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© 2019 Wiebke Hilgers-Weber

Herstellung und Verlag

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9 783749 472420

Inhaltsverzeichnis

1.

Endlich konnte ich Matteo eine gute Nachricht überbringen: »Deine Schafe werden bald gesund sein.«

Ich holte tief Luft, denn es gab auch eine schlechte Info: »Jedenfalls fast alle Tiere. Einige aber...«, ich schluckte, «…werden leider nicht… überleben…«

Sorgenvoll und wortlos sah er mich an. Schließlich nickte er: »Grazie, Anna«, murmelte er.

Meine Worte musste ich mir nicht lange überlegen. Sie kamen von selbst über meine Lippen. Wie in Trance. So war das immer, auch jetzt, als ich Matteo mithilfe meiner Schicksalskarten die Zukunft voraussagte: »Glaub mir, alles wird gut. Noch zwei, drei Monate, dann ist deine schlimme Zeit vorbei. Endgültig.«

»Bist du sicher?«, fragte er. »Jetzt sind schon so viele Schafe krank oder sogar schon tot! Wie sollen meine Schafe so schnell gesund werden?«

Das wusste ich nicht. Es war mir ein Rätsel. Trotzdem war ich von meiner Weissagung überzeugt: »Wenn du noch ein wenig Geduld hast, wird deine Herde wieder so groß sein wie vorher. Warte, bald hast du es geschafft.«

Seine gerunzelte Stirn verriet mir, dass er meiner Vorhersage keinen großen Glauben schenkte. Trotzdem bedankte er sich höflich und wollte sich gerade von mir verabschieden, als ich ihn zurückhielt: »Sieh«, forderte ich ihn auf und zeigte auf meine Séancekarten, die breit gefächert vor uns auf dem Tisch lagen und deren Bilder Matteos Schicksal widerspiegelten:

Der Glückskelch als Zeichen für die große Liebe, Dukaten verhießen finanziellen Reichtum, ein langer, geschlängelter Weg zeigte die Lebenslinie in eine wunderbare Zukunft, dazu waren noch zwei Frauen zu sehen, die ihn liebten, und Freunde, die mit ihm feierten.

Doch ich sah genauso seine negativen Karten, die Teil seines künftigen Lebens sein würden: Krankheit, Tod, Streit, Kampf.

Ich verschwieg sie, um Matteo nicht weiter zu verunsichern.

»Si«, sagte er schließlich, »wenn du sagst, es wird gut, dann wird es gut», stand auf, umarmte mich und ging davon, raus aus dem Haus, hin zu seinem Auto, stieg dort ein und fuhr los.

Ich sah ihm nach. Natürlich machte ich mir große Sorgen um meinen besten Freund. In den letzten Wochen waren mehr als ein Dutzend seiner Tiere plötzlich erkrankt, einige gestorben. Der Grund war unbekannt. Weder gab es bei uns Wölfe in der Gegend, die die Schafe hätten reißen können, noch war uns ein Virus bekannt. Zudem praktizierte ein Tierarzt nur in Palermo, gut 120 Kilometer von uns entfernt. Ihn anzurufen und ihm die Symptome zu schildern, hatte kaum Sinn, weil Matteo zu wenige medizinische Kenntnisse hatte, um sich präzise auszudrücken. Missverständnisse waren vorhersehbar. Was blieb ihm also Anderes übrig als zu warten und zu hoffen, dass ich mit meiner spirituellen Weissagung Recht behalten würde?

Mir lag Matteos Wohl sehr am Herzen. Deshalb hatte ich ihn, nachdem er mir von dem Tod seiner Tiere erzählt hatte, zu mir zu einer Séance gebeten und er war gekommen, da er meinen Weissagungen glaubte.

Dass ich die Fähigkeit besaß, mithilfe meiner besonderen Glückskarten in die Zukunft sehen zu können, wussten viele im Dorf und kamen zu mir, wenn sie Probleme hatten. Oft waren es Eifersüchteleien zwischen den Eheleuten, häufig Schwierigkeiten mit den Kindern oder finanzielle Engpässe.

