will oder wenn sich einer über den anderen unterhält. In diesem Zusammenhang erscheint das ursprüngliche Experiment wenig hilfreich, denn welche Erkenntnisse über das soziale Leben kann man gewinnen, wenn man ein Tier von seiner Gruppe trennt und einzeln betrachtet? Dieses Manko war natürlich auch den Forschern bewusst, und so wurden verzweifelte Anstrengungen unternommen, um nachzuweisen, dass beispielsweise ein Delfin einen anderen beim Namen ruft. Nun ist das leider gar nicht so einfach. Vor allen Dingen ist es erforderlich, eine intakte, natürlich interagierende, soziale Gruppe zu beobachten. Dies ist in Delfinarien kaum möglich, weil die Tiere nicht natürlich interagieren. Im Freiland ist es technisch ausgesprochen kompliziert. Eine intakte soziale Gruppe sucht zwar unter Umständen spontan die Nähe zu Menschen, aber ausgesprochen selten über einen längeren Zeitraum. Daher ist es meist nicht möglich, genügend Daten zu sammeln, und wenn es gelingt, dann weiß man nicht genau, ob die Anwesenheit von Menschen nicht doch einen Einfluss auf das Verhalten hatte.

Aus diesem Grund sind die Forscher einen Kompromiss eingegangen. Mit ihrer Methode sollte endlich bewiesen werden, dass der Signaturpfiff tatsächlich zur Identifikation genutzt wird. Dazu fuhren sie in der Nähe von Sarasota in Florida auf den Golf von Mexiko hinaus, fingen einige wildlebende Delfine und spielten ihnen über Unterwasserlautsprecher Signaturpfiffe ihrer Artgenossen vor. Genau genommen interessierten sie sich für Delfinmütter und ihre Kälber. Sie gingen davon aus, dass ein Muttertier stärker auf den Pfiff ihres Kindes und ein Kalb stärker auf den Pfiff der Mutter reagiert als auf andere Pfiffe. Auch wenn dieses Experiment ein wenig brutal anmutet, so muss man noch erwähnen, dass nach Angaben der Forscher kein negativer Einfluss des Experimentes zu beobachten war. Auch wurde angegeben, dass sich die Tiere durch mehrfaches Fangen an die Experimente gewöhnt hatten.11 Tatsache ist aber auch, dass die Trennung eines Mutter-Kalb-Paares mit extrem hohem Stress für beide Tiere verbunden ist12 und man dies selbst in Delfinarien, die nicht gerade zimperlich mit den Tieren umgehen, vermeidet. Interessanterweise wurde bei diesem Experiment auch festgestellt, dass Delfine, wenn sie von ihren Kälbern getrennt werden, öfter und höher pfiffen. Das Ergebnis war eindeutig: Das gefangene Tier wandte sich häufiger zum eigenen Muttertier bzw. zum eigenen Kalb hin.13 Doch ist das wirklich ein Beweis? Schließlich haben wir zuvor ja schon erfahren, dass selbst Hunde sich am Gebell erkennen. Warum soll nicht die Aussprache, also die Charakteristik, wie der Pfiff ertönt, die Identität enthalten? Aus diesem Grund wurde das Experiment sieben Jahre später wiederholt. Um sicher zu gehen, dass der Pfiff und nicht seine »Aussprache« für die Erkennung verantwortlich war, wurden aus dem Originalpfiff alle individuellen Bestandteile entfernt. Letztlich erzeugte man also so etwas wie eine Computerstimme oder besser einen Computerdelfin, der ohne eigene Stimmcharakteristik die Pfiffe produzierte. Nicht überraschend, aber doch erstaunlich: Das Experiment wurde mit dem gleichen Ergebnis beendet. Tatsächlich erkennen sich Delfine nicht nur an der Stimme, sondern wirklich am Pfiff 14. Ein unglaublicher Erkenntnisgewinn, denn theoretisch bedeutet das, dass Delfine die Möglichkeit haben, die Pfiffe (Namen) als Referenz zu benutzen. Theoretisch sind sie also dazu in der Lage, sich über ein drittes Tier zu »unterhalten«.

Das Experiment gab natürlich auf die wichtige Frage, ob sie es denn auch tun, keine Antwort. Dazu braucht man Freilandbeobachtungen einer ungestörten sozialen Delfingruppe. In dieser Gruppe müsste man beobachten, dass Delfine nicht nur ihren eigenen Signaturpfiff ausstoßen, sondern auch Signaturpfiffe anderer Delfine imitieren. Und genau diese Beobachtung gelang tatsächlich! In der Moray Firth, einer großen Bucht an der Ostküste Schottlands, leben die letzten Großen Tümmler der Nordsee. Das Besondere an dieser Population ist, dass man die Tiere oft sogar von Land aus beobachten kann. Das ist von Vorteil für die Wissenschaftler, aber auch für die Besucher des »Scottish Dolphin Centre«15. Die Delfine dort haben, ähnlich wie unsere einheimischen Schweinswale, den höchsten Schutzstatus, den es in der Europäischen Gemeinschaft gibt, und werden daher intensiv untersucht. In einem Experiment der Universität von St. Andrews gelang es, zu beweisen, dass Delfine tatsächlich nicht nur ihren eigenen Signaturpfiff produzieren, sondern auch die Pfiffe der anderen Delfine imitieren16. Doch selbst damit war noch nicht erklärt, in welcher Form die Tiere den Signaturpfiff verwenden. Es blieben die Fragen: Rufen sie sich gegenseitig oder reden sie vielleicht über einen anderen Delfin?