Impressum

Dietmar Beetz

Familien-Theater

ISBN 978-3-95655-173-4 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1984 in Der Kinderbuchverlag Berlin.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Tine hat Kummer

Es war ein Herbsttag wie andere auch. Die Sonne schien matt durch den Dunst über der Stadt, und manchmal fuhr ein Windstoß in das Laub, das noch an den Ästen der Kastanien hing oder schon auf dem Pflaster lag. Dann tanzten die Blätter am Boden, und weitere segelten herab.

Tine schlurfte durch die rostbraune, raschelnde Schicht. Das war fast wie beim ersten Schnee oder wie nach dem Regen in einer Pfütze, und doch machte es nicht den rechten Spaß.

Heute machte nichts Spaß, und alles war anders als sonst.

Begonnen hatte es, als Frau Meier die Rollen verteilte, die Rollen für „Schneewittchen“, das Stück, das die 4a am Pioniergeburtstag spielen wollte. Das war jetzt fünf Stunden her, drei Schul- und zwei Hortstunden. Nun ging Tine heim, und ihr Kummer kam mit.

Es war ein heimlicher, uneingestandener Kummer. Bisher hatte Tine ihn niemandem anvertraut. Nicht Frau Meier und nicht einmal Jana, ihrer besten Freundin.

Der schon gar nicht! Überhaupt, beste Freundin ...

„Ist was?“, hatte Jana in der Pause gefragt.

„Was soll denn sein?“

„Na, wie du rumhängst ... Bist wohl neidisch?“

„Neidisch, ich? Du spinnst ja!“

Leider spann Jana nicht. Tine war tatsächlich neidisch, neidisch auf Jana. Das ärgerte sie, und sie schämte sich.

In den Stunden danach versuchte Tine, sich wie immer zu verhalten. Sie schwatzte ein bisschen mit Jens, ihrem Banknachbarn, meldete sich und schnipste mit den Fingern, und wenn es etwas zu lachen gab, lachte sie besonders laut.

Das ging so bis Schulschluss. Im Speisesaal aber setzte sich Jens zu Jana, und nun wurde es ganz schlimm. Tine löffelte lustlos und verzichtete auf Nachschlag, und das bei Reisbrei mit Zucker und Zimt.

Auf dem Weg zum Hort vergaß Tine eine Weile das Theaterstück und die verteilten Rollen. Da spielte sie mit in einem Spiel, das in gewohnter Weise anfing.

Hinter der Kreuzung, wo ein Stück Einbahnstraße begann, ließ Frau Anders den Kindern stets freien Lauf. Bis zum Hort an der Talbrücke durften sie rennen und mussten nur achtgeben, wenn ihnen ein Auto entgegenkam.

Das war sehr großzügig von Frau Anders. Sie unterschied sich darin von anderen Horterzieherinnen, wie sie ja auch vom Aussehen her eine Ausnahme war: Eine Haarpracht wie die von Frau Anders hatte Tine sonst nur bei Filmschauspielerinnen gesehen.

Heute wünschte sie sich sehnlicher denn je solches Haar. Wenn ich nicht blond wär, dachte sie, oder wenigstens etwas dunkler ... Schwarz müsste man sein, schwarz wie Ebenholz; aber mit diesen Zotteln ...

Ein Knuff unterbrach die trüben Gedanken. Neben Tine war Jens aufgetaucht. Er linste aus den Augenwinkeln. Hinter ihm tänzelte Jana.

Tine trottete weiter, sprang plötzlich zur Seite, gab Jens einen Stoß, und los ging’s. Vorn lag Tine, hinter ihr Jens, in einigem Abstand folgte Jana. So preschten sie am Fluss entlang, im Galopp über das katzenkopfbucklige Pflaster. Laub wirbelte um die Füße, bei jedem Sprung klopfte der Ranzen auf den Rücken, und noch heftiger pochte es zum Halse hoch. Gleich würde Jens zupacken, und dann ...

Dann kam die Talbrücke. Schon vor ihr gab es keine Kastanien mehr und auf dem Pflaster kein Laub. Das Sandalengeklapper verlangsamte sich, wurde zum Schlappen zweier einsamer Latschen.

