„Am besten ist, man geht der Liebe aus dem Weg.“
(Max / aus Zitrönchen – Fünfzig Kilo pures Glück)
Im Norden Englands geboren und aufgewachsen in Berlin, wo sie heute noch lebt. Pferde spielten in ihrem Leben schon von klein auf eine große Rolle. Zusammen mit den eigenen Pferden und ihren beiden Töchtern, die inzwischen schon erwachsen sind, erfuhr sie ein „Pferdeleben“ mit allen Höhen und Tiefen.
In einer großen Schatzkiste hütet sie bis heute spannende Geschichten, die das Leben selbst geschrieben hat.
Ein gutes Pferd hat keine Farbe
Braune Rappen jagen Füchse
Ein klarer Fall von Dickfelligkeit
Nonstop im Herzgalopp
Auf die Pferde, fertig, los!
Wahre Pferdestärke kommt von innen
Fünfzig Kilo pures Glück
Der Teufel im Fuchspelz
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© 2019 Maria Durand - 8. Band
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7504-4649-6
Der Schmetterling nutzte jede Bodenwelle und jedes noch so kleine Schlagloch, um sich wie ein Gummiball von einer Magenwand zur anderen prallen zu lassen. Dieses Pingpongspiel verursachte in Jos Magen ein nervöses, eher beunruhigendes Gefühl.
Dabei gab es keinen wirklichen Grund zur Sorge, dachte Jo. Schließlich befand sie sich auf dem Weg nach Spanien. Zu Luis.
„Ganz ehrlich?“, hörte Jo Inchi sagen, die sich den Platz direkt neben Max erkämpft hatte und ihn ununterbrochen wie ein Honigkuchenpferd angrinste. „Ich hätte nicht gedacht, dass unsere Eltern uns das erlauben!“
„Das habt ihr meinem Vater zu verdanken“, erwiderte Samantha, die in der zweiten Reihe und somit direkt hinter Max saß.
Jo fiel auf, dass Max immer wieder in den Rückspiegel schaute, obwohl er den Verkehr hinter sich auf der Straße gar nicht sehen konnte. In dem Moment, in dem Jo sich fragte, warum LKWs überhaupt einen Rückspiegel haben, sah sie, wie Max in den Spiegel lächelte.
„Dein Vater wirkt sehr bemüht und engagiert. Ich finde es klasse, dass er nachkommt“, bemerkte Max und Jo stellte fest, dass es Samantha war, die er fest im Blick hatte.
„Es ist ein Wunder, das man rot im Kalender ankreuzen muss“, gab Samantha ein wenig zynisch zurück.
„Ich verstehe dich nicht“, beschwerte Inchi sich umgehend und drehte sich zu Samantha herum.
„Keiner von uns hat so einen Vater wie du ihn hast“, fügte Inchi vorwurfsvoll hinzu, woraufhin Samantha harsch zurückgab: „Sei froh! Das Leben mit meinem Vater ist manchmal alles andere als leicht!“
Während Inchi sichtlich empört darüber nachdachte, was sie Samantha antworten sollte, versuchte Jo, die Lage zu entspannen.
„Trudes kleiner Kaktus ist wirklich sehr hübsch, findet ihr nicht?“, fragte sie, woraufhin Max konterte: „Ja, er kommt so gar nicht nach der Mutter!“
Die Mädchen lachten.
Jo war froh, dass Trudes Fohlen für die nächsten Minuten zum Gesprächsthema wurde und die Stimmung wieder deutlich anhob.
„Da fällt mir ein…“, überlegte Inchi nach einer Weile laut und wandte sich erneut mit einem breiten Lächeln an Max. „Wie bist du eigentlich auf die Blumennamen gekommen, die du Trude an den Kopf geworfen hast?“
„Oh, die kenne ich von meiner Mutter. Sie hat Blumen geliebt“, antwortete Max und Jo sah, dass sein Gesicht plötzlich einen traurigen Ausdruck bekam. „Sie hatte die verschiedensten Arten in unserem Garten…“, fügte Max hinzu und unterbrach für einen Augenblick, bevor er leise sagte: „Manchmal hat sie mit ihnen gesprochen…“
Samantha schaute nachdenklich in den Rückspiegel, während auch Esra, Inchi und Jo nun ihre Blicke auf Max gerichtet hatten.
