1. eBook-Ausgabe 2015

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INHALT

Vorwort

Einführung von Sabine Bode

ERFAHRUNG

Joachim Süss · Wir Nebelkinder

Merle Hilbk · Das schönste Dorf am schönsten Fluss der Erde

Angela Baumgart · »Schlag drein, dass noch ihre Enkel und Urenkel zittern«

Antje Pohl · Mein Großvater, der Kriegsverbrecher

Andreas Bohnenstengel · Lebende Bilder

Alexandra Senfft · Lasten der Vergangenheit – Chancen für die Zukunft

Katharina Ohana · Borderline

DEUTUNG

Michael Schneider · Eine Generation im Dazwischen: Warum die Babyboomer eine Aufgabe haben und sich immer noch unterschätzen

Daniela Schiffer · Gewittertierchen vertreiben – Innenansichten meiner Generation

Ulrike Pohl · Über die Schwierigkeiten, Täter- und Opferseite in einer Person wahrzunehmen

Annedore Schiffer · Das verschwiegene Drama der Heimatlosigkeit

Gabriele Lorenz-Rogler · Vom Kriegsenkel zum aktiven Gestalter der Gesellschaft

Roswitha Schieb · Die zweite Generation der Vertriebenen in Polen

Till Scholtz-Knobloch · Gelebte Biografien

Sabine Behrens · Nirgends und nie gut genug – Kriegsenkel und ihre Selbstzweifel

HEILUNG

Gabriele Mariel Pauls-Reize · Wege aus dem Keller der Seele

Christa Spannbauer · Mut zum Leben – Was mich die Überlebenden von Auschwitz lehrten

Anne-Ev Ustorf · Ich muss nicht gutheißen, wie meine Eltern mit mir umgegangen sind – aber ich verstehe jetzt, dass sie nicht anders konnten

Ingrid Meyer-Legrand · Die Aufträge der Kriegsenkel – Einübung der Kompetenzen

Kathleen Battke und Thomas Bebiolka · Nur wer verwundet ist, kann heilen. Oder: Wieviel Resilienz steckt in unseren Verletzungen?

Bettina Alberti · Was Krieg mit uns macht – über die transgenerationale Weitergabe seelischer Trümmer an die Folgegenerationen

Rasmus Rahn · Verdrängung, Verdruss, Verantwortung? Kriegsurenkel und der lange Schatten unserer Vergangenheit

Biografien

Dank

Literatur

VORWORT

Der Begriff Kriegsenkel war noch vor zehn Jahren bestenfalls in wissenschaftlichen Fachzirkeln geläufig, die sich mit den Auswirkungen traumatischer Ereignisse im Leben der Eltern- und Großelterngeneration auf die Nachkommen beschäftigten. Auch damit, wie die NS-Zeit, der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegsjahre die Lebensgeschichten derer geprägt haben, die Jahre und Jahrzehnte nach diesen Ereignissen geboren wurden, befassten sich lange Zeit nur wenige Menschen.

Inzwischen »explodiert« das Thema förmlich in unsere deutsche Gesellschaft hinein. Bücher zu diesem Komplex halten sich monatelang auf den Bestsellerlisten. In vielen Städten entstanden und entstehen zunehmend sogenannte Kriegsenkel-Gruppen. Dort treffen Menschen zusammen, um sich über ihre Familiengeschichten auszutauschen, und sie fragen, welche Auswirkungen die Schuldverstrickung oder die schrecklichen Erlebnisse während der Flucht oder im Bombenkeller auf ihr eigenes Leben gehabt haben könnten. Und in den sozialen Medien, überregionalen Zeitungen sowie in Rundfunk und Fernsehen findet ein Phänomen immer mehr Beachtung, dem Fachleute den sperrigen Namen »transgenerationale Weitergabe kriegsbedingter Traumatisierungen« gegeben haben.

Der Vortragszyklus 2013–2014 der Neuen Philanthropischen Gesellschaft zu Hamburg trug den Titel »Die langen Schatten unserer Vergangenheit«. In den Vorträgen dieser Reihe wurden die historischen, psychologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen des Themas »Kriegsenkel« ausgelotet. Vier dieser Vorträge bilden den Grundstock des vorliegenden Buches. Hinzugekommen sind weitere Beiträge namhafter Autorinnen und Autoren. Sie alle zählen zu den Pionieren unseres Themas.

Wir Herausgeber haben sie gebeten, den Gegenstand dieses Buches in ihren Beiträgen aus ihrer Sicht und vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen zu beleuchten. Implizit oder explizit dienten die folgenden Fragen dabei als Richtschnur: Wie hat sich das Thema Kriegsenkel seit seinen Anfängen, vor allem aber seit dem öffentlichkeitswirksamen Erscheinen der ersten Sachbücher gegen Ende des letzten Jahrzehnts, entwickelt? Welche Erkenntnisse haben wir inzwischen gewonnen? Welche Aufgaben liegen noch vor uns?

Die Beiträge dieser Anthologie haben wir drei inhaltlichen Schwerpunkten zugeordnet. Wir haben sie »Erfahrung«, »Deutung« und »Heilung« genannt. Somit beschreiben die im ersten Teil des Buches versammelten Texte autobiografische Prozesse und Erfahrungen unter dem Brennglas des Kriegsenkel-Begriffs. Die Beiträge des zweiten Teils deuten und interpretieren diese Erfahrungen und ordnen sie in übergeordnete Kontexte ein, die wiederum ein tieferes Verständnis von Kriegsenkel-Biografien ermöglichen. Im abschließenden Teil des Buches widmen sich die dort versammelten Texte der Frage, wie das belastende Erbe, das viele Angehörige der mittleren Generation in Deutschland an sich wahrnehmen, verarbeitet, integriert und geheilt werden kann.

Der Buchtitel Nebelkinder spielt darauf an, dass vielen Kriegsenkeln lange, manchen auch viel zu lange wichtige Prä gekräfte ihrer Biografie nicht zugänglich waren. Sie lagen wie in einer Nebelwand vor ihnen verborgen. Zu wenig wurde in den Familien über Schuld und Trauma eines Krieges gesprochen, der, wie wir heute wissen, immer noch das Leben zahlreicher Menschen belastet, auch wenn sie Jahre oder Jahrzehnte später geboren wurden.

Die Texte der Autorinnen und Autoren dieses Buches tragen je für sich dazu bei, diesen Nebel zu lichten. Sie erleuchten jene Tiefenräume unserer Geschichte, die immer noch unvermessen sind. So öffnen sie das Tor zur nächsten Etappe auf dem Weg, den Kriegsenkel gehen: Es ist der Weg der Heilung.

