Frederick Marryat

Der arme Jack

Roman

Saga

Erstes Kapitel.

In welchem ich, wie die meisten Leute, welche ihre eigene Geschichte erzählen, mit der Geschichte anderer Leute beginne.

Allen Grund habe ich zu glauben, dass ich im Jahre unseres Herrn 1786 geboren wurde; denn auf die wiederholten Fragen an meinen Vater erhielt ich unabänderlich stets dieselbe Antwort: „Nun, Jack, Du liefst ein paar Monate vor der Überpflanzung der Druiden auf die ‚Melpomene‘ vom Stvpel.“ Inzwischen habe ich in Erfahrung gebracht, dass sich dieses denkwürdige Ereignis im Januar 1787 zutrug. Mein Vater rechnete übrigens stets in derselben Weise, denn wenn ich hin fragte, um welche Zeit irgend ein Begebnis stattgefunden habe, pflegte er zu erwidern, so und so viel Jahre oder Monate nach diesem oder jenem Seegefecht oder einem sonstigen merkwürdigen Ereignis. Als ich zum Beispiel eines Tages von ihm wissen wollte, wie lange er dem König gedient habe, antwortete er: „Ich kam kurze Zeit vor der Schlacht von Bunkers-Hill in Dienst, in welcher wir die Amerikaner hübsch aus Boston hinausleckten.“a)

Von dem anno domini hatte er durchaus keinen Begriff. Wer mein Grossvater war, kann ich dem Leser nicht mitteilen, da er sich ohnehin auch nicht sonderlich dafür interessieren wird. Mein Vater war ein Mann, der stets nur die Zukunft im Auge hatte und jeden Rückblick auf die Vergangenheit hasste: er sprach nie von seinem Vater oder seiner Mutter, vielleicht weil er sie gar nicht kennen gelernt hatte. Was ich gelegentlich aus ihm herausbringen konnte, beschränkte sich darauf, dass er auf einem Kohlenschiffe von South-Shields gedient hatte und dass er sich einige Monate nach dem Ablaufe seiner Lehrzeit an einem schönen Morgen an Bord eines Kriegsschiffes befand, ohne sich Auskunft geben zu können, wie er dazu gekommen war, denn man hatte ihn ohne seine Einwilligung und in einem Zustande von Besinnungslosigkeit an der Seite hinaufgehisst. Man zieht vielleicht hieraus den Schluss, dass er damals betrunken war; aber dies kann ich nicht durch sein eigenes Zugeständnis bekräftigen, denn er sagte darüber bloss: „Jenun, Jack, die Sache verhält sich so, dass ich, als ich aufgelesen wurde, nicht ganz pompusb) war.“ Zu unterschiedlichen Zeiten erhielt ich von ihm noch folgende Berichte: dass er dem Besahnmars beigegeben wurde und drei Jahre in Westindien diente, dass er von da aus zu dem grossen Mars überging und fünf Jahre in dem mittelländischen Meere Dienste that, dass er zum Kapitän des Fockmarses gemacht wurde und sechs Jahre die ostindischen Meere bestrich, und endlich, dass er das Beischiff des Kapitäns der ‚Druide‘ führte, einer Fregatte, die während des Friedens mit der übrigen zu einem gleichen Dienste beorderten Flotte im Kanale kreuzte. Nachdem ich so die genealogische und chronologische Einleitung zu meiner Geschichte in nuce gegeben habe, komme ich zu einem Teile, über den ich mich mehr in seinen Einzelnheiten auslassen muss.

Die Fregatte, auf welcher mein Vater als Beischiffsführer des Kapitäns diente, stand unter dem Kommando des Sir Herkules Hawkingtrefylyan, Baronet. Er war sehr arm und doch sehr stolz, denn Baronete galten in jenen Tagen als nichts Gewöhnliches. Er war ein sehr grosser, sechs Fuss hoher Mann von stattlicher Haltung und hatte ein beträchtliches sogenanntes Bogenfenster an der Vorderseite. Seine Haare trug er stark gepudert, verlangte die ceremoniösesten Beweise der Achtung, und meinte seinen Offizieren schon ein sehr grosses Kompliment zu erweisen, wenn er sie nur anredete. Der Ehre, an seine Tafel gezogen zu werden, konnten sich nur wenige rühmen, und auch diese wenigen wurden vielleicht nicht öfter, als einmal im Jahre geladen. Aber, wie gesagt, er war sehr arm und obendrein verheiratet — ein Umstand, der mich daran erinnert, auch seine Gattin den Lesern vorzustellen. Sie hatte, da dem Schiffe der Kanaldienst angewiesen war, ihre Wohnung in der Nähe des Hafens, zu welchem die Fregatte gehörte, und kam hin und wieder an Bord, um eine Fahrt mitzumachen, wenn die ‚Druide‘ ihre Station gegen Osten oder Westen hin wechselte. Lady Herkules, wie wir sie dem Befehle des Sir Herkules gemäss nennen mussten, war eine wohlbeleibte Frau und noch zehnmal stolzer, als ihr Gatte, dabei aber sehr schön; die Schiffsmannschaft blickte stets mit der grössten Ehrfurcht zu ihr auf, so oft sie an Bord erschien.