„Wieso sagst du, sie hat Blumen geliebt?“, fragte Samantha nach ein paar Sekunden, doch Max schwieg.
„Lenk ihn nicht ab! Max muss fahren!“, warf Esra rasch ein, die neben Samantha auf der Rücksitzbank saß und bemerkt hatte, dass Max diese Frage alles andere als angenehm war.
„Er fährt sehr gut“, stieg Inchi mit ein und schenkte Max erneut ein beherztes Lächeln.
„Noch fährt er gut, aber wenn ihr ihn andauernd ablenkt, fährt er bald nicht mehr gut“, knurrte Esra in ungewohnter Manier.
Während Samantha und Esra anfingen über verschiedene Fahrweisen zu diskutieren, beobachtete Jo, dass Max es in den nächsten Minuten vermied in den Rückspiegel zu schauen. Sie war sich sicher, dass Samantha auf ihre Frage eine Antwort haben wollte. Wenn nicht jetzt, dann irgendwann.
„Frau Dumont hat gesagt, dass wir uns mit Max unterhalten sollen, damit er nicht müde wird“, betonte Inchi und kam zu dem Entschluss: „Es ist wirklich eine sehr lange Fahrt. Deshalb müssen wir Max auch viel erzählen. Du hast Glück, Max, wir können dir Geschichten erzählen, stundenlang, da sind wir eher in Spanien, als dass uns unsere Geschichten ausgehen…“
„Ach, weißt du, manchmal reicht auch einfach nur gute Musik“, unterbrach Max und deutete auf das alte Radio vor sich, woraufhin Inchi umgehend erwiderte: „Also, singen kann ich auch ganz gut!“
Bevor Inchi jedoch den ersten Ton anschlagen konnte, meldete sich lautstarker Protest von der Rücksitzbank. Während Samantha und Esra Max inständig anflehten, lieber Inchis Geschichten zu lauschen, schaute Jo aus dem Fenster.
Die Stimmen verschwanden und Jo erinnerte sich an den Abschied von Oma, kurz bevor sie in der vergangenen Nacht aufgebrochen waren.
Oma wirkte angespannt und die Besorgnis war ihr ins Gesicht geschrieben. Als sich aber Omas Arme um sie legten, wusste Jo, dass egal wo sie war, Oma in Gedanken immer bei ihr war.
Der Schmetterling hielt für einen Augenblick inne, als wolle er Jo bei dieser Gefühlsduselei nicht stören, woraufhin sich Jo entspannt in die Lehne ihres Sitzes drückte.
„Sie ist in Gedanken schon bei Luis“, drang Inchis Stimme nach einer Weile in Jos Ohren, was der Schmetterling erneut zum Anlass nahm, kreuz und quer durch den Magen zu hüpfen.
„Auf diesen Luis bin ich mal gespannt“, warf Max ein und zwinkerte Jo dabei zu. Er lächelte wieder.
Jo wusste, dass Max sich schon längst ein Bild von Luis gemacht hatte, denn das hatte er ihr gegenüber auf dem Lehrgang deutlich zum Ausdruck gebracht. Ohne ihn zu kennen, verurteilte er Luis dafür, dass er den Sommer ohne Jo verbrachte. Diese Tatsache machte Max irgendwie sympathisch. Wenn er an Luis’ Stelle gewesen wäre, hätte er den Sommer mit Jo verbracht. Andersherum tat Luis nichts Schlimmes. Dass er den Sommer in Spanien verbringen wollte, hatte er abgesprochen und Jo wusste, wie sehr er sich nach seinem Zuhause sehnte und daher freute sie sich auch für ihn. Nur änderte sich dieses Gefühl der Freude schlagartig in dem Moment, in dem Luis die Reise nach Spanien antrat. Etwas fehlte ihr. Luis fehlte ihr.
