Karin Slaughter
Letzte Worte
Thriller
Deutsch von Klaus Berr
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Broken«
bei Delacorte Press, an imprint of The Random House Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York.
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Copyright © der Originalausgabe 2010 by Karin Slaughter
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-08377-9
V004
www.blanvalet.de
Für Victoria
Prolog
Allison Spooner wollte in den Ferien aus der Stadt raus, aber sie wusste nicht, wohin sie fahren sollte. Es gab auch keinen Grund hierzubleiben, aber wenigstens war es billiger. Wenigstens hatte sie ein Dach über dem Kopf. Wenigstens funktionierte in ihrer Wohnung hin und wieder die Heizung. Wenigstens bekam sie in der Arbeit eine warme Mahlzeit. Wenigstens, wenigstens, wenigstens … Warum ging es in ihrem Leben immer um das Wenigste? Wann würde mal eine Zeit kommen, da es anfing, um das Meiste zu gehen?
Der Wind wurde stärker, und sie ballte in den Taschen ihrer dünnen Jacke die Fäuste. Es regnete kaum, es war eher ein feuchtkalter Dunst, der sich auf den Boden senkte, wie vor der Nase eines Hundes. Die eisige Kälte, die vom Lake Grant kam, machte es noch schlimmer. Sooft der Wind auffrischte, kam es ihr vor, als würden winzige, stumpfe Rasierklingen ihr die Haut ritzen. Eigentlich war man hier in South Georgia, nicht am verdammten Nordpol.
Während sie auf dem baumbestandenen Ufer nach sicherem Tritt suchte, kam es ihr vor, als würde jede Welle, die am Schlamm leckte, die Temperatur um ein weiteres Grad absenken. Sie fragte sich, ob ihre leichten Schuhe stabil genug waren, um Frostbeulen an ihren Zehen zu verhindern. Im Fernsehen hatte sie einen Mann gesehen, der alle Finger und Zehen an die Kälte verloren hatte. Er hatte gesagt, er sei dankbar, überhaupt noch am Leben zu sein, aber die Leute sagten doch alles, nur um ins Fernsehen zu kommen. So wie Allisons Leben im Augenblick lief, würde die einzige Sendung, in die sie es je schaffen würde, die Abendnachrichten sein. Man würde ein Foto zeigen – wahrscheinlich das grässliche aus ihrem Highschool-Jahrbuch – und daneben die Wörter »Tragischer Tod«.
Allison erkannte durchaus die Ironie der Tatsache, dass sie für die Welt tot wichtiger wäre. Lebend scherte sich niemand einen Dreck um sie – die wenigen Dollar, die sie gerade noch so zusammenkratzen konnte, der beständige Kampf, im Studium mitzukommen und zugleich all die anderen Verantwortlichkeiten in ihrem Leben zu bewältigen. Nichts davon würde für irgendjemanden von Bedeutung sein, außer sie landete erfroren am Seeufer.
Wieder frischte der Wind auf. Allison drehte der Kälte den Rücken zu, spürte, wie ihre eisigen Finger ihr in den Brustkorb stachen, auf die Lunge drückten. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Ihr Atem stand als Wolke vor ihr. Sie schloss die Augen. Der Sprechgesang ihrer Probleme drang zwischen ihren klappernden Zähnen hervor.
Jason. Uni. Geld. Auto. Jason. Uni. Geld. Auto.
Das Mantra durchbrach den kalten Wind. Allison öffnete die Augen. Sie schaute sich um. Die Sonne ging schneller unter, als sie gedacht hatte. Sie drehte sich zum College um. Sollte sie zurückgehen? Oder sollte sie weitergehen?
Sie entschloss sich weiterzugehen und zog den Kopf gegen den heulenden Wind ein.
Jason. Uni. Geld. Auto.
Jason. Ihr Freund hatte sich, scheinbar über Nacht, in ein Arschloch verwandelt.
Uni. Sie würde vom College fliegen, wenn sie nicht mehr Zeit zum Studieren fände.
Geld. Sie würde sich kaum das Leben sichern, geschweige denn zur Uni gehen können, wenn sie ihre Arbeitsstunden noch weiter reduzierte.
Auto. Als sie es heute Morgen anließ, hatte es angefangen zu qualmen, was keine große Sache war, weil es seit Monaten qualmte, aber diesmal war der Rauch durch die Lüftungsschlitze ins Innere gedrungen. Auf der Fahrt zum College wäre sie beinahe erstickt.
Allison stapfte weiter und fügte ihrer Liste »Frostbeulen« hinzu, während sie um die Biegung des Sees ging. Wenn immer sie blinzelte, hatte sie das Gefühl, ihre Lider würden durch eine dünne Eisschicht schneiden.
Jason. Uni. Geld. Auto. Frostbeulen.