Tine blieb stehen. Die Jagd war zu Ende; Jens, dieser Spielverderber, hatte aufgegeben. Er stand mit Jana an der Böschung und guckte hinunter zum Wasser, als gäb’s dort wer weiß was zu sehen.

Tine war enttäuscht, doch beschloss sie, sich nichts anmerken zu lassen. Außerdem erwachte ihre Neugier, und so trabte sie zurück.

Inzwischen hatten sich an der Böschung andere aus der Klasse eingefunden. Sie beäugten etwas, auf das Jens aufgeregt mit dem Arm wies. Einige riefen erstaunt oder kicherten, als kämen sie aus einer dritten und nicht aus einer vierten Klasse.

Was hatten sie bloß entdeckt? — Tine drängte sich vor.

Unten rann der Fluss in seinem begradigten Bett. Da es seit Wochen kaum geregnet hatte, war er nicht mächtiger als ein mittlerer Bach. Die Uferstreifen zogen sich zu beiden Seiten herbstgelb und öde hin, und auch sonst vermochte Tine nichts Aufregendes zu erspähen.

„Was gibt’s denn?“, fragte sie Jens, der noch immer hinabwies.

„Dort!“, rief er. „Gleich taucht’s wieder auf! Jetzt!“

„Ich seh nichts“, gestand Tine.

Da ließ Jens den Arm sinken und lachte, und die anderen, Jana und die Kichererbsen, sie alle lachten mit.

„Reingefallen, angeschmiert, an der Nase rumgeführt ...“

„Ihr seid ja blöd! So ein Affentheater!“

Es war ein Spiel, ein Scherz. Normalerweise hätte Tine ein wenig gewettert und schließlich mitgelacht, und bald wäre alles vergessen gewesen.

Jetzt aber traten ihr Tränen in die Augen. „Ihr seid gemein! Alle! Und ihr zwei …“ Sie stürzte sich mit den Fäusten auf Jana und Jens.

Die beiden wichen zurück. „Bist du verrückt?“, rief Jens.

„Sie ist neidisch“, sagte Jana.

„Euch wird das Theater vergehn“, stieß Tine hervor, und sie schlug und trampelte, bis Frau Anders eingriff.

„Mädchen, was hast du? Verstehst du keinen Spaß mehr?“

Tine kniff die Lippen zusammen, und auch die anderen schwiegen.

Sie schwatzten bald wieder und lachten. Tine blieb schweigsam, verschlossen. Erst später wurde ihr leichter.

Da waren schon die Hausaufgaben erledigt, und Frau Anders erzählte gerade, wie es dem hässlichen jungen Entlein erging, bevor es sich als Schwan entpuppte. Tine kannte dieses Märchen und lauschte dennoch. Einmal lächelte sie sogar. Frau Anders brachte es fertig, dass man selbst bei traurigen Sachen nicht mutlos wurde. Und mit dem Entlein ging es ja auch gut aus.

„So“, sagte Frau Anders. „Es ist jetzt drei. Wer eine Erlaubnis hat und gehen möchte, darf gehn. Die Theaterspieler bitte ich, noch eine Weile zu bleiben. Wir können uns über die Rollen unterhalten und vielleicht schon mal ein wenig proben.“

Die letzten Worte verloren sich im Lärm. Mehr als die Hälfte der Gruppe brach auf. Tine blieb hocken, obwohl auch ihr die Eltern erlaubt hatten, um fünfzehn Uhr den Hort zu verlassen.

„Es soll dir den Übergang erleichtern“, hatte der Vater gesagt. „Ab fünfter Klasse gibt’s keinen Hort mehr. Besser, du stellst dich schrittweise darauf ein: Bleibst zunächst bis drei, ab Januar bis halb drei und nach den Frühjahrsferien bis zwei.“

Am liebsten hätte Tine statt solcher Schrittchen einen Sprung gemacht: aus der Hortaufsicht gleich in die Freiheit. Die Eltern aber bestimmten nach Prinzipien, die der Vater „wissenschaftlich“ nannte. Außerdem war es bei Jana und Jens genauso; sie durften ebenfalls vorläufig nicht vor fünfzehn Uhr heim.

