Als Karla in ihrem Schlafzimmer erwacht, scheint die Sonne durch das hohe Fenster der Altbauwohnung. Es ist ein schönes Gefühl, jeden Morgen in einer geräumigen Wohnung aufzuwachen und keine Existenzängste zu haben. Der Erbstreit mit Irene Gratow-Boe verlief zu ihren Gunsten. Sie, Karla, ist als Mathilde von Kremplings Adoptivtochter, die Alleinerbin. Daran besteht rechtlich kein Zweifel mehr. Leon und Britta als angehende Juristen, haben Karla im Prozess sehr unterstützt, moralisch und durch ihr Fachwissen. Sie ist den beiden nicht nur dankbar, sondern hat entdeckt, wie wertvoll es ist, echte Freunde zu haben. Auch Britta, die sie anfänglich als Rivalin eingestuft hatte, entpuppte sich als aufgeschlossene und helfende Hand in der ganzen Angelegenheit. Karla ist froh, so nette Freunde zu haben, die zudem direkt nebenan wohnen.
Nachdem Karla Mathildes Wohnung übernommen und neu eingerichtet hat, ist Britta zu Leon gezogen. Die anfängliche Skepsis ist längst aus Karlas Leben gewichen. Die beiden passen wirklich gut zueinander und ergänzen sich prima. Das Leben einer Anwaltsgattin wäre sowieso nichts für Karla gewesen. Das muss sie sich eingestehen. Allein schon wegen ihrer kriminellen Machenschaften, die bisher zum Glück unentdeckt geblieben sind. Sie hat in der letzten Zeit zwar nicht mehr zugeschlagen und auch damals Irene Gratow-Boe verschont, aber das heißt nicht, das Karlas Leben ab sofort friedlich weiterlaufen wird. Karla ist da sehr aufgeschlossen, was ihre Zukunft anbelangt. Solange ihr keiner in die Quere kommt oder ihr das Leben zum Verhängnis werden lässt, besteht kein Grund einzuschreiten. Aber wenn sich das einmal ändern sollte, und das kann manchmal ganz schnell gehen, dann wird sie erneut zuschlagen, um ihr Leben in die rechten Bahnen zurückzuführen.
Früher träumte sie davon reich zu heiraten und dachte allen Ernstes daran, einen älteren Witwer zu finden, den sie beerben würde. Der Zufall wollte es anders und so lernte sie Mathilde kennen, die alte Dame in der Nachbarwohnung, die ihren Fernseher so laut drehte, dass Karla sich nicht mehr auf den Inhalt ihre Bücher konzentrieren konnte. Karla hatte sich bewusst für ein Studium der Literaturwissenschaften eingeschrieben, weil sie dachte, damit mehr Allgemeinwissen und Potential für Unterhaltungen mit der älteren Witwergeneration zu sammeln. Aber das braucht sie jetzt nicht mehr. Mathilde war sehr vermögend und Karla war ihr in kürzester Zeit sehr ans Herz gewachsen, so kam es zu einer Adoption. Leider verstarb Mathilde kurz darauf. Es passierte alles ganz unerwartet und Karla war schrecklich traurig, einen Menschen, den sie zu lieben gelernt hat, hergeben zu müssen. So lies sie es sich nicht nehmen, vier Personen, die ihrer Adoptivmutter im Verlauf ihres Lebens übel mitgespielt hatten, zu rächen. Karla hatte dafür ein einzigartig gutes Gift entdeckt, das erst bei wiederholtem Genuss tödlich wirkt. Auf diese Art und Weise hat sie sich bereits vor ihrer Volljährigkeit ihrer Mutter und Schwester entledigt, die nach dem Tod von Karlas Vater, aus Karlas Sicht, das Leben nicht mehr auf die Reihe bekommen hatten. Manchmal staunt sie selbst darüber, dass es alles so einfach war und ihr noch keiner auf die Schliche gekommen ist. Dabei führt sie mittlerweile ihre gefährliche Geheimwaffe verborgen mit im Namenszug: Karla (von) Krempling. Also bei wem es da nicht klingelt, der hat wirklich keine Ahnung von Pilzen. Aber wer geht heutzutage noch zum Pilze suchen in den Wald? Die Leute in den Städten gehen essen oder kaufen ihre Tiefkühlfertigmenues. Wer aus Karlas Generation kann heute noch einen echten Pfifferling von einem Semmelstoppelpilz unterscheiden? Karla standen die Haare zu Berge, als sie einst im Feinkostsupermarkt einen Korb mit Semmelstoppelpilzen entdeckte, der für Pfifferlinge, mit dem entsprechend dazugehörigen hohen Preis, verkauft wurde. Die Leute haben es nicht gemerkt!