Die Angst vor Frostbeulen schien am drängendsten zu sein, obwohl sie widerwillig zugeben musste, dass ihr, je mehr sie darüber nachdachte, umso wärmer wurde. Vielleicht schlug ihr Herz schneller, oder sie ging schneller, als die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand und sie erkannte, dass ihr Jammern über den Tod in der Kälte Wirklichkeit werden würde, wenn sie sich, verdammt noch mal, nicht beeilte.
Allison stützte sich mit einer Hand an einem Baum ab, um ein Gewirr von Wurzeln zu überqueren, die im Wasser verschwanden. Die Rinde war feucht und fühlte sich unter ihren Fingerspitzen schwammig an. Ein Gast hatte heute Mittag einen Hamburger zurückgehen lassen, weil er meinte, das Brötchen sei zu schwammig. Es war ein kräftiger, schroffer Mann in voller Jagdausrüstung gewesen, von dem sie nie erwartet hätte, dass er ein Wort wie »schwammig« überhaupt in den Mund nehmen würde. Er hatte mit ihr geflirtet, und sie hatte zurückgeflirtet, und als er ging, gab er ihr bei seiner Rechnung von zehn Dollar ein Trinkgeld von fünfzig Cent. Er hatte ihr tatsächlich zugezwinkert, als er zur Tür hinausging, so als hätte er ihr einen Gefallen getan.
Was für ein Leben wollte Allison für sich? Ein Leben, wie es in ihrem Blut geschrieben stand. Ihre Mutter hatte so eines gelebt. Ihre Großmutter hatte es gelebt. Ihre Tante Sheila hatte es gelebt, bis sie eine Schrotflinte auf ihren Onkel Boyd richtete und ihm damit beinahe den Kopf abgeschossen hätte. Alle drei Spooner-Frauen hatten an dem einen oder dem anderen Punkt alles für einen wertlosen Mann weggeworfen.
Allison hatte es bei ihrer Mutter so oft miterlebt, dass sie zu der Zeit, als Judy Spooner zum letzten Mal im Krankenhaus war, ihr ganzes Inneres zerfressen vom Krebs, über nichts anderes mehr nachdenken konnte als über die Verwüstungen im Leben ihrer Mutter. Sie sah sogar verwüstet aus. Sie war erst achtunddreißig Jahre alt, doch ihre Haare wurden bereits schütter und grau. Ihre Haut war stumpf. Ihre Hände waren wie Klauen nach den Jahren der Arbeit in der Reifenfabrik – die Reifen vom Band nehmen, den Druck prüfen und sie wieder aufs Band legen, dann den nächsten Reifen und den nächsten und den nächsten, zweihundert pro Tag, bis jedes Gelenk in ihrem Körper schmerzte, wenn sie abends ins Bett kroch. Achtunddreißig Jahre alt, und der Krebs war ihr willkommen. Die Erlösung war ihr willkommen.
Das waren so ziemlich die letzten Worte, die Judy zu Allison gesagt hatte, dass sie froh sei zu sterben, froh, dass sie nicht mehr allein sein müsse. Judy Spooner glaubte an den Himmel und die Erlösung. Sie glaubte, dass eines Tages goldene Straßen und prächtige Häuser die Kieseinfahrt und den Wohnwagen im Trailer-Park ihres irdischen Lebens ersetzen würden. Allison glaubte nur, dass sie ihrer Mutter nie genug gewesen war. Judys Glas war immer halb leer, und all die Liebe, die Allison im Lauf der Jahre in ihre Mutter gegossen hatte, hatte sie nie ganz ausgefüllt.
Judy war viel zu tief im Dreck versunken gewesen. Der Dreck eines aussichtlosen Jobs. Der Dreck eines wertlosen Mannes nach dem anderen. Der Dreck eines Babys, das sie daran hinderte weiterzukommen.
Das College sollte Allisons Rettung sein. Sie war gut in den wissenschaftlichen Fächern. Wenn man ihre Familie betrachtete, schien das unverständlich, aber irgendwie begriff sie, wie Chemikalien funktionierten. Sie verstand die Grundlagen der Synthese von Makromolekülen. Die Kenntnis der synthetischen Polymere flog ihr praktisch zu. Und das Wichtigste: Sie konnte lernen. Sie wusste, dass es irgendwo auf der Welt ein Buch mit einer Antwort darin gab, und der beste Weg, diese Antwort zu finden, war, jedes Buch zu lesen, das sie in die Finger bekam.
Im Abschlussjahr der Highschool hatte sie es geschafft, sich von den Jungs und der Sauferei und dem Meth fernzuhalten, die Dinge, die so ziemlich jedes Mädchen ihres Alters in ihrer kleinen Heimatstadt Elba, Alabama, ruiniert hatten. Sie wollte nicht enden wie eines dieser seelenlosen, ausgelaugten Mädchen, die Nachtschicht arbeiteten und Kools rauchten, weil sie elegant aussehen wollten. Sie wollte nicht enden mit drei Kindern von drei verschiedenen Männern, bevor sie überhaupt dreißig Jahre alt wurde. Sie wollte nicht jeden Morgen aufwachen und die Augen nicht öffnen können, weil irgendein Mann sie in der Nacht zuvor verprügelt hatte. Sie wollte nicht tot und allein in einem Krankenhausbett enden wie ihre Mutter.
