HENNING RITTER
Die Wiederkehr der Wunderkammer
Über Kunst und Künstler
Hanser Berlin
Der Verlag dankt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass sie freundlicherweise das Verzeichnis der Erstveröffentlichungen erstellte.
ISBN 978-3-446-24585-3
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2014
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung des Bildes »Portrait allégorique de Vivant Denon« von Benjamin Zix © bpk | RMN - Grand Palais | Paris, Musée du Louvre, D.A.G. | Thierry Le Mage
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Inhalt
I
Abenteuer des Auges unter der Milchstraße
Adam Elsheimer
Der ungemalte Atlas
Peter Paul Rubens
Leidenschaft für das Seltene und Kuriose Der Illustrator und Sammler Albertus Seba
Das Ende des alten Sammelns Von der Wunderkammer zum Museum
Geisterbeschwörung des glücklichen Frankreich Augustin Pajou
II
Licht, vom Schatten verzehrt
Europa 1789
Die Unfehlbarkeit des Künstlers
Jacques-Louis David
Der Blick ein Blitz, das Wort ein Wetter Johann Heinrich Füßli
Der Mensch lebt, indem er stürzt
Francisco de Goya
III
Pasticcio von Formen und Stilen
John Soane
Die Erfindung der Alten Meister
Wege zum Museum
Das ästhetische Alphabet
Die Berliner Museumsinsel
Grenzenloses Sammeln
Ist die Museumsinsel ein Universalmuseum?
General der Bilder
Wilhelm von Bodes Vermächtnis
Berliner Museumskrieg
Ludwig Justis Erinnerungen
Als wär’s ein Stück von uns Das wiedereröffnete Bode-Museum
IV
Kreuzzug gegen die Herrschaft des Papiers Gottfried Semper
Die Gegenwart als Tatort Honoré Daumier und Gustave Doré
Don Quichote der Moderne
Honoré Daumier
Das Handwerk des Sehens
Eugène Fromentin
Die Innenseite des Außenseiters
Adolph Menzel
Die Phantasie braucht keine Stütze
Odilon Redon
Bildermann und Büchernarr
Das Ende einer Künstlerlegende: Vincent van Gogh
V
Der Blick des Sammlers
Georges Salles
Verspielte Möglichkeiten
Die Wiederkehr des Wunderbaren
Die neue Wunderkammer
Notiz zur Bildwissenschaft
Die Liebe der Massen zur Kunst
Christos Triumph
Literatur
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Die Wiederkehr der Wunderkammer
I
ABENTEUER DES AUGES
UNTER DER MILCHSTRASSE
(Adam Elsheimer)
Eine Ausstellung wie diese haben wir lange nicht gesehen und werden wohl kaum etwas Vergleichbares wiedersehen: Das Städel zeigt das Gesamtwerk – nur zwei von vierzig Werken fehlen – eines der Großen seiner Epoche und der europäischen Malerei insgesamt. Die unvergleichlichen, von den produktivsten Künstlern seiner Zeit, wie Rubens, hochgeschätzten Bilderfindungen Adam Elsheimers, der, mit Goethe und den Rothschilds, zu den bedeutendsten Söhnen Frankfurts zählt – und doch in seiner Vaterstadt fast ein Unbekannter ist, obwohl die Bemühungen des Städel um sein Werk, in Sammlung und Forschung, sich sehen lassen können. Hier entstand die erste moderne Elsheimer-Monographie, hier wurden in jahrzehntelanger Detektivarbeit die Einzelbilder des sogenannten Frankfurter Kreuzaltars aufgefunden und wieder zusammengesetzt, hier hat die internationale Elsheimer-Forschung ihr Zentrum.
Daß der Maler die höchsten Sprossen des Nachruhms nicht erklommen hat, dafür mag die Kürze seines Lebens verantwortlich sein – er starb 1610 in Rom, nur zweiunddreißig Jahre alt, nachdem er in der Kunsthauptstadt Europas gerade einmal zehn Jahre lang gearbeitet hatte –, aber auch die Art seiner Produktion, kleinformatige, auf Kupfer gemalte Bilder, die durch ihre ikonographischen, kompositorischen und maltechnischen Erfindungen in Künstlerkreisen beachtet wurden, aber nicht die Aufmerksamkeit der reichen Auftraggeber fanden. Keith Andrews, der führende Elsheimer-Forscher, meinte, er sei »anscheinend von nervöser, melancholischer und neurotischer Anlage gewesen«. Elsheimers Selbstporträt in der Ausstellung könnte dazu verleiten, noch dunklere Farben zu wählen. Auch starb er in der falschen Epoche, als daß die bittere Armut seinem Nachruhm hätte Auftrieb geben können: Das neunzehnte Jahrhundert hätte aus alldem eine Künstlerlegende gewoben.
Das Risiko von Ausstellungen eines Gesamtwerks ist es, daß die Nähe der Bilder zueinander die Zäsuren und Unebenheiten der Werkgeschichte vertieft: Bei Elsheimer tritt nichts davon ein, im Gegenteil, das im Gedächtnis ohnehin schon konzentrierte Œuvre gewinnt noch einmal an Dichte und Konsequenz. Sogar die paar Bilder des Frankfurter Frühwerks, entstanden in der künstlerisch kargen Umgebung des lebhaften Wirtschaftszentrums, rücken näher an die Werke der römischen Zeit heran. Elsheimers Bildform wirkt schon fertig, ehe er mit der Kunst Venedigs und Roms in Berührung kam. Schon sein erstes nachweisbares Bild, »Die Hexe«, von Dürer inspiriert und noch altdeutsch getönt, steht nicht nur auf der Höhe der damals in der ersten Dürer-Renaissance als Ausweg aus dem Manierismus wiederbelebten deutschen Malereitradition, sondern scheint sofort im Gespräch mit der zeitgenössischen Malerei zu sein. Elsheimer, der im graphischen Gewerbe gelernt hatte, hatte hier offenbar die Lingua franca der internationalen Bildsprache gelernt.