Sie hatte einen grossen Widerwillen gegen Schiffe und Matrosen, liess sich selten herab, die Offiziere einer Beachtung zu würdigen, und besass einen ausserordentlichen Abscheu gegen Pech und Teer. Sir Herkules selbst fügte sich unter ihr Machtgebot; hätte sie an Bord gelebt, so würde sie ohne Frage das Schiff kommandiert haben; zum Glück für den Dienst aber war sie stets heftig seekrank, so oft sie eine Fahrt mitmachte, und konnte daher keinen Schaden stiften. „Ich entsinne mich“, sagte mein Vater zu mir, „dass wir einmal nach Portsmouth hinunter segelten, um Mundvorrat einzuholen. Lady Herkules, die in ziemliches Gewicht hatte, lag nachts seekrank in ihrer Häengematte, und da das Ziehtau nachgab, so purzelte sie köpflings auf das Deck nieder. Der Steward wurde von der Schildwache herbeigerufen, und nun gab es eine schreckliche Zänkerei. Man schickte natürlich nach mir, weil ich die Matte aufgehangen hatte. Sir Herkules hatte eine Decke über seine Schulter geworfen und stolzierte in auflodernder Leidenschaft, während sein Hemd im Winde wehte, umher. Ausserdem traf ich noch den Offizier der Wache, den man aus Versehen herbeigeschickt hatte, der aber jetzt Befehl erhielt, augenblicklich die Kajüte wieder zu verlassen — und eine weitere Person im Spiele war meine geringe Person, die sich nicht anders dachte, als sie werde in Eisen gelegt werden und sieben Dutzend zum Frühstück erhalten. Sir Herkules wusste nicht, was er anfangen sollte, denn er stürmte eben gegen jedermann los, während ihn Mylady, den Kopf unter ihrer Decke, nicht schlecht ausschalt. Sie erklärte, sie wolle keinem Manne erlauben, in die Kajüte zu kommen und ihr wieder aufzuhelfen. So unanständig, so unzart, so abscheulich — sie schäme sich für Sir Herkules, dass er nach Männern schicken könne; wenn sie nicht augenblicklich die Kajüte verliessen, so werde sie schreien und in Ohnmacht sinken — ja, das werde sie — und was weiss ich alles, was sie sonst noch thun wollte! Gut, wir warteten eben draussen, bis endlich Sir Herkules und Mylady mit einander zu parlamentieren begannen. Sie war zu leidend, um aus ihrem Bette aufstehen zu können, und er vermochte sie nicht ohne Beistand hinaufzuhissen. Schätz’ wohl übrigens, dass sie es nachgerade müd’ wurde, mit dem Kopf drei Fuss tiefer als mit den Fersen zu liegen, weshalb sie endlich einwilligte, uns hereinzulassen, damit wir sie wieder zurecht brächten, vorausgesetzt, dass sie zuvor passend bedeckt sei. Gut; zuerst musste Sir Herkules seine zwei Bootsmäntel über sie werfen, aber das wollte ihr nicht genügen. Er riss deshalb das grüne Tuch von dem Tische, aber auch dies war noch nicht genug für ihre zarte Empfindsamkeit, denn sie rief noch immer unter den Tüchern hervor nach mehr Bedeckung. Sir Herkules schickte deshalb nach zwei Schiffsflaggen, rollte das Tuch über sie auf, bis es so hoch war wie ein Heuschober, und liess uns dann hereinkommen, um die gnädige Frau wieder auf die Latten zu legen. Zum Glück war es kein schlüpfriger Stich, der zu dem Sturze Anlass gegeben hatte, denn das Ziehtau war unter Myladys eigener Last gewichen, so dass mein Rücken diesmal verschont blieb. Lass Dir’s gesagt sein, Jack, Weiber sind nicht gut an Bord.“

Ich muss übrigens jetzt noch eine wichtigere Person einführen, als sogar Lady Herkules war — nämlich meine Mutter. Es heisst im Sprichwort: „Wie der Herr, so der Knecht“, und ich kann wohl beifügen: „Wie die Frau, so die Dienerin.“ Lady Herkules war schön, aber ihr Kammermädchen noch schöner. Die meisten Leute, welche Selbstbiographieen schreiben, berichten über ihre Eltern, wenn sie arm sind, dass dieselben ihnen nichts als einen guten Namen hinterlassen hätten. Manche Eltern können nicht einmal dies thun, aber alle sind im stande, ihren Kindern jedenfalls einen hübschen Namen mitzugeben, wenn sie’s bei der Taufe nicht so gar über Bausch und Bogen nehmen. Meine Mutter hiess Araminta, was, wie mein Vater richtig bemerkte, „ein bischen über dem Gewöhnlichen“ stand. Sie war ursprünglich als eine Kinderwärterin in Dienst getreten und hatte in ihrer ersten Stelle ein Jahr und neun Monate ausgehalten. In der zweiten blieb sie zwei Jahre und vier Monate, worauf sie dieselbe aufgab, um sich zu verbessern, und in gleicher Eigenschaft ein Unterkommen in einer Familie fand, bei der sie abermals zwei Jahre und einen Monat weilte. Nach dieser Zeit trat sie in den Dienst der Lady Herkules, welche damals mit einem einjährigen Kinde gesegnet war. Das Kind starb im dritten Lebensjahre, und meine Mutter rückte nun zur Kammerjungfer der gnädigen Frau vor — ein Avancement, durch das sie ganz verderbt wurde, denn sie benahm sich nun hochmütiger als ihre Gebieterin selbst, und trug ihre Nase zehnmal höher. Ja, als mein Vater sie zum erstenmal anzureden versuchte (denn als Beischiffsführer kam er viel ins Haus hinauf), wandte sie sich mit der unaussprechlichsten Geringschätzung von ihm ab. Nun war mein Vater zu jener Zeit ungefähr dreissig Jahre alt und hielt sich für kein Dünnbier, wie man zu sagen pflegt. Er war ein grosser, hübscher Mann und hatte ein so gutes Aussehen, dass man ihn an Bord der ‚Druide‘ nur den „schönen Jack“ zu nennen pflegte. Ausserdem trug er einen Haarzopf von ganz ausserordentlicher Dicke und Länge, auf den er sich nicht wenig zu gute that, da er bis zu den Hosen hinunterreichte. Seine Haare waren schwarz, glänzend, und seine Schmachtlocken (wie die Matrosen den Haarwisch nennen, den sie über ihren Schläfen gedreht tragen) von der gewinnendsten Beschaffenheit. Mein Vater erzählte mir, als er meine Mutter zum erstenmal mit ihrer Oberbramsegelkappe auf der Hinterseite ihres Kopfes, die so ganz anders als das Fahrzeug im allgemeinen war, gesehen habe, sei er sehr geneigt gewesen, sie zu entern; wie sie ihn aber in dem gedachten Stil abkappte, holte „der schöne Jack“, um den sich die Damen von Sally-Port und Castle-Rag rissen, im Nu seinen Wind, zog seine weissen Hosen auf und zeigte ihr die Ferse, so dass sie stets den Anblick seines Rückens hatte, so oft sie sich gegenseitig begegneten. Für geraume Zeit würdigte er sie keines Blickes. Nun übte die Thatsache, dass mein Vater ihre Verachtung erwiderte, die gewöhnliche Wirkung. Anfangs war sie sehr wild und bezeichnete ihn, wenn sie mit Lady Herkules über ihn sprach, nur als den „stolzen Beischiffsführer, der sich mit seinem unflätigen Haarzopfe für einen weit grössern Mann halte, als Sir Herkules selbst sei.“ Mein Vater dagegen nannte sie unter der Bootsmannschaft „die stolze Kammerkatze“. So gingen die Sachen eine Zeitlang fort, bis meine Mutter, die meines Vaters schöne Proportionen ohne Unterlass im Auge hatte, jeden Tag einen anständigeren Mann in ihm fand und endlich durch einige Annäherungen von ihrer Seite ein gemeinschaftliches Einverständnis herbeiführte.