Zumindest hatte sie sich das so vorgestellt, als sie Elba vor drei Jahren verließ. Mr Mayweather, ihr Naturwissenschaftslehrer, hatte alle Fäden gezogen, die er konnte, damit sie in einem guten College aufgenommen wurde. Er wollte, dass sie so weit wie möglich wegging von Elba. Er wollte, dass sie eine Zukunft hatte.
Grant Tech befand sich in Georgia, und es war, was die Entfernung anging, nicht so weit weg, wie es gefühlsmäßig weit weg war. Das College war riesig im Vergleich zu ihrer Highschool, die eine Abschlussklasse von neunundzwanzig Schülern hatte.
Allison hatte die erste Woche auf dem Campus mit der Frage zugebracht, wie es möglich war, sich in einen Ort zu verlieben. Ihre Klassen waren voll mit Jugendlichen, die mit einer Vielzahl von Möglichkeiten aufgewachsen waren und keinen Gedanken daran verschwendet hatten, nicht direkt nach der Highschool aufs College zu gehen. Keiner ihrer Kommilitonen kicherte höhnisch, wenn sie die Hand hob, um eine Frage zu beantworten. Sie glaubten nicht, man würde sich verkaufen, wenn man einem Lehrer tatsächlich zuhörte und versuchte, etwas anderes zu lernen, als sich künstliche Fingernägel aufzukleben und sich Haarverlängerungen einzuflechten.
Und die Umgebung des Colleges war hübsch. Elba war ein Elendsquartier, sogar fürs südliche Alabama. Heartsdale, die Stadt, in der die Grant Tech sich befand, fühlte sich an wie eine Stadt, die man sonst nur im Fernsehen sah. Jeder pflegte seinen Garten. Im Frühling säumten Blumen die High Street. Völlig Fremde winkten einem zu, ein Lächeln auf dem Gesicht. Und in dem Diner, in dem sie arbeitete, waren die Stammgäste freundlich, auch wenn sie wenig Trinkgeld gaben. Die Stadt war nicht so groß, dass sie sich verloren vorkam. Leider war sie nicht groß genug, um Jason aus dem Weg zu gehen.
Jason.
Sie hatte ihn in ihrem Anfangsjahr kennengelernt. Er war zwei Jahre älter, erfahrener und weltgewandter. Seine Vorstellung eines romantischen Rendezvous beschränkte sich nicht auf einen Kinobesuch und eine schnelle Nummer in der letzten Reihe, bevor der Geschäftsführer einen hinauswarf. Er führte sie in richtige Restaurants mit Stoffservietten auf den Tischen. Er hielt ihre Hand. Er hörte ihr zu. Beim Sex verstand sie endlich, warum die Leute es »Liebe machen« nannten. Jason wollte nicht einfach nur etwas Besseres für sich selbst. Er wollte auch etwas Besseres für Allison. Sie glaubte, dass das, was sie miteinander hatten, eine ernsthafte Sache wäre; die letzten zwei Jahre ihres Lebens hatte sie damit verbracht, mit ihm etwas Gemeinsames aufzubauen. Und dann hatte er sich plötzlich in einen völlig anderen Menschen verwandelt. Plötzlich war alles, was an ihrer Beziehung so großartig gewesen war, der Grund, warum sie in die Brüche ging.
Und wie es auch bei ihrer Mutter gewesen war, hatte Jason es irgendwie geschafft, ihr die Schuld für alles in die Schuhe zu schieben. Sie sei kalt. Sie sei distanziert. Sie sei zu fordernd. Sie habe nie Zeit für ihn. Als wäre Jason ein Heiliger, der den ganzen Tag nur darüber nachdachte, was Allison glücklich machen könnte. Sie war nicht diejenige, die mit Freunden auf nächtelange Sauftouren ging. Sie war nicht diejenige, die sich im College mit merkwürdigen Leuten einließ. Sie war, verdammt noch mal, nicht diejenige, die sich von diesem Trottel aus der Stadt hatte einwickeln lassen. Wie konnte das Allisons Schuld sein, wenn sie diesem Kerl noch nie ins Gesicht gesehen hatte?
Allison zitterte wieder. Bei jedem Schritt, den sie an diesem verdammten See entlangging, kam es ihr vor, als würde das Ufer noch einmal hundert Meter länger werden, nur um ihr eins auszuwischen. Sie schaute hinunter auf die nasse Erde unter ihren Füßen. Seit Wochen stürmte es. Eine Sturzflut hatte Straßen weggespült, Bäume umgerissen. Mit schlechtem Wetter hatte Allison noch nie gut umgehen können. Die Dunkelheit nagte an ihr, zog sie nach unten. Sie machte sie launisch und weinerlich. Die ganze Zeit wollte sie nur schlafen, bis die Sonne wieder herauskam.
