Kahler Krempling
Der Verkahlende oder kurz der Kahle Krempling (Paxillus) ist eine Pilzart aus der Familie der Kremplingsverwandten (Paxillaceae). Die Fruchtkörper haben einen braunen Hut mit einem zunächst stark eingerollten, filzigen, aber bald schon glatten Rand... Roh verzehrt wirkt der Pilz stark magen-darm-giftig und kann selbst gegart nach wiederholtem Genuss das Paxillus Syndrom auslösen. In beiden Fällen kann ein schwerer Verlauf zum Tod des Konsumenten führen.
Bedeutung und Toxizität
Der Kahle Krempling ist giftig, wurde früher allerdings als essbar angesehen. Der Genuss von rohen Kremplingen kann zu einer schweren, teils tödlichen Gastroenteritis führen. Durch das ausgiebige Erhitzen werden zwar im rohen Pilz enthaltene Gifte (u.a. Hämolysine und Hämagglutinine) zerstört, eine aber mindestens ebenso große Gefahr geht von einem im Pilz enthaltenen Allergen aus, das im Blut zu einer Antikörperbildung führt und das Paxillus-Syndrom auslösen kann. Hierbei vereinigen sich die Antigene des Pilzes mit den Antikörpern zu einem Antigene-Antikörper-Komplex, der sich auf den roten Blutkörperchen auflagert und diese auflöst, was im schlimmsten Fall zum Tode führen kann. Dieses Syndrom tritt zumeist erst nach mehrmaligem Verzehr dieser Pilzart auf, manchmal erst nach Jahren, weswegen der Pilz früher für essbar gehalten wurde.
Es ist ein sonniger Spätsommertag Mitte September. Die Sonne steht tief am Himmel und scheint durch das üppige Blattwerk der Bäume hindurch auf Lottas Gesicht. Sie muss die Augen zusammenkneifen, damit sie nicht geblendet wird. Sie hat eine Sonnenbrille dabei, aber die will sie nicht aufsetzten, denn diese verdunkelt nur die Umgebung. Eigentlich haben der Vater und sie schon genügend Pilze für ein Abendessen zusammen. Der Korb ist voll mit den schönsten Röhrlingen, doch noch viel schöner sind die gemeinsamen Ausflüge mit ihrem Vater durch den Wald. Hier gibt es so viel zu beobachten und zu entdecken, eine kleine Welt für sich.
„Lotta, komm mal her. Hier lernst du einen neuen Pilz kennen, vor dem du dich in Acht nehmen solltest. Paxillus involutus, im Volksmund auch Kahler Krempling genannt.“
„Ist der giftig?“
„Ja. Aber du stirbst nicht sofort, wie bei den anderen Giftpilzen.“
Lotta ist immer wieder fasziniert, was der Vater so alles weiß und will möglichst viel von ihm lernen. Schließlich wohnen sie am Rand des Waldes in einem kleinen alten Bauernhaus. Das nahe gelegene Unterholz ist ihr täglicher Spiel-und Beobachtungsplatz.
„Wer hier lebt, Lotta, der sollte sich in seiner Umgebung auch auskennen. Alle Technik der Welt kann einen guten Instinkt und das angeeignete Wissen nicht ersetzen.“
Aus diesem Grunde darf Lotta nie ihr Handy mitnehmen, wenn sie zusammen mit dem Vater durch den Wald streift.
Sie kommen zu einer kleinen Lichtung, die mit leuchtenden Herbstblumen übersät ist. Es ist heiß, die schweißnassen Haare kleben Lotta auf der Stirn. Als sie diese beiseite schieben will, erwischt sie eine friedliche Biene, die sich bedroht fühlt und sogleich zusticht. Der Stich ist schmerzhaft und Lotta schlägt wie von Sinnen nach der Biene, die ihren Stachel offenbar beim Stechen nicht verloren hat. Lotta ist so fruchtbar wütend, dass die Biene jetzt nicht ihre gerechte Strafe bekommt und stirbt, aber der Vater erklärt ihr die Welt auf seine Weise.