Die Vertrautheit mit ihr erklärt wohl auch die Entscheidung für sein Bildformat, die er damals schon traf und bis zum Ende beibehielt: Es ist das Format großer graphischer Blätter. Sein letztes Bild, die berühmte Münchener »Flucht nach Ägypten« unter dem Sternenhimmel, an dem zum ersten Mal überhaupt die Milchstraße zu sehen ist, hat das Format von vierzig mal dreißig Zentimetern und gehört damit zu den größeren Bildern. Das Elsheimer-Format ist nicht nur eine Anlehnung an Druckgraphik, in die viele seiner Bilder übertragen wurden, um so in Europa in Umlauf gebracht zu werden, sondern es ist von ihm zu einem genuin malerischen Ausdrucksmittel gemacht worden. Denn seine kleinen Bilder nehmen es in Sujet und Ausführung mit jedem Gemälde auf. In ihren Mitteln der Graphik so fern wie nur irgend denkbar, sind sie preziöse Gefäße für alles, was die Malerei in großem Format nur bieten mag.
Die Detailverliebtheit Elsheimers wird gerühmt, auch der Titel der Ausstellung hebt sie hervor, man rühmt einen Miniaturisten, der sich ins Kleinste hineinarbeitet und hier ein Maximum an Genauigkeit erstrebt, aber man übersieht dabei, daß nahezu alle seine Bilder groß, ja monumental komponiert sind, so daß sie in einer vielfachen Vergrößerung sofort ihre innere Monumentalität beweisen würden. Elsheimers Malerei ist eine große im kleinen. Er hat eine Verkleinerungstechnik entwickelt, die einen Zuwachs an Intensität und Dichte erzeugt: eine Magie des Bildes.
Die Bühne seiner Bilder, auf der sich Heiligenlegenden, mythologische Erzählungen und Ansichten der Natur ausbreiten, ist die Bühne der Welt. Neigt sich der Betrachter zu den kleinen Bildern, dann glaubt er in eine Welt einzutauchen, deren Tiefe und Weite nicht zu ermessen sind. Daß es Elsheimer gelingt, in seinen Bildern immer wieder Anleihen bei den Meistern der großen Formate zu machen, bei Michelangelo, Tintoretto, Caravaggio, ist der beste Beweis für das innere Format seiner Malerei.
Eine der Neuerungen, die ihn in Künstlerkreisen berühmt machten, ist die Beleuchtungstechnik seiner Bildräume. Elsheimer arbeitet vorzugsweise mit mehreren unabhängigen Lichtquellen, die die Bildzonen ausleuchten und gegeneinander deutlich absetzen. Die ihrerseits von Lichträndern eingefaßten Figuren, das von innen leuchtende Braun, Grün und Blau der Figuren und der Landschaft erzeugen eine Raum- und Farbmagie, die unwillkürlich an ein geheimnisvolles Naturtheater denken läßt. Es geht um äußerste Verdichtung, um Intensität als Erfahrungsmodus.
Die großen Erzählungen der Malerei der Zeit erfahren bei Elsheimer eine Übersetzung in letzte Formulierungen. Es sind Bildforschungen, die zweifellos auch mit einem wissenschaftlichen Temperament des Künstlers zusammenhängen, der in die berühmte »Academia dei Lincei« aufgenommen wurde. In seiner »Flucht nach Ägypten« mit der Aufzeichnung der Milchstraße, ein Jahr bevor Galilei seine mit dem Teleskop durchgeführten Mondbeobachtungen veröffentlichte, hat Elsheimer seinen astronomischen Forschungen, für die er wohl auch ein Teleskop benutzte, ein bedeutendes Denkmal gesetzt. Auch wenn es, wie man festgestellt hat, nicht der Sternenhimmel eines bestimmten Tages ist, ist doch alles beobachtet – auf dem höchsten Niveau, das zu seiner Zeit möglich war.
Elsheimers Landschaften, deren mythologische Anlässe er immer mehr versteckt, in den Wäldern und Büschen verschwinden läßt, seine Waldstimmungen und sonnenüberglänzten Ausblicke, die die Ideallandschaften eines Lorrain oder Poussin im kleinen antizipieren, sind charakteristischerweise nicht so sehr Aufnahmen der Natur, wie sie seinem naturkundlichen Interesse durchaus naheliegen würden, sondern lassen an einen Begriff denken, den erst zweihundert Jahre später die Romantik prägte: die »Erdlebenskunst« (Carl Gustav Carus). Das malerische Protokoll über die Milchstraße ist alles andere als eine Kränkung des Menschen, wie man es über die neue Astronomie behauptet hat, es ist vielmehr die Entdeckung der Eigenwelt des Menschen, der von eigenem Licht erfüllten Zufluchtsräume, in die sich die Flüchtlinge aus Ägypten bergen.
In den liebenswertesten Bildern Elsheimers, den drei Fassungen der Erzählung von Tobias und dem Engel, spricht die Landschaft tröstend mit. Ihr Thema ist aber ein ganz humanistisches: die Erleichterung nach der Rettung aus der Gefahr. Um diesen Augenblick, in dem der Engel die Hand auf die Schulter des kleinen Tobias legt, ihn in die Welt zurückgeleitet, geht es: um den von Sorge befreiten Augenblick, den kostbaren Augenblick des Aufatmens und der zurückgekehrten Zuversicht. Wir können uns Adam Elsheimer als Leser Montaignes vorstellen, der die biblischen und antiken Erzählungen nach Momenten durchforscht, in denen eine Menschheitserfahrung aufscheint. Seine Bilder sind Trostworte jenes Humanismus, zu dem sich auch Rubens bekannte, der Freund Elsheimers, der manche seiner Bildmotive studiert und gezeichnet hat.
DER UNGEMALTE ATLAS
(Peter Paul Rubens)
Allmählich mausert sich das Jahr 2004 zu einem Rubens-Jahr: Nach Antwerpen, Lille, Genua, Kassel und Braunschweig zeigt jetzt auch die Wiener Albertina, ohne jeden Jubiläumsanlaß, eine bedeutende Ausstellung von Ölskizzen, Zeichnungen und einigen wenigen Gemälden des Malers, darunter eines seiner rätselhaft schönsten, den Madrider »Liebesgarten«. Bei dieser Ausstellung handelt es sich um eine Art Generalprobe oder Voraufführung der mit großer Spannung erwarteten Schau von Rubens-Zeichnungen, die für das kommende Frühjahr im Metropolitan Museum in New York angekündigt ist. In Wien hat man den New Yorker Kernbestand durch Ölskizzen und Zeichnungen aus den reichen eigenen Beständen ergänzt. Daß die Rubens-Ausstellungen dieses Jahres unabhängig voneinander und ohne Überschneidungen oder gegenseitige Beschränkungen zustande kommen konnten, ist ein unbeabsichtigter Beweis nicht nur für den unerschöpflichen Reichtum des Œuvre des großen Barockmalers, sondern auch für die vielen Etagen seiner Produktion und seiner künstlerischen Existenz. Wenn in der Albertina die Ölskizzen und Zeichnungen in den Mittelpunkt gerückt werden, so erweist sich diese gewagte Mischung und Konfrontation, die nur hier gezeigt wird, nicht aber in New York, als ein überraschender Glücksgriff. Die eigenen Bestände der Albertina haben dazu verlockt, einen Einblick in Rubens’ Produktionsweise zu geben, wie ihn auch die Forschung bisher kaum gewährte. Der Besucher der Ausstellung, der an den Gruppen von Gemälden, Ölskizzen und Zeichnungen entlangwandert, meint am Arbeitsprozeß des Künstlers teilzunehmen, wovon sein größter Bewunderer im neunzehnten Jahrhundert, der Maler, Schriftsteller und Kritiker Eugène Fromentin, geträumt hat.