Michael Schneider und Joachim Süss

EINFÜHRUNG VON SABINE BODE

Mitte der 1990er-Jahre begann ich der Frage nachzugehen: Wie geht es eigentlich den deutschen Kriegskindern heute? Von Anfang an bezogen sich meine journalistischen Recherchen nicht nur auf die entsprechenden Jahrgänge von 1930 bis 1945 – es interessierte mich auch die spätere Generation. Ich wurde hellhörig, wenn mir damals 20- bis 35-Jährige von schlechten Beziehungen zu Mutter und Vater erzählten, meistens mit dem Zusatz: »Meine Eltern wissen gar nicht, wer ich bin.« Die Kinder hatten eine weit bessere Ausbildung als ihre Eltern erhalten und waren sozial aufgestiegen. Hier in einer kulturellen Entfremdung die Ursache zu suchen, erschien naheliegend. Doch ein einleuchtender Grund für schlechte Beziehungen ist das nicht. Die meisten Klagen, die ich über Eltern hörte, bezogen sich auf unbegreifliches Verhalten, verbohrte Sichtweisen, auf ein extremes Sicherheitsbedürfnis und ein gänzliches Desinteresse an irgendeinem neuen Thema.

Fragte ich dann nach der Kindheit der Eltern, erfuhr ich zu 80 Prozent von gravierenden Dramen: Da hatte ein Vater mit sieben Jahren die Zerstörung Kassels erlebt, eine Mutter war als Zwölfjährige mit ihrer Familie aus Ostpreußen geflohen. Dafür fanden die eine Generation Jüngeren bloß wenige, nüchterne Worte. Es deckte sich mit der Art und Weise, wie ich Kriegskinder über ihre frühen Schrecken hatte reden hören: unerschüttert, fast gefühlsfrei, jedenfalls in keiner Weise larmoyant. Dazu der Satz: »Das war für uns normal, so was hat man eben weggesteckt.«

Wenn ich damals einem Menschen, der sich heute womöglich Kriegsenkel nennt, zu bedenken gab: »Vielleicht sind Ihre Eltern deshalb so, wie sie sind, weil sie als Kinder Schreckliches erlebt haben«, herrschte eine Weile Schweigen. Dann folgte der Satz, der in allen Gesprächen wortgleich auftauchte: »Darüber habe ich noch nie in meinem Leben nachgedacht.« – Und dabei blieb es. Es wurde nicht weiter darüber nachgedacht.

Seitdem sind 20 Jahre vergangen, und in Deutschland ist ein Phänomen festzustellen, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, das Phänomen der Kriegsenkel-Gruppen, eine Basisbewegung. In manchen Großstädten, vor allem auch in Berlin, sind die Kriegsenkel und was sie so alles auf der Suche nach ihren Wurzeln erleben, Partythema. Wer mehr darüber wissen möchte, wird in dieser Anthologie viel Nachdenkenswertes finden. In den Beiträgen der Nebelkinder spiegelt sich, dass der Satz »Meine Eltern wissen gar nicht, wer ich bin« unbedingt einer Ergänzung bedurfte im Sinne von: »Hätten mich meine Eltern damals gefragt: Ja, wer bist du denn? Hätte ich überhaupt keine Antwort gewusst.« Und der eingangs zitierte Kriegsenkel würde vermutlich einräumen: »Lange Zeit war ich mir selbst ein Rätsel, weil ich mich nie weder emotional noch faktisch mit meiner Familienvergangenheit auseinandergesetzt habe.«

Als ich Mitte der 1990er-Jahre begann, Angehörige der Kriegskinder-Generation zu ihrem Schicksal zu befragen, weil ich wissen wollte, wie sich frühe Erfahrungen mit Leid, Bedrohung, Gewalt, Bomben, Heimatverlust, Hunger und Tod in der Familie im Erwachsenenleben ausgewirkt haben, wurde mein Interesse überwiegend als befremdlich bis zudringlich empfun den. An Kriegserinnerungen war noch heranzukommen, aber das Nachdenken über mögliche seelische Kriegsfolgen wurde durchweg abgewehrt. Auch in meinem Umfeld wurde mit Unverständnis reagiert. Zwar war man sich einig, dass auch viele Deutsche Schreckliches erlebt hatten, doch wollte man dem kein öffentliches Gewicht geben, weil man den Vorwurf befürchtete, hier solle deutsches Leid gegen das der vielen Millionen Opfer des Holocaust und eines Vernichtungskrieges aufgerechnet und damit die deutsche Schuld relativiert werden.

In dieser Zeit kannte ich nicht mehr als fünf Personen, denen meine Recherchen zu traumatisierten Deutschen nicht abwegig, sondern gesellschaftlich wichtig erschienen. Wir überlegten, ob die Kriegskinder jemals ihr Schweigen brechen oder ihre Erinnerungen mit ins Grab nehmen würden. Doch hielten wir es für wahrscheinlicher, dass dann, wenn die Mehrheit dieser Jahrgänge die Rentnerphase erreicht hätte, die Kindheit wieder näher rücken würde. Und dann, stellten wir uns vor, wären auch Reflexionen über die Langzeitfolgen möglich. Genau so ist es schließlich auch gekommen.

Gewiss ist es nach wie vor eine Minderheit, die sich einer solchen Lebensbilanz unterzieht. Aber sie scheut sich nicht, darüber zu sprechen, auch öffentlich. Das Schicksal der Kriegskinder wird heute gesehen und ernst genommen.

Als mein Buch Die vergessene Generation 2004 erschien, waren die Spätfolgen in der Gruppe der Kriegskinder noch nicht erforscht. Der Begriff »Trauma« wurde im Wesentlichen im Zusammenhang mit den Opfern des Nationalsozialismus genannt. Ein öffentliches Interesse am Thema »deutsche Kriegskinder« existierte nicht. Es erwachte erst im April 2005, ausgelöst durch den ersten großen Kriegskinder-Kongress in Frankfurt am Main, zu dem sich 600 Teilnehmer anmeldeten. Hatten sich die Medien bis dahin überwiegend auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus konzentriert, wurden nun dem The menkomplex »deutsche Vergangenheit« die Schrecken von Bombenkrieg und Vertreibung aus Kindersicht hinzugefügt.

An Zeitzeugen herrschte kein Mangel. Jahrzehntelang hatten die Kriegskinder ihre frühen Traumatisierungen verdrängt oder bewusst auf Abstand gehalten, doch nun war die Zeit reif, Worte für Erlebnisse zu finden, die bis dahin unaussprechbar gewesen waren. Was dabei sichtbar wurde: Natürlich weisen die Lebensbedingungen riesige Unterschiede auf, jedes Kriegskind hat seine unverwechselbare Erfahrungsgeschichte. Doch gleichzeitig zeigte sich überdeutlich: Ohne Zweifel haben Kriegsgewalt und abwesende Väter, Heimatverlust und große Entbehrungen sowie das Aufwachsen mit Eltern, die glühende Nationalsozialisten oder Feinde des Regimes waren, im späteren Leben Folgen – auch dann, wenn die Betroffenen nicht wahrnehmen, wodurch sie untergründig gesteuert werden.

