Ralf Kramp
Wenn Goldfinger rauskommt
Ralf Kramp, geboren 1963, lebt in der Eifel. Er veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane für Erwachsene, und mit »Wenn Goldfinger rauskommt« begann er eine Reihe von Geschichten für junge Krimileser unter dem Titel »Das schwarze Kleeblatt«.
1. Auflage 2004
2. Auflage 2008
3. Auflage 2012
© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
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Umschlagillustration: Ralf Kramp
Satz: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-937001-30-2
E-Book-ISBN 978-3-95441-218-1
Für Michael Preute,
den »alten Hasen«
Eine Hiobsbotschaft
Der feindliche Planet
Der Olle aus dem Wald
Zwei kühle Köpfe essen Eis
Gefährliche Begegnung
Da staunt der alte Kommissar
Unterwegs im Unterholz
Ungleiches Duell
Einfach so weg?
Willkommen im Hauptquartier
Eine falsche Tochter
Blitz und Donner
Unerwartete Hilfe
Katzenstreu und Autolack
Immer der Spur nach
Das Gefängnis
Zurück in die Höhle des Löwen
Gelernt ist gelernt
Auf frischer Tat
Staatsbesuch im Ermittlungszentrum
Eigentlich ist es ja eher schwierig, sich im Nachhinein an alle Kleinigkeiten einer Geschichte zu erinnern, wenn sie erst einmal hinter einem liegt. Damit habe ich aber nun wirklich keine Probleme. Was mir letzten Sommer passiert ist, das werde ich bestimmt mein ganzes Leben lang nicht vergessen.
Begonnen hat es im Grunde genommen damit, dass Paps eines Abends von der Arbeit nach Hause kam und sich nicht wie sonst üblich an den Abendbrottisch setzte und mit Heißhunger alles in sich hineinschaufelte, da er tagsüber wieder keine Zeit gefunden hatte, sich irgendwas Essbares zu besorgen. Nein, an diesem Abend strahlte er schon, als er zur Tür hereinkam. Jaja, er strahlte regelrecht. Sein Gesicht ist eh schon rund, und wenn da nicht sein dichter schwarzer Bart gewesen wäre, ich bin mir sicher, er hätte geleuchtet wie ein Vollmond überm Horizont. Er wedelte mit ein paar bedruckten Zetteln, stolperte fast über den wild kläffenden Fiete und winkte uns mit großartigen Armbewegungen ins Wohnzimmer.
Ich sah Mom verständnislos an und dachte, auch sie würde sich vielleicht fragen, was Paps uns sagen wolle. Aber, wie sie da so stand, mit der kleinen Lisa auf dem Arm, die angestrengt versuchte, ihren Finger in Moms Nase zu stecken, da glaubte ich, etwas Freudiges in ihrem Blick zu entdecken. Etwas, das lange gewartet hatte auf das, was Paps uns jetzt eröffnen würde. Nur die kleine Lisa schien ebenso ahnungslos zu sein wie ich.
»Es ist soweit, es ist soweit!«, dröhnte Paps, der ohnehin immer sehr laut spricht, und ließ sich in einen Sessel fallen. Fiete, unser riesiger Mischlingshund, hockte sich neben ihn und hechelte aufgeregt.
»Jetzt fehlt nur noch, dass du ein Glöckchen holst und Bescherung machst«, sagte ich unsicher und versuchte einen Blick auf die Papiere zu werfen, mit denen er pausenlos herumfuchtelte. Ich erkannte den Briefkopf unserer Bank und las das Wort Darlehen.
»Es hat geklappt!« Mom küsste ihn.
Lisa protestierte heftig, weil sie fast erdrückt wurde zwischen den beiden.
Dann nahm Mom mich in den Arm und sah mich an. Sie konnte ihre Freude kaum im Zaum halten. »Erinnerst du dich an unseren Ausflug aufs Land vor ein paar Wochen?«
Ich nickte zaghaft. Papa warf im Hintergrund Lisa in die Luft, die fröhlich krähte.