Rubens wurde schon zu Lebzeiten als Künstler-Unternehmer bewundert, seine Werkstatt war in ganz Europa berühmt. Aber es ist nicht etwa der Organisator der großen Gemäldeprojekte, der in der Wiener Ausstellung Profil gewinnt. Der Besucher erhält vielmehr Einblick in den persönlichen Bereich dieses Großbetriebes. Das meiste von dem, was die Ausstellung ausbreitet, entstand außerhalb der Werkstatt und nur zu einem Teil für sie. Seit Rubens’ Tod, als seine riesige Sammlung eigener Zeichnungen ans Licht kam, weiß man, daß er seine Zeichnungen für sich selbst gesammelt und sorgfältig verwahrt hatte, ohne seiner Umgebung Einblick in diese intimsten Produktionen zu geben. Und auch die Ölskizzen, die sich seiner legendären malerischen Schnellschrift verdankten, dienten zuerst der eigenen Verständigung über geplante Werke und erst später der Unterrichtung der Auftraggeber und der Werkstatt.
Der Arbeitsprozeß bestand, wie im Katalog minutiös dargelegt wird, aus mehreren Stufen: aus gezeichneten Entwürfen, monochromen Skizzen, farbigen Ölskizzen und Zeichnungen als Minimum. In Wien wird besonders das Verhältnis von Ölskizze und Zeichnung dokumentiert. Einen größeren Abstand scheint es nicht zu geben als den zwischen den kleinformatigen Ölskizzen, in denen große und figurenreiche Kompositionen mit einer erstaunlichen Fülle von Details entworfen werden, und den Zeichnungen, die meist ein einzelnes Motiv vergrößern, um als Vorgabe für die Ausführung im Gemälde oder im Stich zu dienen.
Das Wunder ist aber, daß die Zeichnungen keineswegs in das Joch dieser Funktion eingepaßt sind, sondern als selbständige Werke erscheinen und sich in der Kraft der Formulierung mit den Gemälden messen können, ja sie durch größere Bedeutungsspielräume sogar übertreffen. So zeichnet Rubens in den Vorarbeiten zur großen Antwerpener Kreuzaufrichtung die Halbfigur des Gekreuzigten als einen triumphierenden Jüngling. Dieser von Rubens zeichnend erfundene Typus, dessen Silhouette ganz dem Gekreuzigten auf seiner Altartafel entspricht, ist eine »Vorratserfindung«, die er so wohl in keinem seiner Werke untergebracht hat.
Ähnlich steht es mit all den Pathosgestalten, seinen aufsteigenden, stürzenden, gleitenden Körpern: Prometheus, der dem Betrachter aus dem Bild entgegenzurutschen scheint, oder der tote Christus, der wie ein Stein vom Kreuz fällt. Sie haben in der zeichnerischen Sprache ein Potential, das über die Verwendungen in den großen Gemälden hinausweist, nach noch ungemalten Bildern verlangt, in denen sie ihre Existenz zur Geltung bringen können. Rubens bewegt sich mit seinen Figuren im ikonologischen Neuland, er schafft seinen eigenen »Mnemosyne«-Atlas. Seine Produktion an Pathosfiguren scheint unerschöpflich. So sind auch seine hockenden, in sich versammelten Frauengestalten wie Hagar oder Susanna im Bade psychologische Rätsel, ein Eindruck, der durch die Neigung des Malers, solche Figuren beispielsweise mit den Zügen von Hélène Fourment zu überblenden, noch verstärkt wird.
Der Wagemut von Erfindung wie Ausführung unterstreicht die Selbständigkeit und Freiheit des Zeichnungskosmos des großen Malers. Der Rundgang der Ausstellung beginnt mit einigen Zeichnungen nach Künstlern des sechzehnten Jahrhunderts und Antiken. Rubens war ein vielseitiger, ein ebenso genauer wie gelegentlich auch verbessernder Kopist. Seine Aneignungsfähigkeit scheint grenzenlos gewesen zu sein, und diese Aneignung war nicht nachahmend, sondern erriet gleichsam das schöpferische Zentrum der Vorlage. Rubens’ Zeichnungen sind Gefäße für Eindrücke, die auch noch nach Jahren und Jahrzehnten abrufbar sind. Ihr Anregungspotential war mit keiner Übertragung in ein Gemälde erschöpft, weder im Umriß noch in der Bedeutung.
Davon kann man sich auch anhand der privaten Zeichnungen seiner Familie, seiner Söhne und Ehefrauen überzeugen. In einem günstigen Augenblick porträtiert, nach Möglichkeit, ohne daß die Porträtierten es bemerken, scheinen sie ganz intim gesehen zu sein, und doch finden sie scheinbar ungeplant den Weg in Rubens’ Gemälde. Intimität und Nüchternheit, familiäres Sentiment und künstlerischer Kalkül sind hier kaum voneinander zu unterscheiden. Das gilt für eine der schönsten und berühmtesten Kinderzeichnungen überhaupt, den Lockenkopf des kleinen Nicolaes Rubens, der persönlicher nicht erfaßt sein könnte und dem doch schon die Verwendung als Jesusknabe ins Gesicht geschrieben scheint. Das zweckfrei Formulierte findet wie absichtslos seine Bestimmung.