»Scheiße!«, zischte Allison, als sie ausrutschte und sich gerade noch fangen konnte. Ihre Hosenbeine waren schlammverklebt fast bis zu den Knien, die Schuhe so gut wie durchweicht. Sie schaute auf den aufgewühlten See hinaus. Der Regen hängte sich ihr an die Wimpern. Sie strich sich die Haare mit den Fingern zurück, während sie das dunkle Wasser anstarrte. Vielleicht sollte sie ausrutschen. Vielleicht sollte sie sich in den See fallen lassen. Wie würde es sein, sich selbst loszulassen? Wie würde es sich anfühlen, sich von der Unterströmung immer weiter in die Mitte des Sees ziehen zu lassen, wo sie keinen Boden mehr unter den Füßen hatte und sie keine Luft mehr bekam?
Es war nicht das erste Mal, dass sie darüber nachdachte. Wahrscheinlich war es das Wetter, der unaufhörliche Regen und der trübe Himmel. Im Regen wirkte alles noch viel deprimierender. Und einige Dinge waren deprimierender als andere. Letzten Donnerstag hatte die Zeitung einen Artikel über eine Mutter mit ihrem Kind gebracht, die zwei Meilen vor der Stadt in ihrem VW Käfer ertrunken waren. Kurz vor der Third Baptist Church überschwemmte eine Sturzflut die Straße und riss sie mit. Wegen des Designs der Karosserie konnte der alte Käfer schwimmen, und auch dieses neuere Modell war geschwommen. Zumindest am Anfang.
Die Mitglieder der Kirchengemeinde, die eben von ihrem wöchentlichen gemeinsamen Potluck-Abendessen kamen, bei dem jeder etwas mitbrachte und auf einen Tisch stellte, wussten nicht, was sie tun sollten, weil jeder Angst hatte, selbst von der Flut erfasst zu werden. Voller Entsetzen sahen die Leute zu, wie der Käfer sich auf der Oberfläche drehte und dann nach hinten kippte. Wasser strömte in den Innenraum. Mutter und Kind wurden von der Strömung mitgerissen. Die Frau, die von der Zeitung interviewt wurde, sagte, sie werde für den Rest ihres Lebens abends beim Einschlafen und morgens beim Aufwachen die Hand des kleinen Dreijährigen sehen, die immer wieder aus dem Wasser herausschnellte, bevor das arme Kind schließlich in die Tiefe gezogen wurde.
Auch Allison konnte nicht aufhören, an das Kind zu denken, obwohl sie in der Bibliothek gewesen war, als es passierte. Obwohl sie die Frau und das Kind und auch die Dame nicht kannte, die mit der Zeitung gesprochen hatte, sah sie, sooft sie die Augen schloss, immer diese kleine Hand aus dem Wasser herausragen. Manchmal wurde die Hand größer. Manchmal war es ihre Mutter, die die Hand hilfesuchend nach ihr ausstreckte. Manchmal wachte sie schreiend auf, weil die Hand sie in die Tiefe zog.
Wenn sie ehrlich war, musste sie sagen, dass ihr schon lange vor dem Zeitungsartikel dunkle Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Sie konnte nicht alles aufs Wetter schieben, doch mit Sicherheit hatten der ständige Regen und die unerbittlich graue Wolkendecke in ihrem Gemüt ihre ganz eigene Art der Verzweiflung heraufbeschworen. Um wie viel einfacher wäre es, wenn sie jetzt aufgäbe? Warum sollte sie nach Elba zurückkehren und zu einer zahnlosen, abgehärmten alten Frau mit achtzehn Kindern werden, da sie doch einfach in diesen See gehen und einmal ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen könnte?
Sie wurde so schnell wie ihre Mutter, dass sie beinahe spürte, wie ihre Haare ergrauten. Sie war genauso schlimm wie Judy – sie glaubte, sie wäre verliebt, obwohl der Kerl nur daran interessiert war, was sie zwischen ihren Beinen hatte. Ihre Tante Sheila hatte letzte Woche am Telefon so etwas in der Richtung gesagt. Allison hatte sich über Jason beklagt, weil sie sich wunderte, dass er ihre Anrufe nicht erwiderte.
Ein Zug an ihrer Zigarette, und dann beim Ausatmen: »Du klingst genau wie deine Mutter.«
Ein Messer in der Brust wäre schneller, sauberer gewesen. Das Schlimmste war, dass Sheila recht hatte. Allison liebte Jason. Sie liebte ihn viel zu sehr. Sie liebte ihn so, dass sie ihn zehnmal am Tag anrief, obwohl er nie abhob. Sie liebte ihn so sehr, dass sie alle zwei Minuten auf ihrem blöden Computer auf Empfangen klickte, nur um nachzusehen, ob er eine ihrer unzähligen E-Mails beantwortet hatte.