»In die Eifel. Ja, klar. So verregnet war lange kein Ausflug mehr.« Ich dachte zurück an die Landschaft, die sich mit ihren sanft gewellten Hügeln etwa eine halbe Autostunde südlich von Köln auftat, und an jenen Sonntag, den wir damit verbracht hatten, stundenlang durch tieftrauriges Regenwetter zu kurven. Und mir fiel die Pfütze wieder ein, in die Paps knöcheltief hineingelatscht war, ohne dass das seiner guten Laune und seiner Entdeckerstimmung einen Abbruch getan hatte.
»Kannst du dich denn noch an das Haus erinnern, das wir uns da angesehen haben? Das schöne große mit dem riesigen Garten und dem Wintergarten?«
Es dämmerte mir. Jetzt sah ich plötzlich alles ganz klar. Die Formulare von der Bank, meine aufgekratzten Eltern … Und mit einem Mal fiel mir auch wieder ein, wie sehnsüchtig ihre Blicke gewesen waren, als wir dieses Haus mit dem Zu verkaufen-Schild von allen vier Seiten umrundet hatten, um es genau unter die Lupe zu nehmen. Meine Eltern hatten sich nicht entblödet, über Stacheldrahtzäune und durch Kuhfladen zu trampeln, um einen Blick in den Garten zu werfen.
»Oh Mann, oh Mann, soll das etwa heißen …?« Ich schluckte schwer.
»Jawoll, Tim! In zwei Monaten ziehen wir um!«, dröhnte Paps und klopfte mir auf den Rücken. »Wir zeigen dieser lauten, stinkigen Stadt unseren Rücken und ziehen hinaus in die Natur! Du kriegst ein größeres Zimmer von den Ausmaßen eines Tennisplatzes, und wir haben zwei Toiletten und einen Riiiiiesengarten!« Er sah mich erwartungsvoll an. »Die Bank hat uns das Darlehen bewilligt und wir kaufen das Haus! Ist das nicht toll?«
Wenn ich mich genau erinnere, verschwand Paps’ Lächeln schlagartig, als er mein Gesicht sah. Ich muss eine jämmerliche Miene aufgesetzt haben. Alles schoss mir durch den Kopf: Meine Schulklasse, Kalle und Mike vom Geheimclub »Schwarzes Kleeblatt«, mein Fußballverein, die Eisdiele unten auf der Straße und das Kino. All das würde nur noch zwei Monate dauern! Und dann würde ich in der Eifel leben. Da, wo es für meinen Geschmack viel fieser stank als hier in der Stadt. In einem kleinen Nest in irgendeinem Tal, in dem es weder eine S-Bahn noch ein Freibad gab! Ich kraulte verdrossen Fietes langes Zottelfell. Es sah so aus, als würde sogar der Hund vor Freude grinsen.
»Du kannst Kaninchen jagen, bis dir die Zunge bis an die Knöchel hängt«, versprach ihm Paps.
Mom nahm mitfühlend mein Gesicht in beide Hände und sah mich lächelnd an. »He, Großer«, sagte sie und nickte ernsthaft. »Ich schätze, das kommt dir jetzt vor wie der Weltuntergang. Aber denk immer dran: Die Eifel ist nur eine gute halbe Stunde weg von hier, und umgekehrt ist es genauso. Wahrscheinlich hast du Angst, in so ein kleines Dorf zu ziehen, aber ich schließe eine Wette mit dir ab, dass du schon bald gar nicht mehr von da weg willst.«
»Die Wette gewinn ich«, murmelte ich betrübt.
In der Tat glaubte ich Mom damals kein Wort. Wie sollte ich ihr glauben, dass es mir irgendwann da unten hinterm Bretterzaun gefallen würde? Bei den Bauern. In der Einöde. Da hätten wir ja genauso gut in die Wüste Gobi ziehen können.