Erst jetzt, im Alter, werden sich viele Menschen dessen bewusst und fangen an, sich Fragen zu stellen. Häufig setzen sie sich damit auseinander, indem sie ihre Kindheitserinnerungen aufschreiben. Unzählige ältere Menschen waren oder sind derzeit damit beschäftigt. Viele ihrer Generation haben das Gefühl, sie müssen es tun, denn im Alter fällt das Verdrängen immer schwerer.

Es gab also eine Zeit in Deutschland – die erst vor zehn Jahren zu Ende ging –, in der die Angehörigen der Kriegskinder-Jahrgänge keineswegs der Meinung waren, sie hätten als Generation ein bemerkenswertes gemeinsames Schicksal, und sie bekräftigten dies mit der Aussage: »Die Eltern, ja, die hatten Schlimmes hinter sich. Aber wir doch nicht! Wir waren Kinder! Das war für uns normal, das haben wir doch alle erlebt.«

Nun, so empfinden es Kinder. Da später in der deutschen Gesellschaft diese gefühlte »Normalität« nie als korrekturbedürftig angesehen wurde, blieb sie im Erwachsenenalter über viele Jahrzehnte bestimmend. Das wirklich Neue am Thema Kriegskinder sind ja nicht die Schrecken des Krieges. Es ist bekannt, dass Kinder, Alte und Kranke am stärksten unter kollektiver Gewalt leiden. Das Neue ist: Hier handelt es sich um eine große Gruppe von Menschen, die in der Kindheit verheerende Erfahrungen machten, aber ihr ganzes Leben in der Mehrzahl eben nicht das Gefühl hatten, etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben. Denn es fehlte ihnen der emotionale Zugang zu diesen Erfahrungen und damit auch der Zugang zu ihren wichtigsten Prägungen.

Wer dies nicht im Blick hat, versteht nicht den Kern des spezifischen Problems – warum die Kriegskinder, die traumatisiert waren, dies nicht wussten. Litten sie an Depressionen, Ängsten, Panikattacken, fanden sie und ihre Hausärzte dafür keine Erklärung. Wie sollten da ihre Kinder auf die Idee kommen, dass die Eltern sich nicht vom Krieg erholt hatten?

Viele von ihnen haben in der Kindheit überlebt, indem sie sich selbst betäubten. Dabei halfen Sätze wie: »Indianerherz kennt keinen Schmerz«, »Anderen geht es viel schlimmer!« und die in der Hitlerjugend erworbene Überzeugung, »hart wie Kruppstahl« zu sein.

Die Nachwirkungen von NS-Gewaltherrschaft, Krieg und Vertreibung bei den Kriegskindern sind inzwischen erforscht. Die Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen: 8 bis 10 Prozent der heutigen Rentnerinnen und Rentner haben eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung, das heißt, sie sind psychisch krank. (Dazu Vergleichszahlen aus der Schweiz, ein Land ohne Krieg: Hier sind in der entsprechenden Altersgruppe nur 0,7 Prozent betroffen.) Darüber hinaus sind weitere 25 Prozent zwar leichter, aber immer noch erkennbar von den Spätfolgen belastet.

Häufig drückt sich dies in sonderbaren Verhaltensweisen aus, in Vermeidungsstrategien, gespeist aus der Angst vor Veränderungen. Daraus ergibt sich unter anderem ein schlechter Kontakt zu der Welt der Jüngeren. Fast alle Kinder der Kriegskinder, die in meinem Buch Kriegsenkel zu Wort kommen, berichten von einem Mangel an Wärme in ihren Herkunftsfamilien. Der immer wiederkehrende Satz dazu lautet: »Ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen.«

Diese Äußerung ist für Mütter oder Väter unverständlich. Hatten sie nicht alles für ihre Kinder getan? War es je einer Generation besser ergangen als jenen Kindern, die in den 1960er- und 1970er-Jahren geboren wurden? Vielen Kriegskindern fällt auf, dass die Generation ihrer Kinder längst nicht so tüchtig und durchsetzungsfähig ist wie ihre eigene Generation. Sie verstehen nicht, wenn bei den Jüngeren von Lebensängsten die Rede ist, von Depressionen. Das sollen Kriegsfolgen sein … Solche Eltern vermuten eher – und sie schreiben mir das auch –, es sei ihren Kindern »zu gut« gegangen. Aber kann das sein? Kann es Menschen zu gut gehen?

Nachdem mein Buch über die Kriegskinder erschienen war, meldeten sich relativ schnell auch deren Kinder. Lange Zeit konnte ich ihre Klagen nicht nachvollziehen, was erklärt, warum erst fünf Jahre später ein Buch über die Kriegsenkel folgte. Viele Zweifel wären mir erspart geblieben, hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, weil ich mich inzwischen intensiv damit beschäftigt habe, wie in anderen Ländern mit einer belastenden Vergangenheit umgegangen wird. Da zeigen sich große Unterschiede und viele Gemeinsamkeiten, bei Letzteren werden von Experten durchaus Gesetzmäßigkeiten erkannt: Wenn aus Menschen, die von Krieg und Diktatur geprägt wurden, Eltern werden, können sie bei ihren im Frieden aufwachsenden Töchtern und Söhnen die Zukunftspotenziale nicht erkennen und folglich auch nicht fördern. Der Friedens- und Zukunftsforscher Otto Scharmer vom Massachusetts Institute of Technology erlebt die Friedenskinder weltweit als eine zu großen Teilen geschwächte Generation. Warum? Weil es die Schrecken der Vergangenheit sind, die dem Erziehungsstil zugrunde liegen, mit entsprechenden Ermahnungen: immer auf der Hut sein, bloß nicht auffallen, bloß nichts riskieren.

Die Kinder der Kriegskinder, überwiegend jene aus Vertriebenenfamilien, berichteten mir von relativ normalen Bedingungen des Aufwachsens. Dennoch hörte ich sie auffallend oft über sich sagen, ihnen fehle der feste Boden unter den Füßen. Ihr verunsichertes Lebensgefühl konnten sie sich nicht erklären. Auch meldeten sich Menschen, denen es erst in der Mitte ihres Lebens gelungen ist, sich von ihren Eltern abzunabeln, und solche, die noch heute darum kämpfen, sich nicht von Mutter oder Vater steuern zu lassen. Häufig hörte ich sie sagen, irgendetwas treibe sie, ihre ganze Kraft den Eltern geben zu müssen, und dass sie dieses Gefühl seit ihrer Kindheit kennen, im Sinne von: »Ich muss alles tun, damit es meinen Eltern gut geht. Ich darf nichts tun, was ihnen Sorgen bereitet.«

Nicht wenige fühlten sich als Versager, zumal sie als Friedenskinder alle Chancen hatten, da sie in der besten aller Zeiten aufgewachsen waren. Zumindest in Westdeutschland hatte es ihnen an nichts gefehlt. Oder doch? Ein völlig neuer Gedanke, sich vorzustellen, ihre unauflösbaren Ängste und Blockaden könnten von Eltern stammen, die sich nicht von ihren Kriegserlebnissen erholt hatten. War es möglich, dass eine Zeit, die nun fast eine Ewigkeit zurücklag, so stark in ihr Leben als Nachgeborene hineinwirkte? Und wenn ja, warum wussten sie nichts davon?

