Gesa Schwartz
Die Flamme der Nacht
Roman
Der Kampf der Vampire war ein Tanz aus Schatten und Feuer. Mühelos und so schnell, dass Mia mitunter nur noch die Umrisse ihrer Körper erkennen konnte, glitten sie zwischen den Ghrogoniern hindurch, stellten sich dem Nebel entgegen und schlugen den Kreaturen Braskatons tiefe Wunden. Schwarz war das Blut der Totenwelt, schwarz wie das der Vampire, und als Mia die kalten Flammen der Fackeln auf ihrer Haut spürte, da wusste sie, dass nur totes Feuer die Glut des Nebels ersticken konnte.
Sie zögerte keinen Augenblick länger. Eilig legte sie einen Schutzzauber über sich und rannte los. Der Innere Wall flackerte in grünem Schein durch den zerreißenden Nebel, schon griffen die ersten Schattenflügler ihn an, und als sie die Funken seiner splitternden Magie sah, erschuf sie einen flammenden Bogen in ihrer Hand. Im Lauf legte sie einen Pfeil auf die Sehne, der die Brust eines Warans durchschlug und den Wall in grellem Licht erzittern ließ. Mia fühlte das Blut in ihren Adern, doch kaum dass ein weiterer Pfeil die Sehne verließ, brach eine Gestalt aus dem Nebel, ein Dämon war es mit drei Köpfen, und er packte das Geschoss im Flug und zerbrach es mit einem wilden Schrei. Er raste direkt auf Mia zu, im letzten Moment warf sie ihn mit einem Sturmzauber zu Boden, und ehe er auf die Beine kam, presste sie ihm einen Diamanten auf die Stirn und zog ihn in das Gefängnis.
Ohrenbetäubendes Gebrüll ließ sie herumfahren. Eine mächtige Welle an Dämonen brach durch den Inneren Wall, ohne ihn zu zerstören, und sie hörte die Schreie der Ghrogonier, entfesselt und rau wie die Zauber, die gleich darauf mit voller Wucht aufeinanderprallten. Der Boden bebte unter Mias Füßen, die Luft flackerte wie ein Segeltuch im Sturm, und als sie zum Sprung ansetzte, um in die vorderen Kampfreihen zu gelangen, schlug ihr die Hitze der Magie entgegen, die sich in dunklem Farbenrausch über dem Schlachtfeld ergoss. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern inmitten der Klänge aus steinernen Kehlen, aber als ihr Eiszauber den Wall traf und dunkle Krater in die zitternde Schicht schlug, da war es, als würde sie in dem Brüllen der Schlacht aufgehen, als wäre sie ein Teil der Urgewalt, die von den Ghrogoniern entfesselt wurde, und ihr Herz machte einen Satz, als sie ein bekanntes Grollen in dem Chaos widerklingen hörte.
Rasend schnell schoss Grim über die Köpfe hinweg und landete direkt vor dem Wall. Seine dunkle Gestalt mit den mächtigen Schwingen wirkte majestätisch vor dem flackernden Schild, und als er die Arme hob und brüllte, da fegte ein Sturm über die Kämpfenden hinweg, der Mia das Haar aus der Stirn strich. Donnernd schlugen die goldenen Flammen aus seiner Faust und zogen sich als Funken sprühendes Netz über den Wall. Einzelne Dämonen verbrannten in Grims Feuer, andere wichen kreischend davor zurück, und sie fühlte den Widerschein auf ihrem Gesicht, als würden Schleier aus Seide über ihre Wangen streichen. In wildem Triumph schrie sie auf, als der Wall laut ächzte. Erste Risse zogen sich darüber hin, und als sie die Erschütterung des Bodens wahrnahm, glaubte sie zuerst, es würde von dem brechenden Schild verursacht werden. Doch dann begriff sie, dass es Schritte waren, die sich von der Burg her näherten. Sie kniff die Augen zusammen, um im Licht des brennenden Walls etwas erkennen zu können, und sah eine Gestalt, die sich auf der anderen Seite aufbaute.
Ein Dämon war es, pechschwarz und mit halb zerfressenem, zyklopischem Gesicht. Sein Auge stand in rotem Feuer. Er war so groß, dass er selbst Grim um mehrere Köpfe überragte. Sein muskulöser Leib steckte in einer halb zerrissenen Uniform und war an einigen Stellen mit metallenen Streben versehen, dass es aussah, als würde er von ihnen zusammengehalten, und ein mächtiger Reptilienschwanz peitschte über den Boden, ehe er reglos stehen blieb. Er starrte zu den Kämpfenden auf der anderen Seite herüber und schien das Bersten des Walls kaum zu hören. Als sein flammender Blick Mias Gesicht traf, fuhr sie zurück, so glühend legte er sich auf ihre Haut. Ein spöttisches Lächeln zog über den breiten, lippenlosen Mund des Dämons. Dann riss er die Arme über den Kopf und schoss rote Blitze in die Kuppel des Walls, die mit ohrenbetäubendem Donner die Luft zerrissen.
Mia schrie auf, so heftig traf sie das Geräusch, und gleich darauf raste unnennbarer Schmerz durch ihre Hände bis hinauf in die Schultern. Gerade noch hatte sie einen Flammensturm auf den Wall geschickt, doch die Magie ihres Zaubers schlug ihr nun vor die Brust, sie flog durch die Luft und landete hart auf dem Rücken. Benommen rappelte sie sich auf. Zahlreiche Ghrogonier waren ebenfalls zurückgeworfen worden, doch andere standen noch immer vor dem Wall, ihre Zauber flammten darüber hin und … Mia wich das Blut aus dem Kopf. Ihre Angriffe schadeten dem Wall nicht länger, im Gegenteil: Sie schienen ihn zu stärken. Schmerzensschreie klangen über das Schlachtfeld und Mia stellte mit Entsetzen fest, dass die Krieger sich nicht von ihren Zaubern lösen konnten. Grim, dessen Flammennetz sich dunkel verfärbte, fiel langsam auf die Knie. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, Mia konnte sehen, dass der Dämon ihm die Magie aus dem Leib zog, und da formten sich Tentakel aus dem Wall, dick wie der Leib einer Python, und schlugen peitschend durch die Reihen der Kämpfenden. Gerade noch rechtzeitig sprang Mia vor einem Hieb zur Seite, der Boden splitterte, dass scharfe Steinsplitter ihre Wange trafen, doch sie achtete nicht darauf. Schreckensstarr musste sie zusehen, wie Grim von einem Tentakel gepackt und mit voller Wucht gegen eines der umstehenden Häuser geschleudert wurde.
