Titelangaben



Gottfried Keller


Spiegel, das Kätzchen















 

Gottfried Keller


Gottfried Keller wurde am 19. Juli 1819 in Zürich geboren. Zunächst begann er eine Lehre als Landschaftsmaler, dann studierte er Geschichte und Staatswissenschaften, schließlich ging er nach Berlin, wo er anfing, Romane und Novellen zu schreiben.


Nach seiner Rückkehr in die Schweiz wurde er 1861 zum Ersten Staatsschreiber des Kantons Zürich berufen. 1876 legte er sein Amt nieder und widmete sich wieder ausschließlich der Schriftstellerei.


Zu Kellers bekanntesten Werken gehören die Novelle „Kleider machen Leute“, der autobiografisch gefärbte Roman „Der grüne Heinrich“ und die Erzählung „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Bereits zu Lebzeiten galt er als einer der bedeutendsten Vertreter des bürgerlichen Realismus.


Gottfried Keller starb am 15. Juli 1890 in Zürich.







„... seine frische Schönheit und Jugend ...“


Dies alles sowie seine frische Schönheit und Jugend bezwungen das Herz des Fräuleins dermaßen, dass sie kaum an sich halten konnte und ihm mit großer Freundlichkeit begegnete. Sie wurde wieder heiter, und wenn sie dazwischen auch traurig war, so geschah dies in dem Wechsel der Liebesfurcht und Hoffnung, welche immerhin ein edleres und angenehmeres Gefühl war als jene peinliche Verlegenheit in der Wahl, welche sie früher unter den vielen Freiern empfunden ...“






Was Sie über diese Geschichte wissen sollten


In der Novelle „Spiegel, das Kätzchen“, von Gottfried Keller selbst als „Ein Märchen“ untertitelt, muss ein armer Kater gegen einen eigentlich übermächtigen Gegenspieler bestehen, den gierigen Zauberer Pineiß. Dieser lässt ihn als Gegenleistung für eine mehr als üppige Beköstigung einen Vertrag unterzeichnen, dem zufolge der Kater dem Hexenmeister seinen „Schmer“, also sein Fett, das er sich in Gefangenschaft anfuttern soll, abtreten muss.


Der Zauberer benötigt das Fett für seine Hexerei, der Preis für den Kater Spiegel ist also sein Leben. Doch Spiegel erweist sich, anders als es der Titel der Geschichte suggeriert, als alles andere als ein niedliches Kätzchen. Vielmehr ist er ein gerissene Schlitzohr, ein Lebenskünstler und begnadeter Schwätzer, und so gelingt es ihm schließlich, den Hexenmeister zu überlisten.


Formal ist „Spiegel, das Kätzchen“ irgendwo zwischen Novelle, Kunstmärchen und Fabel angesiedelt. Ungeachtet solcher akademischen Spitzfindigkeiten handelt es sich auf jeden Fall um eine höchst amüsante und unterhaltsame Geschichte, sicherlich eine der schönsten Katzenerzählungen überhaupt. Und längst nicht nur das.


„Spiegel, das Kätzchen“ enthält nämlich auch deutlich erkennbare autobiografische Elemente. Keller schrieb die Erzählung seinerzeit in einer ganz ähnlichen Situation, in der sich die Hauptperson seiner Geschichte befindet: Der seinerzeit recht mittellose Autor hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts vertraglich verpflichtet, etwas zu liefern, das er zunächst gar nicht besaß, nämlich seinen Roman „Der Grüne Heinrich“ an seinen Verleger Eduard Vieweg.


Als Gegenleistung erhielt Keller Honorarvorschüsse, ganz wie der herrenlos gewordene Kater Spiegel sein Futter, mit dem er gemästet werden sollte. Ebenso wie Spiegel, der sich in Kellers Erzählung weigert Fett anzusetzen (und so sein Ende hinauszögern kann), konnte Keller jedoch lange Zeit nicht liefern. Erst nach fünf Jahren schaffte er es, seinen versprochenen Roman, insgesamt rund 1700 Seiten stark, fertigzustellen.


Dass der Kater den etwas seltsam anmutenden Namen „Spiegel“ trägt, ist aus einem weiteren Grund kein Zufall: Spiegels Freund, mit dessen Hilfe es ihm schließlich gelingt, den bösen Zauberer zu überlisten, ist eine Eule, zusammen ergibt das einen „Eulenspiegel“ – ein Verweis also auf den gleichnamigen Schalk Till, eine legendäre Gestalt des 14. Jahrhunderts, die, ihren Mitmenschen an Intelligenz und Witz überlegen, allerhand Streiche ausheckte, die in den meisten Fällen darauf basierten, bildliche Redewendung allzu wörtlich auszulegen.


In „Spiegel, das Kätzchen“ treten der Kater und der Zauberer Pineiß stellvertretend für Keller und seinen Verleger Eduard Vieweg auf, Keller hält diesem also praktisch „den Spiegel“ vor und zahlt es ihm damit heim, wie schlecht und herablassend er sich zeitweise von ihm behandelt fühlte. Vieweg verstand Kellers Anspielungen, soweit überliefert, nicht, was für den Schweizer Dichter eine zusätzliche Befriedigung gewesen sein dürfte.