Die Séancen liefen fast immer gleich ab: Erst tranken wir im Wohnzimmer oder in der Küche ein Gläschen Vino zusammen und aßen ein paar Kekse, danach gingen wir in mein Büro, wo ich in einer Ecke meinen Séancetisch mit zwei Stühlen stehen hatte.

Die Schicksalskarten holte ich gemeinsam mit einem großen silbernen Kerzenleuchter und meinen schönen roten Kerzen, einem weißen Spitzentischtuch und einem neuen Paar Handschuhe aus der großen antiken Vitrine neben dem Tisch und baute alles dekorativ auf. Meine Handschuhe zog ich jedes Mal an, bevor ich loslegte, danach begann die Zeremonie.

Geld nahm ich für meine Dienste nicht. Meine Großmutter, die mir ihre Séancekarten vor über zwanzig Jahren geschenkt hatte, hatte mich gewarnt: »Anna«, hatte sie gesagt, »du hast deine übersinnliche Fähigkeit von mir geerbt. Achte gut auf sie und nutze sie nur, um Gutes zu tun. Nimm niemals auch nur einen einzigen Pfennig für deine Arbeit, sonst verlierst du deine Spiritualität.« Ich hatte zugestimmt und das wertvolle Geschenk entgegengenommen.

Zeit meines Lebens hatte ich mich an mein Versprechen gehalten. Später dann, als Erwachsene, begann ich zunächst das Schicksal für mich selbst zu erfragen und bekam immer Antworten, die mir weiterhalfen, und je länger ich mich mit meinen Séancekarten und meinem Zukunftsritual beschäftigte, umso präziser wurden meine Aussagen und Ratschläge.

Kaum hatte mich Matteo nach der heutigen Séance verlassen, machte ich es mir in meiner Cucina mit einem heißen Tee gemütlich und rief nach Bianco, meinem wunderbaren weißen Labrador. Ich gab ihm ein paar Leckerlis und frisches Wasser, trank in aller Ruhe meinen Tee aus, zog mich dann warm an und ging mit Bianco über die holprigen Wege der weiten Berge Siziliens spazieren.

Kalt war es, sehr kalt. Kein Wunder, Anfang Dezember gab es auch bei uns Minusgrade, und wenn wir Pech hatten, schneite es nicht nur auf dem Ätna, sondern sogar in den Tälern und an der Küste. Meine Hände wurden steif, ich spürte den Wind im Gesicht, außer dem heulenden Geräusch war es mucksmäuschenstill. Alle waren jetzt zu Hause, saßen vor dem Kamin, kümmerten sich um ihre Familien – und natürlich ums Essen, ihrer Lieblingsbeschäftigung.

Und ich? Ich ging ausgerechnet am Nikolaustag mit Bianco die Wiesen und Felder entlang, dachte über mein Leben nach und fühlte mich irgendwie einsam. Dieses Gefühl »überfiel« mich selten. Vielleicht, weil ich immer viel zu tun hatte und generell keine negativen Gedanken zuließ.

Fast eineinhalb Stunden spazierten Bianco und ich so übers Land. Als wir wieder nach Hause kamen, waren wir total erschöpft. Bianco bekam frisches Wasser und ich machte mir Tee und aß von dem frischen Obst, das ich mir vom Wochenmarkt in der nächstgelegenen größeren Stadt besorgt hatte. Ich setzte mich vor das gemütliche Feuer im Kamin im Wohnzimmer.

Gern war ich zu Hause, sehr, sehr gern. Zwar war es für sizilianische Verhältnisse nur ein kleines Häuschen mit vier Zimmern und zwei Bädern im ersten Stock und einer Gästetoilette, meinem Büro, einem großen Wohnzimmer und einer riesigen Küche im Erdgeschoss. Eine große Terrasse führte direkt von dem großen geschmiedeten Eisentor zu meinem Haus, dahinter, und von vorn kaum sichtbar, hatte ich noch einen kleinen Anbau, wo ich meine kleine Produktionshalle zum Zubereiten von Olivenöl und Schafskäsespezialitäten hatte. Wie fast überall in unserer Gegend, waren in den Gärten Oliven- und Obstbäume gepflanzt, die das ganze Jahr über grün waren und deren Blätter nie ganz abstarben. Unten drunter, also in der Erde, waren die Wassertanks, deren Leitungen ins Haus und in meinen Brunnen im Garten führten, von wo aus ich manchmal das Wasser, wie im Mittelalter, aus dem Untergrund hervorholte.

