Hans Fallada

Ein Mann will nach oben

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Hans Fallada

Ein Mann will nach oben

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Südverlag, München, 1953 (646 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962813-26-0

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Inhaltsverzeichnis

Vor­wort des Ver­fas­sers

Ers­tes Buch – Der Jüng­ling

Vor­spiel – Die klei­ne Stadt

Ers­ter Teil – Rie­ke Busch

Zwei­ter Teil – Kal­li Flau

Drit­ter Teil – Franz Wa­gen­seil

Zwi­schen­spiel: In der frem­den Hei­mat

Zwei­tes Buch – Der Mann

Vier­ter Teil – Frie­de­ri­ke Sieb­recht

Fünf­ter Teil – Her­t­ha Sieb­recht

Sechs­ter Teil – Ilse Goll­mer

Nach­spiel – Der Sohn

Dan­ke

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Vorwort des Verfassers

In die­sem Buch ist al­les er­fun­den; es ist ein Ro­man, also ein Werk der Fan­ta­sie.

Das möch­te der Ver­fas­ser, wie bei man­chem sei­ner frü­he­ren Wer­ke, ein­lei­tend fest­stel­len. Die­se Fest­stel­lung gilt nicht nur für die Per­so­nen und Er­eig­nis­se, son­dern auch ganz be­son­ders für die Grün­dung und das Wer­den je­nes in die­sem Ro­man ge­schil­der­ten Ber­li­ner Un­ter­neh­mens, das die Ge­päck­be­för­de­rung zur Auf­ga­be hat.

Der Ver­fas­ser ver­mied es mit Ab­sicht, über die Ge­schich­te ei­nes tat­säch­lich be­ste­hen­den der­ar­ti­gen Un­ter­neh­mens auch nur das Ge­rings­te in Er­fah­rung zu brin­gen; er woll­te frei er­fin­den kön­nen, und das hat er dann auch ge­tan.

Trotz­dem hofft der Ver­fas­ser, ein ge­treu­es Bild ver­schie­de­ner Zei­te­po­chen seit 1910 in der Haupt­stadt Ber­lin ge­ge­ben zu ha­ben.

H. F.

Erstes Buch – Der Jüngling

Vorspiel – Die kleine Stadt

1. Staub zu Staub

Asche zu Asche! Erde zu Erde! Staub zu Staub!«, rief der Pas­tor, und bei je­der An­ru­fung mensch­li­cher Ver­gäng­lich­keit warf er mit ei­ner klei­nen Kin­der­schip­pe Erde hin­ab in die Gruft. Uner­träg­lich hart pol­ter­ten die ge­fro­re­nen Bro­cken auf das Holz des Sar­ges.

Den jun­gen Men­schen, der hin­ter dem Geist­li­chen stand, schüt­tel­ten Grau­en und Käl­te. Er mein­te, der Pas­tor hät­te dem Va­ter die Erde sanf­ter ins Grab ge­ben kön­nen. Doch als er nun selbst die Erde auf den to­ten Va­ter hin­ab­warf, schi­en sie ihm noch lau­ter zu pol­tern. Ein Schluch­zen pack­te ihn. Aber er woll­te nicht wei­nen, er woll­te nicht hier wei­nen vor all die­sen Trau­er­gäs­ten, er woll­te sich stark zei­gen. Fast hil­fe­fle­hend rich­te­te er den Blick auf den Grab­stein von röt­li­chem Sye­nit, der senk­recht zu Häup­ten des Gra­bes stand. »Kla­ra Sieb­recht, ge­bo­ren am 16. Ok­to­ber 1867, ge­stor­ben am 21. Juli 1893« war dar­auf zu le­sen. Von die­sem Stein konn­te kei­ne Hil­fe kom­men. Die gol­de­ne Schrift war vom Al­ter schwärz­lich an­ge­lau­fen, das Ster­be­da­tum der Mut­ter war zu­gleich sein Ge­burts­tag; er hat­te die Mut­ter nie ge­kannt. Und nun wür­de bald auch der Name des Va­ters auf die­sem Stein zu le­sen sein mit dem To­des­tag: 11. No­vem­ber 1909.

Asche zu Asche! Erde zu Erde! Staub zu Staub! dach­te er. Nun bin ich ganz al­lein auf der Welt, dach­te er, und wie­der schüt­tel­te ihn ein Schluch­zen.

»Gib mir die Schip­pe, Karl«, flüs­ter­te der On­kel Ernst Stu­dier und nahm sie ihm schon aus der Hand.

Karl Sieb­recht trat ver­wirrt zu­rück ne­ben Pas­tor We­de­kind. Der gab ihm fest die Hand, sah ihm ernst ins Auge. »Ein schwe­rer Ver­lust für dich, Karl«, sag­te er. »Du wirst es nicht leicht ha­ben. Aber hal­te die Ohren steif und ver­giss nicht, dass Gott im Him­mel kei­ne Wai­se ver­lässt!«

Und nun ka­men sie alle, der Rei­he nach, schüt­tel­ten ihm die Hand und sag­ten ein paar Wor­te, meist er­mah­nen­den In­halts, stark zu sein; sie alle, von dem gelb­li­chen On­kel Stu­dier an bis zu dem di­cken Ho­te­lier Fritz Adam. Und kei­ner von ih­nen al­len sag­te auch nur ein net­tes Wort über Va­ter, der ih­nen doch im­mer ge­fäl­lig und hilf­reich ge­we­sen war, viel zu ge­fäl­lig und viel zu hilf­reich, dach­te der Sech­zehn­jäh­ri­ge mit Er­bit­te­rung. Aber ich will nicht so gut­mü­tig sein wie Va­ter, dach­te er. Ich wer­de in mei­nem Le­ben stark und hart sein!

Sein Herz wur­de gleich wie­der weich, als nun nach all den Män­nern als ein­zi­ge Frau die alte Min­na am Gra­be stand, Min­na mit ih­rem wie aus Holz ge­schnit­te­nen Ge­sicht, die schon bei sei­ner Mut­ter ge­dient und ihn groß­ge­zo­gen, die jahraus, jahrein den her­an­wach­sen­den Sohn be­treut hat­te. Ein sanf­tes Ge­fühl mach­te ihn be­ben, als er sie so starr und trä­nen­los am Gra­be ste­hen sah. Arme alte Min­na, dach­te er. Was wird nun aus dir? Sie um­fass­te sei­ne Hand mit ei­nem Griff. »Mach schnell, dass du nach Hau­se kommst, Karl –«, flüs­ter­te sie. »Du siehst schon ganz blau aus. Ich set­ze gleich was War­mes für dich auf!«

Nun gin­gen alle. Karl Sieb­recht sah das Ba­rett des Geist­li­chen schon nahe der Kirch­hofs­pfor­te, ihm folg­te in klei­nem Ab­stan­de der Tross der Trau­er­gäs­te. Alle hat­ten es ei­lig, aus dem ei­si­gen No­vem­ber­wind zu kom­men. »Nun mach schon zu, Karl!«, dräng­te der On­kel Ernst Stu­dier. »Dei­nem Va­ter ist auch nicht da­mit ge­hol­fen, dass wir hier ste­hen und frie­ren.«

»Recht hast du, Ernst!«, stimm­te der Ho­te­lier Adam zu und setz­te sich auf der an­de­ren Sei­te Karl Sieb­rechts in Marsch. »Wir wol­len se­hen, dass wir rasch ins War­me kom­men!«

Aber der Jun­ge ach­te­te gar nicht auf die lieb­lo­sen Wor­te der bei­den. Ihm war es, als habe er hin­ter ei­nem Grab­stein et­was hu­schen se­hen, nach dem Gra­be des Va­ters zu. Wirk­lich, es war Eri­ka, sei­ne klei­ne Nach­ba­rin, die vier­zehn­jäh­ri­ge Toch­ter des Pas­tors We­de­kind. Sie hat­te sich heim­lich zum Be­gräb­nis ge­schli­chen, und sie hät­te doch in die­ser Nach­mit­tags­stun­de im Hand­ar­beits­un­ter­richt sein müs­sen! Gute, klei­ne Eri­ka – jetzt warf sie Blu­men in das Grab …

»Was hast du denn, Karl?«, rief der On­kel und hielt den Stol­pern­den. »Wo hast du denn dei­ne Au­gen?«

»Süh mal süh«, sag­te der Ho­te­lier, und sei­ne Au­gen wa­ren vor heim­li­chem Ver­gnü­gen ganz klein ge­wor­den. »Ist das nicht We­de­kinds Eri­ka? Das soll­te Pas­tor We­de­kind wis­sen! Um dei­nen Va­ter ist die auch nicht hier­her­ge­kom­men, Karl!«

»Das fin­de ich nicht hübsch von dir, Karl!« On­kel Ernst Stu­dier führ­te den Jun­gen fast ge­walt­sam aus der Kirch­hofs­pfor­te. »Am Be­gräb­nis­tag dei­nes lie­ben Va­ters soll­test du an­de­re Din­ge im Kopf ha­ben! Und über­haupt: Du bist erst sech­zehn, und sie kann kaum vier­zehn sein …!«

»Was ihr auch im­mer gleich denkt!«, rief der Jun­ge zor­nig. »Wir sind nicht so, wie ihr – denkt!«

