Magda Trott
 
HENRIETTE
FROMM
 
Die ungetraute Gattin
Louis Ferdinands

 

1

»Ein flotter Ritt, Alter, in wenigen Minuten sind wir am Schloß!«

Der Jäger, der ebenfalls sein Pferd parierte, wischte sich verstohlen die Schweißtropfen von der Stirn.

»Freilich, Königliche Hoheit, ein flotter Ritt, den Königliche Hoheit schon oft machten.«

Prinz Louis Ferdinand ließ die Zügel des Pferdes fallen, breitete die Arme aus, schaute zum tiefblauen Himmel hinauf und rief dann lachend seinem Begleiter zu:

»Wieder einmal frei gewesen, ach, Ordorf, wie schön ist doch das Leben!«

»Königliche Hoheit wissen dem Leben immer die schönsten Seiten abzugewinnen.«

»Soll ich nicht? – Darf ich nicht? – Ach, Ordorf«, ein Lachen klang von den frischen Lippen, »ich darf natürlich nicht, mein Vater ist garnicht mit mir zufrieden, aber ich kann nicht daheim im engen Zimmer sitzen. Mein heißes Blut treibt mich hinaus. Ordorf, ich wollte, ich könnte wieder, wie damals am Rhein, gegen den Feind anstürmen.«

»Wir leben im Frieden, Königliche Hoheit. Königliche Hoheit sollten sich wieder mehr der Musik widmen.«

»Schon recht, mein guter Alter, freilich, meinen Mozart, meinen Beethoven darf ich nicht vergessen, aber dann prickelt das Blut wieder in den Adern. Ach, Ordorf, die Welt ist ja so schön!«

»Wollen Königliche Hoheit nicht im Charlottenburger Schloß ein wenig Rast machen? Wir sind doch heute schon einige Stunden im Sattel?«

»Nein, mein guter Alter, ich will nach Berlin.« Die blauen Augen des Prinzen strahlten den Begleiter an. »Man erwartet mich!«

Der alte Jäger nickte vor sich hin. Er wußte von seinem geliebten Herrn weit mehr als dessen königlicher Vetter. Wohl war es bekannt, daß der Prinz, dem die Herzen der Männer und Frauen zuflogen, schon viele Frauen im Arme gehalten und geküßt hatte, aber nur die Wenigsten wußten davon, daß er sich heimlich in einige Häuser stahl, um dort zärtliche Plauderstunden zu verbringen.

Ordorf, sein alter Leibdiener, mußte die Abwesenheit seines jungen Herrn häufig mit einer unwahren Ausrede entschuldigen, aber er hätte sich für seinen vergötterten Herrn lieber totschlagen lassen, ehe er etwas verriet, obwohl er häufig eine bange Sorge nicht unterdrücken konnte.

Das Charlottenburger Schloß kam in Sicht. Der Prinz ließ seinen Schimmel langsamer traben und grüßte mit der Hand übermütig nach dem schönen, langgestreckten Bau hinüber.

»Weißt Du es noch, Ordorf? Das letzte Fest drüben im Schloß? Ach – so schöne Frauen! Die kleine Hardenberg, die feurige Schack und die vielen anderen.«

Ein paar Frauen kamen den beiden Reitern entgegen; die stumpfen Gesichter leuchteten auf, als sie den geliebten Prinzen erkannten. Hände streckten sich ihm entgegen und lachend beugte sich der Prinz aus dem Sattel, fröhliche Scherzworte auf den Lippen, dann ritt er grüßend weiter.

»Es ist wohl keiner da, der Königliche Hoheit nicht von ganzem Herzen liebt«, sagte Ordorf.

»Liebe ich sie nicht auch?« lachte der Prinz. »Alle, alle!«

Von nun ab gab es ein ständiges Grüßen und Winken. Auf der Charlottenburger Allee traf man an diesem prächtigen Oktobertage reichlich viele Spaziergänger. Mancher wohlhabende Berliner weilte mit seiner Familie noch jetzt hier zur Sommerfrische, denn selten hatte man einen so köstlichen Herbst zu verzeichnen wie in diesem Jahre. Die großen Gärten mit dem alten Baumbestand, die zu den stattlichen Besitzungen gehörten, waren ebenfalls von Männern und Frauen bevölkert, die sich mit Ballspielen oder Krocket vergnügten. Aber überall unterbrach man das Spiel in dem Augenblick, in dem man den Reiter erkannte. Man eilte an die Gartenzäune, warf dem Prinzen Blumen zu, die er lachend auffing und am Sattel seines Pferdes befestigte.