Mein Haus nannte ich Villa Griegenta, ein Begriff, der dem altgriechischen Namen für Agrigento, der nächstgelegenen Großstadt, nachempfunden war und die ich so sehr liebte.

Mein Wohnzimmer war mein Ruheraum mit einem großen Kamin, der im Winter gut heizte. Hier saß ich oft in meinem bequemen Omasessel und schaute ins Feuer, dachte über Gott und die Welt nach und telefonierte von hier aus mit meinen Lieben. Wie immer, legte sich Bianco nach unserem heutigen Spaziergang neben mich und streckte seine Vorderpfoten weit von sich, um mir verstehen zu geben, wie sehr er meine Nähe liebte. Die Glut loderte hellrot, fast orange, mächtig und stark. Mich ermüdete diese Romantik so sehr, dass ich bald darauf einschlief.

2

Am nächsten Morgen wachte ich in meinem Sessel auf. Bianco winselte, er wollte vor die Tür. Okay, raus mit dir, mein Schatz.

Die Sonne erhob sich gerade über dem Hügel. Mein Gott, ist das schön!, dachte ich überglücklich. Was für ein Paradies! Bianco sah das wohl genauso, denn er machte sich sofort daran, einen Gecko zu ärgern und hinter ihm los zu flitzen. Und obwohl die Geckos schneller waren als mein Bianco, machte ihm der Morgenlauf einen Heidenspaß. Mit wedelndem Schwanz kehrte er zu mir zurück und wir gingen ins Haus.

Es war fünf Uhr morgens, meine Zeit. Jetzt konnte ich alles am besten erledigen, hatte ich festgestellt, machte mir mein Frühstück, ging an meinen PC, schaute nach neuen Bestellungen für meinen selbst hergestellten Schafskäse und mein Öl, das ich aus den eigenen Oliven aus meinem Garten presste und in 500-ml-Flaschen nach Deutschland, in die Schweiz und nach Österreich exportierte.

Heute nahm ich mir vor, auf den Markt zu gehen und frische Lebensmittel zu besorgen. Zweimal die Woche präsentierten die Bauern in der Stadt Obst und Gemüse, selbstgebasteltes Kunsthandwerk und selbstgenähte Blusen und Hemden, sogar einfache Haushaltswaren wie Messer, Dosenöffner und Kochtöpfe. Viele Händler kannte ich vom Sehen, einige waren sogar »Kunden«, die meinen Schicksalsrat mehr oder weniger regelmäßig suchten und sich von mir ihre Zukunft deuten ließen.

»Anna!«, schrie plötzlich einer aus dem Gewusel aus Verkäufern und Käufern und winkte mir wild gestikulierend zu.

Es war Alessandro, einer der Restaurantbesitzer am Strand. Er fuchtelte so heftig mit seinen Armen, dass ich ihn gar nicht übersehen konnte. »Buongiorno«, rief ich fröhlich. »Come va?«

»Na ja«, antwortete er in seinem sizilianischen Slang ein wenig bedrückt, »wann kommst du zu uns? Es gibt Neuigkeiten, die dich bestimmt interessieren!« Neuigkeiten? Was sollte es schon für Neuigkeiten geben? Ich war verwirrt.

»Kennst du Signore Ronaldo?« Ich schüttelte den Kopf. Wer war das?

»Ein wichtiger Mann. Ein deutscher Mann«, antwortete Alessandro und lud mich zum Mittagessen in sein Restaurant ein, »vielleicht ist er wieder da, dann lernst du ihn kennen.«

Eigentlich wäre ich lieber shoppen gegangen, sagte trotzdem aber zu, kaufte mir danach schnell noch ein paar Kleinigkeiten und kutschierte meinen Wagen in eins der Nachbarorte zur Strandpromenade, wo es mal wieder an Parkplätzen mangelte. Nun gut, ein paar Schritte zu gehen, war nicht schlecht. Die fliegenden Händler aus Afrika, denen ich auf der Promenade begegnete, bestürmten mich, ihre Schmuckstücke zu kaufen, aber ich lehnte konsequent ab: »No«, sagte ich jedes Mal mit einer solchen Heftigkeit, dass sie wussten, dass ihr Werben sinnlos war.

