Lisa Janssen

Black Rose

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel


Wo Demut ist, da ist steter Friede; wo aber der Stolz herrscht, da
ist Eifersucht; da ist Zorn und eine ganze Hölle voll Unruhe.

Thomas von Kempen

(1379/80 - 1471), holländischer Augustinermönch und Prediger




 

Teil 1

Der Geschäftsmann Paul Young

(1958)



England, Little George, ein kleiner Ort in der Nähe von London


Paul Young stand auf den schwarz weiß gemusterten Fliesen in der großen Eingangshalle und nieste. Der Staub lag zentimeterdick auf den Möbeln und tanzte im Lichtstrahl, der sich seinen Weg zwischen den dicken Vorhängen bahnte. Er blickte sich etwas skeptisch um und schaute seinen Makler dann genervt von der Seite an.

„Kein Grund zur Besorgnis Mr. Young. Das wird schon wieder. Einmal ein bisschen durchwischen und ein paar neue Vorhänge und dieses Prachtstück erstrahlt in neuem Glanz!“ Dieser Optimismus war wirklich überwältigend. Young rümpfte die Nase und bereute es sofort, denn ein erneutes Niesen überfiel ihn. Frustriert legte er seinen Bowler auf den Tisch neben der Eingangstür und legte dann auch den schweren teuren Wintermantel ab. An der Wand neben der Garderobe hing ein riesiges Gemälde von einer fünfköpfigen Familie. Young war kein Familienmensch, er war Geschäftsmann und beides kam für ihn nicht in Frage.

„Die vorherigen Besitzer des Hauses, die Abberlines“, erklärte Adam Sand, der Makler, eilig als er Youngs Blick bemerkte. „Lassen Sie sich nicht vom derzeitigen Zustand des Hauses täuschen“, versicherte er ihm gut gelaunt und winkte ihn zur Flügeltür an der rechten Seite. Young runzelte die Stirn, folgte ihm dann schließlich doch während seine Absätze auf den Fliesen wiederhallten.

„Das hier ist der Salon. Hervorragend geeignet für ihre Meetings, Geschäftsessen oder für einen netten Abend. Vor allem der Kamin ist doch fantastisch, finden Sie nicht? Stellen Sie sich vor, Sie sitzen abends hier zusammen, hören das Knistern der Flammen und sehen durch die großen Fenster hinaus in einen stürmischen Herbstabend.“ Young lehnte sich skeptisch an den Türrahmen. Begeisterung kam bei ihm nicht auf. Große weiße Laken bedeckten das spärliche Mobiliar und der Kamin machte einen traurigen leblosen Eindruck. Er blickte auf seine Uhr und stellte fest, dass er spätestens in einer Stunde wieder am Bahnhof sein sollte. Adam Sand hatte die Begeisterung in seinen Augen immer noch nicht verloren, wie er jetzt schwungvoll durch den Raum schritt und versuchte Young ein Bild davon zu machen, wie es hier mit ein bisschen Fantasie bald aussehen könnte. Vom Salon ging es zurück in die Eingangshalle und die breite Treppe hinauf in den ersten Stock. Young beugte sich oben über das Geländer und schaute hinunter in die Halle. Der Eindruck von oben war nicht besser als der von unten. Die Vorhänge waren wirklich scheußlich. Die Abberlines besaßen seiner Meinung nach keinen Geschmack. Gleich am Anfang des Flures öffnete Sand die Tür zu einem Zimmer, das sonst als Arbeitszimmer benutzt worden war.

„Das wäre doch ideal für Sie, oder?“, bemerkte Sand und Young nickte. Das Anwesen verfügte insgesamt über zehn Schlafzimmer, drei Badezimmer, fünf Gästezimmer, einer Bibliothek, dem Speisesaal und Salon, einem Raucherzimmer für die Herren und vielen kleineren Zimmern, die nun meist leergeräumt waren. Als die beiden Herren den Westflügel erkundet hatten, wollte Sand die Treppe wieder hinunter, um die Dienstbotenräume zu zeigen, doch Young blickte fragend in Richtung Ostflügel.

„Der Ostflügel ist zurzeit nicht bewohnbar Sir. Durch einen Blitzeinschlag sind viele Räume völlig zerstört.“ Young rieb sich verdutzt das Kinn, grummelte schließlich nur ein paar unverständliche Worte und folgte dem eifrigen Makler in die Küche.

„Was kostet mich dieses Anwesen?“, unterbrach er irgendwann die Ausschweifungen des jungen Mannes.

„Ein Schnäppchen Mr. Young. 550.000 Pfund.“ Young strich sich seinen neuen Anzug glatt. Charme hatte dieses Haus, das musste er zugeben, nur bis er hier stilvolle Abendgesellschaften abhalten und seine Geschäftspartner umgarnen konnte, würde er noch einiges an Zeit und Geld investieren müssen.