»Frühlingsblumen im Herbst«, rief er einer Schar junger Mädchen zu, die ihm leidenschaftlich zujubelten.

»Hoch unser Prinz Louis Ferdinand!« klang es begeistert zurück.

Jetzt wandte sich der Prinz lächelnd seinem Begleiter zu. »Wollen wir absitzen, Ordorf?«

»Königliche Hoheit wollten heute noch nach Berlin.«

»Nach Berlin – Ordorf, wir brauchen dazu kaum eine Stunde!«

»Königliche Hoheit meinten, Königliche Hoheit würden erwartet.«

Ein verträumter Zug glitt über das schöne Antlitz.

»Hast recht, mein guter Alter. Sie wartet schon so lange auf mich. Reiten wir weiter.«

Er winkte der Schar junger Mädchen zu, von seinen Lippen klang ein heiteres:

»Auf Wiedersehen!«

Um den Weg abzukürzen, bogen die beiden Reiter in eine Seitenstraße ein. Der schmale Weg war mit alten Bäumen bestellt, die sich oben fast zu einem Dache zusammenwölbten.

»Wie angenehm«, sagte der Prinz, »die Sonne meint es heute reichlich gut. Ein herrlicher Weg, welch schöne Gärten rechts und links.«

Er zog den Zügel seines Tieres ein wenig an und in langsamem Schritt ging das edle Tier auf dem weichen Boden dahin.

»Ordorf!«

Mit ausgestreckter Hand wies der Prinz auf einen Rasenplatz, der von Weidengebüsch umstellt war. Mitten auf diesem Platz lag ein junges Mädchen in weißem Gewande.

Die Pferde wurden angehalten.

»Ist das nicht wunderbar schön«, sagte der Prinz, indem er wie gebannt auf die holde Schläferin schaute.

Es war in der Tat ein reizendes Bild, das sich hier den Beschauern bot. Der eine Arm des jungen Mädchens war erhoben, der Ärmel des Kleides weit zurückgefallen, in dem schönen Blondhaar spielten die Sonnenstrahlen und woben einen goldigen Schein um das zarte Antlitz.

»Wem gehört der Garten, Ordorf?«

»Ich bedaure unendlich, Königliche Hoheit keine Auskunft geben zu können.«

»Wer mag die entzückende Schläferin sein?« murmelte der Prinz halblaut vor sich hin. »Ordorf, guter Alter, suche zu erkunden, wer das süße Fräulein ist.«

Der Leibdiener warf einen vorwurfsvollen Blick auf seinen Herrn.

»Königliche Hoheit werden in Berlin erwartet.«

»Abgesessen, Ordorf!«

Da war der Leibdiener des Prinzen schon aus dem Sattel, band sein Pferd an den Zaun des Gartens und suchte den Eingang.

Prinz Louis Ferdinand betrachtete noch immer die schöne Schläferin. Sie rührte sich nicht. Ein übermütiges Lächeln umspielte seine Lippen; im nächsten Augenblick war auch er aus dem Sattel, näherte sich dem Zaun und sprang in knabenhafter Gewandtheit über das Staket hinweg, um mit leisen Schritten zur Wiese hinüber zu eilen.

Dort drüben prangte ein Rosenbusch. Die roten Blüten leuchteten ihm lockend entgegen.

»Rosen sollst Du haben, süße Schläferin«, murmelte er, ging zum Strauch, wählte die prächtigsten Knospen aus, brach sie ab und näherte sich damit dem jungen Mädchen.

Er schaute sie an. Die roten Lippen waren ein wenig geöffnet, die Schläferin schien zu lächeln. Der Prinz nahm die Rosen, legte eine auf die Brust, die anderen gab er ihr in die Hand. Aber obwohl die Berührung leise und zart war, wurde sie von der Schläferin bemerkt, sie schlug die Augen auf und der Prinz sah in ein paar große, blaue Sterne.

Im ersten Augenblick war er wie gebannt. Das junge Mädchen schien kaum zu wissen, ob es wache oder träume. Erst als Louis Ferdinand eine Bewegung machte, strich es sich mit der Hand über die Stirn und bemerkte die Rosen.

»Wie bist Du schön!« flüsterte der Prinz, noch immer in Anschauung versunken.