So dachte ich damals. Heute weiß ich, dass Mütter im Grunde genommen doch meistens recht haben. Warum die Natur das so gemacht hat, weiß keiner so genau, aber es ist nun mal so, auch wenn man das nicht gerne zugibt.
Heute hab ich nun also gut lachen. Aber damals ging es mir wirklich saumäßig. Kalle und Mike, meine besten Freunde, saßen regelmäßig morgens auf dem Schulhof und nachmittags auf der ollen Bank am Spielplatz mit mir zusammen, und wir hielten Kriegsrat. Doch der Umzug war nicht mehr abzuwenden. Sie schmiedeten schon Pläne, was mit dem Namen »Schwarzes Kleeblatt« nun geschehen solle. Möglichkeiten wie »Schwarze Zwei«« oder »Schwarzes Duett« wurden diskutiert. Ich fand beides dämlich. Aber sein Mitspracherecht hatte Kollege Tim durch sein Fortgehen wohl endgültig verwirkt.
Mom begann schon viel zu früh mit ihrer Packerei. So schien es uns damals. Wir lebten zwei Monate aus Kisten heraus und um Kisten herum. Beim tatsächlichen Umzug schließlich stellte sich heraus, dass sie sich keinen Moment zu früh darum gekümmert hatte, dass alles verstaut und verpackt wurde. Wie schon gesagt: Ich gebe es ungern zu, aber Mütter haben meistens recht.
Ich fuhr ein paar Mal mit Paps in die Eifel um zu sehen, welche Fortschritte die Renovierung des Hauses machte. Der Anstreicher, ein dürrer Kerl mit Stoppelkinn, der mich stark an eine Vogelscheuche erinnerte, knuffte mir jedes Mal aufmunternd in die Rippen und sagte: »Kannst es kaum abwarten, bis du hier wohnst, was?«
Keine Ahnung hatte der Typ. Mein Zimmer im ersten Stock bekam eine Raufasertapete, weil ich sowieso meine ganzen Poster wieder aufhängen wollte. Das war der erste Pluspunkt. Ich hatte wirklich viel mehr Platz und sogar ein eigenes Waschbecken im Zimmer. Die Kontrolle über das abendliche Zähneputzen war also aufgehoben! Aus meinem Fenster konnte ich zum Waldrand gucken, der ganz nahe lag und ziemlich finster aussah. Ich würde sicherlich der Erste sein, der dran glauben musste, wenn irgendwann mal die Wildschweine über uns herfielen.
Zu Hause nahm ich langsam Abschied. Die Lehrer machten so oft ihre dussligen Bemerkungen darüber, dass ich ja bald »hinterm Bretterzaun« leben würde, dass ich schon längst nicht mehr drüber lachen konnte. Im Fußballverein stand uns sowieso eine Sommerpause bevor. Mein Abschied ging irgendwie unter, und ich wusste nicht, ob überhaupt alle richtig kapiert hatten, dass ich nach den Ferien nicht wieder mitspielen würde.
Am Tag bevor der große Möbelwagen kam, machte ich einen kleinen Abschiedsspaziergang durch unser Viertel, und auf der Parkbank traf ich meine beiden Kumpels. Sie guckten ein bisschen verlegen, als sie mir ein kleines, bunt verpacktes Paket in die Hand drückten. Ich öffnete es mindestens genauso verlegen und fand ihr Abschiedsgeschenk darin. Die Enterprise als Miniaturmodell! Es war zwar eigentlich ein blümerant duftender Luftverbesserer fürs Auto, aber ich fand das Ding einfach super.
»Oh, Mann, oh Mann! Ihr seid wirklich die besten Freunde, die sich eine arme Socke wie ich wünschen kann! Solche Freunde wie euch finde ich nie mehr! Und was wir schon zusammen erlebt haben!« Im Nu kamen uns die Glanzlichter unserer zurückliegenden Karriere als Hobbydetektivtrio in den Sinn.