Irene Gratow-Boe hat sie von ihrer Racheliste vorerst verbannt. Zunächst hatte Karla sie nur zurückgestellt. Sie hatte Mathilde nicht wirklich etwas getan, bis auf ihre Geldgier und der damit verbundenen Anfechtung des Erbes. Das hat sich glücklicher Weise geklärt. Damit hat Karla ihren Frieden und Irene wird sich bis ans Ende ihrer Tage weiter ärgern müssen. Irene gehört zur direkten Verwandtschaft von Mathilde. Sie ist die Nichte von Mathildes Mutter Roswitha, die aus erster Ehe einen Sohn namens Hubertus Gratow hatte, Mathildes Halbbruder. Dieser Familienzweig war weder adelig noch vermögend. Das Geld stammt allein von Mathildes Vaters.
Nachdem Karla ihre morgendlichen Gedanken beiseite geschoben hat, erhebt sie sich aus dem Bett und verschwindet unter der Dusche. Heute muss sie besonders fit sein, denn sie hält ein Referat über ein Gedicht von Erich Kästner mit dem Titel „Sogenannte Klassefrauen“. Anfänglich war ihr nicht ganz bewußt, ob sie so etwas wie Literatur überhaupt gut finden würde. Sie hätte liebe etwas spannendes wie Medizin oder Biologie studiert. Sie sieht es gelassen. Das kann sie alles noch, wenn sie es will. Sie hat keine Eile und genug Geld, um bis ans Lebensende zu studieren. Sie neigt nicht dazu, übermäßig viel auszugeben. Sie braucht wenig, um glücklich zu sein. Sie wartet auf den richtigen Mann. Leon zum Beispiel, wäre es nicht gewesen, das stellt sie erleichtert fest. Und sie muss nicht mehr nach alten Witwern Ausschau halten. Ist das nicht toll? Sie hat ausgesorgt und wartet nur darauf, dass ihr der Richtige über den Weg läuft. Vielleicht ist das schon heute. Der Lyrikkurs, den sie gerade belegt, bringt ein paar neue Gesichter mit ins Spiel, einige der jungen Männer sehen sehr attraktiv aus. Karla ist ein wenig nervös wegen ihres Referats, aber andererseits sagt sie sich, dass für sie alles egal ist. Einfach ruhig und unbesorgt hineingehen und das Referat halten. Sie hat doch nichts zu verlieren, sie kann den Kurs wiederholen, wenn sie ihn nicht besteht. Sie, Karla, wird von Niemandem und Nichts unter Druck gesetzt. Ach, sie hat es eigentlich richtig gut.
Das Referat läuft prima. Sie bekommt eine Menge positive Kritik und ihr Dozent gibt sich ebenfalls sehr zufrieden. Einer der Studenten, den Karla noch nicht kennt, hat sich lebhaft an einer anschließenden Diskussion beteiligt und immer wieder versucht, mit ihr Blickkontakt herzustellen. Er scheint mich irgendwie zu mögen, geht es ihr durch den Kopf. Der junge Mann ist sehr groß, durchaus attraktiv und kann sich gut ausdrücken. Karla ist nicht abgeneigt, ihn näher kennen zu lernen. Während sie noch überlegt, was sie machen könnte, ergreift der junge Mann seinerseits die Initiative und verwickelt Karla geschickt in ein Gespräch, welches über das eigentliche Thema Erich Kästners hinausgeht...
Am Abend sitzen die beiden gemeinsam zum Abendessen in einer Pizzeria und verbringen angenehme Stunden miteinander. Es endet mit einer Folgeverabredung für den nächsten Tag.