Ein heftiger Schlag traf Mia an der Schulter. Der Schmerz stach in ihre Lunge und lähmte ihren Arm. Sie fuhr herum, ein ochsenköpfiger Dämon stierte von einem geflügelten Pferd herab, dessen Haut halb zerfetzt von seinem Körper hing. Erneut riss er seinen Morgenstern in die Höhe, dieses Mal würde er Mia den Brustkorb zerschlagen. Sie sah das Glitzern in seinen Augen und hörte das Zischen der Waffe, doch sie rührte sich nicht und zeigte keinen Anflug von Schmerz oder Furcht. Pfeifend raste der Morgenstern auf sie nieder, doch gerade als sie den Luftzug auf ihrer Haut spürte, sprang sie vor und griff nach der Kette. Eisglühend senkte sich die Magie des Dämons in ihr Fleisch, aber sie umfasste das Metall nur fester. Ihr gelähmter Arm schlug gegen den Kopf des Morgensterns, Blut lief über ihre Hand. Ihre Stimme zitterte, als sie die Formel sprach, und im nächsten Moment schoss ein grelles Licht durch die Kette. Sie sah noch das Entsetzen in den Augen des Dämons und hörte gleich darauf das Bersten der Knochen, als ihr Zauber in seinem Brustkorb explodierte und ihn von seinem Gaul schleuderte.
Wiehernd stellte das Pferd sich auf die Hinterbeine. Seine Zähne waren scharf wie Rasierklingen und sein Blick umfasste Mia mit wilder Bosheit, doch ehe es sich auf sie stürzen konnte, griff sie nach seiner Mähne und zog sich auf seinen Rücken. Sein Schrei drang ihr ins Mark, mit unbändiger Wut schlug es mit den Schwingen und erhob sich in die Luft. Mia zog den Kopf ein, doch da gruben sich Klauen aus dem Fleisch des Pferdes, packten ihre Arme und Beine und schickten die Finsternis in sie hinein, die im Inneren dieses Dämons lauerte. Schon umfing sie eine so durchdringende Dunkelheit, dass sie meinte, in einen Abgrund zu stürzen. Unzählige Schreie zerrissen die Luft, und es waren nicht die Klänge der Schlacht. Sie sah die Fratze des halb von wilden Tieren gefressenen Menschenleibs, der sie in diesen Augenblicken umfasst hielt, sah auch die Kinderleichen mit den verdrehten Gliedern, die im Inneren des Pferdekörpers kauerten und schrien, und sie wusste, dass der Dämon sie zerreißen wollte für das, was sie war: ein Mensch. Er zerfetzte ihre Gedanken und jagte sie als glühende Scherben durch ihre Adern, während er sie durch die Abgründe seines Inneren trieb, tiefer, immer tiefer hinab in die Schatten. Doch Mia ertrug den Schmerz, den er ihr zufügte, und sie schloss nicht die Augen. Sie starrte hinein in die Finsternis, und als er ihr mit seiner Kälte ins Gesicht schlug, lächelte sie. Er wollte sie vernichten, doch das würde sie nicht dulden. Dämonen waren nicht die einzigen Geschöpfe, die über innere Abgründe verfügten, das hatte sie gelernt.
Plötzlich spürte sie keinen Wind mehr auf ihrem Gesicht. Sie fiel nicht länger. Regungslos verharrte sie in der Dunkelheit, und für einen Moment dachte sie an das Seil unter ihren Füßen, das Seil, das gar nicht da war, ebenso wenig wie der Drache es war oder die Welt oder dieser verfluchte Dämon. Sie war es, die den Abgrund erschuf und die Nacht und die Sterne, sie, die den Mond von seinem Thron stieß, sie war der Anfang und das Ende – sie war die ewige Dunkelheit. Sie legte den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Wolf der Ersten Stunde, und da zerriss die Finsternis um sie herum und sie fand sich auf dem Rücken des Pferdes wieder. Ruhig war es geworden, fast friedlich, es trug sie über das Schlachtfeld, als wäre das seit jeher seine Bestimmung gewesen – und es wusste instinktiv, wohin sie wollte.
Der Dolch des Khranados war eiskalt in ihrer Faust. Rasend schnell schoss sie zwischen den peitschenden Tentakeln hindurch, sie hörte die Worte, die der Wolf ihr zugeraunt hatte, und als der Wall vor ihr auftauchte, riss sie den Dolch in die Luft. Mit einem Schrei stieß sie die Klinge in den Schild. Der Zyklop wurde zurückgeschleudert und Mia zog den Dolch durch den Wall, bis ein gewaltiger Riss darin klaffte. Er setzte sich fort und splitterte zu den Seiten hin in unzähligen Verästelungen, während der Dolch in loderndem Feuer verbrannte und sein Gift die Magie des Walls verzehrte. Mia sah, wie Grim sich befreite, und als die Tentakel in Ascheflocken um sie niederfielen und der Schild an zahlreichen Stellen Funken sprühend zerbrach, stieß sie einen Schrei des Triumphs aus.
Mit angelegten Schwingen stürzte sich das Pferd durch den Wall. Noch im Flug sprang Mia von seinem Rücken und rannte auf den Dämon zu. Er lag am Boden, aber sie wusste, dass es nur Augenblicke dauern konnte, bis er sich wieder aufraffte. Sie musste ihn bezwingen, ehe es zu spät war. Sie ballte die Faust für einen Zauber und lief so schnell, dass die Ascheschwaden ihr ins Gesicht schlugen, doch noch ehe sie den Dämon erreicht hatte, riss er sein Auge auf und schlug ihr seinen Blick wie einen Fausthieb entgegen. Ihr stockte der Atem, gerade noch gelang es ihr, sich aufrecht zu halten, aber sie konnte sich nicht abwenden. Der Dämon richtete sich auf und gleichzeitig fühlte sie die Schatten, die aus seinem Auge auf sie zuschossen. Gesichter waren es, zu Fratzen verzerrt, die Krieger Ghrogonias, im Blick des Dämons zu Asche verbrannt, und als seine Stimme ein weißes Licht in deren Augen entfachte, rissen sie ihre Waffen in die Luft und richteten ihre Zauber auf Mia. Ohrenbetäubend war der Lärm, als sie auf sie zurasten, Mia spürte ihre Schwerter mit glühender Kälte durch ihre Brust gleiten, und sie sah Grim in den tobenden Schatten, ermordet von diesem Blick aus Feuer und Finsternis. Direkt vor ihr riss er die Faust in die Höhe, sie meinte schon, seinen Flammenzauber auf ihrer Haut zu fühlen, doch als sie in seine weißen Augen schaute, senkte sie schnell den Blick. Niemals würde eine Kälte wie diese in Grims Augen stehen – niemals.
Der Zorn des Dämons durchdrang seinen Zauber und warf sie zu Boden, so heftig, dass ihr Kopf auf den Steinen aufschlug. Sie spürte, dass sie das Bewusstsein verlor, bevor der Schmerz durch ihre Glieder raste. Verzweifelt stemmte sie sich gegen die Ohnmacht, aber sie fühlte die sich nähernden Schritte des Dämons lauter in sich widerklingen als ihren eigenen Herzschlag. Schon glitt sein glühender Blick über ihren Körper. Sie wusste, dass er sie verbrennen würde, und er würde sich Zeit dabei lassen, um sich an ihren Qualen zu weiden. Entschlossen schaute sie ihm ins Gesicht. Sie würde nicht einen Laut von sich geben, eher würde sie sich selbst in Eis verwandeln, als ihm diese Genugtuung zu geben. Sie sah den Zorn in seinem Blick aufflackern, spürte die Glut auf ihrer Haut – doch gerade als ihr der Atem versagte, glitt ein Schatten vor sie und hüllte sie in lindernde Kühle.