Die Angeredete erhob sich rasch, zartes Rot stieg in das liebliche Gesicht.

»Verzeihung, mein Fräulein, aber ich konnte nicht anders, ich mußte eindringen!«

Hilfesuchend schaute sich das entzückende Geschöpfchen um. Draußen sah sie die Pferde, blickte dann wieder den Fremden an und senkte verschämt die Augen.

»Königliche Hoheit.«

Der Prinz hätte beinahe laut gelacht. Alle kannten ihn! Wo er sich auch zeigte, immer jubelte man ihm seinen Namen zu. Ein Gefühl des Stolzes schwellte seine Brust. Wohl nie war ein Prinz bei Alt und Jung, Groß und Klein so populär gewesen, wohl niemals hatte ein Prinz so viele Freunde gefunden, so viele Liebe empfangen wie er.

»Ich höre meinen Namen von Ihren Lippen, schönstes Fräulein, ich kenne den Ihrigen nicht.«

»Königliche Hoheit, ich bin ein einfaches Bürgermädchen.«

»Eine Rosenknospe!«

Verschämt schaute sie auf die Blüten.

»Darf ich Königliche Hoheit für diese Blumen danken?«

Ein Knabenlachen klang von seinen Lippen.

»Geraubt aus Ihrem Garten, mein Fräulein, um das schönste Mädchen Preußens damit zu schmücken.«

Errötend wandte sich die Angeredete ab.

»Königliche Hoheit werden mir nicht zürnen, aber – ich muß ins Haus.«

Übermütig vertrat er dem jungen Mädchen den Weg.

»Ich habe die Rosen aus Ihren Garten ohne Erlaubnis entwendet, ich will eine Buße von Ihnen entgegennehmen. Was soll ich tun, um die schöne Schläferin zu versöhnen?«

»Wer könnte Königlicher Hoheit zürnen?«

»Darf ich dann eine Bitte aussprechen?«

Der Augenaufschlag sagte ihm mehr als Worte.

»Ich habe den Schlummer des Fräuleins gestört. Darf ich bitten, auch auf diesem Rasen noch ein Weilchen zu verweilen, an der Seite der holden Frühlingsknospe?«

Die Angeredete zögerte. Da griff er nach ihren beiden Händen und zog sie, indem er sich ins Gras warf, mit herunter.

Ein leises, verlegenes Lachen tönte ihm entgegen. Dieses Lachen war so silberhell, daß er entzückt lauschte.

»Ich sehe die schönsten Blumen in Ihrem Garten, mein Fräulein, aber die herrlichste Knospe halte ich mit meinen Händen. Nun möge mir die Demoiselle sagen, ob sie alltäglich um diese Stunde Ihre Ruhe hält.«

»O nein!«

Immer wieder schaute der Prinz in die großen blauen Augen, die ihm strahlend entgegenleuchteten, die aber züchtig niedergeschlagen wurden, wenn sie von den sengenden Strahlen, die aus den Augen des Prinzen sprühten, getroffen wurden.

»Henriette, Henriette!« klang es plötzlich aus der Entfernung. Das junge Mädchen sprang auf.

»Tante Anna ruft nach mir – ich muß fort.«

»Wäre es nicht besser, wir riefen Tante Anna hierher?«

»Aber Königliche Hoheit!«

Mit verlegenem Lachen machte sich Henriette frei.

»Wir sind jetzt ganz still«, flüsterte er ihr zu, »wir haben Tante Anna nicht gehört.«

»Nicht doch, Königliche Hoheit, ich muß gehen.«

Da war sie ihm auch schon entwichen und eilte raschen Schrittes über die Wiese dahin.

Er sah ihr entzückt nach. Fast schien es, als schwebte diese weiße Gestalt über die grüne Fläche dahin, er sah, wie sie sich zwischen den Bäumen nochmals nach ihm umwandte, da legte er beide Hände an den Mund und sandte ihr einen Kuß nach.

»Auf Wiedersehen, morgen!«

Hell und übermütig klang seine Stimme hinter der Davoneilenden her.

Louis Ferdinand kehrte nicht sofort zu seinem Pferde zurück. Unter wohligem Gähnen streckte er sich ins Gras.