Zweites Kapitel.

Mein Vater handelt nach der Weise der meisten Matrosen — er schliesst eine thörichte Heirat. Eine von den Folgen derselben tritt mit dem Schlusse dieses Kapitels ans Licht.

Ich habe zuletzt bemerkt, dass meine Mutter und mein Vater endlich zu einem guten, wechselseitigen Einvernehmen kamen; gleichwohl aber trug Mamsell Araminta (denn so wollte sie durchaus genannt werden) Sorge dafür, meinen Vater wissen zu lassen, sie halte es für eine Herabwürdigung ihrer selbst, dass sie ihre reizende Persönlichkeit an den Beischiffsführer eines Kapitäns hingebe. Sie teilte ihm mit, ihr Vater sei ein königlicher Diener gewesen (und man konnte ihn in der That wohl in diesem Lichte betrachten, da er als Briefträger bei der Stadtpost funktioniert hatte), und ihre Mutter habe die ersten Persönlichkeiten des Landes auf ihrem Kerbholze (sie war nämlich Milchfrau); sie selbst aber habe einen jungen Baronet verpflegt und sei jetzt nicht nur eine Kammerjungfer, sondern sogar die Kammerjungfer einer gnädigen Frau. Diese wichtige Mitteilung nahm sich mein Vater tief zu Herzen und konnte kaum seinen Ohren trauen, als er vernahm, dass ihm das gute Glück einer derartigen Eroberung beschieden war; indes wird die Folge lehren, dass seine Heirat nicht sehr glücklich ausfiel. Er pflegte mir zu sagen: „Jack, lass Dir raten und heirate nie über Deinen Stand. Du kannst dabei mich zum Beispiel nehmen. Nichts anderes wollte mir gut genug sein, als die Kammerjungfer einer gnädigen Frau, obschon ich nicht einmal das Recht hatte zu einer blossen Kammerjungfer aufzublicken, wäre Deine Mutter lieber nur ein einfaches Dienstmädchen gewesen, so hätte alles gut ausfallen können.“ Doch derartige nachherige Erwägungen kommen zu spät, ich selbst wundere mich nicht über die Verblendung meines armen Vaters, denn „siehst Du, Jack,“ sagte er zu mir, „nachdem ich daran gewöhnt gewesen war, nichts als Pointweiber zu sehen, die so schlaff in ihren Stengen und so ungeordnet in ihrem Takelwerk waren, traf ich mit einem Fahrzeuge, wie Deine Mutter, zusammen — so schmuck und nett, alle Taue angespannt, die Stagen wohl gesetzt, jeden Tag in der Woche weisses Hängemattentuch ausgebreitet, mit einem Shawl unter Segel, gleich einer seidenen Flagge, und einer schelmischen Marssegelhaube mit rotem Wimpel. Ei, es war in der That, als ob ich Gesellschaft hielte mit einer zierlichen, kleinen Fregatte, die mit einer Flotte von Kohlenschiffen den Kanal hinunterrollt. Aber wie dem sein mag, hübsche Federn machen nicht gerade hübsche Vögel, und schön ist, wer schön thut.“

Meines Vaters Vermählung wurde jedoch durch Umstände beschleunigt. Eines Morgens hatte er eben sein Tabakröllchen aus der Backe genommen, den Mund mit dem Rücken seiner Hand abgewischt und war eben im Begriffe, einen keuschen Kuss auszutauschen, als Lady Herkules zufälligerweise in die Küche herunterkam — ein höchst seltenes Ereignis, das sich bei einer Dame von ihrem hohen Geiste durchaus nicht erwarten liess. Sie ertappte meinen Vater und meine Mutter auf der That, machte mit einem Ausrufe des Entsetzens „Schiff um“, wie es mein Vater nannte, „und wrickte im Nu die Treppe hinauf“. Ein schallendes Geklingel rief meine Mutter vor, so dass mein Vater in nicht sehr angenehmer Spannung zurückblieb, denn er berechnete, inwieweit Sir Herkules „das Küssen des Kammermädchens einer gnädigen Frau“ unter den Kriegsartikel, der von Verachtung der Vorgesetzten handelt, bringen könne, und wie viele Dutzend Küsse sein Rücken als Erwiderung durch die Katze erhalten dürfte. Während er sich in diese lieblichen Betrachtungen vertiefte, goss Lady Herkules alle nur erdenklichen Anathemas gegen den Mangel an Zartgefühl und Anstand aus, den sich meine Mutter hatte zu Schulden kommen lassen; dabei teilte sie ihr mit, es sei rein unmöglich, dass sie die Ausschmückung ihrer Person noch länger einem Geschöpfe anvertrauen könne, welches sich durch einen tabakkauenden Matrosen befleckt habe, denn wie die Schrift sagt: „wer kann Pech anrühren, ohne sich zu besudeln?“