Man hat in dieser Fügsamkeit von allem und jedem ein Zeichen für Rubens’ glückliches Temperament sehen wollen. Aber es ist eher die Spur der souveränen Regie, die er über sein Werk ausübt. Während es die großen Formate des Barockmalers, die einst als Zeichen des souveränen Künstlers galten, heute beim Publikum nicht leicht haben, mutet die Atelierseite seiner Existenz ganz modern an. Von manchen seiner Bilderfindungen kann man leicht den Weg zu Füßlis neuer Mythologie, von seinen Zeichnungen den zu Degas finden. Und die Verfahrensweisen dieses Künstlers muten nur deswegen etwas fremdartig an, weil eine so hochtourige Produktion heute kaum angetroffen wird. Allenfalls Picasso wäre darin mit Rubens zu vergleichen.
Für dieses hochorganisierte Können sind die Ölskizzen ein eindrucksvoller Beleg. In leicht transportablem Format – sie dienten der Kommunikation mit den Auftraggebern – erlaubten sie es Rubens, in rasantem Tempo die komplexe Struktur großer und figurenreicher Bilder abzubilden. Die Ölskizze konnte das Bild oder eine Bilderfolge vertreten. Auch Rubens’ rascheste Entwürfe waren in diesem Sinne »fertig«. So kann man die zahllosen Ölskizzen, die in der Regel bei den Bestellern verblieben, als eine eigene Ateliergattung bestaunen, die aus bestimmten Auftragsverhältnissen entstanden war.
Man fragt sich am Ende, was Rubens nicht konnte. Er war mehr als nur der Regisseur seines großen Könnens. Allein in seinen Zeichnungen hinterließ er einen Fundus von Bilderfindungen, die er durch sein eigenes malerisches Werk längst nicht ausgeschöpft hat. So steckt in den Zeichnungen ein noch unbekannter Rubens. Die Ausstellung in der Albertina in Wien ist die schönste Eingangspforte in diese Arkana seines Genies.
LEIDENSCHAFT FÜR
DAS SELTENE UND KURIOSE
(Der Illustrator und Sammler
Albertus Seba)
Als Beobachter ist der Mensch ein Spätentwickler. Sogar das Nächste, das pochende Herz, hat sich seiner Neugierde lange entzogen. Erst auf das Jahr 1628 wird beispielsweise die Beschreibung des Blutkreislaufs durch William Harvey datiert. Es scheint so, als ob die Neugierde nicht durch Nahes, sondern erst durch Fernes und Fernstes geweckt und zu Hochleistungen angespornt wird. Und selten geht das Auge allein auf Entdeckung aus: Meist eilt die technische Phantasie voran.
Für den britischen Anatomen William Harvey dürften zu seiner Zeit Experimente mit Mühlen und Pumpen wegweisend gewesen sein. Gerade erst war Galilei mit dem Fernrohr zu den Sternen vorgestoßen; Johannes Kepler berechnete die alten Planetentafeln neu; Francis Bacon veröffentlichte sein »Novum Organum«; kühne Seefahrer suchten nach neuen Passagen; Forschungsreisende begannen, systematisch die Tier- und Pflanzenwelt Nord- und Südamerikas zu erkunden. Ohne das exotische Anschauungsmaterial aus der Neuen Welt hätte sich die Naturkunde damals nicht so mächtig entwickeln können. Es war die große Zeit der Kunstkammern, in denen sich alles zusammenfand: Münzen und Skulpturen, Instrumente und Versteinerungen, Tafeln und Inschriften, ausgestopfte Tiere und gepreßte Pflanzen, Kunst und Natur im kleinen vereint als Ausdruck eines zügellosen Sammeltriebes.
»Curiosi« oder »Virtuosi« nannte man im siebzehnten Jahrhundert jene Liebhaber, die, über ganz Europa verstreut, ihrer Leidenschaft nachgingen und sich für Pioniere des modernen Forschungsgeistes hielten. Der 1665 in Etzel in Ostfriesland geborene, in Amsterdam als Apotheker zu Reichtum gekommene Albertus Seba ist einer der letzten in dieser Reihe. Er betrieb neben seiner »Deutschen Apotheke« einen lukrativen Handel mit Arzneimitteln, der bis nach Nordeuropa und Rußland reichte und ihn in die Lage versetzte, eine Sammlung von Pflanzen und Tieren aus Übersee in einem bald berühmt gewordenen Naturalienkabinett zu vereinen. 1717 wurde sie von Zar Peter dem Großen gekauft; Spuren von ihr sollen sich noch heute in der Eremitage finden. Für seine zweite, weit größere Sammlung schuf Seba ein Überlebensmittel: den »Thesaurus« (Locupletissimi Rerum Naturalium Thesauri Accurata Descriptio), ein Abbildungswerk mit 446 Kupfertafeln, heute das einzige erhalten gebliebene Zeugnis seiner Sammelleidenschaft. Albertus Seba, der 1736 starb, hat den Abschluß des vierbändigen, in lateinischer, niederländischer und französischer Sprache veröffentlichten Werkes nicht mehr erlebt. Die Sammlung selbst wurde 1752, vor Erscheinen des letzten Bandes, versteigert als letztes Beispiel einer Tradition, für die man schon in der Goethe-Zeit – mit Ausnahme von Goethe – kaum noch Verständnis aufbrachte.
Wer den »Thesaurus« durchblättert, kann nicht übersehen, daß hier nicht nur mit Einzelstücken, mit Trophäen des Sammlerehrgeizes geprunkt wird, sondern mit einer Fülle von Kenntnissen, die zur Inbesitznahme der Natur erforderlich waren. Vielerlei Wissen von vielerlei Menschen mußte ineinandergreifen: Der eine fing im fernen Südamerika Tiere oder sammelte Pflanzen, ein anderer machte sie transportfähig, ein dritter transportierte sie über das Meer – Seba pflegte im Hafen von Amsterdam Seeleute für seine Projekte zu gewinnen –, wieder andere zeichneten und kolorierten die Wunderwesen, die ihnen zugetragen wurden, auf daß sich am Ende die Pracht der Naturbildungen im Auge des Betrachters erneuere. Anschauung und Vorstellungskraft arbeiteten eng zusammen: Manches von dem, was Eingang in den »Thesaurus« fand, war Ausgeburt der Phantasie, belächelt von späteren Naturforschern als Beweis für die Wundergläubigkeit ihrer Vorläufer.