Das Restaurant war draußen hell erleuchtet, obwohl es erst kurz nach zwölf Uhr war. Aber die Lampen und die elektrischen Terrassenheizungen strahlten so viel Wärme aus, dass man dort sogar jetzt im Winter bequem sitzen konnte, ohne zu frieren.

Alessandro hatte mir den Tisch direkt an der Straße reserviert, von wo aus ich einen herrlichen Blick auf das Meer, den Strand und natürlich auf die übergroße Statue von Padre Pio hatte, dem Heiligen, der im ganzen Süden Italiens stark verehrt wird und dessen Bild in jedem Haus und in jeder Kirche hängt. Der Heilige der Armen, den alle liebten – ich auch.

Kaum hatte mich Alessandro aus der Küche heraus entdeckt, kam er mit einer Flasche Vino, einer Karaffe Wasser und der Speisekarte in der Hand an meinen Tisch. »Der Pulpo ist superlecker, nimm ihn«, empfahl er mir. »Dazu noch Spaghetti Aglio e Olio vorweg? Mit deinem phantastischen Olivenöl?« Mit seinem umwerfenden Charme hatte er mich überzeugt. Ich fand es super, dass er so oft von meinem Öl schwärmte. Okay, dachte ich, dann lasse ich mich von dem Maestro verwöhnen!

Alessandro war begeistert: »Gut gemacht, Anna, du weißt, was gut schmeckt!«

Nun wurde er ruhiger. Mit leiser Stimme verriet er mir, dass die Geschäfte nicht gut gingen und er Krach mit seiner deutschen Frau Angelina hatte. Besorgt fragte er mich, ob ich zwischen ihnen vermitteln könnte und er deshalb demnächst bei mir vorbeikommen und sich mithilfe meiner Séancekarten Rat holen dürfte.

Ich sah ihn verdutzt an. Selbstverständlich durfte er das. Warum fragte er? Sonst kam er doch auch vorbei, wenn beide Stress hatten!

Während unseres Gespräches wurde Alessandro immer nachdenklicher. Ich spürte, dass er etwas Ernstes auf dem Herzen hatte, und schließlich gestand er mir die ganze Wahrheit:

Seit einiger Zeit kam dieser Signore Ronaldo regelmäßig zu ihm zum Essen. Der hätte sich in den Bergen niedergelassen, erzählte er, und Alessandro und Angelina hätten sich anfangs über ihren neuen Stammgast gefreut und ihm gern Auskunft über ihr Restaurant und ihre Gerichte gegeben.

Dann wären sie stutzig geworden: »Dieser Signore Ronaldo sagte nämlich, dass er mein Restaurant kaufen wollte!«

Verwirrt sah ich ihn an. Hatte ich das soeben richtig verstanden, war mein Sizilianisch so gut, dass ich seine Worte korrekt ins Deutsche übersetzen konnte?

Alessandro war empört: »Anna, stell dir vor: Dieser Kerl will mein, will unser Restaurant kaufen! So eine Frechheit!«

Seinen Ärger konnte ich verstehen. Was fiel diesem Fremden ein? Alessandro hatte sein Restaurant von seinem Vater geerbt und es zu einem Schmuckstück mit einer hervorragenden Küche entwickelt. Erst alleine, später, nachdem er Angelina kennen und lieben gelernt hatte, gemeinsam mit seiner Frau, mit der er inzwischen fünf Kinder hatte. Beide waren ein Geheimtipp für die Liebhaber der sizilianischen Fischküche.

»Wie kommt der Mann auf so eine Schnapsidee? Willst du denn verkaufen?«, fragte ich Alessandro und überlegte, was er mir wohl verschwiegen hatte: Gab es so große Geldsorgen, dass er womöglich einen Immobilienmakler damit beauftragt hatte, sein Restaurant zu verkaufen?