In den meisten Herkunftsfamilien hatten keine Dramen stattgefunden. Stattdessen war die Rede von »Nebel« und von »Unlebendigkeit«. Ein 45-jähriger Sohn bezeichnete das Klima in seinem Elternhaus als eine »stillstehende, graue Soße«. Hatte man sich bis dahin als Generation ohne Eigenschaften gesehen, verblüffte und erleichterte die Kinder der Kriegskinder der Gedanke, offenbar doch generationsspezifische Probleme zu haben. Manche Kriegsenkel hatten sich von den Schreckensgeschichten der Vertreibung geradezu überschüttet gefühlt, die meisten aber hatten über NS-Zeit, Krieg und Flucht nur düstere Andeutungen gehört. Am aussagestärksten waren die Berichte von Großvätern über ihre Kriegsgefangenschaft gewesen.

In den Medien wird seit Jahren regelmäßig über das Schicksal der Kriegskinder berichtet. Dokumentar- und Spielfilme stoßen auf große Resonanz. Der Topos »Nazi-Enkel konfrontiert seine Familie mit den Verbrechen des Großvaters« erfährt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Wertschätzung. Zu den stillen Dramen über Menschen, die von traumatisierten Kriegskindern erzogen wurden und sich zu befreien versuchen, haben Fernsehredakteure, so scheint es, wenig Zugang. Oder man erkennt hier ein wichtiges Thema, nur findet man die passenden Protagonisten nicht: weil diejenigen, die viel zu erzählen hätten, nicht wissen, wie sie das tun sollen, ohne ihre Eltern bloßzustellen, und nicht wissen, wie sie von ihren eigenen Defiziten sprechen sollen, ohne sich selbst zu entblößen.

Ich bin häufiger von Fernsehleuten kontaktiert worden, die nach Kriegsenkeln suchten, aber die wenigen, die sich zu dem Abenteuer »in die Öffentlichkeit treten« bereit erklärten, wurden dann in der Redaktionskonferenz abgelehnt. Begründung: »Den Protagonisten mangelt es an Symptomen.« Das Dilemma wird bleiben, und mich würde interessieren, ob es inzwischen gute Drehbücher für Spielfilme gibt. Vielleicht existieren sie ja, und die Projekte scheitern am Desinteresse derer, die darüber zu entscheiden haben. Seit Jahren wünsche ich mir ein unterhaltsames Roadmovie: Zwei Kriegsenkel reisen nach Polen, auf den Spuren ihrer Eltern und Großeltern, und treffen dort auf »Wnuczki wojny«, auf polnische Kriegsenkel, über die es – falls es Filmemacher interessiert – in dieser Anthologie Erfrischendes zu erfahren gibt.

Die Geschichten der Kriegsenkel, die in meinem Buch zu Wort kamen, waren anonymisiert. Das machte sie freier zu erzählen. Ehrlich konnten sie darüber Auskunft geben, wie es in ihren Elternhäusern zuging, wie sie sich privat oder beruflich immer im Kreis drehten und wie wenig es ihnen gelungen war, die langen Schatten des Krieges loszuwerden. Die Gespräche wurden 2007/2008 geführt. In meinen Augen sind sie Pioniere, die etwas ins Rollen gebracht haben. Mit den meisten stehe ich heute noch in Verbindung. Fast alle haben mir überzeugend geschildert, wie sehr sich ihr Leben seitdem positiv verändert habe und dass sie aus Krisen, ausgelöst durch schwere Krankheit, Arbeitsverlust oder Burn-out, gestärkt hervorgegangen seien.

Vielfach haben sich auch die Beziehungen zu den Eltern verbessert, und dort, wo es früher hoffnungslos aussah, ist es heute zumindest erträglich. Man kann seine alten Eltern nicht ändern, aber man kann sie inzwischen verstehen und sich, wenn nötig, besser von ihnen abgrenzen.

Die »Nebelkinder«, die in diesem Buch Auskunft geben, tun dies mit Klarnamen. Sie schreiben über sich, über das Aufwachsen im Nebel, über Vertriebenenleid und das Entdecken von Nazi-Verbrechern in den eigenen Familien, über ihre Suche nach ihren Wurzeln, ihre Befreiungsprozesse, über ihre Sehnsucht nach guten Beziehungen, über ihre Sicht auf die NS-Vergangenheit als West- und Ostdeutsche und ihre gesellschaftliche Verantwortung als Nachkriegsgeborene.

An dieser Stelle höre ich immer wieder den Einwand: Kann es nicht endlich einmal genug sein? Kein anderes Volk hat sich so selbstkritisch mit den Massenverbrechen seiner Vergangenheit auseinandergesetzt wie wir Deutschen … Stimmt. Doch die Aufarbeitung war vor allem eine akademische. Sie wurde den Historikern und den Publizisten überlassen. Keine Frage, dies alles hat die Gesellschaft zum Nachdenken und Umdenken bewegt. Doch Nachforschungen in den eigenen Familien, darüber, ob sich die Großeltern an den Untaten beteiligten, das NS-Regime unterstützten oder davon profitierten, wurden nach ersten Widerständen nicht weiter verfolgt.

In den 1990er-Jahren kamen Podiumsdiskussionen in Mode, die immer nach demselben Prinzip besetzt waren: auf der einen Seite Holocaust-Überlebende, die als Zeitzeugen auftraten, oder deren Kinder, die über das Leid in ihren Familien berichteten, und auf der anderen Seite nichtjüdische Deutsche, als Experten des Themas, vornehmlich Historiker. Die Schieflage fiel damals nicht auf, jedenfalls wurde sie nie öffentlich diskutiert. Ich vermute aber, dass unter dem Strich bei verantwortungsbewussten Bürgern ein Unbehagen blieb, weshalb, wenn schon die Nazi-Geschichten in den Familien nicht öffentlich gemacht beziehungsweise nicht einmal im Privaten daran gerührt wurde, für das Thema »Die Deutschen als Opfer« erst recht kein Raum sein durfte.

Seit einigen Jahren allerdings wächst das Interesse an einer wesentlichen Ergänzung der akademischen Aufarbeitung, und zwar die emotionale Aufarbeitung. Hier steht die Altersgruppe der Kriegsenkel ganz vorn. Ausgangspunkt für Antworten auf die Frage »Wie bin ich so geworden, wie ich bin?« war in den meisten Fällen das Leid der Eltern als Kriegskinder, das Schweigen in der Familie. Doch wer einmal auf dem Weg ist, wird hier aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aufhören, und er wird, wenn er die Großelterngeneration in den Blick nimmt, womöglich noch ganz andere Familiengeheimnisse aufdecken.