Obgleich sich meine Mutter vorgenommen hatte, im Falle sich’s bei der Frage um die Stellung oder um den Gatten handle, den letzteren festzuhalten, so schien es ihr doch rätlich, die gnädige Frau womöglich zu versöhnen. Sie zog daher ein Nesseltaschentuch heraus, bedeckte, während Ihre Gnaden schmähten, ihr Gesicht damit und weinte. Lady Herkules fuhr fort zu zürnen, bis sie ausser Atem war und innehalten musste. Meine Mutter erwiderte dann mit tiefer Demut, unter vielen Thränen und häufigem Schluchzen, „man habe ihr freilich in der letzten Zeit so zugeredet (hupp), dass sie endlich ihr Versprechen gegeben habe, zu (hupp) heiraten; aber nur unter einer einzigen Bedingung — ja, in der That — (hupp), dass die gnädige Frau ihre Zustimmung gebe — entschieden unter keiner andern (hupp) — nein, gewiss nicht, auf Ehre! Mr. Sounders sei (hupp) ein vortrefflicher, junger Mann — (hupp) — Sir Herkules so zugethan (hupp), und habe eine so hohe Achtung vor der gnädigen Frau, dass (hupp — hupp — hupp —) er ihr Herz gewonnen habe.“

Mittlerweile war die gnädige Frau wieder zu Atem gekommen und unterbrach meine Mutter damit, dass sie derselben bemerklich machte, wenn auch alles wahr sei, was sie erwidert habe, so sehe sie doch keinen Grund ein, warum sie sich solche unanständige Freiheiten erlaube; überhaupt habe nicht einmal Sir Herkules von ihr eine derartige Gunstbezeugung genossen, bis er ihr den Ring an den Finger gesteckt. Dann seien allerdings derartige Dinge zulässig — jedoch immerhin nur gelegentlich. Und noch obendrein in der Küche! Sie bemerkte ferner, ob man wissen könne, dass der Beischiffsführer nicht bereits weiss Gott wie viele Weiber habe. Es würde sie nicht überraschen, wenn jener lange Haarzopf nicht schon wenigstens fünf — ja vielleicht sechs oder sieben besitze. Darauf erwiderte meine Mutter: „Nur die Dankbarkeit gegen sie (hupp), weil sie ihre Zustimmung gegeben, mit (hupp) Sir Herkules zu sprechen (hupp), damit er bei der gnädigen Frau ein Fürwort einlege (hupp), habe Mr. Sounders veranlasst (hupp), sich — eine — solche — Freiheit (hupp — hupp — hupp —) zu nehmen — was er nie — zuvor gethan habe, (hupp) — nie! nie — auf Ehre nie! —“ Sie konnte nicht weiter vor Schluchzen.

Diese Erklärung wirkte etwas besänftigend, und die Kammerjungfer einer gnädigen Frau brachte in der Folge durch Demut und Schmeicheleien ihre Gebieterin dahin, dass sie einwilligte, die Sache mit Sir Herkules ins reine zu bringen, als einzigen Grund für ihr Einschreiten angebend, dass es besser sei, wenn nach der Vertraulichkeit, welche zwischen ihnen vorgegangen sei, die Heirat je eher je lieber stattfinde. Die Wünsche der gnädigen Frau waren Befehle. Sir Herkules erklärte meinen Vater für einen Narren, und das Paar ging mit einander zur Kirche.

Meine Mutter hatte, wie bereits bemerkt, ein gutes Aussehen und mochte etwa zwei oder drei Jahre älter sein, als mein Vater. Sie war übrigens von schlimmer Gemütsart, empfindlich, rachsüchtig, und hatte stets eine grosse Freude daran, andere Leute zu ärgern. Wenn ihr dies dann gelungen war, so pflegte sie stets ihre Bemerkungen mit den Worten zu schliessen; „so, jetzt hab’ ich Dir doch die Galle ein bischen aufgeregt!“ War sie durch die Entgegnungen der andern in üble Laune versetzt worden, so versuchte sie ihren Verdruss durch Singen zu verbergen, und da sie sich so viele Jahre in der Kinderstube aufgehalten hatte, so wählte sie zu ihren Liedern gewöhnlich solche, mit denen man Kinder zu beschwichtigen oder zu unterhalten pflegt. „Sounders,“ konnte sie ausrufen, „bist Du nicht der grösste Narr, der je auf zwei Beinen gegangen ist, dass Du Dir so viel auf Deinen langen Haarzopf einbildest? Könnte man doch glauben, ich hätte einen Affen, einen Orangutang geheiratet statt eines Mannes. So, jetzt habe ich Dir die Galle ein wenig aufgeregt! Man kann nicht einmal den Mund aufthun.“

Meine Mutter wusste wohl, wo sie anklopfen musste, und dieser Angriff auf den Zopf war mit Sicherheit darauf berechnet, meinen Vater aufzubringen, der dann nicht gerade in höflichen Reden antwortete, bis endlich auch sie in Ärger und dann halb kreischend hinaussang —

„Heididel, heididel, die Katz und die Fidel,

Die Kuh sprang über den Mond“ u. s. w.

Und so quiekste sie fort, bis sich ihr Zorn abgekühlt hatte.

Die Folgen ihrer ehelichen Verbindung mit einem Beischiffsführer wurden bald sichtbar. Sechs Monate nach ihrer Verheiratung erklärte Lady Herkules das Aussehen meiner Mutter für ganz unanständig und durchaus nicht mehr geeignet, sich in dem Dienste einer Dame von ihrem grossen Zartgefühl zu präsentieren. Mrs. Sounders, die noch obendrein mit jedem Tage träger wurde, erhielt daher ihre Aufkündigung, packte nach Ablauf des Monates in grossem Zorne ihre Schachteln auf, schlug, als sie das Haus verliess, die Thüre hinter sich zu und sang im allerhöchsten Schlüssel ihrer Stimme:

„Dikori Dikori Dock

Die Maus lief hinauf zu der Glock“ u. s. w.

Mein Vater wünschte, dass sie an Bord der Fregatte wohne, aber dazu wollte sie ihre Einwilligung nicht geben, indem sie erklärte, es sei zwar wahr, dass sie sich und ihre Familie durch eine Heirat mit einem Beischiffsführer herabgewürdigt habe, aber so weit wolle sie sich denn doch nicht erniedrigen, dass sie sich unter die gemeinen Kreaturen an Bord mische. In diesem Entschlusse hatte meine Mutter, wie ich glaube, recht; aber ihrer Entlassung und Ungnade folgte der weitere Umstand, dass mein Vater seine Stelle verlor und dem grossen Mars zugeteilt wurde — aus keinem anderen Grunde, als weil es so der Wille und Befehl von Lady Herkules war.