»Wir waren die Einzigen, die mit ihrem Spürsinn damals das verschwundene Klassenbuch wiedergefunden haben!«, fiel es Mike ein.
»Jaja«, kicherte Kalle. »Und wir haben es sofort endgültig verbrannt, weil du die meisten Eintragungen hattest!«
»Und den Kerl, der damals Fahrerflucht begangen hat, als er in der Eichenstraße das Auto gerammt hat, haben die auch nur gekriegt, weil wir mit den Rädern an ihm drangeblieben sind!«
»Ja, stimmt. Au Mann, das war vielleicht spannend.«
Ich seufzte. »So was passiert mir in diesem öden Eifelkaff bestimmt nicht!«
Ich hatte damals ja keine Ahnung!
Das Dorf hieß Buchscheid und lag in der Nähe von Bad Münstereifel, einem Kurstädtchen, in das Omis und Opis wie die Ameisen in Scharen einfielen, sobald der erste Sonnenstrahl die Erde kitzelte.
Hier oben in unserem Kaff – ich vermied den Ausdruck »Heimat«, den Paps hinausbrüllte, als er sich am ersten Morgen halbnackt aus dem offenen Fenster reckte – war von diesen Heerscharen von Senioren Gott sei Dank nichts zu sehen. Dafür lagen wir viel zu abgeschieden.
Es war still an diesem Morgen. Eine Kreissäge irgendwo, ein Hahn, ein Flugzeug ab und zu und ein bisschen Radau von der Straße. Das war alles.
Vielleicht war die ungewohnte Stille auch für Paps zu viel, denn er drehte die Stereoanlage volles Rohr auf und bedudelte uns mit klassischer Musik, während Mom draußen auf der Terrasse den Frühstückstisch deckte. Lisa, die gerade laufen gelernt hatte, eierte fröhlich quäkend hinter Fiete her, der immer noch nervös alles beschnupperte und seine liebe Mühe hatte, sich an seine neue Umgebung zu gewöhnen.
Das Frühstück war was Besonderes, das muss ich schon sagen. Im Freien hatte ich bisher nur im Urlaub in Belgien gefrühstückt. Die Sonne brannte schon am frühen Morgen, und die Butter, die Mom gerade erst aus dem Eisschrank geholt hatte, war im Nu weich wie … Butter.
»Hast du schon was von deinen Sachen ausgepackt?«, fragte Mom und fütterte Lisa mit irgendeinem breiigen Zeug, während Paps schmatzend sein Brötchen verschlang und sich in der Gegend umblickte.
»Nö«, sagte ich gedehnt. »Hat noch Zeit. Ich hab gestern noch was ferngesehen und war dann zu müde.«
Ein weiteres Zugeständnis meiner Eltern, um mich milde zu stimmen: Ich hatte jetzt einen eigenen Fernseher auf meinem Zimmer.
»Außerdem wollte ich erst die Poster aufhängen, bevor der Rest drankommt. Und die sind ja in der Kiste mit den Schulbüchern.«
» … in die du nun wahrhaftig nicht reinsehen willst, bevor es nicht dringend nötig ist, was?« Paps grinste.
Ich grinste zurück.