Mit „Spiegel, das Kätzchen“ ist Gottfried Keller ein Meisterwerk gelungen, an dem nicht nur Literaturkenner und Liebhaber der Satire große Freude haben. Auch wer etwa die von Akif Pirinçci ersonnenen Geschichten um den Katzendetektiv „Francis“ mag, wird sich mit dem cleveren und tiefsinnigen „Spiegel“ schnell anfreunden.


Damit dies ohne Mühen und Ärgernisse gelingt, wurde, wie bei allen Werken der ofd edition, die ursprüngliche Druckfassung nicht automatisiert kopiert, sondern sorgfältig neu editiert und der aktuellen Rechtschreibung angepasst – die bessere Lesbarkeit trägt wesentlich zu einem ungetrübten Lesegenuss bei.






Spiegel, das Kätzchen


Wenn ein Seldwyler einen schlechten Handel gemacht hat oder angeführt worden ist, so sagt man zu Seldwyla: Er hat der Katze den Schmer abgekauft! Dies Sprichwort ist zwar auch anderwärts gebräuchlich, aber nirgends hört man es so oft wie dort, was vielleicht daher rühren mag, dass es in dieser Stadt eine alte Sage über den Ursprung und die Bedeutung dieses Sprichwortes gibt.


Vor mehreren hundert Jahren, heißt es, wohnte zu Seldwyla eine ältliche Person allein mit einem schönen, grau und schwarzen Kätzchen, welches in aller Vergnügtheit und Klugheit mit ihr lebte und niemandem, der es ruhig ließ, etwas zuleide tat. Seine einzige Leidenschaft war die Jagd, welche es jedoch mit Vernunft und Mäßigung befriedigte, ohne sich durch den Umstand, dass diese Leidenschaft zugleich einen nützlichen Zweck erfüllte und seiner Herrin wohlgefiel, beschönigen zu wollen und allzu sehr zur Grausamkeit hinreißen zu lassen. Es fing und tötete daher nur die zudringlichsten und frechsten Mäuse, welche sich in einem gewissen Umkreise des Hauses betreten ließen, aber diese dann mit zuverlässiger Geschicklichkeit; nur selten verfolgte es eine besonders pfiffige Maus, welche seinen Zorn gereizt hatte, über diesen Umkreis hinaus und erbat sich in diesem Falle mit vieler Höflichkeit von den Herren Nachbaren die Erlaubnis, in ihren Häusern ein wenig mausen zu dürfen, was ihm gerne gewährt wurde, da es die Milchtöpfe stehen ließ, nicht an die Schinken hinaufsprang, welche etwa an den Wänden hingen, sondern seinem Geschäfte still und aufmerksam oblag und, nachdem es dieses verrichtet, sich mit dem Mäuslein im Maule anständig entfernte.


Auch war das Kätzchen gar nicht scheu und unartig, sondern zutraulich gegen jedermann und floh nicht vor vernünftigen Leuten. Vielmehr ließ es sich von solchen einen guten Spaß gefallen und selbst ein bisschen an den Ohren zupfen, ohne zu kratzen, dagegen ließ es sich von einer Art dummer Menschen, von welchen es behauptete, dass die Dummheit aus einem unreifen und nichtsnutzigen Herzen käme, nicht das Mindeste gefallen und ging ihnen entweder aus dem Wege oder versetzte ihnen einen ausreichenden Hieb über die Hand, wenn sie es mit einer Plumpheit belästigten.


Spiegel, so war der Name des Kätzchens wegen seines glatten und glänzenden Pelzes, lebte so seine Tage heiter, zierlich und beschaulich dahin, in anständiger Wohlhabenheit und ohne Überhebung. Er saß nicht zu oft auf der Schulter seiner freundlichen Gebieterin, um ihr die Bissen von der Gabel wegzufangen, sondern nur, wenn er merkte, dass ihr dieser Spaß angenehm war. Auch lag und schlief er den Tag über selten auf seinem warmen Kissen hinter dem Ofen, sondern hielt sich munter und liebte es eher, auf einem schmalen Treppengeländer oder in der Dachrinne zu liegen und sich philosophischen Betrachtungen und der Beobachtung der Welt zu überlassen.


Nur jeden Frühling und Herbst einmal wurde dies ruhige Leben eine Woche lang unterbrochen, wenn die Veilchen blühten oder die milde Wärme des Altweibersommers die Veilchenzeit nachäffte. Alsdann ging Spiegel seine eigenen Wege, streifte in verliebter Begeisterung über die fernsten Dächer und sang die allerschönsten Lieder. Als ein rechter Don Juan bestand er bei Tag und Nacht die bedenklichsten Abenteuer, und wenn er sich zur Seltenheit einmal im Hause sehen ließ, so erschien er mit einem so verwegenen, burschikosen, ja liederlichen und zerzausten Aussehen, dass die stille Person, seine Gebieterin, fast unwillig ausrief. „Aber Spiegel! Schämst Du Dich denn nicht, ein solches Leben zu führen?“ Wer sich aber nicht schämte, war Spiegel; als ein Mann von Grundsätzen, der wohl wusste, was er sich zur wohltätigen Abwechslung erlauben durfte, beschäftigte er sich ganz ruhig damit, die Glätte seines Pelzes und die unschuldige Munterkeit seines Aussehens wiederherzustellen, und er fuhr sich so unbefangen mit dem feuchten Pfötchen über die Nase, als ob gar nichts geschehen wäre.