Wenn Kriegsenkel erfahren, dass es im Zusammenhang mit Familienforschung lohnend sein könnte, bei ererbten Familienstücken – Schmuck, Silberbesteck, Möbeln und Kunstwerken – genau hinzuschauen und den Eltern zur Herkunft Fragen zu stellen, zeigen sich viele überrascht und winken ab. Sie sagen: »In unserer Familie gab es keine Nazis – das kann ich mir spa ren.« Sie fangen erst dann an zu verstehen, wenn sie sich mit der Existenz und Funktion von Familienlegenden beschäftigen: Legenden sind vor allem dann entstanden, wenn dem Verdacht entgegengearbeitet werden sollte, der »gute Name« der Familie sei in irgendeiner Weise mit dem Holocaust verknüpft gewesen. Und sei es deshalb, weil die Großeltern als überzeugte Nazis auftraten, um in eine größere Wohnung – die von deportierten jüdischen Nachbarn – einziehen zu können, Möbelübernahme inklusive.

In welchem Ausmaß die deutsche Bevölkerung von geraubtem jüdischen Vermögen und Besitz profitierte, dazu wurden in Götz Alys Buch Hitlers Volksstaat und in Michael Verhoevens Dokumentarfilm Menschliches Versagen überzeugende Fakten gesammelt. Man erfährt von den vielfältigsten Möglichkeiten, sich zu bereichern, und wie einig sich die Bevölkerung und die Behörden nach dem Krieg waren, Wissen und Akten unter Verschluss zu halten.

Die ersten Nachkriegsjahre waren die Geburtsjahre von Legenden, die die Funktion hatten, die Familienehre vor einem Makel zu bewahren. Nun haben aber Legenden und »Gute-Nacht-Geschichten« die Gemeinsamkeit, dass sie gern ausgeschmückt und verwandelt werden. Bis am Ende der Nazi-Opa als Anti-Nazi-Opa dasteht. Eine bekannte Umfrage mit dem Titel »Opa war kein Nazi« offenbart, wie wohlwollend von den Nachkommen eigene Familienangehörige bezüglich ihrer Rolle und Haltung in der Nazi-Zeit eingestuft werden. Folgende Vorstellung kam dabei heraus: Ein Viertel der damals erwachsenen Bevölkerung hat Verfolgten geholfen, 13 Prozent waren im Widerstand aktiv. Ganze 3 Prozent sind Antisemiten gewesen.

Irreführung in Familien ist weit verbreitet – sie kann die seelische Gesundheit nachwachsender Generationen beeinträchtigen. Die stärkste Motivation von Kriegsenkeln, Fami liengeheimnissen auf den Grund zu gehen, ist die, das ungute Erbe mit seinen Nebeln und Irrlichtern nicht auch noch an die eigenen Kinder weiterzugeben. Darum räumen sie auf. Darum stellen sie Eltern und Verwandten unbequeme Fragen. Die emotionale Aufarbeitung hat begonnen, und wo sollte diese stattfinden, wenn nicht in den Familien.

Meiner Ansicht nach wird davon die ganze Gesellschaft profitieren. Sie wird toleranter werden. Sie wird Zukunftsprobleme besser lösen können. Fast täglich entdecke ich dazu Hinweise. Während ich an diesem Beitrag arbeitete, erreichte mich eine E-Mail, die ich, mit der Erlaubnis der Verfasserin, gern hier weitergebe:

»Hallo, ich heiße Julie, ich bin 13 Jahre alt, gehe in die achte Klasse und wohne in Baden-Württemberg. In der Schule muss ich demnächst eine Buchpräsentation vortragen, bei der man sich selber ein Buch aussuchen muss. Beim Aussuchen in der Buchhandlung bin ich dann auf dieses Buch gestoßen: Die vergessene Generation. Das Thema Krieg beziehungsweise Kriegskinder interessiert mich sehr. In meinem Dorf sind vor drei Monaten Flüchtlinge aus dem Irak angekommen, mit denen ich sehr viel Kontakt habe. Außerdem sind meine Großeltern (75 Jahre) auch als Flüchtlinge aus der Slowakei und Tschechei nach Deutschland gekommen. Da ich dafür über die Autorin sehr viele Informationen benötige, ist nun meine Frage, ob Sie mir diese direkt geben könnten.

Ich würde mich sehr freuen, von Ihnen zu hören und bedanke mich im Voraus sehr herzlich bei Ihnen. Julie.«

Anders als die Großeltern der 13-jährigen Schülerin verhalten sich jene Kriegskinder, die ihre Vergangenheit unter Verschluss halten, weil es für sie zu schmerzhaft ist, daran zu rühren. Sie können mit ihrem Schicksal keinen Frieden schließen. Mit der Folge, dass sie sich in der heutigen Welt schnell bedroht fühlen. Zum Beispiel von Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten. Zum Beispiel vom Islam. Für die Zukunft haben diese Kriegskinder keine tragfähigen Lösungen anzubieten. Sie sind in einer Schwarz-Weiß-Sicht stecken geblieben. Julie hat Glück, dass ihre Großeltern offen sind. So muss sie sich nicht mit den Vorurteilen und Geheimnissen älterer Generationen herumschlagen. Sie kennt einen wichtigen Teil ihrer Familiengeschichte. Sie ist kein Nebelkind.

ERFAHRUNG

Joachim Süss

WIR NEBELKINDER

Nebelkinder sind Menschen, die in den Jahrzehnten nach dem Krieg unter undurchschaubaren Bedingungen und in einer ungeklärten gesellschaftlichen Situation aufgewachsen sind. Ihr Blick auf die Geschichte ist verstellt, und damit ist zugleich ihre Zukunft verschlossen. Nebelkinder bewegen sich, wie es der amerikanische Philosoph Ken Wilber formuliert, in einem zweidimensionalen Flachland. Die Dreidimensionalität der Wirklichkeit, die Tiefenlinien des Daseins liegen sowohl in familiärer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht für das Auge des oberflächlichen Tagesbewusstseins nicht sichtbar und wie in einem Nebel verborgen. Dass aber die Erfahrung des Flachlands nicht alles ist, sondern allenfalls ein kleiner, ungenauer Ausschnitt einer viel komplexeren Realität, das spüren Nebelkinder als ein leises Unbehagen, obwohl sie zu Beginn ihrer Suche noch nicht sagen können, woher es kommt.

Ich kam auf den Begriff Nebelkinder, als ich mich daranmachte, mein Lebensgefühl und dasjenige meiner Generation in den 1970er-Jahren zu beschreiben und damit das Charakteristikum einer Zeit zu erfassen, in der wir als Jugendliche und junge Erwachsene darangingen, unser Leben in die eigenen Hände zu nehmen.