„Überlegen Sie es sich in Ruhe, aber so ein Haus wie das Black Rose werden Sie nicht ein zweites mal finden“, zwinkerte Sands. „Ach, hatte ich das schon erwähnt? Ich meine den Namen des Anwesens? Sehr originell, finden Sie nicht auch?“

„Jaja, allerdings“, brummte Young in Gedanken.


Letzten Endes entschied sich Paul Young, erfolgreicher Unternehmer in der Stahlindustrie, dafür, das Anwesen in Little George zu kaufen. Es dauerte zwei Monate bis Young mit auf Hochglanz polierten Schuhen in der Eingangshalle seinen neuen Hauses stand und Mrs Mary Sinclair einen Kuss auf die Wange hauchte, ihr den Mantel abnahm und sie galant zu den anderen Gästen an seine Tafel führte. Er hatte ein paar alte Freunde und Partner eingeladen, um mit ihnen die Fusion von Young & Jones Industries mit Steel Company Norton zu feiern. Damit waren sie zum größten Stahlhersteller in Südengland geworden. Ein Grund zur Freude und zur Besprechung der weiteren Vorgehensweise. Seine Gäste zeigten sich allesamt begeistert von seinem Kauf des Hauses, besonders die weiblichen Gäste waren entzückt über den Stil und das Ambiente. Es gab sogar Vergleiche mit dem Buckingham Palace, obwohl Young das nun wirklich mehr als übertrieben erschien. Nach dem Dinner zogen sich die Damen mit einem Glas Wein an den Kamin zurück, während die Herren die Zeit für eine Zigarre im Nebenzimmer nutzten. Die Stimmung war fabelhaft, die Diskussionen anregend und vielversprechend, um eine blühende Zukunft in der Stahlindustrie zu prägen. Die Dienstboten wurden von Young etwa gegen zwei Uhr morgens weggeschickt, er bräuchte sie nicht mehr. Die Damen hatten sich bereits auf ihre Zimmer zurückgezogen und ein paar Männer ebenfalls. Der Wein hatte ihnen wohl stärker zugesetzt, als sie es zugeben wollten. Young saß in einem bequemen Sessel vor dem Kamin im Salon, paffte an einer Zigarre und stieß dann mit einem guten Whisky mit den letzten drei Herren an, die noch nicht müde zu werden schienen.

„Ich freue mich, dass wir so einen gelungenen Abend miteinander verbracht haben“, sagte Young zufrieden. „Diese Fusion wird uns eine Menge Gewinn geben.“

„Und viele Feinde dazu“, bemerkte ein junger Mann Anfang dreißig, der schon etwas gerötet im Gesicht war.

„Das war uns doch bekannt meine Freunde. Doch wie heißt es so schön, wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“ Young erhob sich etwas schwankend aus seinem Sessel und erhob das Glas.

„Gentlemen! Auf die Fusion, unsere Partnerschaft und unsere Freundschaft!“


Als am nächsten Morgen gegen fünf Uhr früh die Köchin durch die Hintertür in den Dienstbotentrakt im Keller trat, sich ihre Schürze von der Garderobe nahm und die Tür zur Küche aufstieß, entfuhr ihr ein gellender Schrei, der durch das ganze Anwesen zu hören war. Es war ein Anblick, den sie nie vergessen würde. Vor ihren Augen baumelte ein Mann mit einer Schlinge um den Hals von der Küchendecke. Genauer gesagt hing er an dem Haken, an dem normalerweise immer das Fleisch oder die Bohnen zum Trocknen aufgehängt wurden. Bei dem Mann handelte es sich um Paul Young.

 






Teil 2


Der Schriftsteller john adams

(1978)































2. Kapitel

„Der Kaffee ist kalt Mrs Smith!“

Er hasste kalten Kaffee; das war seiner Meinung nach eine der schlimmsten Todsünden, die man begehen konnte.

„Es tut mir sehr Leid Mr Adams“, ertönte ihre Stimme durch die halb offene Bürotür von John Adams.

Das machte den Kaffee auch nicht wieder warm.

„Soll ich Ihnen einen neuen Kaffee machen Mr Adams?“

„Lassen Sie nur. Ich wollte ohnehin bald aufhören zu schreiben.“

Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber er wusste, dass auch der nächste Kaffee kalt sein würde. Kalter Kaffee war leider Gottes die größte Schwäche seiner Haushälterin. Sie brachte es einfach nicht fertig den Kaffee heiß zu servieren. Und heißer Kaffee war nun eigentlich keine große Kunst, nicht etwa wie der Bau der St. Paul’s Cathedrale. Man konnte Kaffee nun mal nicht mit architektonischen Meisterleistungen vergleichen.