Sie liebte ihn so sehr, dass sie jetzt mitten in der Nacht hier draußen war und die Drecksarbeit erledigte, zu der er selbst nicht den Mut hatte.
Allison ging noch einen Schritt auf den See zu. Sie spürte, wie ihr Absatz zu rutschen anfing, aber der Selbsterhaltungstrieb ihres Körpers übernahm, bevor sie hinfiel. Dennoch leckte das Wasser an ihren Schuhen. Ihre Socken waren bereits durchnässt. Ihre Zehen waren mehr als taub, so kalt, dass ein scharfer Schmerz bis zum Knochen zu stechen schien. Würde es so sein – ein langsames, betäubendes Gleiten durch eine schmerzlose Röhre?
Sie hatte Angst vor dem Ersticken. Das war das Problem. Als Kind hatte sie das Meer geliebt, aber als sie dreizehn Jahre alt wurde, hatte sich das geändert. Ihr idiotischer Cousin Dillard hatte sie im örtlichen Schwimmbad unter Wasser gedrückt, und jetzt nahm sie nicht einmal mehr gerne Vollbäder, weil sie Angst hatte, Wasser in die Nase zu bekommen und in Panik zu geraten.
Wenn Dillard hier wäre, würde er sie wahrscheinlich in den See stoßen, ohne dass sie ihn darum bitten müsste. Als er sie damals das erste Mal unter Wasser hielt, hatte er nicht einen Funken Reue gezeigt. Allison hatte das Mittagessen wieder von sich gegeben. Ihr Körper hatte gebebt vor Schluchzen. Ihre Lunge hatte gebrannt, und er hatte nur »Ha-ha« gesagt wie ein alter Mann, der einen von hinten in den Arm zwickte, nur um einen aufkreischen zu hören.
Dillard war Sheilas Sohn, ihr einziges Kind, das noch enttäuschender für sie war als sein Vater, falls das überhaupt möglich war. Er schnüffelte so viel Lack, dass seine Nase immer eine andere Farbe hatte, wenn man ihn sah. Er rauchte Crystal. Er bestahl seine Mama. Als Letztes hatte Allison gehört, dass er im Gefängnis war, weil er versucht hatte, einen Schnapsladen mit einer Wasserpistole auszurauben. Als die Polizei kam, hatte ihm der Verkäufer bereits einen Baseballschläger über den Schädel gezogen. Als Folge davon war Dillard noch blöder als zuvor, aber eine gute Gelegenheit hätte er sich trotzdem nicht entgehen lassen. Er hätte Allison mit beiden Händen einen kräftigen Schubs gegeben, sodass sie kopfüber ins Wasser stürzte, während er sein kleines Lachen von sich gab: »Ha-ha.« Unterdessen hätte sie mit den Armen um sich geschlagen und vergeblich gegen das Ertrinken angekämpft.
Wie lange würde es dauern, bis sie ohnmächtig würde? Wie lange würde Allison in Todesangst leben müssen, bevor sie stürbe? Sie schloss wieder die Augen und versuchte, sich vorzustellen, wie das Wasser sie umgab, sie schluckte. Es wäre so kalt, dass es sich anfangs warm anfühlen würde. Ohne Luft konnte man nicht lange überleben. Man wurde ohnmächtig. Vielleicht überkam einen Panik, die eine Art hysterischer Ohnmacht zur Folge hatte. Oder vielleicht fühlte man sich sehr lebendig – euphorisiert vom Adrenalin, wie ein Eichhörnchen in einer Papiertüte.
Hinter sich hörte sie einen Ast knacken. Allison drehte sich überrascht um.
»O Gott!« Allison rutschte wieder aus, doch diesmal stürzte sie wirklich. Sie fuchtelte mit den Armen. Ein Knie gab nach. Der Schmerz raubte ihr den Atem. Mit dem Gesicht klatschte sie in den Schlamm. Eine Hand packte sie am Hinterkopf, zwang sie, unten zu bleiben. Allison atmete die bittere Kälte der Erde, den nassen, triefenden Dreck.
Instinktiv wehrte sie sich, kämpfte gegen das Wasser an und gegen die Panik, die ihr Gehirn überflutete. Sie spürte, wie ihr ein Knie ins Kreuz gerammt wurde und sie auf der Erde festnagelte. Ein brennender Schmerz schoss ihr ins Genick. Allison schmeckte Blut. Das war nicht sie. Sie wollte leben. Sie musste leben. Sie öffnete den Mund, um es aus Leibeskräften aus sich herauszuschreien.
Doch dann – Dunkelheit.
MONTAG
1. Kapitel
Zum Glück bedeutete das Winterwetter, dass die Leiche auf dem Grund des Sees gut erhalten sein würde, die Kälte am Ufer allerdings fuhr einem so in die Knochen, dass man Mühe hatte, sich zu erinnern, wie der August gewesen war. Die Sonne auf dem Gesicht. Der Schweiß, der einem den Rücken hinunterlief. Wie die Klimaanlage im Auto Nebel aus den Düsen blies, weil sie mit der Hitze nicht mehr mithalten konnte. Sosehr Lena sich auch zu erinnern versuchte, an diesem verregneten Novembermorgen wollten Gedanken an die Wärme einfach nicht kommen.