Ich wuchs in den 1960er- und 1970er-Jahren in einer der bemerkenswertesten Städte der alten Bundesrepublik auf, die bis heute allerdings immer noch nicht viele Menschen kennen. In ihr verdichtet sich aber wie unter einem Brennglas die Geschichte Deutschlands in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 1950 gab es sie noch nicht, doch schon zehn Jahre später erhielt sie die Stadtrechte. Die Bundesautobahnverwaltung schien noch bis in die 1990er-Jahre von ihrer Existenz nichts zu ahnen. Denn obwohl dort um die 25 000 Menschen leben und arbeiten und monatlich Tausende von Lkw die dortigen Fabrikhöfe ansteuern, fand sich an allen infrage kommenden Ausfahrten der nahe gelegenen A5 kein Hinweis auf sie. Auch auf den die Stadt tangierenden Bundesstraßen war sie lange so gut wie nicht verzeichnet. Es schien, als habe sich das Land auch drei Jahrzehnte nach der Verleihung der Stadtrechte noch nicht an die Existenz der Stadt Stadtallendorf gewöhnt.

Stadtallendorf hält gleich mehrere Rekorde: Es ist die Stadt mit der gemessen an der Einwohnerzahl größten Flächenausdehnung aller hessischen Gemeinden. Was die Ausländerquote angeht, belegt sie sogar einen der vordersten Plätze der deutschen Städte. Stadtallendorf ist der größte Industriestandort im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Es ist Sitz mehrerer international tätiger Unternehmen, darunter der Schokoladenhersteller Ferrero. Bis zur Wende lag dort einer der größten Bundeswehrstandorte der Republik; drei Kasernen und große Rüstungsdepots beherbergten Soldaten und Wehrpflichtige in Divisionsstärke.

Wir lebten in einer Siedlung, die »DAG« hieß. Meine Eltern hatten dort 1970 ein Haus gebaut. Meine Freunde wohnten in der »WASAG« beziehungsweise in der »Marinesiedlung« oder im ältesten Teil der Stadt, den wir »altes Dorf« nannten, was wirklich abwertend gemeint war. Bei uns roch es schließlich nicht nach Dung, sondern fortschrittlich nach einem Gemisch aus Eisengießerei, Strumpffabrikation und Schokoladenküche. Auf den Dächern der Häuser, die meinem Elternhaus gegenüberlagen, aber auch an vielen anderen Orten dieser Stadt wuchsen Bäume. Zahllose Bunker und Bunkerruinen in den umliegenden Wäldern, stillgelegte Schienenstränge und aufgelassene Produktionshallen boten für uns Kinder einen fantastischen Abenteuerspielplatz.

Man entkam der Geschichte einfach nicht. Ich erinnere mich, dass ich einmal im Garten meiner Eltern mit einem Schulfreund eine Grabung veranstaltet habe. Was wir bezweckten, ist mir heute nicht mehr klar, möglicherweise wollten wir einen kleinen Unterstand oder ein Erdversteck einrichten. Jedenfalls stießen wir in etwa zwei Meter Tiefe auf eine vollkommen intakte Pflasterstraße. Das ursprüngliche Bodenniveau der heutigen Wohnsiedlung lag also beträchtlich tiefer und ist in der Nachkriegszeit offensichtlich durch Aufschüttungen angehoben worden.

Ein paar Meter vom Haus meiner Eltern entfernt befand sich ein fußballplatzgroßes Gelände, das im Volksmund Tri-Halde genannt wurde. Wir machten uns keinerlei Gedanken über den Namen. Hier war ein idealer Ort, um Fußball und alles Mögliche andere zu spielen. Manchmal imaginierten wir auch eine alte Landebahn, und unsere Fahrräder mussten als startende oder landende Flugzeuge herhalten.

Die belebteren Teile der Stadt um Rathaus, Bahnhof und Kirche lagen mehrere Kilometer von der DAG entfernt, umgeben von Einfamilienhaussiedlungen und Wohnblocks, die in den 1950er- und 1960er-Jahren errichtet worden waren. Sie säumten den Iglauer Weg, die Breslauer und die Danziger Straße oder den Königsberger Weg. In meinem Klassenzimmer, auf der an der Wand angebrachten Deutschlandkarte »in den Grenzen von 1937«, fand ich diese Ortsnamen wieder, verzeichnet in Regionen, die »derzeit unter polnischer Verwaltung« stehen, wie die Karte Auskunft gab.

Neben diesen Quartieren und Vierteln gab es weitere, die sich in unsystematischer Anordnung über das Stadtgebiet verteilten. Da war die Gossebachsiedlung, die auch Steinlager heißt und die aus ringförmig angeordneten, seltsam geduckten und lang gezogenen Gebäuden besteht, die wie Baracken wirkten. Und genau das waren sie ursprünglich auch: Holzbaracken für die osteuropäischen und jüdischen Zwangsarbeiter, die in der TNT-Produktion arbeiten mussten. Nach Kriegsende warteten hier Wehrmachtsgeneräle auf ihren Prozess in Nürnberg. All das habe ich erst nach meinem Wegzug erfahren. Im Laufe späterer Jahre waren die Unterkünfte modernisiert worden, ohne aber ihren ursprünglichen Charakter zu verlieren.

Zwei Einkaufsstraßen gibt es auch noch, hier dominiert die Architektur der Aufbaujahre. Schmucklose, zweigeschossige Kuben, die große Teerflächen umrahmen, die Bürgersteige, sehr viele Parkplätze und die zweispurige Durchgangsstraße ohne Baumbepflanzung umfassen.

Ich empfand den Charakter meiner Heimatstadt immer als »amerikanisch«, bestand sie doch hauptsächlich in einer Ansammlung neuzeitlicher Gebäude ohne tiefere Geschichte. Viele waren ursprünglich für einen bösen Zweck aus dem Boden gestampft worden. Diejenigen, die von den vorrückenden amerikanischen Truppen nicht gesprengt worden waren, dienten unmittelbar nach dem Krieg dazu, große Mengen von Flüchtlingen und Vertriebenen unterzubringen, die aus dem Osten gen Westen brandeten.

Viele dieser Vertriebenen waren Unternehmer, die die Gelegenheit nutzten und in den leer stehenden Hallen und Erdbunkern ihren verlorenen Betrieb wieder aufbauten. So kam es, dass die Stadt sehr bald wohlhabend wurde, denn die ursprünglich in Ostpreußen, Schlesien und dem Sudetenland angesiedelten Kammgarnspinnereien und Eisengießereien, Metall verarbeitenden Betriebe und Bekleidungsproduzenten schufen rasch zahlreiche Arbeitsplätze und brachten in den Wirtschaftswunderjahren die Menschen in Lohn und Brot.

Amerikanisch kam mir auch die Zusammensetzung der Bevölkerung vor. In meiner Jugend ahnte ich aber noch nichts davon, dass die meisten Einwohner Vertriebene waren. Denn sie blieben, selbst in den Kirchengemeinden, weitgehend unter sich und pflegten die eigenen Zirkel, zu denen nur ihresgleichen Zutritt fanden. So entstand keine wirkliche Gemeinschaft unter den Bewohnern dieser Stadt. So etwas wie ein Wirgefühl existierte nicht, und alle Feste und Aktivitäten, die wie die jährliche Kirmes andernorts zum Brauchtum gehörten, wirkten hier seltsam aufgesetzt und ohne Tiefgang. Gesellige Veranstaltungen, die zum normalen Leben einer deutschen Stadt zählen, erschienen mir als Jugendlichem als unpassende Fremdkörper.