„Hast du inzwischen herausbekommen, was bei ihm los ist?“, wollte Esra wissen, doch Jo zuckte nur mit den Schultern.
„Seba sagte doch, dass Rosita ihm gegenüber keine Besonderheiten erwähnt hatte, als er mit ihr telefonierte“, warf Samantha gelangweilt ein, woraufhin Inchi empört erwiderte: „Für mich ist das ganz klar ein Notruf! Wenn Rosita schreibt, dass der Teufel hinter Luis her ist, ist das sehr wohl eine Besonderheit!“
Während Max im Rückspiegel beobachtete, dass Samantha mit den Augen rollte, entdeckte Jo ein Schmunzeln auf seinen Wangen.
„Vielleicht werden sie gefangen gehalten und Rosita konnte nichts sagen…“, fuhr Inchi aufgeregt fort, woraufhin Samantha, Esra und Max zu lachen begannen.
Der Schmetterling schien Inchis Überlegungen alles andere als witzig zu finden und ließ ein bedrückendes Gefühl in Jos Magen aufsteigen.
Jo atmete erleichtert auf, als sie hörte, wie Esra sich neugierig an Samantha wandte: „Was wird Bent in den nächsten Tagen machen?“
„Keine Ahnung“, gab Samantha regungslos zurück und bemühte sich, dabei so gelangweilt wie möglich zu wirken.
„Bent und Mücke werden wenig Zeit haben. Sie müssen sich um unsere Pferde kümmern“, bemerkte Inchi und drehte sich dann blitzartig zu Jo herum. „Remmi Demmi hat Mauke und ein paar offene Stellen an den Vorderbeinen. Wusstest du das schon?“
„Mauke? Im Sommer?“, erwiderte Jo sichtlich überrascht mit gleich zwei Fragen auf einmal, woraufhin Inchi diese mit einem zweimaligen Kopfnicken beantwortete.
„Deshalb kann Inchi sie auch gerade nicht reiten. Wenn sie viel läuft, reißen die Wunden wieder auf“, erklärte Esra.
„Hast du Cordelias Vater informiert?“, fragte Jo nach, woraufhin Inchi abermals eifrig nickte, bevor sie hinzufügte: „Natürlich, sofort. Er kennt das schon. Er sagt, diese Mauke ist eher wie ein Ekzem und tritt bei der Stute häufig im Sommer auf. Er hat seinen Tierarzt geschickt und nun muss sie Schafswollverbände tragen. Seba hat mir versprochen, sie zu wechseln.“
Für Jo schien es beinahe so, als käme Inchi die Mauke an Remmi Demmis Beinen gerade ganz gelegen. Jo war sich sicher, dass es nicht die Mauke war, über die sich Inchi freute, sondern eher die Tatsache, dass deswegen nun kein anderer in den Tagen ihrer Abwesenheit auf Remmi Demmi reiten würde. Es war Inchi anzusehen, wie sehr sie die Stute bereits in ihr Herz geschlossen hatte.
„Ich habe Cordelias Vater auch gesagt, dass ich ein paar Tage nicht da bin“, hörte Jo Inchi sagen, als ihre Gedanken zu Zitrönchen schweiften.
Seba hatte sich dafür ausgesprochen, dass Jos Pferd sich nach dem Lehrgang eine Pause mehr als verdient hätte, weshalb es nun zusammen mit Trude und ihrem Fohlen die wenigen Tage auf der Weide verbringen sollte.
Jo konnte Inchi verstehen, wenn sie insgeheim froh darüber war, dass Remmi Demmi wegen der Mauke nicht geritten werden konnte. Genauso war es bei Jo. Sie musste sich keine Gedanken darüber machen, dass Zitrönchen Mücke oder Seba im hohen Bogen in den Sand katapultierte, denn das wäre ihre größte Sorge gewesen.