Die gnädige Frau zog in Betracht, dass sie durch meines Vaters Dazwischenkunft eine gute Dienerin verloren hatte, und fasste daher einen solchen Widerwillen gegen ihn, dass sie ihn nicht wie gewöhnlich als Beischiffsführer ins Haus kommen lassen wollte; auch war sie ferner der Ansicht, wenn er die Funktion nicht mehr versehe, so sei er auch nicht zu den Rationen berechtigt. Nach kaum sieben Monaten war also meinem Vater die Heirat zu einer Quelle bitteren Verdrusses geworden: er gehörte nicht länger zu den Unteroffizieren und hatte auch von seinem Solde eingebüsst. Der Stolz meiner Mutter war verletzt, und wenn sie schon nicht als die Gattin von des Kapitäns Beischiffsführer an Bord bleiben mochte, so hatte sie jetzt noch weniger Lust dazu, nachdem er zu einem gemeinen Matrosen degradiert war. Was meinen Vater betrifft, so war er das leibhaftige Bild des Elends, denn jetzt hatte er keinen anderen Trost mehr, als dass er sein Tabaksröllchen im Munde umherwarf und seinen Zopf band.

Doch alles in der Welt ist dem Wechsel unterworfen, und so trat denn auch für die Fregatte ein Wechsel des Stationsplatzes ein, da sie ins Ausland kommandiert wurde. Sir Herkules verabschiedete sich von seiner gnädigen Dame, welche sich nun nach Tonbridge-Wells zurückzog, und mein Vater von meiner Mutter, die sich nach Woolwich begab. Sie hatte sich in ihrem Dienste einiges Geld erspart, und mein Vater händigte ihr allen Sold ein, den er erhielt, als die Schiffsmannschaft vor der Ausfahrt der Fregatte bezahlt wurde. Ich muss Sir Herkules die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass er, sobald er die Soundings und den Einfluss seiner Frau im Rücken hatte, meinen Vater wieder in sein früheres Amt einsetzte. Sounders war übrigens in der That der hübscheste und beste Matrose im Schiffe und verstand sich vortrefflich auf seinen Dienst, hatte auch ausserdem unter Rodney gefochten und die Belagerung von Gibraltar mitgemacht.

Ich muss jedoch zu meiner Mutter zurückkehren, welche sich nach der Abreise meines Vaters in einer Vorstadt von Woolwich einmietete. Von der abermaligen Standeserhöhung meines Vaters wusste sie nichts, und da sie nicht wünschte für die Gattin eines gemeinen Matrosen gehalten zu werden, so bezeichnete sie ihren Mann als den Kapitän eines Kauffahrers, welcher den Transport von Truppen nach Westindien übernommen habe. Diese Angabe verschaffte ihr Aufnahme in Gesellschaften, die über ihrer wahren Stellung standen, und da sie hiedurch genötigt war, mehr Geld auszugeben, als sie erschwingen konnte, so schwanden ihre Finanzen rasch dahin. Im Laufe der Zeit trat ich ans Licht — ein hübsches Bübchen, das aber zu nichts aufblicken konnte, als zu einer fast bettelarmen Mutter, einem abwesenden Vater (wenn er überhaupt noch am Leben war), dem Werkhause und dem Himmel.

Drittes Kapitel.

In welchem sich meine Mutter als ein zärtliches Weib beweist, zugleich aber auch ihren aufopfernden Patriotismus an den Tag legt.

Ich hatte mein zweites Lebensjahr zurückgelegt, ehe Nachrichten von meinem Vater einliefen. Alle Auskunft, die meine Mutter erlangen konnte, bestand darin, dass die Schiffsmannschaft der ‚Druide‘ auf eine andere Fregatte, namens ‚Melpomene‘ überpflanzt worden sei, da erstere für nicht mehr seewert erklärt und demgemäss zu Port-Royal ausser Dienst gestellt und abgebrochen worden war.

Briefe waren übrigens nicht von meinem Vater eingelaufen, denn er führte keinen sonderlichen Schulsack mit sich, da er zwar lesen, aber nicht schreiben konnte. Mittlerweile waren die Ersparnisse meiner Mutter aufgebraucht; sie kam sehr in Nöten, weil sie befürchten musste, die Täuschung, welche sie in betreff ihres Standes geübt hatte, möchte an den Tag kommen. In der That gingen bereits unterschiedliche Vermutungen über die Wahrheit ihrer Geschichte um, weil ihr Mann so lange abwesend blieb. Sie hatte bereits die letzte Guinee wechseln lassen, als ein Brief von meinem Vater einlief, der ihr von Portsmouth aus schreiben liess, das Schiff werde in einigen Tagen ausbezahlt, und dann „wolle er alle Segel aufklappen und unversehens an Bord seiner Alten sein.“

Meine Mutter war entzückt über den Inhalt des Schreibens, obgleich sie sich nicht wenig über die Titulatur „Alte“ ärgerte und die Beschimpfung bei einer passenden Gelegenheit zu ahnden beschloss. Sie erteilte daher eine freundliche Antwort, berichtete meinem Vater, mit welch’ einem hoffnungsvollen Kinde er gesegnet sei, und bedeutete ihm, er solle zu Greenwich mit ihr zusammentreffen; denn sie hatte sich vorgenommen, ihn nicht in Woolwich zu empfangen, damit ihre falschen Angaben nicht an den Tag kämen. Sie verabschiedete sich von allen ihren Freundinnen und teilte ihnen mit, ihr Gatte sei gesund und mit ansehnlichen Mitteln zurückgekehrt, habe ihr aber befohlen, nach Greenwich zu kommen. Nachdem sie sich, ihrer Ansicht nach so befriedigend, aus dieser kleinen Schwierigkeit geholfen hatte, packte sie auf und eilte nach dem genannten Orte, wo sie ihren angenommenen Rang fallen liess und sehr ungeduldig auf ihren Gatten wartete. Endlich langte er an: er sass mit vielen andern auf einem Landkutschen-Aussenplatz, den Hut mit Bändern geziert und in der einen Hand eine Pfeife, während er in der andern eine Zinnkanne schwang. Ich brauche kaum beizufügen, dass er mehr als halb betrunken war. Dennoch fand er eine gute Aufnahme; nachdem er sie mit Küssen fast erstickt hatte, nahm er mich auf seine Kniee, warf ihr alles noch übrige Geld in den Schoss und trank noch drei weitere Krüge Porter, worauf sie sich sehr friedlich und liebevoll zur Ruhe begaben.