»Wir den­ken schon das Rich­ti­ge – lei­der!«, ant­wor­te­te der On­kel streng. »Über­haupt, eine Pas­to­ren­toch­ter steht viel zu hoch für dich«, er­klär­te er. »Du kannst froh sein, wenn dich ir­gend­wer in die Leh­re nimmt!«

»Das kannst du!«, stimm­te Adam zu. »Für einen Lehr­ling bist du mit dei­nen Sech­zehn zu alt, und für die Schu­le ist kein Geld da!«

Aber Karl Sieb­recht ach­te­te nicht mehr auf ihr Ge­schwätz, er war nur froh, dass sie nicht mehr von Eri­ka We­de­kind spra­chen. Mit Ab­nei­gung sah er auf die nüch­ter­nen Back­stein­fassa­den der mär­ki­schen Klein­stadt, auf die dürf­ti­gen La­den­aus­la­gen der klei­nen Krä­mer, wie der On­kel Ernst Stu­dier ei­ner war. Drei­mal war er mit dem Va­ter in Ber­lin ge­we­sen, im­mer nur auf ein paar Tage, aber doch hat­te ihn die Groß­stadt be­zau­bert. Der Va­ter hät­te gar nicht erst zu sa­gen brau­chen: »Mach es nicht wie ich, Karl, setz dich nicht in ei­nem sol­chen Nest fest. Al­les wird klein und eng dort. Hier hat man Platz, hier kann man sich rüh­ren.« Oh, er woll­te sich rüh­ren, die soll­ten ihn nicht hal­ten kön­nen!

Vor dem Ho­tel »Ho­hen­zol­lern« stand war­tend ein gan­zer Trupp der Leid­tra­gen­den. »Das hab’ ich mir doch ge­dacht!«, rief Fritz Adam. »Ja, kommt nur alle ’rein, mei­ne Alte hat das Grog­was­ser schon heiß! Das wird uns gut­tun! – Du darfst auch mit­kom­men, Karl! Heu­te darfst du aus­nahms­wei­se ein Glas Grog trin­ken!«

»Nein, dan­ke!«, sag­te Karl Sieb­recht. »Ich geh schon nach Haus!«

»Wie du willst!«, sag­te der Ho­te­lier et­was be­lei­digt. »Viel Grog wird dir in den nächs­ten Jah­ren be­stimmt nicht an­ge­bo­ten!«

Und der On­kel Stu­dier: »Um fünf sind wir dann alle bei dir und be­spre­chen dei­ne Zu­kunft. Sage der Min­na, sie soll uns einen gu­ten Kaf­fee ko­chen.«

Hin­ter der nächs­ten Hau­se­cke war­te­te Karl Sieb­recht, bis sie alle in Adams Ho­tel ver­schwun­den wa­ren. Dann lief er im Trab zum Fried­hof zu­rück. Aber so­sehr er sich dort auch um­sah, es war al­les leer und still. Sei­ne klei­ne Freun­din war schon ge­gan­gen. So schlich er lei­se an das Grab. Es lag, wie er es ver­las­sen, die To­ten­grä­ber wa­ren noch nicht da­ge­we­sen. Er sah hin­ab auf den Sarg. Über der hin­ab­ge­wor­fe­nen Erde la­gen drei Blu­men, die sie ge­bracht, drei wei­ße spä­te As­tern. Zwi­schen Schau­der und Ver­lan­gen knie­te er an des Va­ters Grab nie­der, beug­te sich tief in die Gruft und nahm sich eine Blu­me vom Sarg.

2. Die Zukunft in der Küche

In der Stu­be re­de­ten sie im­mer lau­ter; sie wur­den wohl über sei­ne Zu­kunft nicht ei­nig. Der Jun­ge starr­te aus dem Kü­chen­fens­ter in die vom Wind durch­p­fif­fe­ne nas­se No­vem­ber­nacht. Hin­ter sei­nem Rücken wirt­schaf­te­te die alte Min­na mit ih­ren Töp­fen am Her­de. Jetzt schraub­te sie den Docht der Pe­tro­le­um­lam­pe nied­ri­ger, dass die Kü­che fast im Däm­mer lag. Sie sag­te: »Es ist bald Abendes­sens­zeit, soll ich dir Stul­len ma­chen, Karl?«

»Ich kann nicht es­sen – we­nigs­tens so lan­ge nicht, bis über mei­ne Zu­kunft ent­schie­den ist!«

»Da wird nicht viel zu ent­schei­den sein! Du wirst Ver­käu­fer wer­den müs­sen bei dei­nem On­kel Ernst!«

»Nie, Min­na! Das nie! Hast du wirk­lich ge­dacht, ich wür­de bei On­kel Ernst un­ter­krie­chen und in sei­nem Kram­la­den grü­ne Sei­fe ver­kau­fen? Nie – nie – nie!«

»Aber was dann, Karl? Du weißt, es ist kein Pfen­nig da. Wenn al­les ver­kauft ist, reicht es viel­leicht ge­ra­de für die Schul­den. Was willst du denn an­fan­gen?«

»Ich gehe fort, Min­na. Min­na, ver­rat mich nicht, ich gehe nach Ber­lin!«

»Das wer­den die nie er­lau­ben!«

»Ich gehe, ohne sie zu fra­gen!«

»Aber was willst du denn in Ber­lin an­fan­gen? Du hast nichts ge­lernt, du bist nur ein Schü­ler ge­we­sen, du bist kör­per­li­che Ar­beit nicht ge­wohnt!«

»Ich bin stark, ich bin stär­ker als alle, Min­na. Ich will raus hier aus der Enge! – Ich has­se hier je­den Stein, je­des Haus, je­des Ge­sicht – nur dein gu­tes, al­tes Ge­sicht nicht, Min­na! Ich will fort von dem al­len, es hat den Va­ter ka­putt­ge­macht, ich will nicht, dass es mir eben­so geht!«

»Du weißt nicht, Karl, wie schwer ein Le­ben ist, in dem man ganz auf sich al­lein ge­stellt ist!«

Karl Sieb­recht rief mit hel­ler Stim­me: »Es soll ja schwer sein, Min­na! Ich will gar kein leich­tes Le­ben ha­ben. Ich will viel wer­den, ich füh­le dazu die Kraft in mir!«

Un­be­irrt fuhr das alte Mäd­chen fort: »Und dann das Le­ben in der großen Stadt! Du, der nie ru­hig sit­zen kann, der jede freie Stun­de drau­ßen war – du willst im­mer in sol­chen ho­hen Stein­häu­sern hocken, ohne Licht und Son­ne – du wirst tod­un­glück­lich da­bei, Karl!«

»Und wenn ich dort un­glück­lich wer­de, Min­na, so weiß ich, es hat sich ge­lohnt. Hier wäre ich auch je­den Tag un­glück­lich, und wo­für, Min­na, wo­für? Was kann ich denn hier wer­den –?!«

»Man kann über­all et­was Rech­tes wer­den, Karl!«

»Das ist so ein Spruch, wie ihn der Pas­tor We­de­kind sagt. Ich kann mit sol­chen Sprü­chen nichts an­fan­gen. Ich hab’s hier in der Brust, Min­na, ich muss fort von hier, wo mich je­des Ge­sicht, je­der Baum an den Va­ter er­in­nert, wo sie alle in mei­nem Rücken flüs­tern: Das ist der Jun­ge vom Mau­rer­meis­ter Sieb­recht, der Bank­rott ge­macht hat!«

Sie hat­te die Hän­de auf sei­ne Schul­ter ge­legt, sie sag­te: »Also geh, mein Jun­ge, geh! Ich hal­te dich ge­wiss nicht, wenn du musst!«

»Ja, ich muss, Min­na, weil ich et­was wer­den will – ein wirk­li­cher Mann! Die hier wer­den schon nach­ge­ben, der On­kel Stu­dier, mein Vor­mund, und der di­cke Fritz Adam, Va­ters Freund. Ich wer­de ih­nen nie läs­tig fal­len, ich wer­de sie nie um et­was bit­ten! Ich kom­me nicht eher zu­rück, bis ich et­was ge­wor­den bin, et­was Rich­ti­ges! Und dann be­su­che ich dich, Min­na, dann hole ich dich zu mir nach Ber­lin, viel­leicht in ei­nem Au­to­mo­bil …!«

Min­na sah in sei­ne leuch­ten­den Au­gen. Plötz­lich – sie wuss­te selbst nicht, wie das ge­kom­men war –, plötz­lich hat­te sie ihn um­fasst, sie hat­te ihn ge­gen ihre Brust ge­drückt, sie press­te ihn fest an sich. »Ach, du Kind, du«, flüs­ter­te sie und war froh, dass er die un­ge­wohn­ten Trä­nen in ih­ren Au­gen nicht se­hen konn­te. »Ach, du großer, klei­ner Jun­ge, du! Willst du mir jetzt aus dem Nest flie­gen?! Pass nur auf, es gibt so vie­le große, böse Vö­gel, und es kom­men Stür­me, für die dei­ne Flü­gel zu schwach sind …! Aber flie­ge nur fort, du hast ja recht; bes­ser flie­gen als krie­chen!«

3. Abschied von der Jugend

Der Tag war grau, es woll­te nicht hell wer­den. Am Fens­ter der Schlaf­stu­be stand Karl Sieb­recht, sah hin­aus in den klei­nen Gar­ten, des­sen kah­le Bäu­me von im­mer neu­en Stö­ßen des No­vem­ber­win­des er­zit­ter­ten, sah über den Gar­ten fort, zu der Rück­sei­te des We­de­kind­schen Hau­ses … Hin­ter ihm pack­te Min­na An­zü­ge und Wä­sche in einen Rei­se­korb. Sie hielt eine Hose aus gelb­li­chem ge­ripp­tem Samt in die Höhe und sag­te: »Dann ist da noch Va­ters Man­che­s­ter­ho­se, die ist noch ganz gut. Wenn du ein biss­chen wächst, wird sie dir pas­sen!«

»Pack bloß nicht zu viel ein, Min­na!«, rief, ohne sich um­zu­wen­den, der Jun­ge un­ge­dul­dig. »Was soll ich mit all dem Zeug?«

»Es ist schon nicht zu viel Zeug da, Karl!«, ant­wor­te­te Min­na trü­be und leg­te die Hose in den Korb. Sie griff nach ei­nem Stoß Wä­sche.