Heute waren auch sie an den Horttischen sitzen geblieben. Tine bemerkte es, und dann begriff sie, was Frau Anders eben gesagt hatte, und der prächtige Schwan verwandelte sich in ihren Gedanken zurück in ein hässliches Entchen.

Es war ein Märchen, sagte sie sich. In Wirklichkeit geht nichts so gut aus. Wenn man Zotteln hat und Sommersprossen und kein Glück ...

Tine stand auf und nahm ihren Ranzen. Still, beinah heimlich verließ sie den Hortraum. Durch den Türspalt blickte sie verstohlen zurück.

Die Theaterspieler setzten sich gerade an die vorderen Tische. Nicht alle waren Hauptdarsteller, aber jeder hielt sich, wie es schien, für einen Helden. Zwei, die Zwerge spielen sollten, schlugen mit der Faust auf den Tisch.

„Wer hat aus meinem Becher getrunken?“

„Wer hat von meinem Kompott genascht?“

Tine musste lachen. Da entdeckte sie Jana und Jens. Die beiden saßen eng nebeneinander und unterhielten sich. Sie waren ganz vertieft. Jana strich sich wieder und wieder mit drei Fingern über das schulterlange, dunkelbraune Haar.

Blöde Gans, dachte Tine, und sie schlug die Tür zu. Hält sich für ein richtiges Schneewittchen. Dabei war Schneewittchen schwarz wie Ebenholz, nicht braun wie Malzkaffee, und hatte keinen Leberfleck auf der Stirn.

Dieser Fleck — bisher hatte ihn Tine bewundert. Sie war stolz gewesen, die Freundin von Jana zu sein; denn Jana sah hübsch aus und war kameradschaftlich. Es gab kein Mädchen in der 4a, das besser in die Rolle von Schneewittchen gepasst hätte.

Tine gestand sich das ein. Dennoch haderte sie, sobald sie an sich selber dachte: Und wenn’s die Stiefmutter gewesen wär, oder wenigstens die Schleppenträgerin! Aber nicht mal als Hofdame ...

Der Kummer brannte in der Kehle. Um nicht zu heulen, spuckte Tine aus. Es half nicht viel. Gab es überhaupt Hilfe für sie?

Vorn an der Kreuzung standen drei von denen, die kurz vor ihr den Hort verlassen hatten, und warteten auf Grün. Tine zögerte nicht lang. Mit hüpfendem Ranzen rannte sie los.

Inzwischen hatte die Ampel geschaltet. Die Fußgänger hasteten hinüber. Als Tine angeprescht kam, erlosch Grün und leuchtete Rot auf.

Halb so schlimm. Tine hätte die drei schon noch eingeholt. Dass sie aber mitkriegen mussten, wie die Ampel vor ihrer Nase geschaltet hatte ...

Jetzt standen sie drüben, lachten wie verrückt und zeigten zu ihr hin. Ein Glück, dass die Autos anfuhren und mit ihrem Lärm das Geschrei überdröhnten.

Dann war auch Tine auf der anderen Seite, und eine Weile wurde sie höhnisch angekläfft.

„Wohl eilig gehabt?“

„Sie ist nicht aus den Startlöchern gekommen.“

„Ach was, sie hat wieder mal nach einem Flusspferd gesucht.“

Tine tat, als hörte sie nicht. Den Kopf in den Nacken geworfen, ging — nein: schritt sie weiter. Die Kläffer setzten ihr nach.

„Nun guckt euch die an!“

„Lasst sie! Der sind wir nicht gut genug.“

„Aber erst uns hinterherrennen wie ein Hündchen …“

Das war zu viel. Tine fuhr herum. „Ich - und hinterhergerannt? Dass ich nicht lache!“

Sie stieß so etwas wie Gelächter aus. Es schepperte, und sie begriff, wie schlecht sie sich verstellte. Jetzt bloß nicht losheulen, ging es ihr durch den Kopf.

„Wenn ich nicht so viel vorhätt ...“, murmelte sie, drehte sich um und lief weg.