Benommen fuhr Mia sich über die Augen. Sie sah den wehenden Mantel, von Ascheflocken umtost, das Schwert mit den flammenden Zeichen darauf und wusste augenblicklich, dass es Samhur war, der zwischen ihr und dem Dämon stand – Samhur, der Jäger, hatte ihr das Leben gerettet.
Der Zyklop starrte den Vampir an, etwas flackerte durch seinen Blick, das sein Gesicht in glühendem Hass verfärbte. Dann ließ er die Gelenke seiner Fäuste knacken, sein Auge verwandelte sich in gleißendes Feuer und er stürzte sich vor. Samhur wich ihm aus, so schnell, dass Mia seinen Bewegungen kaum folgen konnte. Sie sah die diamantene Peitsche, die immer wieder auf den Dämon niedersauste, hörte das Singen des Schwertes und fühlte die Tausend Flüche der Hekabe auf ihrer Haut, die sich in wildem Tanz in die Luft erhoben und die Kämpfenden als flammende Zeichen umtosten. Doch auch der Dämon wich den Hieben aus, sodass dem Jäger nur einzelne Treffer gelangen, und plötzlich riss er den Kopf herum und traf den Vampir mit der Glut seines Auges vor die Brust. Samhur landete auf dem Rücken. Vergebens versuchte Mia, auf die Beine zu kommen und den Dämon abzulenken, der sich mit voller Wucht auf den Jäger fallen ließ und dessen Körper in rauschendes Feuer hüllte.
Samhur hob die Hände, langsam und zitternd, ohne den Blick von seinem Gegner abzuwenden. Eisern schlossen sie sich um dessen Kehle, ein mächtiger Strom aus Licht ergoss sich über der schwarzen Haut des Dämons und drang in ihn ein, doch er lachte nur, laut und so dröhnend, dass es Mia wie ein Schlag traf. Hilflos musste sie mit ansehen, wie das Feuer Samhur ins Fleisch schnitt. Mit aller Kraft riss sie ihre betäubte Hand nach vorn und schickte einen Eiszauber in ihre Faust. Gerade hatte sie die Finger ausgestreckt, als sie das Flackern in Samhurs Augen sah, diesen dunklen Glanz, der sie immer geängstigt hatte, von ihrer ersten Begegnung an – und der niemals etwas anderes gewesen war als ein Lächeln aus den Schatten, wie sie nun begriff.
Sie ließ die Hand sinken. Sie sah die Zeichen, die unter der Haut des Dämons sichtbar wurden – den Zauber, den Samhur in seiner Magie verborgen und ihn so in den Leib seines Gegners geschickt hatte. Es war, als würde sich schwarzes Öl zu verborgenen Formeln zusammenziehen, zu jenen Fluchzeichen, die bisher in wildem Chaos um sie herumgewirbelt waren und die in diesem Moment innehielten. Mia bemerkte das Entsetzen im Auge des Dämons, als sein Feuer erlosch und die flammenden Zeichen ihre Glut in sein Innerstes schickten. Brüllend kam er auf die Beine, die Zeichen verkohlten seine Haut, während Samhur sich leicht schwankend erhob und vor ihm zurückwich. Der Dämon riss sich ein glühendes Zeichen aus dem Leib, er schlug nach Samhur, doch ehe er noch einen Schritt auf den Jäger zugehen konnte, rasten brennende Ketten mit metallischem Klirren durch die Luft. Sie trafen den Dämon, gruben sich mit Widerhaken in sein Fleisch und entfachten die Zeichen unter seiner Haut zu rotem Feuer. Mit wahnsinnigem Brüllen riss er die Arme in die Luft, er verbrannte, dass die Flammen nach allen Seiten ausschlugen, und ehe er zusammenbrach, rissen die Ketten ihn auseinander.
In lodernden Fetzen landeten seine Überreste am Boden, doch Mia nahm es kaum wahr. Sie schaute hinauf zu den Dächern, von denen die Ketten ausgeschickt worden waren, die nun in roter Glut zerstoben – und sie sah sie sofort, diese drei Gestalten. Sie waren die einzigen unbewegten Punkte inmitten der Schlacht, so unbewegt, dass sie fast unwirklich erschienen. Ihre langen Mäntel wehten im Wind und sie trugen flammende Zeichen auf den Wangen, dieselben, mit denen auch Samhur in die Schlacht gezogen war, und als er ihr auf die Beine half, hörte sie seine Stimme in ihren Gedanken. Feysthar mit dem schlohweißen Haar, der abseits einer Schlacht niemals ein Wort über die Lippen brachte, weil seine Stimme zu schrecklich war, Ingynon mit der Narbe quer über der Wange vom Kampf gegen den Grauen Dschinn, Andraka, deren Blick Stein und Fleisch durchbohren konnte. Sie waren gekommen – die Ersten Jäger dieser Welt.
Samhur schickte einen Heilungszauber in Mias Körper, die Funken des brechenden Walls fielen um sie herum nieder. Gerade wollte Mia in die Jubelschreie einfallen, die über das Schlachtfeld klangen, als ein heftiges Grollen den Boden erschütterte. Instinktiv ging sie in die Knie. Samhur zog sie an sich, als eine Feuersbrunst über sie hinwegflog. Sie fuhr herum – und traute ihren Augen nicht.
Schwer atmend landete Grim auf einem Häuserdach und schaute zur Burg hinüber. Flammenwinde umtosten ihre Mauern, geisterhaft zogen sie über den Platz, und dort, im tiefsten Inneren des gewaltigen Drachen, loderte schwarzgrüne Glut, die mit lautem Donnern ihr Feuer entfachte und es in die Burg schickte. Steine splitterten unter der glühenden Hitze und die Flammen verschlangen die Mauern und Türme und bildeten sie in tödlichem Feuer nach. Fauchend schlug es höher wie die Brandung eines sturmgepeitschten Meeres und als die Burg vollständig in Flammen stand, konnte Grim sich nicht gegen die wilde Faszination wehren, die ihn angesichts dieses Schauspiels ergriff. Niemals zuvor hatte er Fluchfeuer in solcher Schönheit gesehen.
Da durchzog ein Tosen die Flammen, und ehe Grim verstanden hatte, was vor sich ging, brach ein gewaltiger Schwarm Hornissen aus dem Feuer. Kurz verdeckten sie den Mond mit ihren flammenden Leibern. Dann teilte sich der Strom der Hornissen in mehrere Schwärme auf und stürzte auf die Ghrogonier nieder.