Der Jun­ge hielt in der Hand­flä­che ver­bor­gen einen klei­nen run­den Ta­schen­spie­gel. Von der kah­len, lee­ren Rück­wand des Pas­to­ren­hau­ses sah er un­ge­dul­dig em­por zum vor­win­ter­li­chen Him­mel, auf dem sich graue, lo­cke­re Wol­ken jag­ten. Er fleh­te um eine, um eine hal­be Mi­nu­te Son­nen­schein …

An sei­nem Steh­pult, mit der Aus­ar­bei­tung der Sonn­tags­pre­digt be­schäf­tigt, stand der Pas­tor We­de­kind – ihm fuhr der im Spie­gel ge­fan­ge­ne Son­nen­strahl zu­erst blit­zend ins Auge. »Da ist doch wie­der die­ser in­fa­me Ben­gel mit sei­nem Ta­schen­spie­gel zu­gan­ge!«, rief er, em­pört auf­fah­rend. »Und so was am Tage, nach­dem wir sei­nen Va­ter zur Ruhe ge­lei­tet ha­ben!«

Der Son­nen­fleck war schon über die Stu­ben­de­cke fort­ge­tanzt, er glitt, von dem miss­bil­li­gen­den Blick des Geist­li­chen ver­folgt, am Ka­chel­ofen hin­ab und blieb einen Au­gen­blick auf der Stirn der Frau Pas­tor ru­hen. Sie schlug nach ihm, als sei er eine läs­ti­ge Flie­ge. »Eri­ka!«, rief der Geist­li­che ent­rüs­tet. »Eri­ka! So­fort gehst du – –«

Den Geist­li­chen, der zwi­schen Fens­ter und Tisch ge­tre­ten war, traf ein zwei­tes Mal das Licht des No­vem­ber­ta­ges, dies­mal be­strahl­te es die flei­schi­ge Ba­cke. Er fuhr mit dem Kopf zu­rück, und der gol­de­ne Fleck ließ sich auf der Tisch­plat­te nie­der, ge­ra­de vor Eri­kas hä­keln­den Hän­den. Er zit­ter­te ein we­nig hin und her, schob sich nahe an die Hän­de her­an, be­rühr­te, ver­gol­de­te, um­spiel­te die Fin­ger – – »So­fort gehst du in das Sieb­recht­sche Haus und sagst dem in­fa­men Ben­gel, dass ich mir die­sen Un­fug ver­bit­te – ein für alle Mal! Ich sei em­pört, dass er heu­te, an ei­nem sol­chen Tage – ich mei­ne, nach ei­nem sol­chen Tage – –«.

»Ja­wohl, Papa!«, sag­te Eri­ka und lös­te mit ei­nem leich­ten Be­dau­ern ihre Hän­de aus dem Licht­gruß. Sie ging zur Tür.

»Aber in zwei Mi­nu­ten bist du wie­der hier!«, be­fahl die nicht ganz so ah­nungs­lo­se Mut­ter.

»Ja­wohl, Mama!«

»Ach nein, lass mich lie­ber selbst ge­hen!«

Doch war Eri­ka schon aus der Stu­be. Lei­se und ei­lig lief sie die Trep­pen hin­un­ter, trat in den win­d­er­füll­ten Gar­ten, schwang sich, ihre lan­gen Rö­cke rück­sichts­los raf­fend, über das Mäu­er­chen, das die bei­den Gär­ten trenn­te, und lief durch den Sieb­recht­schen auf den Schup­pen zu, in dem so­wohl spär­li­ches Gar­ten­ge­rät ver­wahrt wur­de, als auch den Hüh­nern mit Stan­gen und Nes­tern eine Stät­te des Ver­wei­lens be­rei­tet war.

Nicht nur den Hüh­nern. Denn als sie in das hal­be Dun­kel hin­ein­frag­te »Karl?«, ant­wor­te­te er so­fort: »Ria!«, und der Freund zog sie an der Hand zu ei­ner Kar­re. »Setz dich, Ria! Ich habe di­rekt zu Gott ge­be­tet, um einen Mo­ment Son­ne! Ich glau­be ja sonst nicht an Gott, aber dies­mal –«

»Dies­mal hast du Va­ter schön wü­tend ge­macht! Ich soll dir sa­gen …«

»Lass ihn! Es war das letz­te Mal, Ria!« Mit ei­ner ge­wis­sen Fei­er­lich­keit wie­der­hol­te der Jun­ge: »Es war das letz­te Mal. Ich gehe fort, Ria! Ganz fort!«

»Du, Karl? Wa­rum denn – –? Wer soll mir dann mei­ne Schul­ar­bei­ten ma­chen?! Ich blei­be be­stimmt zu Os­tern kle­ben! Bleib doch hier, Karl, bit­te!«

»Ich muss fort, Ria! Ich gehe nach Ber­lin!«

»Ach, Karl, warum denn? Hier ist es doch auch ganz schön – manch­mal –!«

»Ich will was wer­den, Ria!«

»Und wenn ich dich bit­te, Karl?! Bleib hier, Karl! Ich bit­te dich!«

»Es geht nicht, Ria, es muss sein!«

Ei­nen Au­gen­blick schwieg sie, auf ih­rer Kar­re hockend. Er, vor ihr ste­hend, zu ihr nie­der­ge­beugt, sah ge­spannt in ihr dämm­ri­ges, doch hel­les Ge­sicht. Dann stampf­te sie mit dem Fuß auf. »Also geh, geh doch in dein ol­les Ber­lin!«, rief sie zor­nig. »Wa­rum gehst du denn nicht? Ich bin froh, wenn du gehst! Du bist ge­nau­so ein ek­li­ger Jun­ge wie alle an­de­ren!«

»Aber, Ria!«, rief er ganz be­stürzt. »Sei doch nicht so! Ver­steh doch, dass ich fort muss! Hier kann ich nie et­was wer­den!«

»Ich muss gar nichts ver­ste­hen! Du willst wohl bloß weg, weil du uns alle über hast, mich auch – und ich habe ge­dacht, du möch­test mich ein biss­chen gern …« Bei den letz­ten Wor­ten ver­sag­te ihr fast die Stim­me. Sie sprang von ih­rer Kar­re auf und zog sich tiefer in das Dun­kel des Schup­pens zu­rück, da­mit er nicht ihre Trä­nen se­hen soll­te. Sie scheuch­te eine Hen­ne von ih­rem Nest auf, die mit lau­tem Pro­test ga­ckernd aus der Tür flüch­te­te.

Karl Sieb­recht hat­te ihre Hand ge­fasst und strei­chel­te sie un­ge­schickt. »Ach, Ria, Ria«, bat er. »Nimm es doch nicht so! Ich muss doch wirk­lich fort. Hier soll­te ich Haus­die­ner im Ho­tel Ho­hen­zol­lern wer­den.«

»Das tust du nicht, Karl, un­ter kei­nen Um­stän­den!«

»Und ich will doch viel wer­den, und dann kom­me ich wie­der.«

»Dau­ert es lan­ge, bis zu wie­der­kommst?«

»Es dau­ert wohl sei­ne Zeit, Ria – ziem­lich lan­ge!«

»Und dann, Karl –?«

»Dann fra­ge ich dich viel­leicht et­was, Ria …!«

Pau­se. Dann sag­te das Mäd­chen lei­se: »Was willst du mich denn fra­gen, Karl?«

Er wag­te es nicht. »Es ist noch so lan­ge hin, Ria! Erst muss ich et­was ge­wor­den sein.«

Und sie, ganz lei­se flüs­ternd: »Frag es doch schon jetzt, Karl. Bit­te!«

Er zö­ger­te. Dann zog er vor­sich­tig et­was aus der In­nen­ta­sche sei­nes Jacketts. »Weißt du, was das ist?«

»Was soll das sein?«

»Das ist eine von den Blu­men, Ria«, sag­te er fei­er­lich, »die du in Va­ters Grab ge­wor­fen hast. Ich neh­me sie mit nach Ber­lin und wer­de sie im­mer bei mir tra­gen!«

Der Wind jag­te mit Schnee ver­misch­ten Re­gen zur Tür­öff­nung her­ein. Sie dräng­te sich en­ger an ihn, sie flüs­ter­te angst­voll: »Das ist doch eine To­ten­blu­me, Karl!«

»Aber ich habe sie von dir, Ria, sie bringt mir be­stimmt Glück! Und hier habe ich einen klei­nen Ring von mei­ner Mut­ter – willst du den nicht tra­gen, Ria, da­mit du im­mer an mich denkst?!«

»Ich darf doch kei­nen Ring von dir tra­gen. Va­ter wür­de es nie er­lau­ben!«

»Du kannst ihn tra­gen, wo dein Va­ter ihn nicht sieht. Ich tra­ge dei­ne Blu­me auch auf dem Her­zen!«

Sie schwie­gen eine Wei­le. Dann flüs­ter­te sie: »Ich dan­ke dir für den Ring, Karl. Ich will ihn im­mer tra­gen.«

Und wie­der Schwei­gen. Nahe sa­hen sie sich in die blas­sen Ge­sich­ter, ihre Her­zen klopf­ten sehr. Nach ei­ner Wei­le flüs­ter­te Sieb­recht: »Möch­test du mir wohl einen Kuss zum Ab­schied ge­ben, Ria?«

Sie sah ihn an. Dann hob sie lang­sam die Arme und leg­te sie sach­te um sei­nen Hals. »Ja …« flüs­ter­te sie.