»Gefunden«, rief der Leiter des Tauchtrupps. Er dirigierte seine Männer vom Ufer aus, die Stimme gedämpft vom beständigen Rauschen des strömenden Regens. Als Lena die Hand hob, um zu winken, lief ihr Wasser in den Ärmel des dicken Parkas, den sie sich schnell übergeworfen hatte, als der Anruf sie um drei Uhr nachts erreichte. Es regnete nicht stark, aber unaufhörlich, trommelte beharrlich auf ihren Rücken, klatschte auf den Regenschirm, den sie auf der Schulter abstützte. Die Sicht betrug etwa zehn Meter. Alles dahinter war von einem dunstigen Nebel verhüllt. Sie schloss die Augen, dachte an ihr warmes Bett, den wärmeren Körper, der den ihren umschlungen hatte.
Das schrille Klingeln eines Telefons um drei Uhr in der Früh war nie ein gutes Geräusch, vor allem, wenn man Polizistin war. Mit pochendem Herzen war Lena aus dem Tiefschlaf aufgewacht, ihre Hand hatte automatisch nach dem Hörer gegriffen und ihn sich ans Ohr gedrückt. Sie war die ranghöchste Detective mit Rufbereitschaft, und deshalb musste sie ihrerseits überall in South Georgia andere Telefone klingeln lassen. Das ihres Vorgesetzten, das des Coroners, das der Feuerwehr und der Rettung, das des Georgia Bureau of Investigation, um die Agenten wissen zu lassen, dass man auf öffentlichem Grund eine Leiche gefunden hatte, das der Georgia Emergency Management Authority, der Behörde zur Koordinierung von Notfalleinsätzen, die eine Liste mit einsatzwilligen zivilen Freiwilligen führte, die bereit waren, auf kurzfristige Alarmierung hin nach einer Leiche zu suchen.
Nun waren sie alle hier am See versammelt, aber die Schlauen warteten in ihren Fahrzeugen, die Heizung auf höchste Stufe gestellt, während der kalte Wind die Karosserie schaukelte wie eine Kinderwiege. Dan Brock, der Besitzer des örtlichen Begräbnisinstituts, der auch als Coroner der Stadt fungierte, schlief in seinem Transporter, den Kopf an der Nackenlehne, den Mund weit offen. Sogar die Notfallsanitäter saßen geschützt in ihrem Krankenwagen. Lena sah ihre Gesichter durch die Fenster in den Hecktüren spähen. Hin und wieder wurde eine Hand herausgestreckt, eine Zigarette glühte im dämmrigen Morgenlicht.
Lena hatte eine Beweismitteltüte in der Hand. Sie enthielt einen Brief, den man in Ufernähe gefunden hatte. Das Papier war von einem größeren Blatt abgerissen worden – liniertes Papier, in etwa DIN-A 5. Die Wörter waren in Großbuchstaben geschrieben. Mit Kugelschreiber. Eine Zeile. Keine Unterschrift. Nicht der übliche gehässige oder klägliche Abschied, sondern klar und deutlich: ICH WILL ES VORBEI HABEN.
In vielerlei Hinsicht sind die Ermittlungen bei einem Selbstmord schwieriger als bei einem Mord. Bei einem Ermordeten gibt es immer jemanden, dem man die Schuld geben kann. Es gibt Spuren, die einem zum Täter führen können, ein klares Muster, das man darlegen kann, um der Familie zu erklären, warum ihnen die geliebte Person entrissen worden ist. Oder wenn schon nicht warum, dann wer der Mistkerl ist, der ihr Leben ruiniert hat.
Bei Selbstmorden ist das Opfer der Mörder. Die Person, auf der die Schuld lastet, ist auch die Person, deren Verlust am tiefsten empfunden wird. Sie ist nicht mehr da, um sich den Anschuldigungen wegen ihres Todes zu stellen, der natürlichen Wut, die jeder empfindet, wenn er einen Verlust erlitten hat. Was die Toten stattdessen hinterlassen, ist eine Leere, die all der Schmerz und der Kummer in der Welt nie werden füllen können. Mutter und Vater, Schwestern, Brüder, Freunde und andere Verwandte – alle stehen mit leeren Händen da und finden niemanden, den sie für ihren Verlust bestrafen können.
Und die Menschen wollen immer bestrafen, wenn ein Leben unerwartet genommen wird.