Jo lächelte, als sie daran dachte, wie sie mit Hilfe von Herrn Asmussen endlich den richtigen Gang für Zitrönchen gefunden hatte. Sie sah das strahlende Gesicht des alten Reitlehrers vor sich und sie erinnerte sich, wie gut Zitrönchen sich unter ihr anfühlte. Sie spürte wie er seine Beine vor sich herwarf und wie er sich problemlos von ihr führen ließ.
Zitrönchen fehlte Jo jetzt schon und das war ein ganz anderes Gefühl, als Luis zu vermissen.
Während es sich anfühlte, als ob sich ihr Hals zuschnürte, stellte Jo fest, dass es sich irgendwie viel schlimmer anfühlte, Zitrönchen zu vermissen.
Vielleicht lag es daran, dass sie sich von Kilometer zu Kilometer mehr von Zitrönchen entfernte, was gleichzeitig auch bedeutete, dass sie sich von Kilometer zu Kilometer Luis näherte.
Der Schmetterling sank wie ein Stein auf den Grund ihres Magens und das Gefühl der Schwere ließ Jo weiter grübeln.
Seitdem Zitrönchen in Jos Besitz war, waren sie nicht einen Tag voneinander getrennt gewesen. Jo schluckte und drehte ihr Gesicht zum Fenster, als sie einen schrillen Piepton von der Rücksitzbank vernahm.
Hastig kramte Samantha nach ihrem Telefon. Jeder konnte sofort erkennen, dass sie sich nicht über den Anruf freute, als sie sah, wer sie anrief. Sie rollte kurz mit den Augen und nahm dann mit einem kurzen „Hallo Bent“ das Gespräch an.
Inchi drehte sich mit einem breiten Grinsen nach hinten um, das auch von Esra erwidert wurde.
Samantha lauschte Bents Worten und setzte sich dann auf. „Habt ihr überall gesucht?“, fragte Samantha leise, aber durchaus in einem besorgten Ton. „Melde dich bitte, wenn ihr sie gefunden habt“, beendete Samantha nach wenigen Minuten das Gespräch und blickte in die fragenden Gesichter der anderen.
„Trude wurde gestohlen!“, platzte es aus Inchi heraus. „Ich wusste es! Das Fohlen ist mehr wert als wir uns alle vorstellen können“, fügte sie hastig hinzu.
„Inchi! Das ist doch Blödsinn!“, beschwerte sich Esra sichtlich entsetzt und fuchtelte mit ihren Händen in der Luft herum, um Samantha aufzufordern, jetzt mit der Sprache herauszurücken.
„Trude geht es gut…“, begann Samantha, woraufhin Inchi hörbar aufatmete.
Der Schmetterling schickte jedoch im nächsten Moment einen kurzen Schauer über Jos Rücken, als Samantha sagte: „Aber…“, und dann erneut verstummte.
Die Mädchen beobachteten einen angestrengten, eher nachdenklich wirkenden Ausdruck im Gesicht ihrer Freundin.
Jo sah, wie Max, ebenso sichtlich nervös, mehrfach in den Rückspiegel schaute.
„Samantha! Jetzt spann uns nicht auf die Folter!“, schritt Jo ein, während Max seinen Blick wieder auf die Fahrbahn richtete.
„Es ist Yuki. Yuki ist verschwunden“, brachte Samantha hervor, woraufhin Max hastig das Radio abschaltete und es mucksmäuschenstill in der LKW-Kabine wurde.
Inchi und Esra tauschten unsichere Blicke aus, während Jo den letzten Satz von Samantha in ihrem Kopf wiederholte.
„Auf gar keinen Fall ist sie weggelaufen!“, bemerkte Max nach ein paar Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten.
„Wieso nicht?“, hakte Samantha nach und beugte sich ein Stück vor, um Max besser im Rückspiegel erkennen zu können.
„Nun…“, antwortete Max ein wenig zögerlich. „Also… wie soll ich es sagen… sie hat sich verliebt und deshalb glaube ich, dass sie nicht weggelaufen ist.“
„Yuki ist verliebt?“, fragten Esra, Inchi und Samantha erstaunt im Chor.