Kra­chend warf der Wind die Tür des Schup­pens ins Schloss, ge­ra­de vor dem na­hen­den Pas­tor We­de­kind, der in Sturm, Re­gen und Schnee sei­ne Toch­ter such­te. Er rüt­tel­te an der Tür. Mit Mühe öff­ne­te er sie ge­gen den Wind­druck und rief in den dunklen Schup­pen. »Bist du hier, Eri­ka?«, rief er.

Der Jun­ge, im Dun­keln das Mäd­chen im Arm, trat mit dem Fuß nach den Nes­tern. Laut ga­ckernd flat­ter­te eine Hen­ne auf und tor­kel­te ge­gen den geist­li­chen Herrn. Eine an­de­re Ant­wort gab der Schup­pen nicht.

Erster Teil – Rieke Busch

4. Fahrt mit der Kleinbahn

Das letz­te Win­ken von Min­na war ent­schwun­den – Karl Sieb­recht konn­te sich in ei­ner Ecke des ge­räu­mi­gen Wa­gens hin­set­zen und sei­ne Trä­nen trock­nen. Ja, er hat­te nun doch ge­weint, wie auch die alte Min­na beim Ab­schied ge­weint hat­te. So leicht, wie er ge­glaubt hat­te, war ihm die Tren­nung von der klei­nen Stadt nicht ge­wor­den.

Er fuhr hoch und sah aus dem Fens­ter. Aber der Aus­blick auf das Städt­chen mit sei­nem ro­ten spit­zen Kirch­turm war schon durch Wald ver­sperrt, nun fuhr er wirk­lich in die Welt hin­aus, hat­te al­les da­hin­ten ge­las­sen, was bis­her sein Le­ben be­deu­tet hat­te. Er muss­te schon wie­der nach dem Ta­schen­tuch su­chen, fand es aber nicht gleich, son­dern statt sei­ner ein Päck­chen, das ihm Min­na im letz­ten Au­gen­blick noch in den Zug ge­reicht hat­te. Er kno­te­te das rote Wä­sche­band dar­um auf und fand, in ei­nem Schäch­tel­chen, Va­ters di­cke sil­ber­ne Uhr und dar­un­ter, un­ter ei­ner Schicht Wat­te, zehn große Gold­füch­se!

Zwei­hun­dert Mark! Er starr­te un­gläu­big dar­auf – aber sie wa­ren da, auf dem Schach­tel­bo­den, und es sah der Min­na so recht ähn­lich, ihm ihre Er­spar­nis­se so zu­zu­ste­cken, dass er we­der die An­nah­me ver­wei­gern noch ihr dan­ken konn­te! Wie lan­ge muss­te das alte Mäd­chen an die­sen zwei­hun­dert Mark ge­spart ha­ben! Denn sie hat­te nur we­nig ver­dient, und auch mit dem Aus­zah­len die­ses We­ni­gen hat­te es bei Va­ter in den letz­ten Jah­ren gar nicht mehr klap­pen wol­len! So­bald ich in Ber­lin bin, schi­cke ich ihr das Geld zu­rück, dach­te der Jun­ge. Aber da­mit wür­de er sie nur krän­ken, fiel ihm gleich ein. Ich wer­de ihr das Geld schi­cken, so­bald ich fes­te Ar­beit und ein biss­chen was ge­spart habe, dann freut sie sich umso mehr! Sorg­fäl­tig leg­te er das Geld in das Schäch­tel­chen zu­rück. Al­les in al­lem be­saß er jetzt zwei­hun­dert­sech­zig Mark, er kam als rei­cher Mann nach Ber­lin! Va­ters Uhr aber steck­te er sorg­fäl­tig in die Wes­ten­ta­sche – er wür­de sie gleich auf der nächs­ten Sta­ti­on stel­len. Zum ers­ten Mal in sei­nem Le­ben be­saß er eine Uhr!

Der Zug fing kräf­tig zu bim­meln an, und ei­lig nahm Karl Sieb­recht die Uhr wie­der aus der Ta­sche. Sie fuh­ren jetzt über die Weg­kreu­zung kurz vor dem Dor­fe Pries­titz, gleich wür­den sie in Pries­titz hal­ten, und er konn­te die Uhr stel­len. Er war so be­schäf­tigt da­mit, dass ihn erst eine schel­ten­de, hel­le Stim­me an eine an­de­re Pf­licht er­in­nern muss­te.

»Na, du lan­ger La­ban!«, schalt die hel­le Stim­me un­ter ei­nem ka­put­zen­för­mi­gen Hut her­vor. »Siehs­te nich, det ick mir mit die Rei­se­kör­be ee­nen Bruch he­ben tue?! Kiek nich und fass lie­ber an!«

Rasch griff Karl zu und zog den schwe­ren Korb in den Wa­gen. »Ent­schul­di­gen Sie nur«, sag­te er ei­lig. »Ich dach­te …«

»Dach­te sind kee­ne Lich­te! Hier, fass noch mal an – hau ruck! Siehs­te, den hät­ten wa … So, un nu nimms­te Tilda’n hoch!« Und zu dem plär­ren­den Kind: »Wee­ne nich, Til­da! Der Mann tut dir nischt – er is ja gar keen Mann, er is bloß duss­lig, und duss­lig is er, weil er nie aus sei­nem Kuh­kaff raus­je­kom­men is! Na, und nu jib mir ooch mal die Hand, du Ka­va­lier – Hau ruck! Die­se ver­fluch­ten Klee­da­gen!«

Als Karl Sieb­recht die­se ener­gi­sche Dame in den Wa­gen zog – sie hat­te da­bei die Rö­cke un­ge­niert hoch­ge­nom­men und zwi­schen die Knie ge­klemmt –, sah er zum ers­ten Mal ihr Ge­sicht. Nach der Stim­me hat­te er ge­meint, es müs­se eine jun­ge Frau sein, eine sehr jun­ge viel­leicht. Nun sah er mit Stau­nen, dass es ein Kind war, ein Mäd­chen von drei­zehn oder vier­zehn Jah­ren, schätz­te er, in den viel zu wei­ten Klei­dern ei­ner al­ten Frau, aber mit dem ein biss­chen fre­chen, ver­gnüg­ten Ge­sicht ei­ner Spitz­maus! Ganz hell – mit ei­ner lan­gen dün­nen Nase, hel­len flin­ken Au­gen und mit ei­nem schma­len, sehr be­weg­li­chen Mund. »Na, wat grins­te?«, frag­te das Mäd­chen gleich. »Ach, du dach­test, ick wär dei­ne Jroß­mut­ta! Nee, is nich! Wet­ten, du rätst nich, wie alt ick bin? Na, wie alt bin ick?« Und gleich wei­ter, ohne eine Ant­wort ab­zu­war­ten: »Wa­rum hal­ten wir denn noch im­mer in dis­set Kaff?! We­jen mir kanns wei­ter­jehn! Wär ick nich ge­we­sen und die Til­da, hät­t’ er üba­haupt nich hal­ten brau­chen! Er soll man ma­chen, det wa wei­ter­kom­men, sonst va­pas­sen wa in Prenz­lau noch den An­schluss!«

»Sie müs­sen erst die Milch­kan­nen ein­la­den«, er­klär­te Karl. »Die sol­len auch mit nach Ber­lin.«

»Ach, so is det! Du weest hier woll Be­scheid? Bis­te von hier? Aber ick habe dir hier nie je­se­hen! Ick bin schon drei Tage hier, ick ken­ne je­den Schwanz in det Kaff!«

»Nein, ich bin eine Sta­ti­on wei­ter her. Aber ich weiß hier Be­scheid, mein Va­ter hat hier mal den Bahn­hof ge­baut. Bei wem wa­ren Sie – warst du denn hier?«

»Ach nee, den Bahn­hof? So wat nennt ihr hier Bahn­hof?! So wat nenn ick ne Som­mer­blu­se – vor­ne of­fen und hin­ten ooch nich ville. Die kann dein Va­ter sich an den Hut ste­cken!«

Un­will­kür­lich sag­te Karl Sieb­recht: »Mein Va­ter ist am Mon­tag ge­stor­ben.«