In Spitzenzeiten war fast ein Viertel der Bewohner Ausländer. Gastarbeiter, die ungefähr zu zwei Dritteln aus der Türkei stammten und in der Eisengießerei tätig waren. Die meisten anderen kamen aus Italien und waren in der Schokoladenindustrie beschäftigt. Kontakte zu ihnen hatten wir wenige.

Hinzu kam die große Zahl an Soldaten und Wehrpflichtigen, von denen ebenfalls nur die allerwenigsten hier heimisch waren, da die Zeitdauer des Wehrdienstes begrenzt war und Zeit- und Berufssoldaten nach wenigen Jahren mitsamt ihren Familien an einen anderen Standort versetzt wurden.

Stadtallendorf, das war in den 1970er-Jahren bestenfalls ein Ort zum Geldverdienen. So etwas wie Heimat war dieser Ort nur für die wenigsten. Selbst heute noch strahlt die Stadt etwas Improvisiertes, Vorläufiges aus. Sie wirkt wie steingewordene Heimatlosigkeit.

Insofern passt es, dass diese Stadt keine Mitte, kein Zentrum besaß. Es gab das »alte Dorf« Allendorf, das am nordwestlichen Rand der Stadt lag und ihr den Namen geliehen hatte. Aber dieses Dorf, obschon mit 1500 Einwohnern keines wegs klein, bildete nicht den Kern der neuen Stadt, die sich eher zufällig und ohne organisch aus ihm herausgewachsen zu sein, an seiner Peripherie entwickelt hatte. Die Bewohner des Dorfes Allendorf führten ebenfalls ein eigenes Leben und suchten nicht unbedingt den Austausch und den Kontakt mit den neuen Bewohnern, die nach dem Krieg in ihrer direkten Nähe ansässig wurden.

Dort, wo man die geografische Mitte hätte festlegen können, lag ein gewaltiger Busbahnhof. Obwohl es nur einen einzigen Stadtbus gab, der einmal pro Stunde in einer Art Ringlinie die verschiedenen Teile des Ortes anfuhr, und auch sonst nur ganz wenige überregionale Omnibuslinien verkehrten, da Stadtallendorf durch seinen Bahnhof gut an das Schienennetz der Bahn angebunden war, erhielt dieser Busbahnhof eine Dimension, die einer Großstadt angemessen gewesen wäre.

Rückblickend wirkt er wie ein Sinnbild für den besonderen Charakter dieser Stadt, wie die überdimensionierte Drehscheibe für das Ankommen und Fortgehen; ein Denkmal für das Schicksal der Zwangsarbeiter und der alliierten Soldaten, der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen, der Händler und der Gastarbeiter, für das Kommen und Gehen der Bundeswehrangehörigen und zuletzt für die Ankunft der Spätaussiedler aus Oberschlesien und Siebenbürgen in den 1970er-, 1980er-Jahren.

Als Kind und als Jugendlicher nahm ich die Stadt wahr, wie sie sich mir zeigte: als scheinbar planlos hingeworfene Ansiedlung mehr oder weniger hässlicher Häuser, als großer Abenteuerspielplatz, voller Quartiere des Fremden und Unverständlichen.

Und gleichzeitig war da ein leises Gefühl von Unvollständigkeit. Etwas schien zu fehlen, das ich aber mit 15 oder 16 Jahren nicht genauer bestimmen konnte. Nur wenn ich hin und wieder einen Schulfreund im »alten Dorf« besuchte, konnte ich dieses Gefühl von Fremdheit, diesen Eindruck einer inneren und ganz elementaren Distanz deutlicher wahrnehmen. Meine Freunde erlebte ich als selbstverständlichen Teil ihrer Gemeinschaft, mich selbst empfand ich als nicht dazugehörend. Nichts war an ihnen von jener Unvollständigkeit wahrnehmbar, die ich an mir empfand und die mir mit zunehmendem Alter immer schmerzlicher bewusst wurde. Ihnen schien es an nichts zu fehlen. Ihre Geschichte reichte Jahrtausende bis in die Jungsteinzeit zurück. Meine Geschichte und die der anderen, die in der neuen Stadt wohnten, reichte nur bis zum Rand der Nebelwand, die uns umgab. Alles andere war darin verborgen.

Warum ist ein großer Busbahnhof kein Ausdruck der Reisefreude und der lustvollen Aufbrüche in schöne Gegenden und in den Urlaub, sondern kommt wie ein trostloses Sinnbild geronnener Flucht daher?

Warum wirkt es nicht befruchtend, dass so viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern in dieser Stadt ohne Geschichte zusammenlebten? Warum verkrochen sich die Bewohner in ihren Wohnungen und Eigenheimen, vor allem auch jene, die von Anfang an dort lebten? Warum waren sie so sehr darauf bedacht, möglichst nicht wahrgenommen zu werden?

Wieso ist es so schwierig, sich in einem Umfeld zu entfalten, dessen Geschichte im Nebel liegt?

Für mich jedenfalls, den 1961 Geborenen, war es so. Ich habe zwar schon in der Grundschule gelernt, was es mit der besonderen Gründung dieser Stadt auf sich hatte. Mit leuchtenden Augen und spürbarer Emphase verkündete die Lehrerin im Heimatkunde-Unterricht: »Hier gab es die größten Munitionswerke Europas!« Aber daraus erwuchs doch kein Lebensfundament! Wie kann man sich positiv mit der Tatsache identifizieren, auf dem Gelände eines Werkes groß zu werden, das Werkzeuge zum Töten von Menschen herstellt?

Meine Heimatstadt hätte es niemals gegeben, wären die Nazis nicht auf die Idee gekommen, in dieser grundwasserreichen Waldregion Mittelhessens zu Beginn der 1940er-Jahre die Munitionsfabriken »Werk Allendorf« aus dem Boden zu stampfen. Zehntausende von Zwangsarbeitern stellten in den 1000 dort im Geheimen errichteten Fabrikationsanlagen Munition für alle Waffengattungen her. Und: Die Fabriken wurden niemals angegriffen oder erobert, da die alliierte Luftaufklärung überhaupt keine Chance hatte, sie zu entdecken. Die Gebäude waren in Tarnfarben gestrichen und mitten in den Wäldern errichtet. Auf den Dächern pflanzte man Bäume – für die Aufklärungstechnologie der damaligen Zeit eine undurchdringliche Tarnung.

Was ich als Kind nicht wusste und worüber stadtöffentlich kaum gesprochen wurde, als ich Heranwachsender war: Die DAG, die Siedlung also, in der ich aufwuchs, steht für »Dynamit Aktiengesellschaft«, ein Ableger der IG-Farben, die dieses Munitionswerk mit seinen vielen Hundert Produktionsstätten betrieb. Die WASAG, noch heute offizielle Bezeichnung für einen Stadtteil, ist die Abkürzung für »Westfälische Anhaltische Sprengstoff Aktiengesellschaft«, die die zweite große Anlage im »Werk Allendorf« unterhielt. Und die Marinesiedlung war nicht etwa eine Unterkunft für Matrosen, sondern ursprünglich eine Munitionsproduktionsstätte der Kriegsmarine.