Das war der Grund, warum es hier Aufgabe der Ermittler war, dafür zu sorgen, dass jeder Zentimeter des Fundorts und des Schauplatzes des Todes penibel vermessen und aufgezeichnet wurde. Jede Zigarettenkippe, jeder Papierfetzen, jedes Stück weggeworfenen Mülls musste katalogisiert, auf Fingerabdrücke überprüft und für eine Analyse ins Labor geschickt werden. Im Anfangsbericht wurde auch das Wetter notiert. Die verschiedenen Beamten und das Notfallpersonal wurden in einer separaten Liste registriert. Falls Schaulustige vorhanden waren, wurden Fotos gemacht. Autokennzeichen wurden überprüft. Das Leben des Selbstmordopfers wurde so gründlich durchleuchtet wie das eines Mordopfers: Wer waren ihre Freunde? Wer waren ihre Liebhaber? Gab es einen Ehemann? Einen Freund? Eine Freundin? Gab es wütende Nachbarn oder neidische Arbeitskollegen?
Lena wusste nur, was sie bis jetzt gefunden hatten: ein Paar Frauensportschuhe in Größe 8, darunter der Abschiedsbrief. Im linken Schuh lag ein billiger Ring – zwölfkarätiges Gold mit einem leblosen Rubin in der Mitte. Der rechte Schuh enthielt eine weiße Swiss-Army-Armbanduhr mit falschen Diamanten anstelle der Ziffern. Unter diesem Schuh lag der zusammengefaltete Zettel.
ICH WILL ES VORBEI HABEN.
Kein großer Trost für die Hinterbliebenen.
Plötzlich stieß, Wasser aufspritzend, einer der Taucher durch die Seeoberfläche. Sein Partner tauchte neben ihm auf. Beide mussten gegen den Schlick auf dem Seegrund ankämpfen, um die Leiche aus dem kalten Wasser und in den kalten Regen zu zerren. Das tote Mädchen war klein und zierlich, was ihre Anstrengungen übertrieben wirken ließ, aber Lena sah schnell den Grund dafür. Eine schwere Kette war um ihre Taille gewickelt und mit einem leuchtend gelben Vorhängeschloss befestigt, das ihr wie eine Gürtelschnalle ziemlich tief vor dem Bauch hing. An der Kette waren zwei Waschbetonblöcke befestigt.
Manchmal erlebte man bei der Polizeiarbeit Wunder. Die Frau hatte offensichtlich sicherstellen wollen, dass sie es nicht mehr aus dem See herausschaffte. Ohne das Gewicht der Waschbetonblöcke hätte die Strömung die Leiche wahrscheinlich in die Mitte des Sees getrieben, was es so gut wie unmöglich gemacht hätte, sie zu finden.
Lake Grant war ein etwa dreizehnhundert Hektar großes, künstlich angelegtes Gewässer, das an einigen Stellen bis zu hundert Meter tief war. Unter der Oberfläche standen verlassene Häuser, kleine Hütten und Schuppen, wo früher Menschen gelebt hatten, bevor das Gebiet in ein Wasserreservoir umgewandelt wurde. Es gab dort unten Geschäfte und Kirchen und eine Baumwollspinnerei, die den Bürgerkrieg überlebt hatte, nur um während der Depression geschlossen zu werden. Das alles war ausgelöscht worden von dem herabstürzenden Wasser des Ochawahee River, damit das Grant County eine zuverlässige Stromquelle erhielt.
Der Großteil des Sees gehörte dem National Forest Service, deutlich über vierhundert Hektar, die um den See lagen wie eine Kapuze. Eine Seite grenzte an das Wohngebiet, wo die Wohlhabenderen lebten, die andere ans Grant Institute of Technology, einer kleinen, aber aufstrebenden staatlichen Universität mit fast fünftausend Studenten.
Sechzig Prozent des achtzig Meilen langen Seeufers gehörte der State Forestry Division. Die bei weitem beliebteste Stelle war diese hier, Lover’s Point, wie die Einheimischen sie nannten. Hier durften Camper ihre Zelte aufstellen. Teenager kamen hierher, um Partys zu feiern, und hinterließen oft leere Bierflaschen und benutzte Kondome. Hin und wieder gab es einen Anruf wegen eines Feuers, das irgendjemand hatte außer Kontrolle geraten lassen, und einmal war ein tollwütiger Bär gemeldet worden, der sich dann aber als altersschwacher Labrador erwies, der sich vom Lagerplatz seines Herrchens fortgeschlichen hatte.
Gelegentlich wurden hier auch Leichen gefunden. Einmal war ein Mädchen lebendig begraben worden. Mehrere Männer, Teenager, wie vorauszusehen gewesen war, waren ertrunken, als sie diverse Mutproben vollführten. Im letzten Sommer hatte ein Kind sich das Genick gebrochen, als es kopfüber in das flache Wasser der kleinen Bucht sprang.