»Hier lag der lichtblonde Engel«, flüsterte er, »meine Rosen scheinen ihr nicht viel zu gelten. Kommt her, ihr roten Blüten, die sie in ihrer Hand hielt, ich stecke euch an meine Brust.«

Draußen, jenseits des Zaunes hörte er, wie sein Leibdiener mit den Pferden sprach, aber er verspürte wenig Lust, schon jetzt dieses Ruheplätzchen zu verlassen, im Gegenteil, er hoffte, daß das schöne Mädchen wiederkehren würde. Als sie aber nicht kam, riß er ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb darauf mit großen, energischen Zügen: ›Auf Wiedersehen, morgen!‹

Er legte das Papierblatt auf den Rasen, beschwerte es mit einem Stein und begab sich wieder zum Zaun.

Der Leibdiener war höchst erstaunt, als er seinen Herrn herankommen sah. Übermütig lachte Louis Ferdinand auf.

»Hast Du etwas erkundet, Alter?«

»Das Haus ist Eigentum einer Frau Anna Fromm.«

»Das ist Tante Anna«, lächelte der Prinz. »Mein holdes Mädchen führt den Namen Henriette.«

Ordorf machte ein betretenes Gesicht.

»Königliche Hoheit werden in Berlin erwartet.«

»Mag sie warten«, sagte der Prinz leichtsinnig. »Ordorf, daß wir es ja nicht vergessen. Wir reiten morgen um die gleiche Zeit wieder nach Charlottenburg.«

Der Jäger erwiderte nichts darauf. Er wußte, daß die Freundschaften seines Herrn stets mit solchen Besuchen begannen. Ihm tat die schwarzäugige Amanda leid, die heute vergeblich auf das Kommen des Prinzen wartete, und die so bitterlich weinen konnte, wenn sie vernachlässigt wurde. Aber so ging es allen. Bald die Schwarzen, dann die Blonden, dann wieder die Schwarzen. Lächelnd pflückte Prinz Louis Ferdinand die Blumen, die ihm überall entgegenblühten. Wie schnell welkten sie, die an seiner Brust geruht hatten.

Der Prinz war heute ziemlich schweigsam, nur einmal wandte er sich seinem Begleiter zu:

»Du hast sie gesehen, Ordorf, ist sie nicht wunderbar schön?«

»Jawohl, Königliche Hoheit.«

»Die Schönste von allen, Ordorf – hast Du ihre Augen gesehen?«

»Nein, Königliche Hoheit.«

»Alle Sterne des Himmels sind nichts gegen diesen Glanz! Sie ist sehr schön, Ordorf!«

Als man endlich das Schloß in Berlin erreicht hatte, erinnerte der Leibdiener nochmals daran, daß der Prinz gegen sechs Uhr am Werderschen Markt sein wollte.

»Ich mag nicht«, gab Louis Ferdinand unwillig zurück.

Kaum zehn Minuten später klangen aus dem Musikzimmer rauschende Akkorde. Der Prinz spielte Beethoven.

Mit klopfendem Herzen war Henriette dem Rufe der Tante gefolgt. Die Wangen glühten ihr, sie hatte das Gefühl, als sei sie plötzlich von den Strahlen der Sonne versengt worden. Es war ihr unmöglich, sogleich ins Haus zu gehen, sie mußte erst ein wenig zur Ruhe kommen. Wie sollte sie vor der strengen Tante, bei der sie seit vier Wochen weilte, bestehen?

Prinz Louis Ferdinand, der Traum ihrer Mädchenseele. Wie hatte sie die Schicksale des heldenhaften Prinzen verfolgt, wie hatte sie für ihn gezittert, als er mit seinem Heer an den Rhein gezogen war, wie viele Tränen waren aus ihren Augen geflossen, als es hieß, daß er bei der Belagerung von Mainz dem Heer als Erster vorangestürmt sei und eine schwere Verwundung erhalten hatte. In ihrem Zimmer in Berlin hing das Bild des verehrten Prinzen und kaum ein Tag verging, an dem sie nicht in dieses lebenssprühende Antlitz geschaut hätte.

Und heute – heute, am letzten Tage ihres Aufenthaltes in Charlottenburg hatte er vor ihr gestanden, hatte zu ihr gesprochen, hatte sie mit seinen strahlenden Augen angesehen.

Sie preßte beide Hände fest auf das Herz, denn sie hatte das Gefühl, als müsse es zerspringen. Konnte man so viel Glück ertragen? Ihre Hände hatten in den Seinen geruht, er hatte neben ihr gesessen, hatte ihr Rosen gebracht.

Die Rosen!