Als Abbildungswerk war Sebas »Naturalienkabinett« schon Symptom einer Krise. Auch wenn sich die Abbildungen vordergründig nur auf die Sammlung, auf besonders schöne Präparate bezogen, eröffneten sie darüber hinaus einen neuen Raum, der nicht nur dem Sammler mit seinen kuriosen Neigungen zugänglich war. Im Kabinett war es eng geworden, Schubfächer und Schränke quollen über, die Fülle des Materials überstieg die Bearbeitungskapazität eines einzelnen bei weitem. Die Anschauung war zudem nicht mehr auf das Kabinett beschränkt, Naturkundler konnten selbst zu den exotischen Schauplätzen vorstoßen und dort fündig werden. An Ort und Stelle konnten Zeichnungen angelegt, vielleicht sogar koloriert werden, die später als Vorlagen für Kupferstiche dienten. Damit war zugleich für weite Verbreitung gesorgt.
Seba beschäftigte für seinen »Thesaurus« zeitweise bis zu fünfzehn Künstler. Als der berühmte französische Naturhistoriker Buffon seine »Histoire naturelle des oiseaux« (1770–1783) illustrieren ließ, hat er fünf Jahre lang sogar mehr als achtzig Künstler arbeiten lassen. Der Sinn der Darstellung hatte sich da schon einschneidend gewandelt: Es galt, einen »lebendigen Augenblick« aus dem Leben der Vögel zu erfassen, die im Text grundlegend beschrieben und klassifiziert wurden. Die Abbildung beschränkte sich bei Buffon darauf, das Wissen durchs Sehen zu ergänzen und Unzulänglichkeiten der sprachlichen Darstellung auszugleichen.
In Sebas »Thesaurus« dagegen vertreten die abgebildeten Tiere, Pflanzen, Schlangen, Fische, Insekten und Mineralien, ganz im Sinne der alten Auffassung, die Natur selbst; sie zeigen ihre Vielfalt. Noch sind die Grenzen des Naturreichs auch durchlässig für Fabelwesen. Schauwert und Auskunftswert sind noch ungeschieden. Darin lebt der Geist des alten Naturalienkabinetts fort: Seltenes ist in Einzelexemplaren anwesend, nicht als Repräsentation von etwas anderem, sondern als Abbild seiner selbst. Es ist der Geist des Sammlers, der sich auf seiner Jagd nach Rarissima nicht von Ungläubigen stören läßt. Er will besitzen, was sonst niemand hat, nach Möglichkeit den Phönix selbst, der sich aus der Asche erhebt. Dennoch bewirken die Abbildungen, wahrscheinlich unbeabsichtigt, auch etwas Neues: Sie versprechen, Sichtbarkeit und Ordnung aufeinander abzustimmen, das Sichtbare so darzubieten, daß der Betrachter im Buch der Natur selbst zu blättern meint. Der große Linné, der Erfinder der modernen Taxonomie – sein »Systema Naturae« erschien 1735 –, hat Sebas »Thesaurus« denn auch in dieser Weise genutzt, als ein Quellenwerk, das dem ordnenden Blick, der nach Art-, Familien- und Gattungsmerkmalen Ausschau hält, reichen Stoff für die Anschauung bot.
Daß der »Thesaurus« modernen Zwecken dienen konnte, als Hilfsmittel zur Klassifikation, ist ein Beleg dafür, daß es sich um ein Werk des Überganges handelt. Die Pracht der Abbildungen gehört dabei zum Alten, zum Kult des Wunderbaren und Seltenen, während die Fülle der Darstellungen ein Verlangen nach Ordnung und Überschau weckt, das das Neue vertritt. Dies ist in den auf Albertus Seba folgenden Generationen um den Preis von immer weniger Anschauung verwirklicht worden.
DAS ENDE DES ALTEN SAMMELNS
(Von der Wunderkammer
zum Museum)
»Wir haben interessante Sachen gesehen«, vermerkte Goethe lakonisch, nachdem er die Braunschweiger Sammlungen besichtigt hatte. Er gehörte zu dem Publikum, das sich seit der Öffnung des Kunst- und Naturalienkabinetts der braunschweigischen Herzöge im Jahre 1754 dort einfand. Es waren Neugierige mit weitem Rayon, die sich für antiquarische Raritäten und Naturkunde, für »artificialia« und für »naturalia«, für Kunst und Kuriositäten gleichermaßen zu interessieren vermochten. Die braunschweigische Sammlung bot von all diesem und von unübersehbar vielen anderen unterhaltenden und belehrenden Sachen in Schränken und Schubladen genug, um in das europäische Itinerar der Kavaliersreisen und der Grand Tour aufgenommen zu werden.
Lessing war hier, auch sein Kontrahent Goeze, auch James Boswell 1764 auf der durch sein Tagebuch dokumentierten Reise durch Deutschland, auch der junge Hamilton, der große Sammler und noch größere Verkäufer von selbstentdeckten Altertümern – das Britische Museum kaufte seine berühmte Vasensammlung komplett für eine bedeutende Summe. In Braunschweig fand er den Weg zu einem prospektiven Abnehmer, dem er später seine herculaneischen Altertümer und antiken Vasen anbieten konnte. Hamiltons Besuch ist denkwürdig auch deswegen, weil sein Sekretär eine so eindrucksvolle Extravorstellung der Gelangweiltheit vor den exquisiten Objekten bot, daß sich die Nachricht davon bis heute erhalten hat.
Als Goethe 1784 die Sammlung besuchte, war er alles andere als ein gelangweilter Betrachter. Er gehörte zu dem Kreis von Kennern, der nach Objekten Ausschau hielt, die für die eigenen Interessen und Forschungen bedeutsam waren. Worum ging es in diesem Fall? An seinen Freund Merck hatte Goethe vor seiner Reise geschrieben: »Ich will auch in Braunschweig dem ungeborenen Elefanten in das Maul sehen und mit Zimmermann ein wackeres Gespräch führen. Ich wollte, wir hätten den Fötus, den sie in Braunschweig haben, in unserm Kabinette, er sollte in kurzer Zeit seziert, skeletiert und prepariert sein.« So konnte nur ein naturkundlicher Experte sprechen, der sich von den Objekten, die anderen kurios erschienen sein mochten, einen Gewinn an Einsicht versprechen durfte – und sei es einen Hinweis auf den Zwischenkieferknochen beim Elefanten.
Der Braunschweiger Naturforscher Zimmermann, der eine Monographie über den seiner Auffassung nach drei Monate alten Elefantenembryo verfaßt hatte, mußte für Goethe der ideale Gesprächspartner sein, dessen Interesse durch den Anblick des eingelegten Tiers zweifellos nicht befriedigt werden konnte. Weniger am Seltenheitswert war ihm gelegen als an den Auskünften, die allenfalls das sezierte Tier zu geben vermöchte. Wie andere Sammlungsbesucher brauchte auch er gelehrten Rat, um aus dem Gesehenen Nutzen zu ziehen. Die Gegenstände der Kunst- und Naturaliensammlung sprachen nicht für sich selbst. Man mußte Kenntnisse gewinnen über ihren wahren Wert, ihre Seltenheit, die abenteuerlichen Wege, die sie durchlaufen hatten, und über die gelehrten Bewandtnisse.