Die beiden Taucher hielten inne und ließen das Wasser von ihren Anzügen tropfen, bevor sie ihre Arbeit wiederaufnahmen. Schließlich, nach zustimmendem Nicken von allen Umstehenden, wurde die junge Frau höher aufs Ufer gezogen. Die Waschbetonblöcke hinterließen tiefe Furchen in dem sandigen Boden. Es war halb sieben in der Früh, und der Mond schien zu blinzeln, als die Sonne langsam über den Horizont stieg. Die Türen des Krankenwagens gingen auf. Die Sanitäter fluchten über die bittere Kälte, als sie die Rollbahre herauszogen. Einer hatte einen Bolzenschneider über der Schulter. Er knallte mit der Hand auf die Motorhaube des Transporters des Coroner, und Dan Brock schreckte hoch und fuchtelte mit den Armen. Er schaute die Sanitäter streng an, blieb aber, wo er war. Lena konnte es ihm nicht verdenken, dass er keine Lust hatte, sich in den Regen zu stürzen. Das Opfer würde nirgendwo mehr hingehen außer in die Leichenhalle. Blinklichter und Sirenen waren hier nicht nötig.
Während Lena zu der Leiche lief, faltete sie die Beweismitteltüte mit dem Abschiedsbrief sorgfältig zusammen, steckte sie in ihre Parkatasche und zog einen Stift und ihr Spiralnotizbuch heraus. Den Regenschirm zwischen Hals und Schulter eingeklemmt, notierte sie sich Uhrzeit, Datum, Wetter, Anzahl der Sanitäter, Anzahl der Taucher und Anzahl der Fahrzeuge und Polizisten sowie eine kurze Beschreibung der Umgebung, wobei sie auch auf die ernst feierliche Stille der Szenerie und das völlige Fehlen von Schaulustigen einging – all die Details, die sie später genauso in ihren Bericht würde tippen müssen.
Das Opfer war ungefähr so groß wie Lena, etwa eins dreiundsechzig, aber viel zierlicher. Ihre Handgelenke waren zart wie Vogelknochen. Die Fingernägel waren unregelmäßig abgenagt. Sie hatte schwarze Haare und extrem weiße Haut. Vermutlich war sie Anfang zwanzig. Ihre geöffneten Augen waren matt wie Baumwolle. Der Mund war geschlossen. Die Lippen waren schartig, als hätte sie nervös darauf herumgekaut. Vielleicht hatte aber auch ein Fisch Hunger bekommen.
Ohne die Zugkraft des Wassers war die Leiche einfacher zu manövrieren, und so waren nur drei Sanitäter nötig, um sie auf die Rollbahre zu hieven. Schlick vom Seegrund bedeckte sie vom Kopf bis zu den Zehen. Wasser troff aus ihrer Kleidung – Bluejeans, ein schwarzes Fleece-Shirt, weiße Socken, keine Schuhe, eine offene, dunkelblaue Aufwärmjacke mit dem Nike-Logo auf der Vorderseite. Die Rollbahre schwankte, und ihr Kopf kippte von Lena weg.
Lena hörte auf zu schreiben. »Moment mal«, rief sie, weil sie spürte, dass hier irgendwas nicht stimmte. Sie steckte ihr Notizbuch in die Tasche und ging einen Schritt auf die Leiche zu. Im Nacken des Mädchens hatte sie etwas aufblitzen sehen – etwas Silbernes, vielleicht eine Halskette. Algen bedeckten Hals und Schultern des Mädchens wie ein Leichentuch. Mit der Spitze ihres Kugelschreibers schob Lena die glitschigen grünen Tentakel weg. Unter der Haut des Mädchens bewegte sich etwas, es kräuselte das Fleisch, wie der Regen die Wasseroberfläche kräuselte.
Auch den Tauchern fiel die Bewegung auf. Sie alle bückten sich, um genauer hinzusehen. Die Haut flatterte wie in einem Horrorfilm.
»Was zum …«
»O Gott!« Lena schrak zurück, als eine kleine Elritze aus einem Schlitz im Hals des Mädchens glitt.
Die Taucher lachten, wie Männer eben lachen, die nicht zugeben wollen, dass sie sich fast in die Hose gemacht hätten. Lena dagegen legte sich die Hand aufs Herz und hoffte, dass niemand mitbekommen hatte, wie ihr das Herz beinah aus der Brust gesprungen wäre. Sie atmete tief durch. Die Elritze zappelte im Schlamm. Einer der Männer hob sie auf und warf sie wieder in den Fluss. Der Leiter des Tauchtrupps riss den unvermeidlichen Witz, dass etwas hier fischig sei.
Lena warf ihm einen strengen Blick zu, bevor sie sich über die Leiche beugte. Der Schlitz, aus dem der Fisch gekommen war, befand sich im Nacken, knapp rechts neben der Wirbelsäule. Sie schätzte, dass die Wunde maximal zweieinhalb Zentimeter breit war. Das geöffnete Fleisch war im Wasser geschrumpelt, doch vor einiger Zeit musste die Verletzung sauber und präzise gewesen sein – ein Schnitt, wie er von einem sehr scharfen Messer verursacht wurde.
»Jemand muss Brock wecken«, sagte sie.
Jetzt war es plötzlich keine Selbstmordermittlung mehr.