»Ach nee, det tut mir aba leid! Des­ter­we­gen bis­te so schwarz, ick habe je­dacht, du bist beim Pas­ter in de Leh­re. Na ja, wa müs­sen alle mal ab­hau­en, det is nicht an­ders! Bei uns is die Mut­ta ver­stor­ben – seit­dem spiel ick die Zieh­mut­ter zu det Jör. – Til­da, wenn du den Nu­ckel noch een­mal hin­schmeißt, ball­re ick dir eine! Siehs­te, wie die pa­riert?! Re­spekt muss sind – die je­horcht mir, als wär ick nich die Schwes­ter, als wär ick die Mut­ta. Mut­ta has­te noch?«

»Nein, mei­ne Mut­ter ist schon lan­ge tot.«

»Ach, du bist Voll­wai­se? Det kann janz jut sind, va­stehs­te, wir ha­ben Va­ta’n noch, aber manch­mal denk ick, ohne Vata jings bes­sa. Er is Mau­rer, aber meis­tens macht er blau! Sonst een tücht­jer Mau­rer, al­lens, wat recht is, ooch jut­mü­tig, bloß, det der Mann so was­ser­scheu is –. Na ja, wa ha­ben alle uns­re Feh­ler …«

Der Zug fuhr wie­der eif­rig bim­melnd durch die Fel­der. Die klei­ne ener­gi­sche Per­son hat­te sich auf ih­ren Rei­se­korb ge­setzt, hat­te aus der Ta­sche ih­res Un­ter­rockes einen Ap­fel ge­holt und biss eif­rig da­von ab. Dar­über ver­gaß sie ihre Schwes­ter nicht, die auch ab­bei­ßen durf­te, wäh­rend die flin­ken Au­gen der Gro­ßen bald zum Fens­ter hin­aus, bald zum Jun­gen hin­über gin­gen. Nun mus­ter­te sie wie­der sein Ge­päck. Karl Sieb­recht hat­te den Ein­druck, dass die­sem Mäd­chen auch nicht das ge­rings­te ent­ging: er hat­te noch nie ein so wa­ches, le­ben­di­ges Men­schen­kind ge­se­hen. Und ein so red­se­li­ges! »Die Äp­fel sind jut«, sag­te sie jetzt. »Wills­te ooch ee­nen? Ick habe den hal­b­en Korb voll! Nee, nich? Na, lass man, nö­ti­gen tu ick dir nich, wer Hun­ger hat, frisst von al­lee­ne! Da stauns­te woll, wat ick in dei­nem Kaff je­macht habe? Det has­te wohl je­merkt, det ick nich vom Lan­de bin? Nee, ick bin mit Spree­was­ser je­tauft, det heeßt, et wird woll Pan­ke­was­ser je­we­sen sein, ick bin mehr aus dem Wed­ding, bei de Pank­stra­ße her! Weeß­te, wo det is?«

»Ja, dass du aus Ber­lin bist, habe ich auch schon ge­merkt!«, lach­te Karl Sieb­recht ver­gnügt. Er wuss­te nicht, wie es ihm er­ging, aber die­se klei­ne Per­son ließ ihn all sei­nen Kum­mer und sein Ab­schieds­weh ver­ges­sen. Sie war eine so un­glaub­li­che Mi­schung von Kind und Er­wach­se­nem! Le­bensklug – und doch kind­lich!

Jetzt lach­te sie auch. »Ach, du meinst, von we­jen mei­ne Spra­che? Na, lass man, wa kön­nen nich alle uff die­sel­be Ton­art pie­pen! Det wäre zu lang­wei­lig! Übri­jens, Frie­de­ri­ke Busch is mein Name!«

»Karl Sieb­recht«, stell­te sich der Jun­ge vor.

»Sehr an­je­nehm, Karl!« Und sie gab ihm ihre klei­ne, graue, schon sehr ver­ar­bei­te­te Kin­der­hand. »Karl heeßt auch mein Vet­ter, in dem Kaff da, von dem ick kom­me, in Pries­titz. Aber er is man doof uff bee­de Ba­cken, mit dem kann ick keen Wort re­den, mit dir kann ick jut re­den, Karl –!«

»Ich mit dir auch!«

»Na, siehs­te! Und warum ick in Pries­titz war? Da is doch Mut­tas Schwes­ta, Tan­te Ber­t­ha! So­lan­ge Mut­ta noch leb­te, und ooch det Jahr nach ih­rem Weg­schei­den hat se uns imma von’s Schlach­te­fest Pa­ke­te je­schickt. Aber letz­tet Jahr: Nee­se! Da ha’ ick dis­set Jahr zu Va­ta’n je­sagt: det gibt et ja nu nich, wenn so wat erst in­reißt, denn ku­cken wa det jan­ze Le­ben in den Mond! Ick fah­re hin! Na, der Olla hat ja je­nu­schelt, aba da mach ick ma nischt draus. Ick ihm ein­fach ’nen Zet­tel hin­je­legt, die Til­da uff­je­packt und los­je­scho­ben!«

»Und was hat die Tan­te ge­sagt, als du da so ein­fach an­kamst? Du hat­test dich doch nicht an­ge­mel­det, Frie­de­ri­ke?«

»Rie­ke heeß ick, Frie­de­ri­ke is bloß fors Amt, und wenn ick Schlä­je krie­ge, aber ick krie­je kee­ne mehr, je­jen mir hebt kee­ner mehr die Hand! – Die Frau hat Oo­jen je­macht, det kann ick dir flüs­tern, wie Man­tel­knöp­pe! Wat wills­te denn hier? fragt mir die Frau. Und denn noch mit det Balg?! – Er­lo­be mal, Tan­te Ber­t­ha, sare ick zu die Frau, der Balg is dei­ne fleisch­li­che Nich­te und dir wie aus­’t Je­sich­te je­schnit­ten, und denn wollt ick mir man bloß die klee­ne An­fra­ge er­lau­ben, ob hier un­ter dei­ne Schwei­ne Keuch­hus­ten aus­je­bro­chen is? – Na, da muss­te se doch la­chen, und denn war se janz or­dent­lich. Det von’t vor­je Jahr, hat se wie­der jut­ge­macht und mehr wie det. Und det nächs­te Jahr soll ick wie­der­kom­men, mit det Schi­cken is et ihr zu um­ständ­lich. Na, lass se, die is schlecht mit die Fe­der, va­stehs­te? Adres­se­schrei­ben und so! – Det Kleed is ooch von ihr! Schö­ne Wol­le, er jing nich mehr in’n Korb, aba dalas­sen, kee­ne Ah­nung! Hab ick’s über die and­re Klee­da­ge je­zo­gen, has­te det je­merkt?«

Aber ehe Karl Sieb­recht noch ant­wor­ten konn­te, fing die Lo­ko­mo­ti­ve wild zu klin­geln an, die Brem­sen schri­en, es gab einen ge­wal­ti­gen Ruck, und der Zug hielt ganz plötz­lich: sie wank­ten auf ih­ren Sit­zen, Til­da fiel schrei­end von der Bank – »Det is die Höhe!«, schrie Rie­ke Busch. »Mir mein Kind von de Bank zu schub­sen! Die Ban­de mach ick haft­bar!«

Karl Sieb­recht hat­te zum Fens­ter hin­aus­ge­se­hen: der Zug, aber ei­gent­lich war es nur ein Zü­g­le, hielt auf frei­er Stre­cke. Ein Schaff­ner lief an ihm ent­lang, ein lan­ger, schwar­zer, jetzt sehr auf­ge­reg­ter Mensch, der in je­den Wa­gen stürz­te … »Da ist was pas­siert«, sag­te Karl Sieb­recht zu Rie­ke Busch, die das wei­nen­de Kind zu be­ru­hi­gen such­te.

So­fort er­goss sich die Scha­le ih­res Zorns über ihn. »Wat soll den pas­siert sind? Hier pas­siert doch nie nischt! Hier sa­ren sich bloß die Hüh­ner jute Nacht – und denn pas­sie­ren! Det ist ja lach­haft! Und mir schmei­ßen se det Kind von de Bank – so wat is doch rück­sichts­los! Det Kind kann sich doch ee­nen Lei­bes­scha­den tun! – Hö­ren Se, Männe­cken«, wand­te sie sich ohne Wei­te­res an den auf­ge­reg­ten Schaff­ner, der jetzt in ihr Ab­teil für Rei­sen­de mit Tra­g­las­ten ge­stürzt kam, »hö­ren Se, Männe­cken, wat is denn mit Ihre Klin­gel­bahn los? Ihr Lo­ko­mo­tiv­füh­rer hat woll ee­nen zu ville je­kippt! Sie schub­sen mir det Kind von de Bank –!«

Aber ohne das em­pör­te Mäd­chen zu be­ach­ten, hat­te sich der Schaff­ner an die Un­ter­su­chung der rot­weiß be­mal­ten Not­brem­se ge­macht. Nun wand­te er sich an die bei­den. »Ihr habt die Not­brem­se ge­zo­gen!«, schrie er. »Wer von euch bei­den hat die Not­brem­se ge­zo­gen? Das kost’ Stra­fe – das kost’ zehn Ta­ler Stra­fe!« Er fing an, den Bo­den ab­zu­su­chen. »Da liegt ja der Draht! Und da ist die Plom­be! Das sieht ja je­der, dass ihr die ab­ge­ris­sen habt! Das kost’ zehn Ta­ler, und wenn ihr die nicht zah­len könnt, kommt ihr ins Loch!«

»Ent­schul­di­gen Sie«, sag­te Karl Sieb­recht, »wir ha­ben be­stimmt nicht an der Not­brem­se ge­zo­gen! Wir ha­ben uns hier ganz ru­hig un­ter­hal­ten –«

Aber sei­ne Ge­fähr­tin war nicht für höf­li­che Er­klä­run­gen. »Sie sind ja ko­misch!«, schrie sie im schrills­ten Ton. »Sie sind ja ’n ko­mi­scher Ver­tre­ta! Erst schmei­ßen Se det Kind von de Bank, und denn kom­men Sie noch mit so ’ne Re­dens­ar­ten! Sa­ren Se mal, ha­ben Se kee­ne Oo­gen im Kop­pe nich! Se­hen Se viel­leicht, wat für ’ne Jrö­ße ick habe? Ick bin nich so’n lan­ger La­ban wie je­wis­se an­de­re, ick rei­che jar nich an Ihre duss­li­ge Not­brem­se! Ja, kie­ken Se mir mit Ihre schwar­zen Kral­loo­jen ru­hig an, ooch nich, wenn ick uff den Rei­se­korb klettre …«

»Aber der Jun­ge –«, woll­te der Schaff­ner an­fan­gen.