Grim erhob sich in die Luft. Seine Fäuste standen in schwarzen Flammen, der Wind jaulte unter seinen Schwingen, und als er sich mitten hineinstürzte in einen der Schwärme, verbrannten die Hornissen in seinem Feuer zu Asche. Unzählige von ihnen fielen um ihn herum nieder, doch das Schwirren ließ nicht nach und er hörte ein Lachen aus dem Surren ihrer verkohlten Leiber. Außer sich stob er aus dem Schwarm hinaus, die Kühle der Luft ließ ihn zu Atem kommen. Er sah, wie sich die Aschereste erneut entflammten und zu ihrem Schwarm zurückkehrten, und kaum dass er seinen Blick auf ihn richtete, formte dieser sich zu einer goldenen Gestalt. Verus war es, der kaum merklich lächelte, und als er den Mund öffnete, hörte Grim seine Stimme aus tausend surrenden Mäulern. »Ich warte auf dich, Kind des Feuers«, raunte der Dämon, ehe der Schwarm zerbrach und in glühenden Funken auf das Schlachtfeld stürzte.
Die Ghrogonier rissen Schutzschilde in die Höhe, aber die Glut grub sich tief in ihre Zauber und die Schwärme fielen mit solcher Gewalt über sie her, dass sie sich kaum wehren konnten. So schnell er konnte, raste Grim auf die Burg zu und hielt dicht vor dem zuckenden Feuer inne. Dumpf hörte er das Brüllen in seinem Inneren, seine Brust brannte, als würde jeder Ton die Glut anfachen, und für einen Moment fühlte er wieder das Entsetzen, als die Flamme in den Schatten Braskatons von ihm Besitz ergriffen hatte. Regungslos schaute er in das Fluchfeuer, die Funken trafen sein Gesicht wie Gischt und er meinte, Seraphins Stimme durch das Rauschen eines dunklen Ozeans zu hören, leise wie ein Flüstern in seinem Kopf.
Was liegt auf deinem Grund?
Grim lauschte auf den Klang der Wellen und als er seinen Bruder lächeln sah, zögerte er nicht länger. In eisigen Strömen ergoss sich die Kraft der Flamme in seine Glieder, aber er spürte die Lichter des Weißen Diamanten auf seiner Haut und er grub seine Klauen tief in die Flammen der Mauer. Sie boten ihm Widerstand, als würden sie aus Stein bestehen, und er stürzte sich in ihre Glut und raste durch die Gassen der Burg, das Feuer des Dämons auf seiner Haut. Das Herz des Feuers war es, das Grim fixierte, der Kern der Burg, in den Verus eingefahren war, und er hielt darauf zu, ohne auf die Stimmen der Flammen zu achten oder auf die lockenden Hände auf seiner Haut. Strahlend flutete der Schein aus den Fenstern des Veitsdoms, Grim sah den gewaltigen Drachen über sich aufragen und landete vor dem Portal, dass Funken unter seinen Klauen aufwirbelten. Dann stieß er das Tor auf.
Eine seltsame Dämmerung lag im Inneren des Doms, die Flammenwände und das Glimmen des Bodens wirkten fast steinern, doch Grim achtete nicht darauf. Sein Blick hing an Verus. Der Dämon stand mit dem Rücken zu ihm am Altar. Als er sich langsam umwandte, erkannte Grim, dass er das Herzstück der Burg in seinen Händen hielt – eine glänzende Kugel wie aus glühendem Glas. Ihr Schein war mit seinem Körper verbunden, er durchflammte ihn wie ein schon halb verkohltes Holzstück, und als Verus lächelte, drang die Kugel vollends in ihn ein. Schimmernd und mit leichtem Flackern sank sie in sein Innerstes. Grim ballte die Klauen. Mochte Verus sich das verfluchte Herz angeeignet haben – er würde es aus ihm herausreißen, so viel stand fest.
Er ließ die Flammen in seinen Fäusten auflodern und rannte auf Verus zu, doch ehe er ihn erreicht hatte, glitt der Dämon in den Boden und raste ihm entgegen. Die Glut des Ganges brach auf, heftiges Beben ließ Grim taumeln. Er schwang sich in die Luft, aber da schoss ein gewaltiger Schlangenkopf aus den Steinen und schnappte nach ihm. Gleißende Funken stoben ihm ins Gesicht. Im letzten Moment warf er sich zur Seite und raste zwischen den Säulen dahin, doch die Schlange folgte ihm mit lautem Zischen. Immer wieder verfehlte sie ihn nur knapp, sie traf die Wände, die Säulen erzitterten, wenn ihr Körper gegen sie schlug. Er drehte sich auf den Rücken, griff nach der diamantenen Peitsche, und gerade als die Schlange hinter einer Säule vorschoss, schlug er nach ihr und riss sie zu sich heran. Ohne zu zögern, presste er ihr die Klauen an den Schädel und fixierte das Gold ihrer Augen. Er fühlte, wie die Fessel Verus die Kraft raubte, doch ehe er ihn packen konnte, sah er ihn als flammenden Umriss durch den Schlangenleib tauchen. Zorn stand in seinem Blick, er riss die Arme hoch, dass das Untier auseinandersprang, und trat Grim mit voller Wucht gegen die Brust.
Grim flog zurück, hart schlug er gegen eine Säule und kam sofort wieder auf die Beine. Verus jagte vor ihm davon, er landete auf dem Altar. Ein Lächeln wischte den Zorn von seinen Zügen, als er kaum merklich die Hand hob.
Das Feuer, hörte er Verus’ Stimme. Das bin ich!
Da brach der Boden unter ihm auf. Feuergeysire schossen in die Luft, und ein Funkenregen ging auf Grim nieder. Er breitete die Schwingen aus, doch schon bröckelten die Wände und Teile der Decke schlugen tonnenschwer nieder. Er raste zwischen den flammenden Brocken dahin, ihn traf etwas an der Schulter, der Schmerz flutete seinen Körper, und gleich darauf brach die erste Säule zusammen. Grim wich ihr aus, aber die Erschütterung war so heftig, dass er gegen die Wand prallte, und noch ehe er sich erneut in die Luft erheben konnte, raste eine weitere Säule auf ihn zu. Sie traf ihn so heftig, dass er zu Boden ging. Ein Deckenstück schlug dicht neben seinem Schädel ein. Er wollte sich aufrappeln, doch da landete ein weiterer Steinbrocken auf seiner Brust. Vergebens versuchte er, sich zu bewegen, es war, als würden die Lasten der Welt auf ihn herabstürzen. Der Lärm war ohrenbetäubend, und als das Chaos sich legte, hörte er, dass sich Schritte näherten. Mühsam öffnete er die Augen. Die Säulenstücke zerflossen vor Verus, der langsam auf ihn zutrat und neben ihm in die Knie ging.
»Du bist noch schwächer, als ich dachte«, raunte der Dämon.
Doch da setzte Grim seine Augen in schwarze Flammen. »Goldener Schatten«, erwiderte er und zwang ein Lächeln auf seine Lippen. »Du weißt noch immer nicht, wen du vor dir hast.«
Und ehe Verus zurückweichen konnte, riss er die Faust mit dem Weißen Diamanten durch die restlichen Trümmer und presste ihn gegen die Stirn des Dämons. Verus schrie vor Schmerzen, aber Grim packte ihn im Nacken und kam auf die Beine. Die Säulen zerbrachen um sie herum, umtosten sie mit tausend berstenden Splittern, und während der Zorn Verus’ Augen in dunklen Glanz setzte, flackerten Bilder über sein Gesicht. Grim sah Mia im Regen in den Tuilerien, Remis, der vor den Fenstern der Menschen über einen Film lachte, Carven, der auf seinem Skateboard über die Kante von Grims Altar rutschte, und er wusste, dass die Schreie des Dämons nicht allein von dem Feuer des Diamanten verursacht wurden. Es waren diese Bilder, die er nicht ertrug – die Bilder, die Grim brennen ließen in der Kälte der Flamme.