Ich bedauere, sagen zu müssen, dass diese Freundschaft nicht von langer Dauer war. Die Manieren und die Sprache meines Vaters, welche vielleicht die Achtung vor Lady Herkules zur Zeit, als er meiner Mutter Bekanntschaft machte, gemildert hatte, waren jetzt weit roher, wie denn auch die nette Reinlichkeit, die er als Beischiffsführer eines verheirateten Kapitäns pflichtschuldig zeigen musste, durchaus an ihm vermisst wurde. Da er ausserdem jetzt nicht länger unter der Mannszucht stand, so war er fast jeden Abend betrunken — ein Zustand, in welchem er sich sehr störrisch zeigte und nicht auf die Mahnungen seiner Gattin achtete. Die Folge davon war, dass meine Mutter, nachdem sie von ihm fünfzig Pfund erhalten hatte, zuerst das Geld einschloss und dann „ihr Mundwerk gehen“ liess. Es gab nun stündlich Zank, und man konnte jetzt das „So — nun habe ich Dir die Galle aufgeregt“, und das „Heididil, Heididil“ vom Morgen bis in die Nacht hören.

Mein Vater pflegte in die Grogschenken zu gehen, um mit seinen Tischgenossen zu tanzen und zu zechen. Da ihn meine Mutter nicht nach so gemeinen Plätzen begleiten konnte, so ging er allein hin und kam nachts sehr spät oder gar nicht, jedenfalls aber sehr betrunken nach Haus. Auch pflegten die Weiber und guten Freundinnen der übrigen Matrosen ihr Hohnworte nachzurufen, wenn sie ausging, weil sie besser sein wolle, als andere.

Eines Tages, als sie Arm in Arm mit meinem Vater ausging, traf sie unglücklicherweise mit einer von ihren Woolwicher Bekannten zusammen. Dies war der herbste Schlag für sie, da sie sich vorgenommen hatte, nach Woolwich zurückzukehren — eine um so schlimmere Entdeckung, da sie jetzt von ihren alten Freundinnen gemieden, von ihresgleichen aber verunglimpft wurde. Ich kann das Benehmen meiner Mutter nicht verteidigen und muss gestehen, dass sie kein Mitleid verdiente, denn sie hatte diese leidige Stellung durch ihre eigene Thorheit und ihren Stolz herbeigeführt. Die Folge davon war übrigens, dass ihr Temperament noch mehr verbittert wurde, und weil sie an meinem Vater unaufhörlich zu tadeln hatte, so geriet er eines Abends, als er mehr wie gewöhnlich betrunken war, so in Zorn, dass die „Kammer-Jungfer einer gnädigen Frau“ eine tüchtige Ohrfeige erhielt, welche für sie die einzige Kerze auf dem Tische zu einer grossen Illumination machte. Dieser Schlag wurde nie vergessen oder vergeben, obschon mein Vater am andern Tage sehr reuig war und mit Besserungsversprechen um Verzeihung bat.

Um diese Zeit brach die französische Revolution aus und man sah einem Kriege mit Frankreich entgegen. Die Pressbanden wurden ausgeschickt; die Matrosen, welche davon wussten, hielten sich versteckt, bis sie die Stadt verlassen würden. Meine Mutter hatte jedoch ihren Entschluss gefasst; sie suchte einen Offizier auf, der einen Presshaufen kommandierte, gab ihm ihre Adresse, setzte meinem Vater Branntwein vor, bis er zur Betäubung betrunken war, liess die Bande ein, und noch vor Morgen befand sich mein Vater wohlbehalten an Bord des ‚Tender‘, der vor dem Tower lag. Mein Vater entdeckte diese Verräterei von ihrer Seite erst eine Weile nachher, was, wie ich später berichten werde, Anlass zu einer sehr erbaulichen Scene zwischen beiden gab. Am andern Tage erschien meine Mutter an Bord des ‚Tender‘, um meinen Vater zu besuchen, hielt ihr Nesseltaschentuch an die Augen, presste seine Hand zwischen dem eisernen Gitter und beklagte bitterlich ihr gemeinsames, hartes Los; als er sie aber bat, sie solle ihm in einer Blase ein wenig Branntwein zuschmuggeln, damit er sich einigen Trost verschaffen könne, warf sie ihren Kopf zurück und erklärte, „nichts könne sie veranlassen, etwas so Unschickliches zu thun.“ Mein Vater wandte sich darauf ab und beklagte den Tag, an dem er die Kammerjungfer einer gnädigen Frau geheiratet hatte.

Ein paar Tage nachher brachte ihm meine Mutter seine Kleider und zwei Pfund von seinem eigenen Gelde. Da ein Krieg in Aussicht stand, suchte sie ihn zu bereden, dass er sie bevollmächtige, sein Prisengeld einzuziehen; mein Vater war aber in dieser Beziehung klüger geworden und weigerte sich aufs entschiedenste. Er wandte ihr den Rücken zu und sie trennten sich.

Ich werde vorderhand meinen Vater seinem Glückssterne folgen lassen und mich mit dem meiner Mutter abgeben. Aus seiner Weigerung, die von ihr vorbereitet mitgebrachte Urkunde zu unterzeichnen, den Schluss ziehend, dass sie von meinem Vater in Zukunft nur wenig zu erwarten habe, und wahrscheinlich auch die Gefahr ins Auge fassend, welcher ein Seemann „durch Schlacht, Feuer und Schiffbruch“ ausgesetzt ist, nahm sie sich vor, ihre Hilfsmittel besser zu Rate zu halten und zu versuchen, ob sie nichts für sich selbst thun könne. Anfangs dachte sie daran, wieder in einen Dienst zu gehen und mich in Kost zu geben, aber sie entdeckte, dass meines Vaters Rückkehr nicht ohne Folgen geblieben und sie abermals im Begriffe war, Mutter zu werden. Sie mietete sich daher eine Wohnung in Fishers-Alley, einer kleinen, noch jetzt bestehenden Strasse in Greenwich, und gebar im Laufe der Zeit eine Tochter, welche sie Virginia nannte — nicht so sehr aus Achtung gegen ihre frühere Gebieterin, welche den gleichen Namen getragen hatte, sondern weil ihr diese Benennung besonders klangvoll und ladyartig vorkam.