»Der Herr! mee­nen Se! Det is een je­bil­de­ter Herr, der is nich wie an­de­re, der rennt nich ’rum und brüllt die Leu­te an, det er se ins Loch steckt. Der hat ’nen To­des­fall in die Fa­mi­lie je­habt, dem is nich nach Not­brem­se, und da kom­men Se hier re­in­je­stürzt!«

»Aber man sieht doch deut­lich, ei­ner hat den Draht durch­ge­ris­sen«, fing der Schaff­ner wie­der an.

»So, det se­hen Se? Wat Sie al­let se­hen, an so ’nem Stücks­ken Draht! Woran se­hen Se denn det, det ee­ner den ab­je­ris­sen hat? Kann denn Draht nich von sel­ber rei­ßen? Ich weeß det nich, aber Sie wis­sen’t: Draht reißt nie, der wird je­ris­sen! Na ja, wer hier wohl je­ris­sen is, Sie nich, Männe­cken, Sie nich!«

Sie stand in ih­rer gro­tes­ken Frau­en­tracht, fun­kelnd vor Zorn, mit ih­rem ganz hel­len, völ­lig furcht­lo­sen Ge­sicht vor dem Mann, der sie mit ei­nem ein­zi­gen Schla­ge hät­te nie­der­schmet­tern kön­nen. Aber er dach­te gar nicht dar­an, sie hat­te ihn wirk­lich in Ver­wir­rung ge­bracht. Er pro­bier­te noch im­mer an Draht und Plom­be her­um, aber nicht mehr mit der rich­ti­gen Über­zeu­gung. »Das mel­de ich aber in Prenz­lau auf dem Bahn­hof!«, sag­te er noch dro­hend, aber sei­ne Dro­hung klang nur schwach. »Euch wer­de ich das be­sor­gen! Hier ein­fach die Not­brem­se zie­hen!« Da­mit stol­per­te er aus dem Wa­gen. Sie sa­hen ihn am Zug ent­lang­ge­hen, im­mer noch Draht und Plom­be in der Hand. Dann stand er ne­ben der Lo­ko­mo­ti­ve, ver­han­del­te mit dem Füh­rer. Sie mein­ten, ihn sa­gen zu hö­ren: »Den hat doch ei­ner durch­ge­ris­sen, das sieht man doch!« Dann setz­te sich der Zug keu­chend wie­der in Be­we­gung, klin­gel­te auf­ge­regt.

»Du kannst die Leu­te aber aus­schel­ten!«, sag­te Karl Sieb­recht nicht ohne Be­wun­de­rung zu Rie­ke Busch. »Hast du denn kei­ne Angst ge­habt, er haut dir ein­fach eine run­ter?«

»Ick hab so ville Dre­sche in mei­nem Le­ben be­zo­gen, frü­her, da­vor ha’ ick kee­ne Angst mehr! Und denn det Schimp­fen, det lernt man, wo wir woh­nen. Wenn de dir da nich wehrst, bis­te glatt er­schos­sen. Na, du hast det nich nö­tig je­habt, for dir is im­mer je­sorgt wor­den, det sieht man.«

»Aber viel­leicht habe ich es jetzt auch nö­tig. Ich fah­re nach Ber­lin, für im­mer.«

»Na, und –? Da has­te doch si­cher ’nen On­kel oder jehst uff ’ne bes­se­re Schu­le?«

»Nein. Ich habe nie­man­den dort. Und ich muss mir sel­ber mein Geld ver­die­nen.«

»Wat du nich sagst! Aber du hast schon ’ne Stel­lung aus­je­macht, wat? Du bist Koof­mich oder so wat, mit dei­nem tipp­topp je­stärk­ten Hals­ab­schnei­der –!«

Karl Sieb­recht fass­te un­will­kür­lich zu sei­nem ho­hen stei­fen Steh­kra­gen, der ihm wirk­lich die Keh­le fast ab­schnitt. Min­na hat­te ver­langt, dass er das mör­de­ri­sche Ding um­band: er sol­le in Ber­lin doch einen gu­ten Ein­druck ma­chen! Aber ehe er noch Rie­ke Busch über sei­ne gänz­li­che Un­ver­sorgt­heit hat­te auf­klä­ren kön­nen, fing die Lo­ko­mo­ti­ve ein zwei­tes Mal auf­ge­regt zu bim­meln an. Wie­der gab es einen Ruck, aber nicht mehr ganz so schlimm wie den ers­ten – Til­da blieb auf der Bank –, und wie­der hielt der Zug.

»Na, wat sags­te nu?«, rief Rie­ke Busch em­pört. »So wat jib­t’s nu in Ber­lin nich! Pass mal uff, jleich ha­ben wa den schwar­zen Af­fen wie­der hier!«

Und wirk­lich, schon wur­de die Tür wie­der auf­ge­ris­sen, der Schaff­ner sprang her­ein, stürz­te auf die Not­brem­se los, ohne die bei­den auch nur ei­nes Blickes zu wür­di­gen, un­ter­such­te sie, schob den Griff in die Höhe … Bis hier­her hat­te Rie­ke Busch schwei­gen kön­nen, nun sag­te sie in höchst ver­nehm­li­chem Flüs­ter­ton: »Det is bloß det een­zi­je Jlück, det keen Draht mehr dran is! Ohne Draht kön­nen se uns näm­lich nischt be­wei­sen, Karl! da muss erst wat je­ris­sen sind, denn kom­men wa ins Loch –!«

Der Schaff­ner warf der Spre­che­rin einen wü­ten­den Blick zu, zog einen Draht aus der Ta­sche und band mit ihm die Not­brem­se wie­der fest.

»Na also!«, sag­te Rie­ke Busch höchst be­frie­digt. »Nu muss noch ’ne Plom­be ran! Ich bin scharf uff Plom­be – ohne Plom­be is det man der hal­be Spaß!« – Der Schaff­ner mach­te einen Schritt auf sie zu, über­leg­te sich dann den Fall und ver­ließ über­stürzt das Ab­teil. – »Has­te det je­se­hen?«, lach­te Rie­ke Busch. »Ebend hät­te ick bei­na­he eene je­schal­lert je­kriegt! Da hät­te ick mir aber ’nen Ast je­lacht. Wat so Leu­te ko­misch sind, die im­mer jleich wü­tend wer­den. Det macht mir Lau­ne, so ee­nen zu kit­zeln.«

»Und wirst du nie wü­tend?«

»Aber fes­te! Ick kann mir jif­ten, sare ick dir! Wenn se mir so for dumm koofen wol­len, und ick soll beim Jrün­krä­mer im­mer det Ver­faul­te krie­gen, oder bei die Press­koh­len je­hen bei mir acht­zig uff den Zent­ner, bei an­de­re aber vierund­neun­zig, oder Vata hat wie­da mal blau je­macht, wo keen Jeld im Hau­se is – denn jif­te ick mir! Denn merk ick or­dent­lich, wie ick an­loofe wie ’n Löf­fel mit Jrün­span. Aber mer­ken las­sen, det die Leu­te mer­ken las­sen – nich in den nack­ten Arm. Denn wer’ ick im­mer fei­ner, denn wer’ ick so fein, fast wie der Pas­ter in de Kir­che. Nee, mei­ne Dame! sare ick. Ick nich! Nich, wie Se den­ken, mei­ne Dame! Mein Jeld stinkt nich an­ders wie det von an­de­re Leu­te – wozu soll da mein Kohl stin­ken –?« So­weit war Rie­ke Busch mit ih­rer Cha­rak­ter­be­schrei­bung ge­kom­men, als die Lo­ko­mo­ti­ve zum drit­ten Mal auf­schrie, der Zug zum drit­ten Mal plötz­lich brems­te und an­hielt. »Det wird ja ein­tö­nig!«, rief Rie­ke Busch. Und mit ei­nem ra­schen Blick zur Not­brem­se: »Siehs­te, da is der Draht wie­der je­ris­sen! Nu wer­den se uns be­stimmt in­s­pun­nen!«

Sie lehn­te sich aus dem Fens­ter. Sie rief dem Schaff­ner ent­ge­gen: »Wat sa­ren Se nu? Der Draht is wie­der je­ris­sen!«

Dies­mal brach­te der Schaff­ner den Lo­ko­mo­tiv­füh­rer mit. Aber er be­ach­te­te Rie­ke Busch gar nicht. Der Lo­ko­mo­tiv­füh­rer sag­te: »Wir müs­sen ein­fach die Luft ab­stel­len, Franz!« Und sie mach­ten sich dar­an, die Press­luft­schläu­che am Wag­gon zu lö­sen. Die bei­den – und vie­le an­de­re la­chen­de, spöt­ti­sche und em­pör­te Ge­sich­ter – sa­hen dem Werk in­ter­es­siert zu.