Ohne seinen Blick loszulassen, stieß Grim seine Klaue in Verus’ Brustkorb und riss das Herz der Burg aus ihm heraus. Außer sich schlug der Dämon nach ihm, doch da glitt Grims Klaue in den Kern hinein und eine mächtige Druckwelle schleuderte sie auseinander. Grim kniff die Augen zusammen, als weißes Licht aus der Glut schoss. Kurz glaubte er, er wäre erblindet, und er spürte die Kälte der Flamme mit lähmender Ruhe durch seinen Körper schießen. Doch ehe sie ihn einhüllen konnte, riss er die Augen auf und starrte hinein in das Licht. Er erkannte die Grundrisse des Veitsdoms und Menschen auf ihren Knien, er hörte ihre Stimmen, ihr Weinen und Flehen, sah Anderwesen zwischen den Säulen, Dämonen bei uralten Ritualen und Vampire, die zwischen den hölzernen Bänken standen wie Wächter über die Zeit. Er hörte mächtige Orgelklänge und geflüsterte Gedanken, zu zart, um ausgesprochen zu werden, und doch kräftig genug, um die Majestät dieser Kirche zu bilden, mit jedem Stein und jedem Atemzug. Und dann sah er die Glut aus den Steinen brechen, hörte das mächtige Dröhnen tief aus dem Inneren der Erde, als sie sich entfachte, und er breitete die Schwingen aus und erhob sich in den Flammen, die ihn mit brausenden Stimmen umgaben, ein Engel der Nacht in den goldenen Feuern der Verdorbenheit. Langsam breitete er die Arme aus, er hörte jedes Raunen, fühlte jede Lockung auf seinem Gesicht, und neigte kaum merklich den Kopf. Und dann, mit einem Lächeln auf seinen Lippen, ballte er die Klauen, als würden sie sich um die Kehle eines Sterblichen schließen, und erstickte das Feuer mit seinem Willen.
Im nächsten Moment fand er sich am Boden des Doms wieder. Er stand auf verkohltem Grund, die Luft war kühl und schneidend auf seiner Haut. Hell fiel der Schein des Mondes durch das halb zerrissene Dach, der Schädel des Drachen zeichnete sich scharf vor dem Himmel ab, und vor ihm, kaum mehr als wenige Schritte von ihm entfernt, kniete Verus auf den schwarzen Steinen. Mit einer Hand stützte er sich am Boden ab, Grim sah die Wunden in seinem falschen Körper und wie der dunkle Glanz in Verus’ Augen in Flammen aufging. Der Weiße Diamant hatte ihm schwer zugesetzt, doch als der Dämon langsam den Kopf hob, lächelte er.
Grim erwiderte seinen Blick regungslos, und sie wussten es beide: Der Kampf hatte gerade erst begonnen.
Ascheschwaden flogen Mia entgegen, als sie den Burghof erreichte. Samhur und die anderen Jäger hatten ihr eine Bresche in die Reihen der Dämonen geschlagen, die Schlacht tobte hinter ihr, doch die Gassen der Burg lagen verlassen. Die Gebäude waren rußgeschwärzt. Nur vereinzelt loderten noch schwache Flämmchen im kalten Wind, aber Mia spürte noch immer die Hitze in den Steinen. Dumpf klang das Grollen in ihr wider, das gerade noch die Flammen durchdrungen hatte, und sie beschleunigte ihren Lauf. Grim hatte das Feuer gelöscht, er hatte Verus zum Kampf gefordert. Jetzt war sie an der Reihe.
Sie sprang über ein zerbrochenes Mauerstück, duckte sich, als ein mächtiger Donnerschlag weit hinter ihr die Häuser zum Beben brachte, und spürte ihren Herzschlag im ganzen Körper, als der alte Königspalast vor ihr auftauchte. Für einen Moment hielt sie inne und schaute zum Himmel hinauf. Schemenhaft glitten Dämonen über die Dächer, Flammen und Eiszauber loderten in ihren Fäusten und ihre Stimmen zerschnitten die Luft. Doch gleichzeitig nahm Mia die Glut des Schutzzaubers wahr, den Samhur ihr gegeben hatte und der nun in ihrer Tasche nach Entfesselung schrie. Sie musste nur den Palast erreichen und die Magie des Jägers freisetzen, dann wäre sie vor den Dämonen in Sicherheit – zumindest vorerst. Sie presste die Hand gegen die Hauswand, noch einmal spürte sie die Wärme der Steine. Dann stieß sie sich ab und rannte los.
Ihre Füße flogen über den Platz, ihr Schatten war nicht mehr als ein Spiel flackernder Schemen und der Wind schlug ihr ins Gesicht. Beinahe hatte sie den Eingang erreicht, doch da lösten sich drei Schatten vom Dach des Hauses und landeten vor ihr auf dem Platz. Dämonen waren es, die ihre menschlichen Wirte in teuflischer Manier verzerrt hatten, ihre Gesichter waren nicht mehr als Fratzen und aus den Schädeln wuchsen Hörner, während ledrige Schwingen hinter ihnen aufragten. Sie grinsten, als einer von ihnen vortrat, und Mia konnte seinen fauligen Atem riechen. Seine Hände hatten sich zu Klauen geformt, er ließ seine Gelenke knacken. Sein Blick war kalt und in seiner Grausamkeit und Gier so menschlich, dass Mia schauderte. Blitzschnell überdachte sie ihre Möglichkeiten. Die drei Dämonen hatten noch nicht gekämpft und Mia spürte ihre Macht wie glühendes Pech auf ihrer Haut. Sie zwang sich, ruhiger zu atmen. Sie brauchte ihre Kraft für das Ritual und durfte keinen Kampf riskieren.
Im letzten Moment wich sie der Flammenpeitsche aus, die der Dämon auf sie schleuderte. Er zog die Waffe über das Pflaster, die Steine schmolzen wie Butter in ihrer Glut, doch Mia rannte bereits auf den Eingang zu. Sofort ließen sich die anderen beiden Dämonen auf alle viere fallen und preschten ihr entgegen. Blitzschnell griff sie nach dem Dolch in ihrem Stiefel, fuhr um die eigene Achse und erwischte einen der Angreifer an der Brust. Blut schoss aus der Wunde, als er bewusstlos zusammenbrach. Aber der andere Dämon traf sie mit einem Hieb, und ehe sie ausweichen konnte, schlug er ihr die Faust ins Gesicht.