Dann war sie den drei Kläffern entronnen, doch Freunde, mit denen sie ihren Kummer teilen, bei denen sie ihn vergessen konnte, hatte sie nicht. Noch schlimmer: Sie musste tun, als hätte sie tatsächlich viel vor, und rasch verschwinden; denn bald würden die drei nachkommen und sich zwischen den Wohnblocks rumtreiben.

„Hallo, Tine!“ Vom Hochhaus her kam Tom getrabt. Er hatte eine Stupsnase, ging in die 3b und mimte wieder einmal einen Sheriff. Das einzig Bemerkenswerte an ihm war, dass er daheim auf dem Balkon Kaninchen hielt.

„Hallo, Tom!“, rief Tine, ohne stehen zu bleiben.

Sheriff Tom brachte seinen Polizeigaul neben Tine. „So eilig?“, fragte er. „Wie wär’s mit ein paar Runden durch die City?“

„Keine Zeit“, behauptete Tine.

Tom auf seinem Klepper hielt Schritt. „Du“, sagte er, „Agneta hat Junge. Fünf Stück! Wenn du Lust hast, sie dir mal anzugucken ...“

Das war eine echte Versuchung: Agneta, die Häsin, mit fünf Hasenkindern, fünf Häschen, weich und wollig wie Hans und Grete, die beiden Lieblinge bei Oma im Schuppen.

„Und was würde deine Mutter sagen?“, erkundigte sich Tine.

„Meine Mutti?“, fragte Tom. „Na, die freut sich natürlich. Bestimmt kocht sie uns wieder Kakao.“

Uns, dachte Tine. Sie warf einen Blick über die Schulter. Verdammt, dort kamen die drei Kläffer! Wenn die sie hier gesehen hatten, mit diesem Kakaobubi aus der 3b ...

„He, Tine, was ist denn?“

„Nichts. Ich muss heim.“

„Und die Häschen? Und der Kakao?“

„Vielleicht ein andermal.“

Hinter ihr schlug die Tür zu, die schwere Außentür mit dem Brett anstelle der Scheibe. Es gab einen Knall.

Gleich darauf räusperte sich jemand. Gecko, der eigentlich Engel hieß, guckte aus dem Raum, wo sich die Briefkästen befanden.

„Die ist zu“, sagte er.

„Guten Tag!“, erwiderte Tine.

Da erst schien Herr Engel sie zu erkennen. „Ach, die kleine Maiwald! Tag auch! Es ist ein Jammer mit der Tür. Die eine Scheibe haben sie schon eingeschmissen, und bald wird auch die andere kaputt sein. Was das kostet! Aber keiner kümmert sich; niemand nimmt sich in acht.“

Herr Engel war aus dem Briefkastenraum herausgekommen. Mit seinem kahlen, runzligen Kopf und den ruckartigen Bewegungen ähnelte er tatsächlich ein wenig einem Gecko, doch war er nicht so flink wie diese Eidechsenart. Er litt an Rheuma, sah schlecht, war zuckerkrank und hatte, wie Tine von ihrer Mutter wusste, eine Menge Gebrechen.

„Dabei ist er rührig und an allem interessiert“, hatte die Mutter gesagt. „Um was er sich alles kümmert! Ein richtig lieber alter Mann.“

Auch Tine mochte Herrn Engel. Sie fand ihn komisch und, sobald er belehrte, ein wenig lästig, und doch vermisste sie ihn, wenn sie heimkam und er nicht da war.

Er hielt sich oft hier im Flur auf, immer zu einem Schwätzchen bereit, oder stand bei schlechtem Wetter oben an seinem Fenster und sah den Heimkehrenden entgegen — „Gecko, der unbestallte Pförtner des Hochhauses, der gute Geist dieser Betonburg“, wie ihn einmal jemand genannt hatte.

„Die Tür schlägt allein zu“, sagte Tine, während sie in ihren Taschen nach den Schlüsseln suchte. „Das Bremsding oben ist kaputt.“

„Stimmt, Mädchen, stimmt. Es muss repariert werden, und das dauert eben.“

Die Schlüssel staken wahrscheinlich im Ranzen; aber jetzt zwischen Büchern und Heften rumkramen ... Wo Gecko so auf Ordnung sah!