Die Sammlungen selbst warfen unabsehbare und nie gelöste Probleme der Ordnung und Klassifikation auf, in Braunschweig nicht anders als in den anderen Kunst- und Wunderkammern, die seit der frühen Neuzeit für den Stil des gelehrten Sammelns in Europa bestimmend geworden waren. Der Ruf der berühmtesten Sammlungen beruhte auf Objekten von fast mythischer Qualität. Der Sammler, der sich einen Namen machen wollte, mußte etwas Unvergleichliches besitzen, in Braunschweig war dies das im Dreißigjährigen Krieg in Mantua geraubte sogenannte Mantuanische Onyxgefäß, angeblich Salböl von König Salomon oder auch der deutschen Kaiser enthaltend, geschmückt mit antiken Göttergestalten im seltenen Hochschliff, die zu endlosen Erklärungen Anlaß gaben – ein mythisches Objekt, das sein Prestige der Ungewißheit seiner Herkunft verdankte und noch am Ende des Zweiten Weltkriegs dazu gedient haben soll, wegen seines hohen Wertes die Beschießung des Schlosses abzuwenden.
In Sammlungen dieser Art herrschte jene Unübersichtlichkeit, deren Bewältigung Generationen von meist aristokratischen Sammlern überall in Europa in Atem hielt, bis Archäologie, Geschichte und Naturkunde zu verläßlichen Datierungen gelangten. Jedes Objekt war nach einer Vielzahl von Kriterien einzuordnen, und jede Klassifikation erzeugte wiederum neue unbestimmbare Stücke, die in kein Schema gezwängt werden konnten und wie die Monstren am Rande des Erdkreises die Ränder der Sammlungen bevölkerten. Berühmt sind deswegen jene kuriosen Aufzählungen geworden, die wie Auszüge aus einer phantastischen Zoologie oder Archäologie wirken. Die Kuriosität schlug die Betrachter in ihren Bann.
So waren in Braunschweig auf Schränke und Fächer verteilt eine Conchyliensammlung, die Mineralien und damit verbunden (weil auch aus der Erde geholt) die »antiquen Sachen«, mathematische, mechanische und »andere curieuse Sachen«, Dinge, die wegen ihres Materials geschätzt waren, wie »allerhand künstliche Arbeit von Agat und Bernstein wie auch Christal«, »unterschiedliche Curiositäten von Metall gegossen, wie auch Elfenbein und Holtz geschnitzt«, aber auch Mumienteile, hölzerne Musikanten und dazu eine Stockgeige oder ein aus Venedig mitgebrachtes Modell einer Gondel und schließlich Straußeneier und Kokosnußpokale.
Wenn all das eine schöne Ordnung ergab, welche Verwirrung mußte dann durch Merkwürdigkeiten entstehen, die jeder Rubrizierung widerstanden: »eine quantité Seegras aus Indien«, »ein Stück Holz von einem holländischen Schiffe, so von den bekannten Würmern gefressen«, eine Kröte, eine sogenannte Pipa, aus Surinam, ein Eisvogel in durchsichtigem Bernstein, eine in ihrem Netz sitzende Spinne aus Elfenbein. Daß solche Aufzählungen nicht endeten, war der Traum des Kuriositätensammlers, der an der Fülle des Ähnlichen interessiert war. Eine Insekten- oder Vogelsammlung mußte viele hundert Arten umfassen und vielerlei Exotisches enthalten, die Gemmensammlung mußte viele Schubfächer füllen, es mußten Vasen, Uhren, Instrumente und Ethnographica gleich zu Dutzenden sein. Und ständig drängten, seitdem der überseeische Handel blühte, neue naturkundliche und ethnographische Rara und Rarissima in die Ordnung ein, die auf sie nicht vorbereitet war und unter dem Druck des Neuen knirschte.
In Braunschweig wird bis zum 22. August 2004 in der Burg Dankwarderode, einem alten Platz der Kunst- und Naturaliensammlungen und nur wenige Schritte vom Braunschweiger Löwen entfernt, die Hinterlassenschaft der fürstlichen Sammler gezeigt. Der umfassend unterrichtende Begleitband zu der Ausstellung leistet, was einst die Sammler nur unzulänglich vermochten: fundiert Auskunft zu geben über jedes Stück und über die Sammlungsgeschichte. Geworben wird damit, daß die Gründung des Kunst- und Naturalienkabinetts im Jahre 1754 ein Meilenstein auf dem Weg zum Museum sei, das sich hier rund fünfzig Jahre früher abzeichne als in Paris, London oder Berlin.
Eines der Merkmale des modernen Museums, die Öffnung für ein Publikum, scheint in Braunschweig in der Tat zu einem relativ frühen Zeitpunkt erfüllt gewesen zu sein, früher als beim berühmten Fridericianum in Kassel 1779. Wie einst die Kunstkammer mit ihren Rara und Rarissima prunkte, so schmückt sich Braunschweig nun mit einem Datum der Museumsgeschichte. Die Wahrheit ist aber wohl eine andere. In Braunschweig wurde damals eine alte Sammlung ohne wesentliche Veränderung ihrer Bestände und ihrer Ordnung für ein begrenztes Publikum geöffnet. Von einer Museumsgründung im modernen Sinn, wie in Paris, London oder Berlin, kann deswegen hier nicht die Rede sein.
Dafür hätte es der Abkehr vom Stil des alten Sammelns bedurft, der sich in Braunschweig vielmehr noch einmal kräftigte, als im Zusammenhang mit der Öffnung für das Publikum eine Stabilisierung der alten Ordnung eintrat, die sich in Europa seit der Spätrenaissance überall durchgesetzt hatte und mit der um 1800 das neue Kunstmuseum aufräumte. Die Zerstörung der alten Sammlungen war so gründlich, daß sie vollkommen vergessen wurden, bis Julius von Schlosser sie 1907 in seinem Buch über die Kunst- und Wunderkammern wiederentdeckte.