»Henriette!«

Die Tante rief erneut nach ihr. Niemals wäre es ihr eingefallen, den Ruf zu überhören, aber sie dachte der Rosen, die erst in Sicherheit gebracht werden mußten.

Er hatte für sie die Rosen gepflückt, die köstlichen Knospen sollten von nun an ihr größtes Heiligtum sein. Niemals würde sie diesen Tag des Glückes vergessen. Der 6. Oktober des Jahres 1796 sollte ewig in ihrem Leben ein Tag der Freude und des süßesten Gedenkens sein.

Sie flog zurück zum Rasenplatz. Etwas Weißes leuchtete ihr entgegen; sie sah den Zettel, las darauf seine Worte. Da war es ihr nicht länger möglich, den Jubel ihres Innern zurück zu halten.

»Mein Prinz – mein Prinz«, jauchzte sie und küßte das kleine Stück Papier, das seine Schriftzüge trug.

Dann warf sie sich wieder ins Gras. Hier hatte er geruht, die Weiden rings umher hatten seine Stimme vernommen.

Es war wohl alles nur ein schöner Traum, konnte nur ein Traum sein – wie wäre es sonst denkbar, daß der herrliche, göttergleiche Prinz Louis Ferdinand mit der schlichten Tochter eines Hutmachers plauderte.

»Prinz Louis Ferdinand!«

Es war Henriette kaum möglich, seinen Namen auszusprechen, alles an ihr fieberte vor Erregung. Sie drückte das heiße Gesicht ins Gras und merkte es kaum, daß ihr Tränen des Glücks über die Wangen rannen.

»Meine Rosen!«

Die Rosen waren nirgends zu finden. Ob er sie mitgenommen hatte? Ob er sich wirklich ihrer erinnern wollte? Auf dem Zettel stand es, daß er ein Wiedersehen begehrte.

Morgen!

Ein kalter Schauer lief ihr durch die Glieder. Morgen vormittag hatte ihr Aufenthalt in Charlottenburg ein Ende, für morgen war bereits der Wagen bestellt, der sie in Begleitung der Tante nach Berlin zurückführte. Er fand sie hier nicht mehr, wenn er kam.

Die tollsten Pläne gingen ihr durch das Hirn. Wie konnte sie die Abreise noch einen Tag hinausschieben, um den Prinzen wiederzusehen? Aber Tante Anna hatte schon alles vorbereitet. Sie war eine energische Dame, die einmal gefaßte Entschlüsse nicht umstieß.

Das junge Mädchen hatte ein Gefühl, als habe die Sonne allen Glanz verloren. Wenn er morgen wirklich kam, wenn er sie nicht fand, was mußte er von ihr denken? Und nun stürzten ihr die Tränen mit elementarer Gewalt aus den Augen.

»Ich kann nicht fort, ich muß ihn wiedersehen. Lieber Gott hilf mir! Ich will ja nur noch dieses eine mal seine Stimme hören, dann will ich mich bescheiden. Aber schenke ihn mir noch einmal!«

»Henriette!«

Jetzt kam die zürnende Stimme aus größter Nähe und wenige Augenblicke später stand eine ältliche, würdige Dame vor der Erschreckten. Frau Fromm sah das verweinte Gesicht der Nichte, sah das schuldbewußte Zusammenzucken und schaute sich mißtrauisch um.

»Warum kommst Du nicht, wenn ich Dich rufe?« klang es strafend.

»Tante – ach Tante!«

»Warum weinst Du?«

Das junge Mädchen wollte antworten, aber es gelang ihm nicht. Die Hand, die den Zettel fest umschloß, krallte sich noch fester zusammen und endlich klang es jammervoll:

»Muß ich wirklich morgen fort?«

Die schlimme Laune der kleinen Dame war wie fortgelöscht. Sie glaubte nicht anders, als daß es der Trennungsschmerz sei, der der Nichte diese Tränen erpreßte. Das war ihr freilich neu. Wohl wußte sie, daß die Tochter ihres Schwagers, des Hutmachers Fromm, gerne in Charlottenburg weilte, daß ihr aber die Trennung Tränen entlockte, ließ sie erstaunen.

»Du kommst bald wieder zu mir, Henriette, jetzt aber verlangen die Eltern nach Dir. Es ist alles vorbereitet, ich selbst bringe Dich morgen nach Berlin zurück.«

»Laß mich nur noch einen Tag hier, liebste Tante«, stieß Henriette schluchzend hervor.