»Nein!«, stieß er hervor, als hätte er meine Gedanken lesen können, »niemals. Wir sind hier zu Hause! In meine Küche kommt kein Fremder!«

»Und wie hast du auf sein Angebot reagiert?«, wollte ich von ihm wissen, »so hitzköpfig wie jetzt oder ganz cool? Hast du ihn rausgeschmissen oder etwa deine Freunde geholt…?«

»Nein, leider nicht«, meinte er ein wenig kleinlaut, «dafür bringt er uns zu viel Geld, das wir gut gebrauchen können! Ich muss still halten! Ich muss ruhig bleiben, sagt Angelina. Er soll gut essen und viele, viele Euros zahlen! Sonst aber soll er sein verdammtes Maul halten, dieser verdammte Tedesco!«

Ich konnte seinen Augen ansehen, wie sauer er war und merkte, dass es keinen Sinn hatte, ihn beruhigen zu wollen – zumal er jetzt noch böser wurde: »Er will uns demütigen! Aber das schafft der nicht! Nicht heute, nicht morgen, nie! Wir sind Sizilianer, stolze Sizilianer!«

Im Geiste stellte ich mir vor, wie dieser kleine Alessandro vor Wut in seiner Küche tobte und seine Angelina dem verhassten Fremden das Essen brachte, dabei lächelte und ein paar nette Worte sagte… Wie sollte das gehen? Ich fragte Alessandro.

»Das ist das Schlimmste!«, ereiferte er sich, »Angelina gefällt ihm! Er gibt ihr immer Trinkgeld! Manchmal über 100 Euro!«

Wow! Über 100 Euro! So viel Geld! Da konnte was nicht stimmen. Oh ja, ich verstand Alessandro. War doch klar: Welcher Mann gab Alessandros Frau über 100 Euro extra, wenn das Drei-Gänge-Menü auf der Speisekarte nicht mal 50 Euro kostete? Wollte er ihn aber damit wirklich demütigen oder ihn auf diese Weise »nur« mürbe machen? Oder wollte er zwischen dem Paar Zwietracht säen und benutzte dafür sein Geld?

Mir kam mir das Ganze undurchsichtig vor und ich konnte mir auf das Verhalten dieses Signore Ronaldo keinen Reim machen. Wer war dieser Mann, und was wollte er wirklich? Ein Deutscher sollte er sein, hatte Alessandro gesagt. Einer, der ausgerechnet in unsere Gegend gezogen war und dann noch ein Restaurant kaufen wollte, das einem alteingesessenen Ursizilianer gehörte?

Nein, über so einen undurchsichtigen Typen würden alle im Dorf und in der Stadt reden und keiner würde ihm eine Chance geben! Da konnte etwas nicht stimmen!

Alessandro wusste anscheinend nicht mehr als das, was er mir gesagt hatte und bat mich, am nächsten Vormittag wiederzukommen, wenn er den Fremden erwarten würde.

»Oh je!«, rief er plötzlich, »das Essen! Excuse, Anna, ich habe es ganz vergessen! Wäre doch Angelina bei mir, ich laufe schon, ich beeile mich…«

Schwuppdiwupp, war er weg, rein in die Küche, lautes Geschirrklappern war zu hören, knapp zehn Minuten später hatte ich meine Spaghetti vor mir und genoss die beste Pasta der Welt. Überhaupt war sein Essen wie immer mega! Nach dem Pulpo nahm ich noch die Feigen zum Dessert und wollte mich danach schnell auf dem Heimweg machen.

»Wann kann ich zu dir kommen?«, fragte Alessandro, während ich ihm 50 Euro zustecken wollte. Als ich im Geiste meinen Terminkalender durchging, griff er nach dem Schein und steckte ihn mir in meine Jackentasche: »Kein Geld!«

Es war mir peinlich ihn zu verlassen, ohne meine Schulden zu begleichen, doch darin war Alessandro eigen. Er wäre beleidigt gewesen, hätte ich ihm mein Geld aufgedrängt. Also beließ ich es dabei und empfahl ihm, nach Weihnachten zu einer Séance vorbeizukommen. Wir umarmten uns zwar liebevoll, aber auch ein bisschen traurig, weil wir uns beide Sorgen um seine Zukunft machten.