Während andernorts seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Auflösung der Einheit der Kunst- und Naturalienkabinette voranschritt, konnte in Braunschweig das alte, doppelgesichtige Kabinett über die Jahrhundertwende hinweg gerettet werden – eine beispielhafte Leistung einer konservativen Kunstpolitik. Statt im Jahre 1754 etwas Neues zu beginnen, verteidigten die braunschweigischen Herzöge also etwas Altes, Überholtes, das zu diesem Zeitpunkt schon zum Untergang verurteilt zu sein schien. Nun standen sie damit nicht allein.
Auch ein so großer Gelehrter wie Leibniz propagierte unermüdlich die Fortentwicklung des »theatrum naturae et artis«, des gemeinsamen Hauses von Kunst und Naturkunde. Er versprach sich davon Belebung vor allem des wissenschaftlichen Interesses, es war eine wissenschaftspädagogische Idee, die sich ebenso an die Mäzene wie an das allgemeine Publikum richtete. Die Braunschweiger Herzöge konnten sich rühmen, daß sie den Empfehlungen des großen Leibniz mustergültig Folge leisteten. So zeigten sie denn auch im Eingangsraum des Kabinetts Porträts des Philosophen und des großen Linné, der die biologische Klassifikation auf sichere Beine gestellt hatte.
Die Kur der Trennung der antiquarischen und historischen, der natur- und kunstgeschichtlichen Bestände hat man sich in Braunschweig seinerzeit nicht zugemutet. Es sollte alles vereint bleiben. Eine gewichtige Rolle bei dieser Entscheidung für die Erhaltung des alten Sammelns hat gewiß der Großbetrieb der Grand Tour gespielt. In den Reiseführern aus dieser Zeit waren die wichtigsten Stützpunkte des alten Sammelns verzeichnet, und sie waren für die Reisenden von unschätzbarem Wert als Anregungen für ihre eigenen Sammlungen. Hinzu kam, daß der damalige Tourismus die Reproduktionsgraphik kräftig aufblühen ließ und zu einem aktuellen Sammelgebiet machte, das in großem Stil gepflegt werden konnte und einen lebhaften europäischen Handel ermöglichte. In Reproduktionen wurden auch die großen archäologischen Sensationen der Zeit in raschestem Tempo verbreitet, so daß die Sammeltätigkeit eine ganz neue Dimension erhielt. So konnte leicht der Eindruck entstehen, daß das »alte Sammeln« einen beispiellosen Aufschwung erlebte.
In Wahrheit führte die Reproduktionsgraphik eine Art Purgatorium des Sammelwesens herbei, indem sie an alles den Maßstab der Ausstellbarkeit anlegte: Zeigen ließ sich, was in der graphischen Reproduktion zu optimaler Wirkung kam. In ihrem eindrucksvollsten Teil zeigt die Braunschweiger Ausstellung, auf welch hohem Niveau sich die Graphik der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts befand, die sogar Tagesereignisse wie das Erdbeben von Lissabon in aufwendigen, wenn auch nicht immer auf Augenschein beruhenden Stichen binnen kürzester Zeit im Bild zugänglich machte. Die Graphik, die alles darzustellen vermochte, war ein Vorgriff auf jene Sehweise, die für das neue Museum verbindlich werden sollte. Sie wurde noch in das Gehäuse des alten Sammelns integriert, ehe dieses durch die neuen Ansprüche des Sehens zerstört wurde.
Die Braunschweiger Ausstellung ist selbst der beste Beweis für die Schwierigkeit, typische Objekte der Kunst- und Wunderkammern nach unseren Ausstellungs- und Sehgewohnheiten zu zeigen. Jene Sammlungen, die ein Ganzes sein wollten und sich als universal verstanden, zerfallen im Grunde in die Einzelschicksale von Objekten. So hat man sich in der Braunschweiger Ausstellung letztlich für die Präsentation von Einzelobjekten entschieden. Wie in Entrees von Banken hat man Stelen mit darin eingelassenen Vitrinen aufgestellt, in denen die Preziosen gut ausgeleuchtet zu betrachten sind. Mit jedem hat es eine eigene Bewandtnis, jedes Objekt hat eine eigene Sammlungsbiographie, eine geheime Geschichte, die mit seinen anschaulichen Reizen meist kaum zu vermitteln ist. Deswegen ist es so schwer, kuriose Sammlungen auszustellen, so viele Versuche in jüngster Zeit in dieser Richtung auch unternommen worden sein mögen.
Die Wunderkammer verträgt sich nicht mit dem Museum. Die Wegscheide war die Einführung der chronologischen Präsentation für Skulpturen, Gemälde, Zeichnungen und Graphik. Während die Kunstkammer Piranesi bei den Städtebildern aufbewahrte, weist das Museum ihm seinen Platz unter den Meistern seines Jahrhunderts an. Nicht nur hat die chronologische Ordnung neue, vergleichsweise homogene Gebiete erschlossen, die sich tief in die Vergangenheit erstrecken, sie hat auch so gut wie alles abgewiesen, was sich der präzisen Zeitbestimmung entzieht.
Die Welt der antiquarischen Historie ist nicht in erster Linie an ihrer Stoffülle zugrunde gegangen, sondern an ihrer zeitlichen Unbestimmtheit. Während man in Braunschweig im späten achtzehnten Jahrhundert an dem enzyklopädischen und universalen Charakter des alten Sammelns festhielt, wurde an vielen Orten in Europa mit neuen Präsentationsformen experimentiert. Aber man entwarf auch Universalmuseen, die so enzyklopädisch sein sollten wie Kunst- und Naturalienkabinett. Aber sie sind allesamt nicht verwirklicht worden. Der Traum vom Universalmuseum war ausgeträumt, als das Kunstmuseum sich durchsetzte.
Für Braunschweig kam die Stunde der Wahrheit, als Napoleons Kunstkommissar Vivant Denon 1806 seinen großen deutschen Kunstraub durchführte. Das Beispiel Braunschweigs zeigt besonders kraß den Zusammenstoß verschiedener Kunstauffassungen. Während die Herzöge ihre für ungeheuer wertvoll gehaltene Münzsammlung vor dem Zugriff der Franzosen retteten, nahm Denon Werke mit, die durch ihren Ausstellungswert, nicht aber durch den alten Sammlerwert herausragten. Auch andernorts, etwa in den Berliner königlichen Sammlungen, hat der französische Kunstraub das Kunsturteil auf den Kopf gestellt. Als die geraubten Werke im Jahre 1815 zurückkehrten, hatten sie eine spektakuläre Ausstellungsgeschichte hinter sich und waren durch eine moderne Kennerschaft geadelt. Sie waren Kunstwerke im Sinne des neuen Museums geworden. Die Rückkehr der geraubten Kunstwerke war definitiv das Ende des alten Sammelns.