Schwer atmend landete sie am Boden. Sie rollte sich vor seinem zweiten Schlag beiseite, bevor der Schmerz in ihrem Schädel explodierte, und riss ihm die Beine unter dem Körper weg. Doch da näherte sich der erste Angreifer, er zeichnete mit seiner Peitsche glühende Wirbel in die Luft. Mia ballte die Hände zu Fäusten. Auch der andere Dämon kam näher, sie mussten sie für verrückt halten, dass sie ohne Magie gegen sie kämpfte, und zweifellos war sie das auch. Überdeutlich hörte sie das Zischen der Peitsche. Sie würde ihre gesamte Kraft brauchen, um die Dämonen zurückzuschleudern, sie …
Das Messer raste vom Dach des Gebäudes, glühend durchschlug es die Brust des Peitschendämons, und noch ehe dieser etwas hätte tun können, wurde er mit heftigem Zug zurückgerissen. Seine Waffe wirbelte durch die Luft, sie traf den Dämon, der Mia geschlagen hatte, ins Gesicht. Er kreischte markerschütternd und sackte in sich zusammen. Mia spürte Blut auf ihrem Arm, doch ihr Blick hing an dem anderen Dämon, der in diesen Augenblicken von mehreren Lichtspeeren durchbohrt und mit voller Wucht zu Boden geschleudert wurde. Ein Schatten sprang ihm nach, Mia erkannte die männliche Gestalt, für einen Moment musste sie an Jakob denken, als der Fremde ein glühendes Seil um den Leib des Dämons schlang und ihn mit einem Flammenschlag außer Gefecht setzte. Rasch zog er sein Messer aus dem Leib seines Gegners und eilte auf Mia zu, und erst als er sich die Kapuze seines Umhangs abstreifte, erkannte sie, wer er war.
»Jaro«, sagte sie leise.
Er war aschfahl wie nach langer Krankheit, doch ein Lächeln glomm auf seinen Lippen, und als er ihr die Hand auf den Arm legte, um sie zu heilen, wirkte sein Gesicht sanft, fast friedlich. »Ich komme nicht, um mich zu entschuldigen«, sagte er. »Für manche Dinge gibt es keine Entschuldigung, nicht wahr?«
Der Dämon keuchte hinter ihm, die Fessel um seine Glieder begann zu schmoren. Mia sah es wie durch tausend Schleier.
»Aber warum …«, begann sie, doch Jaro lächelte nur.
»Du hast mich nicht umgebracht, deswegen«, erwiderte er. »Du hast mich am Leben gelassen, obwohl ich den Tod verdient hätte, und du hast mich für einen Moment ohne Hass angesehen, ohne Misstrauen und sogar ohne Zorn. Das wird dir lächerlich vorkommen, aber ich habe das noch nie erlebt. Noch niemals.« Er hielt inne, es war, als müsste er die nächsten Worte mit Gewalt über seine Lippen bringen. »Es hat sich gut angefühlt«, sagte er kaum hörbar. »Besser als meine Wut.« Dann sah er sie eindringlich an. »Ich weiß, was es bedeutet, wenn man jemanden nicht tötet, obwohl man es gern tun würde, und ich habe nie so ausgesehen wie du in solchen Momenten, da bin ich mir sicher.« Ein schwaches Lächeln glitt über seine Lippen. »Ich würde gern mal wissen, wie das ist. Deswegen bin ich hier.«
Der Flammenschlag des Dämons zerriss die Luft und schlug dicht neben ihnen ein. Jaro packte Mias Arm.
»Lauf, Tochter des Sturms!«, rief er und zog ein rostiges Schwert aus seinem Gürtel.
Mia schaute ihn an und für einen Augenblick sah sie nicht mehr den Verräter in ihm, nicht den Fremden, der er in all der Zeit für sie gewesen war. Alles, was sie sah, war Jaro, der Hartid, der Heimatlose, der wie sie war, und als sie in ihre Tasche griff und ihm ein paar Diamanten in die Hand drückte, glitt ein Lächeln über ihre Lippen. Dann rannte sie auf den Eingang zu, und kaum dass sie die Tür hinter sich zuschlug, entfachte sie Samhurs Schutzzauber. Silbernes Licht glitt über den Eingang, verriegelte ihn mit dreifachem Bann und setzte sich über das Gebäude fort. Kurz hörte sie noch die Schreie der Dämonen und Jaro, wie er starke Zauber brüllte. Dann verlor sich jedes Geräusch und sie betrat den Vladislav-Saal.
Ausführlich hatten Grim und Samhur ihr von dem Ritual erzählt und Remis hatte keine Gelegenheit ausgelassen, um alles noch grausiger auszuschmücken. Sie hatten ihr von den rätselhaften Zeichen auf dem Boden berichtet, von dem schweren, metallischen Geruch und den Adern, die als blutiges Netzwerk die Bohlen bedeckten. Sie hatten ihr auch von den Flüsterern erzählt, diesen entstellten Kreaturen, von ihrem gespenstischen Singsang, und Mia war jedes Mal ein Schauer über den Rücken geglitten, wenn sie sich den Bildern hinter den Worten hingegeben hatte. In den Stunden vor der Schlacht hatte sie mehrfach versucht, sich das Bild vor Augen zu rufen, um für diesen Moment gewappnet zu sein, doch nun, da sie sich dem Ritual näherte, begriff sie, dass sie sich auf diesen Anblick nicht hatte vorbereiten können.
Sie betrachtete die dicken Adern auf dem Boden, schwach durchpulst von schwarzem Blut, und als sie die Stimmen der Flüsterer hörte, die wie tausend Flüche die Luft durchzogen, und ihnen in die fratzenhaften Gesichter sah, musste sie all ihre Kraft aufwenden, um nicht zu zittern. Gewaltsam riss sie den Blick los und schaute zu dem Stab hinüber, der sich unter der Maske des Bhaal bereits dunkel verfärbt hatte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Mit angehaltenem Atem trat sie näher. Sie hörte keinerlei Geräusche mehr jenseits des Saals. Nichts als die Stimmen der Flüsterer und das Zischen der Zeichen, die die Luft durchzogen, drang mehr an ihr Ohr. Glühend legten die Zeichen sich auf ihre Haut, glitten darüber hin wie seidene Tücher, aber Mia spürte die Macht, die in ihnen lag, und sie hörte die Grausamkeit in jedem geflüsterten Wort. Entschlossen drängte sie die Furcht zurück, die nach ihren Gliedern greifen wollte, und ließ sich neben einem Flüsterer auf die Knie nieder.
Sie vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Schon der Blick auf seine mit schwarzen Adern überzogenen Hände kostete sie Überwindung. Sie waren teilweise mit dem Netzwerk des Bodens verwachsen, und als sie den Flüsterer berührte und das weiche Fleisch mit den pulsierenden Adern unter ihren Fingern spürte, musste sie sich Samhurs Stimme in Erinnerung rufen, um nicht zurückzuschrecken. Er hatte ihr alles genau erklärt, jede Kleinigkeit, die sie beachten musste, um sich in das Ritual einzubinden, und als sie mit dem Sprechen der Formeln begann, sah sie sein Gesicht vor sich. Sie folgte seinen Anweisungen, unterdrückte den Schrecken, als sie die Adern des Flüsterers unter ihren Fingern platzen fühlte und ein stechender Schmerz ihre Hand durchzog, und sie drängte das Geräusch des schmatzenden Knisterns zurück, als ihr Fleisch aufriss und sich mit dem der Kreatur verband. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Sie zwang sich, nicht auf ihre Hand zu schauen, und fixierte die Maske des Bhaal, als sie die letzten Formeln sprach. Glühend drang ihr Blut in die Adern des Zaubers ein und sie sah aus dem Augenwinkel, wie sie sich rot verfärbten. Sie glitt mit ihm hinein in das Konstrukt, das Verus erschaffen hatte, und löste die Knoten mit den Formeln, die Samhur ihr genannt hatte. Die Flüsterer stöhnten auf – und plötzlich ging ein Grollen durch den Raum, tiefer als jeder Donner.