Als die Män­ner aber wie­der zur Lo­ko­mo­ti­ve ge­hen woll­ten, rief Rie­ke Busch: »Du, Franz, hör mal her!« Un­will­kür­lich blieb der Schaff­ner ste­hen, wü­tend starr­te er das Mäd­chen an. »Wenn ick du wäre«, sag­te sie mit ehr­li­chem Nach­druck, »ick täte mir ent­schul­di­gen – wat meens­te?«

Auf dem Ge­sicht des schwärz­li­chen Schaff­ners kämpf­te Zorn mit La­chen. Aber das La­chen ge­wann doch die Ober­hand. »Du Aas, du!«, sag­te er. »Du klei­nes Ber­li­ner Aas mit so ’ner sü­ßen Schnau­ze! Wenn du mei­ne Toch­ter wärst!«

»Und du mein Vata!«, lach­te sie mit Über­zeu­gung. »Du tä­test was er­le­ben!«

»Na, gib mir ’nen Sü­ßen«, sag­te der Schaff­ner, »bist ja noch ein Kind!«

Sie gab ihm un­ge­niert aus dem Ab­teil­fens­ter einen Kuss. »Und nu mach een biss­chen Dampf, Franz«, sag­te sie. »Det wa noch recht­zei­tig nach Prenz­lau kom­men! Und da hilfs­te mir bei die Kör­be, va­stan­den? Det bis­te mir schul­dig, Franz!«

Der Zug fuhr schon wie­der, da sag­te sie zu Karl Sieb­recht: »Du, der soll­te mein Mann sind! Der soll­te aber een rich­ti­jer Mann wer­den, nich so’n Tee­kes­sel! Aber die meis­ten Frau­en sind dumm. Nich so dumm wie die Män­ner, aber an­ders dumm, eben mit die Män­ner! – Und wat fängs­te nu in Ber­lin an, Karl?«

5. Auf der Reise

Sie hat­ten wirk­lich ih­ren An­schluss in Prenz­lau nicht mehr er­reicht, was nie­mand mehr be­dau­ert hat­te als der so freund­lich ge­wor­de­ne Schaff­ner Franz. Aber tu et­was ge­gen eine wild ge­wor­de­ne Not­brem­se!

Trotz­dem sie nun drei Stun­den in Prenz­lau auf dem Bahn­hof sit­zen muss­ten und trotz­dem Til­da den bei­den das Le­ben durch ewi­ges Plär­ren nicht leich­ter mach­te, wur­de Karl Sieb­recht die Zeit nicht lang. Und was die Rie­ke Busch an­ging, so schi­en es bei die­sem Mäd­chen kei­ne lee­ren Mi­nu­ten zu ge­ben, im­mer war sie quick­le­ben­dig, vol­ler In­ter­es­se für al­les. Im­mer flitz­ten ihre hel­len Au­gen um­her, mit je­dem wuss­te sie gleich auf du und du zu kom­men. Im klei­nen Hei­mat­städt­chen hät­te sich Karl Sieb­recht nur un­gern mit ei­nem so gro­tesk an­ge­zo­ge­nen, der­art schnell­zün­gi­gen Mäd­chen öf­fent­lich se­hen las­sen. In der großen Stadt Prenz­lau saß er bei ihr im War­te­saal zwei­mal Zwei­ter, als ge­hör­te er dazu, half ihr die Til­da be­ru­hi­gen und lausch­te mit un­er­mü­de­ter Auf­merk­sam­keit ih­rem Ge­re­de. Aber Rie­ke Busch konn­te nicht nur re­den, sie konn­te auch fra­gen, und nur schwer war ih­ren boh­ren­den Fra­gen zu wi­der­ste­hen. Und Karl Sieb­recht woll­te gar nicht wi­der­ste­hen, ger­ne er­zähl­te er die­sem – er hat­te es nun er­fah­ren – fast vier­zehn­jäh­ri­gen Din­gel­chen von der ab­ge­schlos­se­nen Ver­gan­gen­heit und von sei­nen großen Plä­nen für die Zu­kunft. Nie­mand schi­en ihm fä­hi­ger, zu ra­ten, als die­ses Kind mit sei­nem Mut­ter­witz, sei­nem nüch­ter­nen Le­bens­ver­stand, sei­ner Tüch­tig­keit. Was er erst er­rei­chen woll­te, sich selbst er­näh­ren, das hat­te Rie­ke schon ge­schafft. Und sie er­nähr­te nicht nur sich selbst, son­dern die Schwes­ter Til­da dazu und füt­ter­te auch oft noch den blau­ma­chen­den Va­ter. Wa­ren Karls Hoff­nun­gen für die Zu­kunft aber noch reich­lich vage, so hat­te sie da ganz be­stimm­te Plä­ne, und sie war die Per­son dazu, sie durch­zu­set­zen.

»Ick muss nur wach­sen«, sag­te Rie­ke Busch. »Noch zwan­zig Zen­ti­me­ter, denn kann ick mit Wasch­bal­je und Wasch­brett han­tie­ren, ohne ’ne Kis­te un­ter­zu­set­zen, und denn nehm ick Wasch­stel­len an. Da va­di­en ick mehr Geld, jetz mach ick bloß Halb­tags­mäd­chen – von we­jen Schu­le –, det klap­pert nich so! Aba Wä­sche kann ick, alle Tage ’nen Ta­ler und denn die Stul­len, da mach ick uns dreie von satt. Und denn spar ick! Uff wat spar ick? Uff ’ne Näh­ma­schi­ne, und denn leg ich mir uff die Schnei­de­rei, da­mit wird Jeld va­di­ent. Ar­beet? Ar­beet je­nug, det wirs­te sel­ba bald se­hen, bloß ge­nie­ren muss­te dir nich, aus­su­chen is nich. Und dei­ne fei­nen Hän­de – na, det weeß­te sel­ba, die wer­den wohl nich lan­ge fein blei­ben!«

»Ich hät­te ger­ne was mit Au­tos zu tun«, sag­te Karl Sieb­recht.

»Siehs­te!«, ant­wor­te­te sie, und ihre Au­gen fun­kel­ten vor Spott. »Det lieb ick! Schon wills­te dir die Ar­beet aus­su­chen! Erst nimm, wat de kriegst! Und wenn’s Kin­der­wa­gen­schie­ben is – Auto kommt denn von al­lee­ne! Und über­haupt Auto – det sind doch al­let Schlos­ser und Mecha­ni­ker, jloobs­te denn, det kanns­te von al­lee­ne, wat die sich in vier Jah­ren Leh­re bei­je­bo­gen ha­ben?! So mach man wei­ter, denn brauchs­te jar nich erst an­zu­fan­gen, denn fahr man jleich bei dei­ne Min­na!«

Ver­dammt noch mal, die nahm kein Blatt vor den Mund, die­se klei­ne Nüch­ter­ne! Ganz im Ge­hei­men hat­te ja Karl Sieb­recht wohl einen Traum in der Brust ge­hegt von ei­nem sa­gen­haft rei­chen, ed­len Mann, dem er ir­gend­wie hel­fen konn­te – manch­mal ret­te­te er ihm so­gar das Le­ben! –, und die­ser edle Ein­sa­me er­kann­te so­fort die au­ßer­or­dent­li­chen Fä­hig­kei­ten des jun­gen Karl Sieb­recht und ließ ihn auf­rücken, bis er in ganz kur­z­er Zeit sein Nach­fol­ger und Erbe wur­de. Sol­chen Traum hat­te er ge­hegt, manch­mal. Aber Rie­ke Busch hat­te nie ge­träumt, oder wenn sie ge­träumt hat­te, war es um Wasch­fass und Näh­ma­schi­ne ge­gan­gen. Sie hat­te eine au­ßer­or­dent­lich fei­ne Nase für ver­stie­ge­ne Er­war­tun­gen.