GEISTERBESCHWÖRUNG
DES GLÜCKLICHEN FRANKREICH
(Augustin Pajou)
Die Geschichte der Kunst war einst vor allem Ruhmeskunde. Die Kunstwerke rühmten ihren Schöpfer und kündeten von seinem Ruhm, sie waren Attribute des Ruhms. Das achtzehnte Jahrhundert hat kaum einen größeren Ruhm gekannt als den des Bildhauers Augustin Pajou. Er war der Bildhauer des französischen Königs, des Hofes und jener Gesellschaftsschicht, die in ihren Salons die höfische Welt nachbildete.
Pajou, der Schüler von Jean-Baptiste Lemoyne, war der Porträtist dieser Gesellschaft, die er zugleich in repräsentativen Denkmälern verewigte. Aber kaum ein Künstler des achtzehnten Jahrhunderts wurde so vergessen wie er. Während Houdon oder Pigalle zumindest in Einzelwerken bekannt blieben, büßte der Bildhauer, der die meisten offiziellen Aufträge der vorrevolutionären Gesellschaft überhaupt erhalten hatte – siebenmal in fünfzehn Jahren bestellt der König sein Standbild bei ihm –, mit nahezu völligem Vergessen für seine Dienste. Sein Schicksal in der Nachwelt kommt einer »damnatio memoriae« gleich.
Seine Galerie der Großen, die einen Schwerpunkt der derzeit im New Yorker Metropolitan Museum gezeigten Ausstellung »Augustin Pajou, Royal Sculptor« ausmacht, ist eine Geisterbeschwörung des alten Frankreich in Wissenschaften, Künsten und Politik: Henri IV., Bossuet, Pascal, Descartes, Turenne, Colbert, Buffon. Hinzu kommen die Männer und Frauen, deren Terrakottabüsten ganze Museen füllen könnten, Mätressen, Künstlerinnen und Künstler, Schriftsteller. Es läßt sich kaum ein Œuvre denken, in dem das Ancien régime annähernd so komplett versammelt wäre.
Kaum je hat eine Gesellschaftsschicht soviel Individualität, soviel Glück auf dem Boden strikter Konvention entbinden können wie diese. Will man sich unter Utopie etwas Konkretes vorstellen, so wird man an die Jahre um die Jahrhundertmitte bis 1770 denken. Pajou hat, zumal in seinen Terrakottabüsten, das Epochenideal der Lebendigkeit einzigartig formuliert. Aber man wird auch bemerken, daß schon zwei Jahrzehnte vor der Revolution ein Eishauch bemerkbar wird, der die Figuren erstarren läßt: Es ist der Augenblick, in dem sie sich nicht mehr nur an ihrer Gegenwart erfreuen, sondern sich in römische Gewänder zu hüllen beginnen.
Pajou hat nach der Revolution das Stigma des Hofkünstlers nicht mehr ablegen können. Mehr als Pigalle, mehr als Houdon war er damit verschmolzen. Vor allem ein Regiefehler im Blick auf die Nachwelt hatte ihn aller Chancen beraubt. Houdon hatte auch die Männer der Zukunft, die Enzyklopädisten, Rousseau, Diderot und Voltaire, porträtiert, während Pajou, der Alleskönner, der ununterbrochen modellierte und alles in der Sprache seiner Materialien sagen konnte, an ihnen vorüberging. Denis Diderot gibt in seinen »Salons« ein Beispiel, wie ein kritischer Geist der Zeit mit einem solchen Handwerker glaubte umspringen zu dürfen: Er unterschob Pajou eine grenzenlose Gier nach Reichtum – das Geld als unreiner schöpferischer Antrieb. Diese Denunziation hat ihre Infamie erst in der Nachwelt ganz entfaltet. Die Herausgeber von Diderots »Salons«, Jean Adhémar und Jean Seznec, haben zu seinem Hohn über Pajous Erfolg lediglich angemerkt: »Hätte Diderot den Künstler, über den er sprach, gekannt, er hätte ihn nicht als jemanden eingeschätzt, der nur ans Geld denkt.« Eine gewisse Tragik liegt darin, daß von allen Skulpturen aus dieser Zeit die Büsten Pajous der Prosa Diderots, den Briefen von Madame d’Épinay, der Illusionslosigkeit eines Voltaire oder Abbé Galiani am nächsten kommen.
Vielleicht liegt der stärkste Beweis für das unkonventionelle Wesen einer Bildhauerkunst, die sich in den Dienst der Konvention zu stellen scheint, in den beiden Büsten eines namenlosen jungen Mädchens, die offenbar aus der reinen Modellierfreude entstanden sind: Wunder der Absichtslosigkeit, als hätte weder die Erwartung eines Bestellers noch der Mitteilungswille des Künstlers in den Prozeß des Modellierens lenkend eingegriffen. Auf diese Weise entsteht Momentanes, das der Zeit enthoben bleibt: das absolute Präsens. Niemand dürfte dem Ideal der Unbefangenheit, einer kontingenten Natürlichkeit so nahegekommen sein wie der Neoklassizist Augustin Pajou.
II
LICHT, VOM SCHATTEN VERZEHRT
(Europa 1789)
Wie das Theater haben die Ausstellungen ihre Regisseure, und wie im Regietheater sind die Kunstwerke in diesen Jahren vielfach zu Opfern von Ausdeutung und Umdeutung geworden. Aber es gibt auch die Meister der Rekonstruktion: Ein Peter Stein unter den Ausstellungsmachern ist Werner Hofmann, der jetzt seiner Serie eindrucksvoller Inszenierungen der »Kunst um 1800« zum zweiten Mal den Versuch einer Synthese folgen läßt. Die Goya-Ausstellung von 1980, »Das Zeitalter der Revolutionen 1789–1830«, war der erste Versuch. Als sollte die überragende Figur in dieser Epoche erst noch verankert werden, wurde in einer Bilderflut der Beweis für ihre Ausstrahlung auf die Bilderfindungen ihrer Zeit geführt. Jetzt, zum Revolutionsjubiläum, hat Hofmann sich von aller Last der Beweisführung freigemacht, auf seine inszenatorische Gabe allein vertraut. Mit einem fast asketisch zusammengestellten Ensemble von Werken gelingt ihm eine eindringliche Bilanz der von seinen Hamburger Ausstellungen erarbeiteten Einsichten.