Mia riss den Blick von der Maske los. Die Lider der Flüsterer begannen heftig zu flattern, die Nähte in ihrem Fleisch zerrissen fast und ihre Haut brach auf. Rohes Fleisch lag darunter, Gewebe, das schon verfaulte, während es noch wuchs, und ein Netzwerk glänzender Blutgefäße zog sich über den Boden und verwandelte die Kreise des Rituals in sehniges, halb zerfetztes Fleisch. Mia flüsterte die Formeln, aber die Stimmen der Flüsterer wurden lauter, sie griffen nach ihren Worten und rissen sie ihr von der Zunge, und da sah sie, wie sich die rote Farbe verwandelte, wie sie gefressen wurde von einem schwarzen Gift, das ihren Zauber zurückdrängte und auf sie zukroch. Sie schrak zusammen, entsetzt stellte sie fest, dass feinste Äderchen an ihr hinaufgewachsen waren, und ehe sie zurückweichen konnte, drangen sie in ihr Fleisch und hielten sie fest. Glühend strömte das schwarze Blut in ihren Körper, sie wollte schreien, aber es war nicht ihre Stimme, die über ihre Lippen kam. Jemand anderes bediente sich ihrer Stimmbänder, jemand anderes raste durch ihre Gedanken, und dann sah sie Verus’ Gestalt aus dem blutigen Aderngeflecht steigen, ein Schemen mit zerfressenem Gesicht, aber lächelnd, als würde er sich an ihrem Schmerz weiden. Er schaute auf sie herab und als sie den Kopf zurückriss und er verschwand, da wusste sie, dass er noch immer da war. Er steckte in jeder Faser dieses Schreckensbildes – er war das Ritual.
Mit kaltem Entsetzen musste Mia zusehen, wie ihre Hände sich langsam in Klauen verwandelten. Ihre Knochen knackten und der Schmerz wurde so übermächtig, dass sie kaum noch Luft bekam. Unsichtbare Klingen fuhren ihr ins Fleisch, und sie hörte die Stimmen der Flüsterer so laut in ihrem Kopf, dass sie meinte, sie müsste von ihnen zerrissen werden. Außer sich riss sie an ihren Händen, doch kaum dass sie sich bewegte, griff die Klaue des Flüsterers neben ihr plötzlich zu. Eisern packte er Mias Arme, knisternd glitten die Sehnen des Zaubers auf ihre Beine zu und schlangen sich darum, bis Mia ihren eigenen Pulsschlag in ihnen fühlte. Lähmend drang das Gift des Rituals in sie ein, vergebens rief sie ihre Magie, und gerade als sie merkte, dass ihre Gedanken ihr entglitten, dass es ihr immer schwerer fiel, die Dunkelheit zurückzudrängen, mit der das schwarze Blut sie tränkte, sah sie ein faustgroßes Tier durch eine der Adern auf sie zuschießen. Es hatte einen blutig glänzenden Leib, Spinnenbeine gruben sich durch die Haut der Ader, und als das Tier hervorplatzte, ein schleimiges Etwas mit acht eitrigen Augen, schwellendem Leib und einem Maul, das es mit gierigem Geifer aufsperrte und unzählige messerscharfe Zähne sehen ließ, da wusste Mia, dass es sie kontrollieren und alles auslöschen wollte, was sie war. Es würde ihr Hirn fressen – es würde sie zu einem Flüsterer machen.
Die Erkenntnis ließ sie schreien, wie von Sinnen zerrte sie an ihren Fesseln. Das Untier richtete sich auf, es schnarrte widerwärtig, während der Schmerz sie fast die Besinnung kostete. Wie in Trance nahm sie die Gestalt wahr, die vor sie sprang, hörte das Schwert, das die Luft zerriss und das Tier noch im Sprung zerfetzte, und spürte dann, wie sich die Sehnen und Adern von ihren Gliedern lösten und der Flüsterer sie freigab. Wie betäubt fiel sie zu Boden. Jemand hob sie auf und hielt ihren Kopf, und sie nahm einen Duft wahr, den Duft von Asche und Mohnblumen. Es war vollkommen still um sie herum, aber noch ehe sie ihn ansah, flüsterte sie in Gedanken seinen Namen.
Lyskian.
Alles war dunkel und sie fühlte eine Leichtigkeit in ihrer Brust, die sie noch nie zuvor gespürt hatte. Sie wollte lächeln, doch Lyskian schaute sie ernst an und sie erkannte einen seltsamen Glanz in seinen Augen. Erst da bemerkte sie, dass ihr Herz nicht mehr schlug.
Der Schreck war seltsam dumpf. Ihr Körper zitterte, doch ehe sie etwas sagen konnte, verwischte Lyskians Bild vor ihr. Sie wollte es festhalten, aber die Kälte zog sie mit sich, und erst jetzt, erst als sie allein war in der Dunkelheit und sie ein Rauschen in der Luft hörte wie von einem düsteren Schwingenschlag, ergriff sie die Angst.
Nein, schoss es ihr durch den Kopf und sie wusste, dass das vielleicht die letzten Gedanken waren, zu denen sie noch fähig war. Sie sah ihre Mutter vor sich, Josi, Jakob, sie sah die Sonne, grünes Gras auf einer regennassen Wiese, den Mond, sie sah Grim, wie er lachte, weinte, schwieg, und sie formte mit letzter Kraft zwei Worte, die sie in die Dunkelheit sandte: noch nicht.