„Sie ist sieben Jahre alt!“, legte Samantha empört nach, bevor Esra in die Runde fragte: „Wer ist es? In wen hat Yuki sich verliebt?“
Max druckste erneut herum und warf Jo einen hilflosen Blick zu, woraufhin Jo einen Augenblick nachdachte und plötzlich Yuki vor sich sah.
Sie erinnerte sich, wie Yuki am Frühstückstisch saß und jedes Wort aufsaugte, was… „Es ist Bent! Yuki hat sich in Bent verliebt“, gab Jo ein wenig erleichtert zurück. Sie war beruhigt, dass keine Hiobsbotschaften von Mücke, Mama oder Oma kamen und sie war sich so sicher wie Max, dass kein Grund zur Sorge bestand, was Yuki betraf.
Samantha schnappte hörbar nach Luft, doch bevor sie etwas erwidern konnte, fügte Jo hinzu: „Ich bin mir auch sicher, dass sie nicht weglaufen ist. Ihr kennt sie doch, bestimmt hat sie sich in ein Gänseblümchen verwandelt und sitzt irgendwo auf der Wiese und beobachtet die Pferde.“
Inchi fand, dass sich Jos Worte absolut überzeugend anhörten und atmete auf.
„Haben sie denn überall geguckt?“, hakte Max noch einmal nach, bevor Samantha antwortete: „Überall. Bent sagt, sie haben den gesamten Hof auf den Kopf gestellt. Sie ist nicht da und die Tasche, die Herr Hecht gestern Abend noch gebracht hatte, ist auch verschwunden.“
„Dann ist sie mit ihrem Vater wieder nach Hause“, warf Esra ein, doch Samantha schüttelte nur den Kopf.
„Das ergibt keinen Sinn“, gab Max an. „Sie hat sich eine Tasche bringen lassen, weil sie ein paar Tage bleiben wollte. Dann läuft sie doch nicht weg!“
Jo lauschte Max’ Worten, die absolut logisch klangen. Trotzdem war die Tatsache, dass die Tasche auch verschwunden war, irgendwie seltsam.
Der Schmetterling erhöhte den Puls und schickte eine Gänsehaut über Jos Arme. Und wenn ihr doch etwas zugestoßen war? Etwas Schlimmes? Etwas ganz Furchtbares?
Esra, Inchi und Jo schwiegen, bis Samantha nach ein paar Minuten vor sich her murmelte: „Verliebt! Sie ist doch nicht in Bent verliebt!“
„Wieso kann das nicht sein?“, fragte Inchi sichtlich verärgert. „Du bist auch in Bent verliebt. Im Gegensatz zu dir hat Yuki es anscheinend zugegeben und das, obwohl sie erst sieben Jahre alt ist!“
Samantha starrte Inchi verblüfft an, ebenso wie Esra und Jo.
Nur Max konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.
„Jetzt will ich dir mal was sagen“, fauchte Samantha im nächsten Augenblick zurück. „Ich bin nicht zu feige zu sagen, dass ich in Bent verliebt bin, weil ich nämlich nicht in Bent verliebt bin!“ Erschrocken über ihre eigenen Worte fuhr sie zurück, lehnte sich zurück und schaute demonstrativ aus dem Fenster.
Esra, Jo und Inchi verstummten erneut, denn sie wussten, dass Samanthas letzter Satz alles andere als die Wahrheit war.
Nach einer Weile konnte Max die Stille nicht mehr ertragen. „Noch zwei Stunden, dann haben wir unseren Zwischenstopp erreicht. Ich kenne dort jemanden, bei dem wir in vernünftigen Betten schlafen können. Für Dreimaster steht dort eine riesige Paddockbox zur Verfügung, sodass er sich ein wenig die Beine vertreten kann. Und wir bekommen bestimmt etwas ganz Leckeres zum Abendessen“, erklärte er und versuchte damit, die Mädchen ein wenig aufzumuntern.