»Versteh ich, mein Sohn, versteh ich. Guck dich erst mal um. Kundschafte mal das Dorf aus, lern ein paar Kids kennen. Das ist jetzt viel wichtiger!« Er schleuderte eine Scheibe Wurst wie eine Wurfscheibe auf die Wiese, und Fiete schoss hinterher, wobei seine Füße auf den glatten Terrassenfliesen erst ein paar Mal im Leerlauf herumscharrten. »Hach!«, jauchzte Paps. »Was haben wir nur bis jetzt verpasst!«
Später, am Nachmittag dann, machte ich meine erste Tour in das Dorf. Unser Haus lag etwas abseits, und so war ich außer der Briefträgerin, die sich mit der ersten Post ganz freundlich bei uns vorgestellt hatte, niemandem begegnet. Ich stieg auf mein Rad und ließ mich zum Ortseingangsschild hinunterrollen. Buchscheid war kein hässliches Dorf, wirklich nicht. Es gab viele gemütlich aussehende Fachwerkhäuser. Manche nett restauriert, manche so oll und abgebröckelt, dass man kaum glauben konnte, dass da noch jemand drin wohnte. Dann war da ein Edeka-Laden, eine alte Kirche auf einer Anhöhe, umringt vom Friedhof, dessen alte Steinkreuze über die Grenzmauer hinausragten. Es gab eine Raiffeisenbank, einen kleinen Dorfplatz davor und eine Bushaltestelle. Alles war nett mit Blumen geschmückt, und auf der Straße herrschte sogar geschäftiges Treiben.
An der Bushaltestelle lümmelten ein paar Kids rum und rauchten. Ein paar Jungs und zwei Mädchen, alle so um die siebzehn, achtzehn. Sie beäugten mich skeptisch, als ich vorbeigeradelt kam. Ich guckte skeptisch zurück.
Weiter oben kam ich an einen Spielplatz gegenüber von einem alten Backsteinbau, in dem sicher der Kindergarten untergebracht war. Bunte Tierchen aus Papier waren von innen an die Scheibe gepappt. Und dann wäre ich fast gegen dieses Mädchen gefahren. Es stand mit einem Mal mitten auf der Straße und sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, als ich voll in die Bremsen trat.
»Heee!«, rief sie wütend. »Pass doch auf, du Idiot!«
»Ich bin vielleicht auf der Straße, weil ich mit dem Rad unterwegs bin! Und für so was wie dich ist doch der Bürgersteig da, oder?« Ich trat wieder in die Pedale und sah aus den Augenwinkeln, wie sie ihre Plastiktüte aufhob, die ihr aus der Hand gefallen war.
»Wo kommst du überhaupt her, du Penner?« Sie schob sich die langen braunen Haare aus dem vor Wut geröteten Gesicht.
»Werd ich dir grad erzählen!« Auch ich war wütend und hatte keinen Bock auf weitere Diskussionen. Ich fuhr weiter, und als ich mich umblickte, war sie schon längst wieder verschwunden.
Schöner Mist! Die erste Begegnung mit den Einheimischen war ‘ne echte Pleite. Wenn alle so pampig waren wie diese Tussi, dann konnte ich mich jetzt schon drauf freuen, dass ich irgendwann mit diesen Hinterwäldlern in die Schule gehen würde. Ich fluchte still vor mich hin, während ich durch ein großes Neubaugebiet fuhr und dann in einer großen Schleife das ganze Dorf umrundete und am Waldrand entlangfuhr.
Auf einer Anhöhe machte ich noch mal Halt und stieg vom Rad. Ich hockte mich am Straßenrand ins Gras und betrachtete das Dorf von oben. Es war klein und überschaubar, sah man mal von dem Neubaugebiet ab, das irgendwie nicht hierhin passte. Es sah aus wie ein wucherndes Geschwür.
Ich dachte an die Jungs in Köln. Was mochten die wohl jetzt machen? Ach ja, Mike war mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder nach Italien gefahren, Kalle war also auch alleine zu Hause. Das war natürlich nur ein schwacher Trost. Später radelte ich dann zu unserer neuen Behausung zurück.
»Und?«, fragte Mom, als ich missmutig das Rad in der Garage abstellte. Sie war gerade dabei, einen Wäschekorb mit Küchengeräten zu sortieren. »Schon Kontakt zu den Außerirdischen, Mister Spock?«
»Kann man wohl sagen. Kriegerische Klingonen. War’n Fehler, auf diesem Planeten zu landen, glaube ich.«
»Wird schon werden. Wo ist Fiete?«
»Fiete? Weiß nicht. Vielleicht ist er als Erster nach Köln zurückgereist. Im Dorf ist eine Bushaltestelle.«
Mom sah mich strafend an.