Die Tri-Halde, auf der wir als Kinder so ahnungslos spielten, war Lagerplatz Tausender durchkorrodierter und hochgiftiger Fässer mit Trinitrotoluol-Derivaten, den Abfällen aus der Sprengstoff-Produktion. Anfang der 2000er-Jahre erst wurde die Halde abgetragen und der Boden saniert. Eigens zu diesem Zweck wurde sie komplett mit einer 400 Meter langen Halle überbaut, die völlig luftdicht und so konstruiert war, dass kein Giftstoff in die Umwelt gelangen konnte. In den 1970er-Jahren war unterhalb der Halde ein rötlicher Ausfluss sichtbar, der in unmittelbarer Nähe des größten hessischen Wasserwerks versickerte, das bis heute die Stadt Frankfurt mit Trinkwasser versorgt.

Stadtallendorf war in den 1950er-Jahren buchstäblich auf vergiftetem Grund errichtet worden; und ich meine das nicht nur chemisch, sondern auch historisch. Das Fundament der Stadt war verseucht: durch den Nationalsozialismus, eine verbrecherische Produktionsmaschinerie, die sich Tausender unschuldiger Zivilisten als Zwangsarbeiter bediente, bereitgestellt durch eine Allendorfer Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald. Auch davon hatten wir bis in die 1980er-Jahre hinein keine Ahnung. Ein öffentliches Bewusstsein für die Abgründe der Stadtgeschichte war so gut wie nicht vorhanden.

Meine Heimatstadt ist jedoch nur ein Beispiel. Wenn auch ein besonders augenfälliges für die Kräfte, die viele Menschen meiner Generation prägten. Was unter dem Brennglas dieses Ortes sichtbar wird, ist die Signatur jener Generation, die unser Land heute gestaltet. Und zwar unabhängig davon, ob ihre Vertreter aus München, Rostock oder Gummersbach stammen.

Wir Nebelkinder sind in einer Zeit groß geworden, in der die lebendige Auseinandersetzung mit Geschichte, der persönlich-familiären wie der nationalen, hinter dem Schleier einer scheinbaren Normalität verschwand. Was uns Stadtallendorfer in höchstem Maße hätte irritieren müssen, die gewaltigen Überreste geborstener Bunkeranlagen überall im Wald, die vielen Häuser mit Bäumen auf den Dächern, in denen seit 1945 Menschen wohnten und die es anderswo – mit Ausnahme des Auenlandes – nicht gab, die Namen der Wohnviertel DAG und WASAG sowie der seltsame Grundriss der Stadt, all das beschäftigte uns kaum. Aber vor allem, es kümmerte die nicht, die es eigentlich selbst direkt hätte angehen müssen: die Erlebnisgeneration, unsere Eltern und Großeltern. Es war kein Thema für sie. Man sprach nicht darüber. Alle Energien waren da rauf gerichtet, nach all den Entbehrungen im Krieg und danach endlich ein »normales« Leben zu führen und »seine Ruhe« zu haben. Dieses scheinbar normale Leben erschöpfte sich dann aber im Vorzeigen kleinbürgerlicher Insignien – dem schmucken und selbst gebauten Häuschen, dem Kleingarten und dem Kleinwagen der Marke VW, Opel oder Ford.

Die Kriegs- und Vertreibungsschicksale der Menschen in meiner Stadt waren auch kein öffentliches Thema. Was bedeutete eigentlich die Karte in meinem Klassenzimmer mit der Überschrift »Deutschland in den Grenzen von 1937«? Wir diskutierten darüber in meiner katholischen Internatsschule bis zu meinem Abitur im Jahr 1980 nicht ein einziges Mal. Jahrzehnte später erfuhr ich aus den Todesanzeigen meiner verstorbenen Lehrer, dass sie aus Danzig, Breslau, Beuthen oder Oppeln in Oberschlesien stammten. Erwähnt haben sie es niemals.

Es waren die verschwiegenen, giftbeladenen Sedimente unserer Stadt wie unseres Landes, die uns geprägt haben, als wir in den 1960er- und 1970er-Jahren aufwuchsen. Die Geschichte meiner Heimatstadt lag im Nebel, die Wurzelorte meiner Familie in der Linie meines Vaters waren vertreibungsbedingt nicht mehr zugänglich. (Meine Mutter stammte aus einem evangelischen Dorf etwa zehn Kilometer Luftlinie von Stadtallendorf entfernt und fühlte sich zeitlebens ebenso vertrieben wie mein Hunderte Kilometer weiter aus Böhmen stammender Vater. Aber das ist eine andere Geschichte.)

Die Nabelschnur zu den Vorfahren war durchtrennt. Wir wurden beinahe ohne Geschichte groß. Deshalb fühlten wir uns in Gegenwart unserer Freunde aus dem »alten Dorf« auch »unvollständig«. Das damit einhergehende defizitäre Selbstwertgefühl, nämlich weniger wert zu sein als die anderen, prägte bei nicht wenigen von uns die ersten Jahrzehnte ihres Erwachsenseins. Mit schwerwiegenden beruflichen und persönlichen Folgen für nicht wenige von uns.

Ein bekanntes Sprichwort lautet: »Ohne Wurzeln keine Flügel«. Es drückt das Schicksalsmuster unserer Generation aus. Wir, die wir der mittleren Generation in Deutschland angehören, sind buchstäblich in den Sedimenten von Krieg und Gewalterfahrungen groß geworden. Aber alle Autoritäten, unsere Eltern, unsere Lehrer und die Politik, haben in unserer Jugend die kaum überwucherten echten und die ebenso präsenten geistigen Ruinen zu etwas Normalem, Gewöhnlichem erklärt. Zu etwas, das ist, was es ist, und das nicht weiter befragt werden muss.

Wir wurden damit zu Ausgeschlossenen, die am fundamentalen Gesamtgefüge des Lebens keinen Anteil mehr hatten. Das Urbewusstsein menschlichen Daseins, nämlich Teil des großen Stroms der Existenz zu sein und dort seinen natürlichen Platz und seine natürliche Aufgabe zu haben, erreichte uns nicht mehr. Stattdessen entwickelten wir das charakteristische Lebensgefühl des Nebelkindes, eines Menschen also, der nicht sehr weit blicken kann, weder zurück noch nach vorn.

Wer aber nicht in die Geschichte zurückblicken kann, wird auch seine Zukunft nicht tragfähig gestalten können. Er kennt sich selbst nicht. Wer aber seine Wurzeln nicht kennt, wird auch keine tragfähigen Entscheidungen treffen können, weder persönlich noch im Beruf.