„Hast du uns dort angemeldet?“, wollte Jo wissen, die sich wirklich auf das vernünftige Bett freute.
Max sah, dass Jo sich bemühte, ihre Augen offen zu halten und setzte ein Lächeln auf, bevor er antwortete: „Natürlich, ich habe gesagt, ich komme mit Dreimaster und meiner Crew.“
Jo sah zu Max hinüber und lächelte zurück.
Währenddessen nahm Herr Klein eine Personenbeschreibung von Yuki entgegen. Der kleine Polizist sah in die aufgebrachten Gesichter von Mama und Oma, während Bent, Italo und Mücke erneut jeden Stein auf dem Hof umdrehten, um Yuki zu finden.
Herr Hecht war gerade wieder zu Hause eingetroffen, als ihn die Nachricht erreichte, dass seine Tochter nicht aufzufinden war. Zusammen mit Yukis Mutter befand er sich bereits wieder auf dem Weg zu Sebas Reitanlage.
„Ich möchte gerne noch einmal mit den Kindern sprechen“, teilte Herr Klein mit. „Vielleicht hat Yuki irgendeine Andeutung gemacht.“
Oma stimmte ihm zu und rief nach Mücke, Italo und Bent, doch die versicherten dem Polizisten, dass Yuki vorhatte, auf dem Hof zu bleiben und keinen Grund zum Weglaufen hatte.
„Dann müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen“, rutschte es dem kleinen Mann mit der schwarzen Brille heraus, woraufhin Oma ihn energisch am Arm von den Kindern wegzog.
„Ich bitte Sie! Wie können Sie so etwas sagen. Wir wissen noch nicht das Geringste!“, beschwerte sich Oma.
„Eben, meine Gnädigste, eben! Wir wissen nicht das Geringste und uns fehlt jeglicher Ansatz! Also können wir das Schlimmste auch nicht ausschließen.“
In diesem Moment fuhr Mamas Auto vor das Tor der Anlage. Mit ernster Miene stieg sie aus und eilte zu Mücke, Bent und Italo und ließ sich auf den neuesten Stand bringen, der leider keine Neuigkeiten ergab.
Oma aber sah, dass Mama noch ein anderer Schuh drückte und unterbrach umgehend das Gespräch mit Herrn Klein. Sie nickte Mama kurz zu und dann verschwanden sie in Sebas Haus.
In der Küche saßen Seba und Herr Wüstenhagen am Tisch vor einem Plan, auf dem das gesamte Gelände der Reitanlage eingezeichnet war.
„Wir haben jeden Zentimeter abgesucht“, hörte Oma Seba sagen, als sie zusammen mit Mama die Küche betrat. Nachdem sie sich mit an den Küchentisch gesetzt hatten, dauerte es nicht lang, bis Mama mit der Sprache rausrückte.
„Wir haben noch ein Sorgenkind und dieser Fall ist nicht weniger schlimm“, brachte sie mit zittriger Stimme hervor.
„Ist den Mädchen etwas passiert? Hatten sie einen Unfall?“, platzte es aus Herrn Wüstenhagen heraus, der gleich von seinem Stuhl aufsprang.
„Nein, ich habe nichts von den Mädchen gehört. Es scheint ihnen gut zu gehen“, beruhigte Mama Herrn Wüstenhagen, der sich nur zögerlich wieder auf seinen Stuhl setzte. „Die Lehrerin von Italo hat mich angerufen. Italos Onkel geht es sehr schlecht. Italo muss nach Hause, um sich zu verabschieden und es ist völlig unklar, wie es für den Jungen danach weitergeht.“
Wie versteinert schauten Herr Wüstenhagen und Seba in Mamas Gesicht, während sich bei Oma die Stirn in tiefe Falten legte.
„Das hat uns noch gefehlt“, murmelte Seba, der als erster seine Worte wiederfand.