»Wenn de denkst, dir schenkt wer was«, sag­te sie, und Karl Sieb­recht hat­te doch kein Wört­chen von sei­nem Traum ver­lau­ten las­sen, »denn bis­te doof! Dir schenkt kee­ner nischt, wat de dir nich nimmst, det kriegs­te nich. Und wat de je­nom­men hast, halt fes­te, sonst bis­te et jleich wie­da los! Det is ’nen Hau­fen Jeld, wat de da hast, ick hab noch nie so ’ne Mas­se Jeld je­se­hen, aber wenn du’s nich fest­hälst, bis­tet los, ehe de Piep je­sagt hast. Und üba­haupt – du kannst nich schnell je­nug Ar­bee­ter wer­den und wie ’n Ar­bee­ter aus­se­hen. Wat denks­te, wat se dir mit dei­nem Steh­kra­gen und dei­ne fei­ne Tol­le vaäp­peln wer­den. Mach dei­nen Korb mal uff, ick will se­hen, ob de vanünf­ti­je Kla­mot­ten hast, die de an­zie­hen kannst bei de Ar­beet. Sonst va­scheu­ern wa mor­jen dei­nen Schraps, und du kaufst dir wat Rich­ti­jet. Röll­chen – has­te Töne! Aba die man­che­s­ter­ne Hose is jut. Wat, zu lang ist die? Da näh ick dir ’nen Ein­schlag rin, wat denks­te, wat du aus­se­hen wirst, wenn de erst rich­tig ar­bee­test. Ick wer­de mit mei­nen Ol­len re­den, val­leicht jeht er jra­de uff den Bau, und val­leicht brau­chen se da ’nen Hand­lan­ger.«

Ja, sie wa­ren noch nicht in den Ber­li­ner Zug ge­stie­gen, da war es schon aus­ge­macht – üb­ri­gens ohne dass Karl Sieb­recht ge­fragt wor­den wäre –, dass Rie­ke zu Schwes­ter und Va­ter auch noch die­sen Jüng­ling un­ter ihre schüt­zen­den Fit­ti­che neh­men wür­de. Sie wuss­te auch schon eine Schlaf­stel­le für ihn (»Zim­mer is nich, det mach dir man ab – wat denks­te, wat du zu An­fang va­die­nen wirst?!«), und sein Geld brach­te er mor­gen noch auf die Spar­kas­se! Karl Sieb­recht war mit all die­sen Ver­fü­gun­gen über sei­ne Per­son ganz ein­ver­stan­den, nicht etwa, weil er aus Schlapp­heit oder Feig­heit ge­willt war, sich gleich wie­der un­ter ein neu­es Kom­man­do zu be­ge­ben, son­dern weil er das Ge­fühl hat­te, in den ers­ten Wo­chen sei­nes Ber­li­ner Auf­ent­hal­tes tue ihm eine Füh­rung recht gut. Spä­ter wür­de er dann schon sel­ber se­hen … Und au­ßer­dem ge­fiel ihm die­se Rie­ke Busch sehr, sie kom­man­dier­te nicht etwa aus Herrsch­sucht, son­dern aus ge­sun­dem Men­schen­ver­stand. Sie wuss­te Be­scheid, und er hat­te kei­ne Ah­nung.

Der Ber­li­ner Zug war prop­pen­voll. Sie muss­ten ihre Kör­be über­ein­an­der sta­peln, aber sie fan­den dank Rie­kes Schlag­fer­tig­keit doch Sitz­plät­ze, und kei­ne drei Mi­nu­ten, so er­hei­ter­te Rie­ke den gan­zen Wa­gen mit der Schil­de­rung ih­rer Klein­bahn­fahrt. Karl Sieb­recht ver­gaß den to­ten Va­ter, er muss­te Trä­nen la­chen, wie Rie­ke Busch in ih­rer Frau­en­tracht den lan­gen La­ban von Schaff­ner nach­mach­te. Sie hielt ein ima­gi­näres Stück Draht zwi­schen spit­zen Fin­gern und sag­te im­mer wie­der: »Der is doch je­ris­sen, det sieht man doch! Der is doch nich je­platzt, i wo!«

Und kaum war die­se Vor­stel­lung vor­über, so war Rie­ke Busch schon zu Karl Sieb­rechts Über­ra­schung in ei­ner sehr of­fen­her­zi­gen Er­ör­te­rung sei­ner ver­gan­ge­nen und zu­künf­ti­gen Le­ben­sum­stän­de. Ir­gend­wel­che Ge­heim­nis­se schi­en es bei ihr nicht zu ge­ben. Da im Wa­gen vie­le Ber­li­ner sa­ßen, war bald die leb­haf­tes­te Be­spre­chung im Gan­ge. Sieb­recht wur­de vie­le Male prü­fend von der Sei­te an­ge­se­hen, muss­te Aus­kunft ge­ben über sei­ne Schul­kennt­nis­se, die Re­chen­küns­te, die Schön­heit sei­ner Schrift, ja er muss­te das Jackett aus­zie­hen und die Obe­r­arm­mus­keln span­nen. Er tat das al­les gut­wil­lig und la­chend. Es wa­ren wohl al­les klei­ne Leu­te, die da mit ih­nen im Wa­gen sa­ßen, aber sie dach­ten wirk­lich dar­über nach, ob sie was für ihn wüss­ten, sie woll­ten ihm ger­ne be­hilf­lich sein.

Lei­der stell­te sich bald her­aus, dass bei sol­chen Be­ru­fen, von de­nen die Mit­fah­rer Kennt­nis hat­ten, mehr Kräf­te ver­langt wur­den, als dem Karl Sieb­recht zu­zu­trau­en wa­ren. »Ick habe je­dacht«, sag­te ein bie­de­rer Schnauz­bart, »du könn­test viel­leicht bei uns in den Stall, Jun­ge. Ick bin bei die städ­ti­schen Om­ni­bus­se, va­stehs­te? Mit ’nem Lack­pott hoch vom Bock, va­stehs­te? Unsa Fut­ta­meis­ta braucht mal wie­der ’nen Je­hil­fen. Mit dem Put­zen und dem Fut­ter­schüt­ten, det jin­ge ja noch, aba all die Sä­cke vom Bo­den, je­der an­dert­halb Zent­ner, det kanns­te nich, da machs­te bei schlapp.«

»Ich habe schon an­dert­halb Zent­ner ge­tra­gen«, sag­te Karl Sieb­recht.

»Ja, een­mal! Aba det weeß­te doch, een­mal is keen­mal. Und wenn de denn nach­ein­an­der zwan­zig Sä­cke run­ter­bu­ckeln musst, da wirs­te weich! Denn wat bis­te? Du bist weich! Det is keen Fleesch von ’nem Ar­bee­ter, wat du auf dem Lei­be hast, det ist so nüch­tere­net Kalb­fleesch, va­stehs­te? Al­lens Zad­der, so is det.«

»Er wird schon an­der Fleesch krie­jen!«, rief Rie­ke Busch. »Der is nich schlapp!«

»Nee, viel­leicht nich, aba für uns is er nischt. Unsa Fut­ta­mees­ta, der is nich jut, der haut jleich.«

»Vi­el­leicht wüss­te ich et­was für Sie«, ließ sich jetzt ein blas­ser, lan­ger jun­ger Mensch ver­neh­men, mit vie­len Pi­ckeln im Ge­sicht. »Wenn Sie flei­ßig sind, kön­nen Sie bei mir gu­tes Geld ver­die­nen.«

»Bei Sie –?!«, ant­wor­te­te Rie­ke Busch schnell, ehe noch Karl Sieb­recht den Mund hat­te auf­tun kön­nen. Karl kann­te nun schon den et­was ge­dehn­ten, schril­len Ton in ih­rer Stim­me – er kam im­mer, wenn sich ein Sturm bei ihr zu­sam­men­brau­te. »Bei Sie kann er ju­tet Jeld va­die­nen?« Sie mus­ter­te den Jüng­ling. »Von wat va­die­nen Sie denn erst mal Jeld?«

»Ich habe«, sag­te der Jüng­ling be­reit­wil­lig, »die Ge­ne­ral­ver­tre­tung für Ber­lin und die Mark Bran­den­burg des Pfif­fi­kus-Spar­bren­ners. Spart bis zu sech­zig Pro­zent des Pe­tro­le­um­ver­brauchs …«

»Ach, den Dreck kenn ick«, sag­te Rie­ke rasch. »Wenn man so ’n Ding uff de Lam­pe setzt, is’t dus­ter, wie wenn Neu­mond scheint, oder blakt, als wenn Ruß schneit. Det is doch Mist, Sie!«

»Na, er­lau­ben Sie mal«, pro­tes­tier­te der Jüng­ling. »Ich kom­me so­eben aus Prenz­lau und Um­ge­gend, ich habe drei­und­sech­zig Stück von dem Pfif­fi­kus ver­kauft.«

»Det wol­len wa da­h­in­je­stellt sein las­sen! Val­leicht sind se in Prenz­lau so hel­le, det se’t jern een biss­chen dus­ter ha­ben wol­len. Wat va­die­nen Se denn nu an so een Stück?«

»Zwan­zig Pfen­ni­ge!«

»Det is acht­bar! – Det is nich schlecht! – Zwölf Mark sech­zig – det hat un­se­ree­ner die gan­ze Wo­che nur! – Na, aba die Bahn­fahrt jeht ab! – Wat denn, die Bahn ist doch nich teu­er!« So ging es hin und her im Ab­teil.

»Ick fra­ge mir nur«, ließ sich Rie­ke Busch wie­der ver­neh­men, »wenn Se uff Kund­schaft jehn, wol­len Sie ja doch ’nen ju­ten Ein­druck ma­chen, wat?«

»Selbst­re­dend!«

»Ick fra­ge mir nur, warum Se sich da so ’ne olle Kluft an­pel­len? In der Ja­cke da ha­ben Se di­rekt een Loch! Det ist wohl vom Pfif­fi­kus? Bei zwölf Mark den Tag müs­­­­