Tine drückte den Klingelknopf, und kurz darauf knackte es in der Wechselsprechanlage.

„... is’n da?“, fragte Suse.

„Mach mal auf!“, rief Tine.

Wieder knackte es, und Suse erkundigte sich erneut, wer da sei.

Wer schon? dachte Tine. Sie schwieg. Ohnehin redete Gecko unablässig.

„Es dauert viel zu lang, leider. Deshalb muss man sich ja in acht nehmen. Wenn sie jeder zuschlägt oder zuschlagen lässt, sind bald alle Scheiben hin. Dabei braucht man bloß ein bisschen aufzupassen und den Schwung abzufangen …“

Endlich schnurrte es, und Tine riss die Innentür auf und stürzte zum Fahrstuhl.

Oben stand Suse. Das war noch nie vorgekommen: Dass Suse ihre Schwester vom Fahrstuhl abgeholt hatte. Und wie die Große guckte!

Einen Augenblick lang freute sich Tine. Gleich würde sie Suse erzählen, was ihr heute widerfahren war, und sofort wäre der Kummer vergessen oder wenigstens geteilt. Ein Glück, eine Schwester zu haben.

„Du?“, fragte Suse. Es klang enttäuscht.

Tine begriff erst nach einer Weile. Da waren sie vom Fahrstuhl zur Wohnung gegangen, Susanne vorneweg. Sie schien wütend zu sein. Ohne ein Wort lief sie ins Kinderzimmer und warf die Tür zu.

Der Knall ließ es bei Tine klicken. Suse hatte ihren Uwe erwartet. Klar! Durch die Sprechanlage war nur Gecko zu verstehen gewesen, und der hatte geredet, als lese er Uwe die Leviten — Uwe, von dem viele glaubten, er habe die Scheibe eingeschmissen.

Tine holte tief Luft. Ein wenig fühlte sie sich wie Maigret, doch dieser Stolz verflog. Zurück blieb Bettina Maiwald, jene Tine, der eben eine Tür vor der Nase zugeworfen worden war.

Na, warte! dachte sie. Entschlossen drückte sie auf die Klinke und trat ein.

Suse saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt. Vor ihr lag ein Buch, und im Halbkreis hatte sie Hefte und andere Bücher verteilt. Die ganze Tischplatte war bedeckt.

Tine stellte den Ranzen ab, holte den Zeichenblock und die Filzstifte heraus und ging zu ihrem Platz. Wenn sie gemeinsam Hausaufgaben erledigten, saßen sie einander gegenüber. Dann stand Tine die halbe Tischfläche zu. Auf dieses Recht wollte sie jetzt pochen.

Ohne ein Wort schob sie die Hefte und Bücher zur Mitte. Dabei beobachtete sie Suse. Plötzlich stockte sie.

Aus den Augenwinkeln der Schwester tropfte es. Suse, die große Suse, weinte. Auch sie hatte Kummer.

Tine setzte sich und stützte ebenfalls den Kopf in die Hände. So saß sie eine Weile und schwieg. Wieder fiel ein Tropfen in das aufgeklappte Buch.

„Er kommt schon noch“, sagte Tine. „Wirst sehn: Heute Abend ...“

„Hör auf!“, fuhr Suse sie an. Sie schlug dabei das Buch zu und stieß ihren Stuhl zurück.

Auch Tine sprang auf. Sie war verletzt, empört. „Du bist ... Unmöglich bist du.“

Suse schniefte, wirkte jetzt aber ruhiger. „Möchte wissen, wer kommen sollte“, sagte sie. Ihre Augen waren schmal wie bei einer Katze.