„Also, ich hole jetzt die Mädchen zurück!“, begann Herr Wüstenhagen aufgeregt, der anscheinend keinen klaren Gedanken fassen konnte und nun war er es, der in die entsetzten Gesichter der anderen schaute.
„Wieso die Mädchen?“, fragte Oma in einem ruhigen, sehr gefestigten Ton nach.
„Ja, also…“, fuhr Herr Wüstenhagen fort, doch als er erkannte, dass er keine Erklärung dafür vortragen konnte, brach er ab.
Oma nickte und beendete den Satz von Samanthas Vater: „Also, die Mädchen bleiben, wo sie sind.“
„Herr Hecht und Yukis Mutter werden in Kürze hier eintreffen. Ich schlage vor, dass wir uns aufteilen. Ich suche weiterhin nach Yuki“, warf Seba ein, woraufhin Mama und Oma beinahe synchron nickten.
„Ich kümmere mich um Italo. Wenn er es möchte, werde ich mit ihm nach Italien reisen“, fügte Oma hinzu, woraufhin Mama sich dazu bereit erklärte, sich vor Ort um die Daheimgebliebenen zu kümmern und Seba bei der Suche nach Yuki zu unterstützen.
„Und ich? Was mache ich?“, fragte Herr Wüstenhagen und klang dabei ein wenig verzweifelt.
„Sie reisen wie geplant übermorgen zu den Mädchen nach Spanien!“, gab Oma vor, woraufhin sich die Gesichtszüge von Herrn Wüstenhagen schlagartig entspannten.
„Bis dahin werde ich hier natürlich bei der Suche nach Yuki helfen“, warf Samanthas Vater umgehend ein, während Herr Klein an das Küchenfenster klopfte und Seba ihn mit einem kurzen Wink hereinbat.
In der Küche eingetroffen, drehte sich der kleine, stämmige Polizist nach allen Seiten um und erklärte dann: „Dieser Raum hier wird unsere Tatortzentrale!“
„Auf gar keinen Fall nennen sie diesen Raum so vor den Kindern!“, protestierte Oma nicht weniger entschieden als Herr Klein. „Diese Küche ist ein angenehmer Ort für die Kinder. Ich möchte nicht, dass Sie hier Verbrechen diskutieren, die überhaupt nicht spruchreif sind!“, legte Oma energisch nach, woraufhin der Polizist tief einatmete und dadurch zwei Zentimeter größer schien, als er eigentlich war.
„Halten Sie die Luft an!“, befahl Oma und Herr Wüstenhagen signalisierte dem Wachmann, dass es besser wäre, sich spätestens jetzt zurückzuhalten.
„Sie können in meinem Wohnzimmer ihre weitere Vorgehensweise besprechen“, mischte Seba sich ein, bevor Oma zu Hochtouren auflief.
Herr Klein zeigte sich nach einem kurzen Blick in Omas Gesicht einverstanden und versprach, das Wohnzimmer in eine „Einsatzzentrale“ umzubenennen und das Wort „Tatort“ vorerst unter den Tisch fallen zu lassen. Dann beugte er sich über den Küchentisch und ließ sich von Seba den Plan erklären.
Wenig später lenkte Max den Pferdetransporter geschickt durch eine schmale Einfahrt.
Während Inchi, Esra und Samantha schliefen, hatte Jo Max mit Fragen zum Turnier gelöchert. Sie wusste jetzt, dass Dreimaster einen besonderen Pass benötigte, der ihm erlaubte, auch außerhalb Deutschlands auf Turnieren zu starten. Sie hatte erfahren, dass Max eine Qualifikation reiten musste, um sich für den großen Preis am Sonntag zu qualifizieren. Jo fand, dass das immens viel Aufwand war, nur um eine Prüfung reiten zu dürfen. Aber es gab ein Preisgeld sowie ein Auto zu gewinnen und Max hatte ihr erzählt, dass er schon zwei Mal ein Auto gewinnen konnte. Max verkaufte diese Autos anschließend wieder, denn die Kosten für ein Turnierwochenende waren hoch. Alles in allem hörte sich das verdammt schwierig an und sie staunte darüber, dass Max, der nur ein paar Jahre älter war als sie, alles so gut im Griff zu haben schien.