»War nur ein Spaß. Im Haus vielleicht?«
»Nein, wir dachten, er ist mit dir unterwegs.«
»Nö.« Ich öffnete die Tür zu unserem Auto. Paps hatte immer ein paar Schokoriegel im Handschuhfach. Ich griff mir einen und biss hinein. »Der muss weg«, sagte ich erklärend. »Sonst schmilzen sie in der Hitze.«
»Ja, wo kann der Hund denn nur hin sein?« Mom erhob sich aus der Hocke, reckte sich und presste die Hände ins Kreuz. Sie sah ein bisschen besorgt aus.
»Ich geh mal gucken«, murmelte ich zwischen zwei Bissen, verließ die Garage und schlenderte ums Haus.
Unser Garten grenzte also, wie gesagt, an eine Kuhweide, die bis zum Waldrand reichte. Ich stellte mich in Positur, legte die Hände trichterförmig an den Mund, rief ein paar Mal laut »Fiete!« in alle Himmelsrichtungen, und als das Riesenbaby nicht auftauchte, war mir klar: Der Hund hatte nicht gewartet, bis Paps sein Versprechen einlösen würde, und hatte sich auf eigene Faust auf die Suche nach ein paar möhrenverzehrenden Hopplern gemacht. Also bummelte ich durch das hohe Gras zum Wald hinüber, pfiff hin und wieder unseren Familienpfiff, mit dem Paps uns immer im Gewühl der Fußgängerzone Kölns wieder um sich scharte, und blieb ab und zu stehen, um das Gelände zu sondieren.
Vom Waldrand wehte ein laues Sommerlüftchen einen warmen, erdigen Duft herüber. Roch gut, so ein Wald. Ich erreichte die ersten Bäume und reckte den Kopf nach oben. Wenn mich meine Biologiekenntnisse nicht völlig im Stich ließen, waren das riesige Fichten, in deren Schatten ich jetzt hineinstapfte. Der dicht mit Nadeln bedeckte Waldboden schluckte jedes Geräusch meiner Schritte.
»Fiete!!!« Kein Mucks von dem ausgebüxten alten Zottelohr. Hier im Schatten der Bäume war es angenehm kühl. Alles war wild und verwachsen. Gestrüpp wucherte über die lichten Stellen zwischen den Bäumen. Ab und an sah ich den schief in der Luft hängenden Stamm eines der alten Riesen, dem der Sturm den Garaus gemacht und abgeknickt hatte. Irgendwo krächzte ein Vogel. Vermutlich warnte er seine Kollegen vor mir, dem Eindringling in ihr Territorium. Das gefiel mir. Ich kam mir vor wie Captain Kirk bei seinem ersten Besuch auf einem fremden Planeten. Ich blickte zurück, aber die Wiese und unser Haus waren schon längst nicht mehr zu sehen. Der Wald hatte sich hinter mir geschlossen. Zielstrebig ging ich voran und pfiff wieder ein paar Mal. Es schallte ein bisschen unheimlich zurück.
Da hörte ich plötzlich weiter vorne ein unterdrücktes Bellen. Nur ganz kurz. Klang das jetzt fröhlich oder ängstlich? War Fiete vielleicht was passiert? Ganz unvermittelt stolperte ich aus den Baumreihen auf eine Straße, die durch den Wald führte. Na ja, eigentlich eher ein Feldweg. Ich versuchte kurz, mich zu orientieren und herauszufinden, woher das Bellen gekommen war. Dann schlug ich den Weg nach rechts ein und blieb auf dem Weg, der sich durch den Wald schlängelte. Ich sah Reifenspuren im hart verkrusteten Dreck am Wegesrand. Vermutlich gurkte hier immer ein dicker Oberförster herum.