Viertes Kapitel.

In welchem der Leser alles erfährt, was mir über meine erste Jugend im Gedächtnis geblieben ist. — Die Wahrheit des alten Sprichwortes bewiesen, „dass es ein kluges Kind sein muss, das seinen Vater kennt“.

Der Leser muss nicht erwarten, dass ich ihm viel von dem erzähle, was während der ersten vier Jahre meines Daseins vorging. Ich entsinne mich, dass eine Diele vor die Thür unseres Hauses, welche nach Fisher’s-Alley hinausging, gelegt wurde, um mich und später meine Schwester zu hindern, auf die Gasse hinauszukriechen. Fisher’s-Alley ist eine so enge Strasse, dass man die Nachbarn auf der entgegengesetzten Seite in ihrem Zimmer sprechen hören kann; ich pflegte mich gewöhnlich auf das Bett zu stützen, um zu lauschen, wenn die betrunkenen Männer und die angeheiterten Weiber mit einander zankten oder sich balgten. Meine Mutter, welche sparen wollte, hatte das ganze Haus gemietet und es möbliert. Ich hörte sie daher jeden Tag an der Thür sagen: „Herein spaziert, Gentlemen; ich habe ein nettes, reinliches Zimmer und kochend heisses Wasser“ — denn die Matrosen pflegten einzusprechen, um bei ihr Thee nebst anderm Getränk zu sich zu nehmen und zu rauchen. Ein Gleiches war auch hin und wieder bei den alten Pensionären der Fall, von denen meine Mutter mehrere hatte kennen gelernt. Ich war stets zerlumpt und schmutzig, denn meine Mutter vernachlässigte und misshandelte mich. Nach der Geburt meiner Schwester trug sie alle ihre Liebe auf Virginia über, die ein sehr schönes Kind war und stets gehätschelt und gut gekleidet wurde.

Von alle dem weiss ich nur wenig mehr, als dass mich meine Mutter mehrere Mal prügelte, weil ich meine Schwester „Jenny“ nannte. Ich folgte hierin nur dem Beispiele anderer, die ein Gleiches thaten; wenn aber meine Mutter dies hörte, so wurde sie stets sehr zornig und sagte ihnen, ihr Kind habe keinen so gemeinen Namen. Die Leute pflegten dann zu lachen und riefen nun absichtlich Virginia mit Jenny an, so oft sie vorbeikamen oder das Kind an der Thür sahen. Nachdem ich mein viertes Lebensjahr zurückgelegt hatte, begann ich über die Diele wegzuklettern, da es mir im Hause gar nicht mehr gefiel. Als ich älter wurde, pflegte ich nach den Quaitreppen am Ufer zu gehen — wo jetzt das neue Wirtshaus, der „Trafalgar“, steht — auf die Ebbe zu achten und alles, was ich finden konnte, zum Beispiel Holz- und Taustücke, aufzulesen. Auch wunderte ich mich über die Schiffe, die im Strome lagen, und über die Fahrzeuge, welche auf- und niedersegelten. Bisweilen blieb ich lange aus, um den Mond und die Lichter an Bord der vorbeifahrenden Schiffe zu betrachten; dann schlug ich wohl auch meine Augen zu den Sternen auf und sagte den Vers vor mich hin, den meine Mutter die kleine Virginia gelehrt hatte —

„Hübscher, kleiner Funkelstern,

Warum bist so fern, so fern

Über unserm Erdgetümmel,

Wie ein Diamant am Himmel?

Bei derartigen Nachtwandelpartieen durfte ich wohl darauf zählen, nichts als etwa eine tüchtige Prügelsuppe zum Abendessen zu erhalten, worüber dann Virginia aufwachte und zu weinen begann, weil meine Mutter mich schlug; denn wir liebten einander zärtlich. Die Mutter pflegte jeden Abend meine Schwester auf ihre Kniee zu nehmen und sie ihr Nachtgebet hersagen zu lassen. Mit mir that sie dies nie, weshalb ich auf das achtete, was Virginia hersprach, und dann in eine Ecke ging, um es für mich zu wiederholen. Ich konnte mir gar nicht denken, warum Virginia beten lernen sollte und ich nicht auch.

Wie bereits gesagt, vermietete meine Mutter Wohnungen und hielt ein vorderes Parterrezimmer für Leute, die da ihren Thee trinken und rauchen wollten. Wenn dann die Pensionäre kamen, so pflegte ich meinen Schemel herbeizuholen oder auf ihren Knieen zu sitzen und hörte auf ihre Geschichten, wobei ich mir alle Mühe gab, sie zu verstehen, obschon mir ihre wunderliche Sprache mehr als zur Hälfte unbegreiflich war. Auch brachte ich ihnen Feuer für ihre Pfeifen und besorgte ihre Aufträge. Alt Ben, der Walfischjäger, wie man ihn nannte, war derjenige, welcher sich am meisten mit mir abgab und mir sagte, ich werde mit der Zeit ein Mann werden — eine Kunde, die mich damals sehr erfreute. Ich fertigte ein kleines Boot für meine Schwester, das mich viel Mühe kostete, Ben half es mir anstreichen. Ich brachte es Virginia und wir beide waren sehr vergnügt darüber; als es jedoch meine Mutter zu Gesicht bekam, warf sie es ins Feuer und sagte, das sei „unschicklich.“ Wir beide weinten darüber und Alt Ben sagte in seinem Zorne meiner Mutter etwas, worauf sie Anlass nahm, den ganzen Tag nachher „Heididel, Heididel“ zu singen. Dies sind die klaren Erinnerungen aus meinem frühesten Leben, mit denen sich der Leser begnügen muss.