„Die Biene hat nichts Böses getan, sie fühlte sich von dir bedroht und hat sich nur verteidigt.“
„Aber sie hat mich gestochen!“
„Jeder verdient eine zweite Chance im Leben, auch eine Biene! Sei demnächst etwas aufmerksamer, wenn du auf bunten Blumenwiesen stehst. Komm jetzt, es ist Zeit für den Heimweg und zu Hause legen wir gleich einen Kühlbeutel auf den Stich.“
Lotta steht in der Küche und formt Mettbällchen, die sie in der Pfanne ausbrät. Sie ist mächtig in Vorbereitungen für ihre Party verstrickt. Am Ende hat sie sich gegen ihre Mutter und ihre Schwester Carina durchgesetzt.
„Wir haben seit Vaters Tod keine Feste mehr gefeiert. Es ist ja nicht nur mein 16. Geburtstag, sondern auch mein Schulabschluss, den ich feiern möchte. Kannst du dich nicht für mich freuen, Mutter?“
Aber die Mutter von Lotta und Rina kann sich schon lange nicht mehr freuen. Die Tage ziehen so an ihr vorbei, ohne dass sie davon viel mitbekommt. Der Tod ihres Mannes hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Ein dummer Unfall, er ist einfach vom Gerüst gestürzt. Einfach abgerutscht und auf der Stelle tot. Die Mädchen waren damals zwölf und dreizehn. Ein schlimmes Alter für eine alleinerziehende Mutter, die plötzlich berufstätig werden muss, um die Familie durchzufüttern. Es lief nicht sonderlich gut. Alle waren sie überfordert mit der neuen Situation. Die Mutter begann immer öfter ihren Kummer mit Alkohol zu kompensieren, zunächst nur an den Wochenenden, später auch während der Woche. Sie verlor einen Job nach dem anderen, bis sie schließlich nur von der staatlichen Hilfe und dem Kindergeld leben mussten. Lotta und Rina wurden zunehmend schlechter in der Schule. Rina wiederholte eine Klasse nach der anderen, sie wechselte die Schule, aber auch das half nicht viel. Lotta erkannte in Rina das Ebenbild ihrer Mutter. Sie hatte die goldblonden voluminösen Haare der Mutter geerbt, auf die Lotta mit ihren dünnen dunkelbraunen Spaghettisträhnen stets neidisch war. Jeder Junge drehte sich nach ihrer Schwester um, an Lotta gingen die Jungs achtlos vorbei. Das war nur eine von vielen Ungerechtigkeiten, die sich in Lottas Leben anhäuften.
Es ging langsam aber stetig bergab. Lottas Schwester wird mit ihren 17 Jahren zum zweiten Mal die neunte Klasse der Hauptschule machen und hofft im kommenden Jahr auf einen Schulabschluss. Die Mutter verkriecht sich fast ganztägig im Schlafzimmer und schläft ihren Rausch aus. Gegen Ende des Monats, wenn das Geld knapp wird, erlebt sie die ein oder andere nüchterne Phase, in der sie sich als Haustyrann aufspielt und sich über den erbärmlichen Zustand des Hauses aufregt, den zu neunzig Prozent sie selbst unwissend verzapft hat. Lotta hasst ihre Mutter regelrecht für diesen Sumpf und Abgrund, in den sie sich selbst fallen lässt und damit unbewusst auch sie und Rina mitzieht. Wie oft hat sie versucht, ihre Mutter aus dieser Misere herauszuholen. Sie, Lotta, war es, die sich über Entziehungsprogramme erkundigt hat. Sie, Lotta, war es, die für die Mutter einen Platz in der Klinik organisiert hat. Sie, Lotta, war es, die ihrer Mutter wirklich helfend beistehen wollte, aber die Mutter lies Lotta nicht und machte all ihre Bemühungen zunichte, indem sie nach gelungenem Entzug nicht einmal einen Monat trocken bleiben konnte! Sie hört die Worte des Vaters im Hinterkopf:
Jeder verdient eine zweite Chance im Leben.