„Wir sind da“, verkündete er leise, als er vor einem weißen Landhaus anhielt. Er lächelte und schaute suchend durch die Scheibe in die Dunkelheit.
Während Jo die anderen weckte, kletterte Max von seinem Sitz herunter und streckte sich, als er den festen Boden unter seinen Füßen verspürte.
„Mon Chéri! Da bist du ja endlich!“, vernahmen die Mädchen eine weibliche Stimme, woraufhin Jo und Samantha zeitgleich aus der LKW-Kabine sprangen.
„Leonora!“, hörten sie Max rufen und sahen dann, wie er seine Arme um eine junge Frau mit braunem, langem Haar legte.
Max drückte sie fest an sich und es schien so, als wolle er sie am liebsten nicht mehr loslassen.
„Sie hat ihn ihren Schatz genannt“, knirschte Esra zwischen den Zähnen hervor, während sich Max und Leonora noch immer fest umschlungen in den Armen lagen.
„Meinst du, ich hätte das nicht verstanden?“, wetterte Samantha mürrisch zurück.
„Wenn sie ihn Schatz nennt, heißt das, dass sie seine Freundin ist?“, überlegte Inchi laut und erntete prompt einen vernichtenden Blick von Samantha, der Inchi in diesem Moment als Antwort völlig genügte.
„Ich habe dich so vermisst!“, hörten die Mädchen Leonora sagen, woraufhin Max sie noch fester in die Arme schloss.
Samantha räusperte sich nun entschieden einzweimal, doch schien das keine Wirkung auf die beiden zu zeigen.
Inchi, die sich stets bemühte, ganz anderer Meinung als Samantha zu sein, fühlte plötzlich, dass sie in diesem Augenblick ihre Freundin unterstützen musste und sorgte mit einem lauten Hustenanfall dafür, dass Leonora und Max ihre Umarmung lösten.
„Willkommen in La Rochelle!“, rief Leonora aus und begrüßte jedes Mädchen mit mehreren Luftküssen rechts und links der Wangen.
Während Jo den Blick nicht von Leonora abwenden konnte, weil sie ihnen so freundlich entgegenlächelte und dabei so zart und wunderschön aussah, funkelte es bei Samantha in den Augen.
Max, dem Samanthas Blick nicht entgangen war, legte ein breites Grinsen auf und sagte dann: „Ich möchte euch Leonora vorstellen. Sie ist …“, dann brach er ab und starrte Inchi verwirrt an.
Inchi fuchtelte wild mit den Armen umher, womit sie genau das erreichen wollte. Sie lauschte und drehte sich ein paar Mal herum, woraufhin Leonora zu lächeln begann.
„Ja, meine Liebe, du hörst richtig. Das ist das wundervolle Rauschen des Meeres!“
Dreimaster stand eine halbe Stunde später zufrieden in einer riesigen Box und kaute genüsslich frisches Heu.
„Er sieht überhaupt nicht gestresst aus, nach dieser langen Fahrt“, bemerkte Inchi und strich dem großen Braunen über den Hals.
„Das stimmt, die letzten vierzehn Stunden im LKW sind dir deutlich mehr anzusehen!“, erwiderte Samantha harsch, woraufhin Esra für die nächsten fünf Minuten damit beschäftigt war, Inchi die Schminke aus dem Gesicht zu wischen, die sich an Stellen befand, an denen sie eigentlich nicht sitzen sollte.
Jo schnappte sich eine Schaufel, woraufhin Leonora sie erstaunt ansah. „Ähm, ich wollte den LKW abäppeln“, erklärte Jo sich bevor Leonora ihr die Schaufel aus der Hand nahm und sie zurück an die Wand stellte.
„Ich bitte dich! Heute wird hier nichts mehr abgeäppelt. Das Essen wartet auf der Terrasse“, erwiderte Leonora freundlich und lächelte Jo entgegen.