Immer wieder musste ich an diesen Signore Ronaldo denken. Was wollte der Kerl von uns? Warum wollte er ausgerechnet Alessandros Restaurant kaufen? Woher kannte er es überhaupt? Gut, Alessandro war ein begnadeter Maître, ja, aber ein Sternekoch war er ganz bestimmt nicht. Er war ein freundlicher sizilianischer Koch mit tollen Gerichten, das war´s.

Zu Hause wartete Bianco wie immer lieb und treu auf mich. Ich gab ihm frisches Wasser und von der leckeren Dosenmahlzeit, die ich neulich im Einkaufszentrum gekauft hatte. Dann ließ ich ihn in den Garten laufen. Fröhlich rannte er umher und genoss seine Freiheit mit heftigem Schwanzwedeln und begeisterten Luftsprüngen. Ich ging in meine Käserei, schaute nach der Milch, sah nach, ob sich die Käsetrommel weiter im gleichen Rhythmus drehte und sich der Rahm oben optimal absetzte. Ja, das sah gut aus! Die letzte Fuhre für dieses Jahr würde in den nächsten Stunden fertig sein, danach hatte ich endgültig frei.

In der Stube machte ich mir wieder den Kamin an, ich fröstelte. Wahrscheinlich hatte ich mir bei den Minustemperaturen eine Erkältung eingefangen. Dagegen halfen nur ein guter Zitronentee und viel Wärme. Ich brühte mir eine Tasse mit schwarzem Tee auf und zog meine Stiefel an, um mir im Garten noch eine Zitrone zu pflücken, die als Vitaminbombe dienen sollte. Ja, diese eine am unteren Ast, die war gut. Dick, fleischig, hart.

Ich presste die Zitrone aus und schüttete den Saft in den Tee, gab ein wenig Zucker hinzu und setzte mich vor den Kamin. Das tat gut. So kuschelig warm war es hier, traumhaft.

3

Ich musste eingeschlafen sein. Als ich die Augen öffnete, lag Bianco friedlich auf dem Teppich, während ich zusammengekrümmt in meinem Sessel kauerte, von dem Feuer war nicht mehr viel übrig. »Na, hast du geschlafen?«, fragte ich meinen Süßen. Er musste mich anscheinend missverstanden haben, denn nun stand er auf und leckte meine rechte Hand. Ich will nach draußen, bedeutete das.

Gern wollte ich ihm den Gefallen tun und versuchte aufzustehen – als plötzlich meine Beine unter mir zusammensackten und ich vor Schwäche zur Seite kippte und mir dabei fast den Kopf am Kamin stieß.

Merde, dachte ich, anscheinend hatte ich eine Grippe, und die konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen. Advent, Weihnachten, Silvester – an jeder Ecke wurde gefeiert und die Einladungen von Freunden häuften sich, wie konnte ich da das Bett hüten anstatt abzufeiern?

Gesund zu werden, ist in Italien gar nicht so einfach. Die Ärzte haben lange Wartezeiten und öffnen sowieso nur, wenn sie lustig sind. Also muss man sich rechtzeitig in der Apotheke mit Medikamenten eindecken, egal mit welchen. Deshalb hatte ich vorgesorgt und mir Tabletten und Saft gegen alles und jedes besorgt, was mich schnell wieder auf die Beine bringen sollte. Aus der Fülle wählte ich die extra starken Kapseln, die eigentlich nicht frei verkäuflich sein durften, trank dazu Tee und aß ein paar Kekse, damit mein Magen diese Gewaltkur vertrug. Langsam dämmerte ich weg.

Ein sanftes Rütteln weckte mich. Es war Matteo, der mich zum Abendessen einladen wollte. »Du bist so heiß, was ist los?«, fragte er.

Ich verstand nur Bahnhof. Wo war ich? Was wollte er von mir? Verschlafen rieb ich mir die Augen, streckte mich und merkte, dass mir alle Knochen weh taten. »Excuse«, erwiderte ich benommen.

Warmherzig blickten seine schönen dunklen Augen auf mich herab. »Steh auf, ich helfe dir«, forderte er mich freundlich aber bestimmt auf, fasste mich am Arm und zog mich aus dem Sessel zu sich hoch. Mühsam erzählte ich ihm, dass ich Tabletten gegen meine Erkältung eingenommen hätte und deswegen eingeschlafen wäre.