„Hältst du mich für blöd?“, fragte Tine. „Dein Uwe natürlich ! Du hast gedacht, ich bliebe länger im Hort und er wär’s.“

„Du spinnst ja! Du bist ganz schön naiv. Angenommen, er würde mich wirklich besuchen, und du kämst dazu ... Nur mal angenommen!“

„Ja, und?“

„Na, eben! Das frag ich dich. Was dann?“

„Nichts. Er wär da, und ich wär da …“

„Und gehn, wieder fortgehn für eine Weile würdest du nicht?“

„Ach, wohl damit ihr allein seid? Das könnte euch so passen. Wann kommt er denn?“

„Überhaupt nicht. War rein theoretisch.“

„Von wegen! Kommt er heute noch? Oder hat er dich versetzt?“

„Du bist ...“ Suse schnappte nach Luft. „Unausstehlich bist du, eine Nervensäge.“

„Und du bist eine Ziege, eine dumme Gans, eine blöde Kuh!“

„Ja, ja. Zähl ruhig weiter das Tierreich auf, aber halt deine verdammte Klappe! Ich hab zu tun.“

„Ich auch“, schrie Tine.

Doch dann legte sie den Filzstift hin und stand auf. Wenn Suse wenigstens mal hergucken würde! Aber so dazusitzen und nicht aufzublicken ...

Vor ihrer Liege blieb Tine stehen. Sie hatte früh das Bett gemacht, hastig wie immer. Nun lagen Micky Speck, Akaki Akakijewitsch und die anderen Kinder wie Kraut und Rüben auf der Decke.

Tine streichelte Akaki Akakijewitsch und setzte Micky gerade hin. Dabei kam ihr eine Idee. Sie lief in den Flur, räumte das Schuhregal aus, holte aus der Küche sämtliche Töpfe ...

Wenig später gingen die Kinder eins nach dem anderen an der Hand ihrer Mutter zur Schule. Sie waren noch klein und mussten zu ihrem Platz gebracht werden. Micky Speck saß auf einem Turnschuh, Akaki Akakijewitsch auf einem Stiefelschaft. Auch die anderen hatten ungewöhnliche Sitzgelegenheiten, doch vor jedem Schüler und vor jeder Schülerin lagen Papier und ein Filzstift auf dem Topftisch. Alle schauten gespannt zur Tafel, dem Block, der an einer Türklinke hing.

„So, Kinder“, sagte Fräulein Maiwald, die Lehrerin, „da woll’n wir mal wieder! Wie ihr wisst, ist im Dezember Pioniergeburtstag. Na, und was hat sich die 4a zu diesem Festtag vorgenommen?“

Daheim wird gemeckert

Als der Vater heimkam, sprach Tine gerade mit Akaki Akakijewitsch.

Akaki Akakijewitsch war ein Pechvogel, um den man sich besonders kümmern musste. Einst hatten ihm Räuber in einer eiskalten Nacht den Mantel, für den er so geschuftet hatte, gestohlen. Seitdem sah er, wie warm man ihn auch anzog, verfroren aus, wie ein Äffchen, das sich an den Nordpol verirrt hat.

„Es tut mir leid, lieber Akaki Akakijewitsch“, sagte Tine, „aber der Königssohn ist wirklich nichts für dich. Diese Rolle überlassen wir am besten unserem Nils Holgersson, und du — du spielst den Jäger. Einverstanden?“

„Ich möchte lieber der Königssohn sein, Fräulein Maiwald.“

„Ach, Akaki Akakijewitsch, was man nicht alles gern möchte!“

Der Vater drückte die Tür so behutsam, wie er sie geöffnet hatte, ins Schloss. Trotzdem gab es ein Geräusch. Tine brach ab.

„Lass dich nicht stören!“, sagte der Vater. Er schaute ins Kinderzimmer, rief Suse einen Gruß zu, streifte die Schuhe von den Füßen und stakte in Strümpfen — in der einen Hand die pralle Aktentasche, in der anderen ein Einkaufsnetz — durch den Klassenraum. Dabei passte er auf, dass er keins der Schulkinder trat.

So rücksichtsvoll war er nicht immer, auch nicht so schweigsam. Tine forschte in seinem Gesicht. Er schien verdrossen.

„Spiel ruhig weiter!“, sagte er lächelnd.

Als er Tasche und Netz in der Küche absetzte, sprang Tine ihm bei. Er holte Flaschen aus dem Netz, zwei Bier, drei Cola und sieben Selters, und sie machte sich über die Tasche her. Vielleicht waren Kekse drin oder Bonbons?