Als ich acht Jahre alt war, erschien mein Vater wieder (etwa sechs Jahre nach dem letzten Besuche) — jetzt erfuhr ich zum erstenmal, dass er noch am Leben war; denn bei seiner Abreise war ich noch zu klein gewesen, um mich seiner erinnern zu können, und aus dem Munde meiner Mutter vernahm ich nie, dass er sich noch eines leiblichen Daseins erfreute.

Der Vater traf also eines Tages sehr unerwartet ein, da er seine Rückkehr nicht angemeldet hatte. Meine Mutter schlug mich eben mit der Bratpfanne, weil ich meine Finger in das Fett getaucht hatte, in welchem sie gerade einige Schinkenschnitten röstete. Sie war sehr zornig und während sie auf mich lospaukte, zerrte Virginia sie an den Schössen, indem sie die Mutter weinend bat, doch aufzuhören.

„Du kleiner Wicht“, rief meine Mutter, „Du wirst gerade ein solches Seeungeheuer werden, wie Dein Vater war — Du Schwein, musst Du denn immer Deine Finger in die Bratpfanne stecken? So, da hast Du es.“

Mit diesen Worten setzte sie die Pfanne nieder und begann, so laut sie konnte, zu singen: „Still, still, Bübchen, Mietzchen hat ein Liebchen“ — „Ja, gelt, jetzt habe ich Dir die Galle rege gemacht“, fuhr sie fort, indem sie nach der Hinterthür ging.

Alles das hatte mein Vater an der Thür mitangesehen, ohne selbst bemerkt zu werden. Er kam herein.

„Wie heisst Du, Knabe?“ sagte er zu mir.

„Tommy Sounders“, versetzte ich, mich reibend, denn die Bratpfanne war sehr heiss gewesen.

„Und wer ist denn dieses kleine Mädchen?“ fragte er.

„Meine Schwester Virginia — aber“, fuhr ich fort, „wer seid Ihr? Wollt Ihr zur Mutter?“

„Habe eben jetzt kein besonderes Verlangen nach ihr“, sagte mein Vater, indem er die Schwester aufhob und sie küsste, dann aber mich auf den Kopf pätschelte.

„Möchtet Ihr Bier oder Tabak haben?“ fragte ich. „Wenn Ihr mir Geld gebt, will ich gehen und holen; auch kann ich den Überschuss richtig zurückbringen.“

„Gut, das sollst Du, Jack, mein Junge“, versetzte er, indem er mir einen Shilling gab.

Ich kehrte bald mit zwei Pfeifen, Tabak und Bier zurück und wollte ihm auch den Überschuss des Geldes geben, den er mir jedoch schenkte, um Äpfel dafür zu kaufen. Virginia sass auf seinem Knie und wurde von ihm geliebkost. Die Mutter war noch nicht aus der Hinterküche zurückgekommen. Ich fühlte mich natürlich sehr freundlich gestimmt gegen einen Mann, der mir mehr Geld geschenkt hatte, als ich je in meinem Leben besessen, nahm meinen Schemel und setzte mich an seine Seite, während er, die Schwester auf seinem Knie und den Porterkrug vor sich, seine Pfeife rauchte.

„Schlägt Dich Deine Mutter oft?“ fragte mein Vater, die Pfeife aus dem Munde nehmend.

„Ja, wenn ich etwas Unrechtes thue“, versetzte ich.

„O! nur wenn Du etwas Unrechtes thust, he?“

„Sie sagt, es sei Unrecht und dann muss es wohl wahr sein.“

„Du bist ein guter Knabe“, entgegnete mein Vater. „Kriegst Du auch Deine Schläge, mein liebes Kind?“ fuhr er gegen Virginia fort.

„Oh nein“, ergriff ich das Wort. „Die Schwester wird nie geschlagen. Die Mutter liebt sie zu sehr, aber mich liebt sie nicht.“

Mein Vater paffte weiter und schwieg.

Ich muss dem Leser mitteilen, dass das Aussehen meines Vaters ganz anders geworden war, als ich es bei dem Beginne dieser Erzählung geschildert habe. Er war jetzt Hochbootsmannsmate und trug an einem Stück Tau eine silberne Pfeife um den Hals, mit welcher die kleine Virginia eben spielte. Er war breiter und stämmiger geworden, als es bei Matrosen im Alter von vierzig Jahren gewöhnlich der Fall ist, hatte ausserdem die Narbe eines furchtbaren Säbelhiebs im Gesichte, welche die ganze linke Hälfte, von der Augenbraue an bis zum Kinne, teilte. Dies verlieh ihm einen sehr wilden Ausdruck; aber dennoch war er ein schöner Mann und sein Haarzopf hatte auf eine überraschende Weise an Länge und Dicke zugenommen. Wie ich später erfuhr, war sein Schiff nicht abgelohnt worden, sondern befand sich zur Ausbesserung in dem Dock-Yard; er hatte einen Urlaub von vierzehn Tagen erhalten. Wir waren unter einander sehr gesellig — ohne dass ich oder meine Schwester nur die mindeste Vorstellung davon hatte, in welcher Beziehung wir zu dem fremden Manne ständen — als sich endlich Alt Ben, der Walfischjäger, hereinwälzte.

„Cervus“, sagte Ben, meinem Vater zunickend. „Tommy, hol’ mir eine Pfeife Tabak.“

„Da ist Pfeife und auch Tabak, Messmate“, versetzte mein Vater. „Setzt Euch und thut Euch gütlich, alter Knabe.“

„Will kein freundliches Anerbieten zurückweisen“, entgegnen Ben. „Habe dafür zu lange im Dienste gestanden. Und auch Ihr habt etwas mitgemacht, denke ich“, fuhr er fort, meinem Vater voll ins Gesicht sehend.

„Ist ein Riss von einem französischen Offizier“, erwiderte mein Vater und fügte dann nach einer Pause bei: „Aber er hat’s nicht erlebt, damit dick thun zu können.“

Ben nahm die dargebotene Pfeife, füllte sie und war bald an der Seite des Vaters mit emsigem Paffen beschäftigt.