»Du solltest heute Nacht nicht alleine bleiben«, meinte er und half mir beim Gehen. »Ich werde auf dich aufpassen.«

Keine schlechte Idee, dachte ich, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Nein, vielleicht würde er sich dann womöglich Hoffnung machen? Das durfte ich nicht zulassen! Ich wollte keinen neuen Mann! Ich musste dem von Anfang an einen Riegel vorschieben. »Nein«, erwiderte ich entschieden, »das schaffe ich alleine.«

Matteo zögerte, er war wohl enttäuscht. Fast mürrisch sagte er: »Gut, Anna, aber ich mache dir etwas zu essen und dann gehst du ins Bett.« Ohne Einspruch zu erheben – dafür war ich zu schwach und zu müde -, ließ ich mich in den Sessel fallen, dämmerte weiter vor mich hin und merkte gar nicht, wie Matteo das Haus verließ.

Erst als er wiederkam, wurde ich wach und war froh, dass er ein ganzes Tablett mit vielen Delikatessen mitgebracht hatte: Tomaten, Mortadella, Pane, Mozzarella, Trauben – und meine geliebten Arancini…! Dazu noch eine große Flasche Orangensaft! Obwohl ich eigentlich gar keinen Hunger hatte, musste ich zugreifen! Lecker! Besonders die Arancini schmeckten wunderbar! »Herrlich, grazie«, stöhnte ich. »Jetzt geht es mir schon viel, viel besser!« Matteo lachte sein herzliches, dunkles, fröhliches Lachen.

Ein kleiner, dicker Sizilianer, ein wunderbarer Mensch wie so viele Leute, die hier auf der Insel lebten. Mit einem riesengroßen Herzen, immer hilfsbereit und freundlich. Und das trotz entsetzlicher Schicksalsschläge, die mein armer Matteo erleiden musste!

Matteo und seine Maria waren gerade mal ein Jahr verheiratet, als seine Frau bei einem Autounfall in den Bergen tödlich verunglückte. Ein betrunkener Tourist war bei hoher Geschwindigkeit und ohne zu bremsen auf der langgezogenen, kurvenreichen Straße von Catania nach Enna auf ihren Wagen aufgefahren und hatte dabei Maria und das ungeborene Kind getötet. Danach hatte er Fahrerflucht begangen und war erst nach langer Zeit von der Polizei geschnappt worden. Ein Deutscher ohne Skrupel und Mitgefühl!

Matteo selbst hatte das Unglück nur mühsam überlebt und war lange im Krankenhaus in Catania versorgt worden. Als er endlich wieder zu Hause war, stürzte er sich in die Arbeit und kümmerte sich seitdem fast nur noch um seine Schafzucht.

Nie wieder hatte er geheiratet und viele aus dem Dorf hielten ihn für einen komischen Kauz. Das war er für mich aber nicht. Ich konnte seinen Schmerz, der ihn niemals verlassen hatte, nachempfinden und war froh, dass ich für ihn eine gute Freundin sein durfte.

Zufällig hatten wir uns beim Einkaufen kennen gelernt, als ich erst ein knappes Jahr auf Sizilien lebte. Ich suchte im Supermarkt gerade nach Hundefutter und stieß dabei einen Fluch nach dem anderen aus, weil ich dieses verdammte Regal nicht fand. Matteo musste mich gehört haben, denn er sprach mich an, ob er mir helfen konnte.

Da mir sein Sizilianisch noch sehr fremd war, wollte ich mich versichern, ihn richtig verstanden zu haben und fragte höflich nach. Geduldig wiederholte er seine Frage, diesmal auf reinstem Italienisch, und ich nickte artig.

»Mangiare a favore di mio carne«, antwortete ich unsicher und er lachte, ergriff wortlos meine Hand und zog mich mit sich, kurze Zeit später stand ich vor dem Regal, das ich gesucht hatte.

»Come si ciama?« oder so ähnlich, fragte er und verwirrte mich damit ein wenig. »Anna«, verriet ich ihm, »è tu?«