Im nächsten Moment packte sie etwas mit festem Griff. Sie fiel und schwebte zugleich, und sie fühlte etwas auf ihren Lippen, das so samten war und schwer, dass sie nicht widerstand. Eine leise Stimme in ihr rief ihr zu, lieber in die Finsternis zu stürzen als von dieser Nacht zu trinken, doch sie hörte nicht auf sie. Erneut wallten die Bilder der Wesen in ihr auf, die sie liebte, und sie spürte die Schatten lockend über ihre Wangen streichen. Wie oft hatte sie am Abgrund gestanden, wie oft hatte sie sich vornüber in den Sturm gelehnt und sich danach gesehnt, sich abzustoßen und zu springen? Die Dunkelheit war ein wehendes Tuch auf ihrem Gesicht, zu nah war sie ihr, als dass sie noch zurückweichen konnte, und sie breitete die Arme aus und stürzte sich vor, mitten hinein in das, was sie vernichten konnte. Es war, als würde sie Atem holen, und da drang die Dunkelheit in sie ein, zärtlich und gewaltsam zugleich, und sie fühlte Mohnblüten auf ihre Haut fallen und hörte Lyskians Atem durch die Stille. Sie wusste, dass es sein Blut war, das sie trank, und sie sah ihn vor sich, lächelnd in den Gassen von Paris, wartend im Regen vor dem Atelier, den Blick in die Ferne gerichtet und in Gedanken doch bei ihr. Sie wusste, dass sie ihren Weg nicht allein gehen musste, dass sie einen Teil von ihm nehmen und ihm einen Teil von sich geben konnte, es erschien ihr auf einmal so leicht, so selbstverständlich. Als sie die Augen öffnete, lag sie in seinen Armen. Über ihnen spannte sich ein Himmel ohne Sterne und er schaute sie an, ohne jedes Lächeln und doch so sanft, dass sein Gesicht nichts mehr war als reine Schönheit. Sie spürte seine Kälte in ihren Gliedern wie eine zärtliche Berührung. Sie könnten für immer bleiben in diesem Feld aus Mohn und sie wären niemals wieder … allein.
Sie sah ihn an und für einen Moment wollte sie diesem Gedanken folgen, ganz gleich, wohin er sie führen mochte. Doch sie tat es nicht. Denn hier, in diesem Feld aus Mohn, umgeben von samtener Dunkelheit, fühlte sie einen Schmerz und eine Sehnsucht, der keine Vollkommenheit, keine Ewigkeit und kein Tanz am Abgrund jemals Antwort geben konnte. Eine Stimme war es, die sie rief, eine Stimme, die Gebirge zum Bersten bringen konnte, sie sah ein Gesicht vor sich, ein Gesicht mit einer Narbe quer über dem rechten Auge, auf dem ein kindlicher Trotz lag, und ein Name umfing ihre Gedanken, dessen Klang sie überall erreichen konnte, ganz gleich, wie weit sie sich von ihm entfernte. Mochte der Weg, den er ihr bot, von Unzulänglichkeit geprägt sein, mochte er Einsamkeit bedeuten und Unruhe und Verzweiflung. Niemals würde sie sich anders entscheiden als für ihn. Mochte sie das Leben verabscheuen, davor fliehen und es allzu oft nur unter Schmerzen ertragen – sie würde es wählen aus einem einzigen Grund: Weil er dort auf sie wartete.
»Grim«, flüsterte sie.
Der Schmerz kam so plötzlich, dass Mia zusammenfuhr. Es war ihr Herz, das wieder schlug, und sie hörte das Grollen, das in glühender Hitze ihre Brust erfüllte, die Dunkelheit um sie herum zerriss und die Sterne an den Himmel schickte, der über ihr lag, die Sterne – und den Mond. Sie sah die Schatten in Lyskians Augen, doch er hielt sie nicht fest. Er ließ sie gehen, ließ sie fliegen, und er sandte ein Bild in ihre Gedanken, das sie selbst zeigte, zusammengesunken an ihrem Schreibtisch im Atelier. Sie schlief, friedlich wie ein Kind, und Lyskian stand in der Tür und betrachtete sie. Lautlos trat er auf sie zu, sie sah, wie er die Hand ausstreckte, um ihr das Haar aus der Stirn zu streichen, und kurz glaubte sie, seine Finger auf ihrer Haut zu spüren, kühl und zärtlich wie ein Windhauch in düsterer Nacht. Doch er hielt inne, er berührte sie nicht, schaute sie nur an, als wäre sie eines der Gemälde, das unter seinen Händen zerbrechen würde. Das Bild zerfiel, doch als Mia die Augen öffnete und sich im Saal der Burg in Lyskians Armen wiederfand, sah sie noch immer diesen Ausdruck auf seinem Gesicht: Ein samtener Schimmer war es, der um seine Lippen spielte, ein Glanz, der ihn lächeln ließ, und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, fand sie etwas wie Frieden in seinen Augen.
Ein heftiger Knall zerriss die Stille um sie herum. Schwankend kam sie auf die Beine. Die Flüsterer hatten die Köpfe in den Nacken gelegt und schrien so markerschütternd, dass sie sich die Ohren zuhalten musste. Sie sah zur Maske des Bhaal hinüber und stellte fest, dass die Zeit beinahe abgelaufen war. Gleich darauf brach gleißendes Licht in den Raum. Schnell lief sie zum Fenster und erstarrte. Der Himmel glomm in goldenem Licht und unzählige Fratzen drückten sich gegen das Firmament, es waren die Dämonen Braskatons, die sich gegen die dünne Haut der Wirklichkeit drängten.
Mia fuhr herum und lief auf die Maske zu, doch Lyskian hielt sie zurück. »Was hast du vor?« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Du weißt, dass ich das Ritual nicht brechen kann«, sagte sie. »Ich muss die Menschen aufhalten – auf anderem Weg!«
Sie griff nach der Maske, aber er schüttelte den Kopf. »Die Welt der Träume ist nicht für dich geschaffen«, sagte er eindringlich, doch Mia lächelte kaum merklich.
»Diese hier ist es auch nicht«, erwiderte sie leise.
Lyskian sah sie an, die Schatten tanzten in seinem Blick, als er den Arm sinken ließ. Mia beugte sich vor, für einen Moment streiften ihre Lippen seine Wange. Dann setzte sie sich die Maske auf, und noch ehe er etwas erwidern konnte, verschwand sie in der Welt der Träume.
Atemlos kam Grim auf dem Dach des Veitsdoms auf die Beine. Der Schatten des Drachen fiel auf sein Gesicht, das Grollen der Schlacht brach wie ein Gewitter zu ihm herauf. Die Ghrogonier hatten zahlreiche Menschen von den Dämonen befreit und vor dem Burgareal unter Schutzkuppeln in Sicherheit gebracht, doch die Kinder des Zorns schlugen mit aller Kraft zurück und verwandelten den Kampf in einen Tanz aus wogenden Schatten. Grim hörte, dass Verus weit unten auf den gebrochenen Bodenplatten den Bannzauber von seinem Körper riss, doch er wandte sich nicht zu ihm um. Regungslos starrte er in den goldenen Himmel, der sich flackernd über der Stadt spannte. Er schien nicht mehr zu sein als eine dünne Haut, überdeutlich zeichneten sich die Leiber der Dämonen in seinem Glanz ab, die sich mit weit aufgerissenen Mäulern dagegenpressten, als könnten sie die Grenze zwischen den Welten auf diese Weise zerreißen.
»Ihr seid Narren«, sagte Verus, als er hinter Grim landete. »Habt ihr wirklich geglaubt, das Ritual brechen zu können? Wisst ihr denn nicht, dass es nicht von mir verschieden ist?«
Grim wandte sich ihm zu. Ein spöttisches Lächeln spielte um die Lippen des Dämons, er streckte die Hand aus und ließ sie spielerisch durch eine Zinne zu seiner Linken gleiten. Sie verwandelte sich zu einem Teil des Doms, als würde Verus sie durch Wasser führen, nur um gleich darauf wieder zu der Hand des Dämons zu werden.