„Dann ist es ja gut Mr Adams.“

Gar nichts war gut…

„Ich werde in einer Stunde anfangen das Abendessen zu kochen.“

Wetten es gab Fleischpastete, wie jeden Montag, Dienstag, Mittwoch…

„Ist das in Ordnung Mr Adams?“

Nein, eigentlich war es ganz und gar nicht in Ordnung, aber etwas Anspruchsvolleres als Fleischpastete brachte die Frau einfach nicht zustande.

„Mr Adams?“

Gott, wie sie ihm manchmal auf die Nerven ging. Müde rieb er sich die Schläfen und nahm noch einen Schluck von dem ungenießbaren kalten Kaffee.

„Mr Adams?“ Das war zu viel!

John Adams riss die Tür seines Arbeitszimmers auf, stapfte mit polterndem Schritt zum Treppengeländer und schrie in die Halle hinunter: „Ja Mrs Smith, es ist alles in bester Ordnung!“ Mrs Smith stand lächelnd unten in der Eingangshalle mit einem Staubwedel in der Hand.

„Dann ist ja gut. Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Also ich fange dann…“

„Fangen Sie an wann Sie wollen!“

John Adams knallte die Tür geräuschvoll zu und ließ sich dann erschöpft hinter seinem Schreibtisch nieder. Die Frau machte ihn noch wahnsinnig. Manchmal fragte er sich wirklich, warum er sie übernommen hatte. Na ja, vielleicht weil es im Umkreis von zehn Meilen keine einzige freie Haushälterin mehr gab und Mrs Smith zudem nur wenig Geld verlangte. Dann musste man sich eben mit kaltem Kaffee und Fleischpastete zufrieden geben. Ansonsten war sie aber gut zu gebrauchen. Sie kannte das Haus schon seit etlichen Jahren und wurde praktisch von Besitzer zu Besitzer weitergereicht. Ob die Vorgänger sich auch über den kalten Kaffee beschwert hatten?

John Adams hatte sich erst vor gut einem Jahr in dem alten Herrenhaus in Little George eingerichtet, um sich abseits vom Trubel der heutigen Zeit voll und ganz der Schriftstellerei widmen zu können. Das Schreiben war seine Leidenschaft. Er konnte gut und gerne 12 Stunden am Stück an seiner alten Schreibmaschine verbringen und dem Klang der aufschlagenden Tasten lauschen. Damit entsprach er ganz und gar dem Klischee eines Schriftstellers. Er war ein wohlgenährter Mann, dem man ansah, dass er die meiste Zeit seines Lebens hinter dem Schreibtisch verbracht hatte. Das inzwischen ergraute und spärlich gewordene Haar stand etwas zerzaust vom Kopf ab, was sicherlich daran lag, dass er sich in den letzten Stunden nur allzu oft die Haare gerauft hatte. Was ihm an Haupthaar fehlte, machte er mit seinem gut gepflegten Schnauzbart wieder wett. Er trug eine große Hornbrille, die ihm ein wenig den Anblick eines Gelehrten verschaffte und die an einer Seite mit etwas Klebeband geflickt worden war. Adams störte dies nur wenig, denn er verließ selten das Haus und verbrachte lieber Stunde um Stunde mit seiner geliebten Schreibmaschine anstatt sich in die Menschenmassen zu stürzen.

Black Rose hieß das Haus, so wurde es ihm von seinem Makler erzählt, doch Adams hatte sich zu dem Zeitpunkt wenig für die Geschichte des Anwesens interessiert. Sein Interesse hatte sich seit diesem Tag jedoch verändert, gezwungenermaßen wohlgemerkt.

Adams verstaute jetzt das Manuskript seines neuesten Buches in der untersten Schublade und streckte sich dann ausgiebig. In den Fängen der Klischees hieß sein Werk, ein Kriminalroman, und er war wahrlich stolz darauf.


Constable William Crane hatte schon viele Fälle gelöst, einer mysteriöser und verworrener als der andere. Viele waren interessant gewesen, aber dieser war etwas ganz besonderes. William Crane glaubte normalerweise nicht an Legenden, Märchen, Schauergeschichten und all den anderen Unfug, den sich Menschen erzählten, doch in diesem Fall musste er sich genau dies zu Hilfe ziehen. Als Mrs Turner, eine alte Witwe, ermordet aufgefunden wurde, sollte sich die Suche nach dem Täter als trickreicher herausstellen als gedacht.


John Adams hatte schon zwei Bände über seinen Protagonisten Constable William Crane herausgebracht. Zwar war der Erfolg eher mäßig ausgefallen, doch er hatte eine treue Leserschaft gewonnen. Dazu zählte auch Mrs Smith Ehemann, der Adams jedes Mal aufs Neue von seinen Büchern vorschwärmte.

Vielleicht sollte er vor dem Abendessen noch einen Charly trinken, um anschließend die Pastete besser vertragen zu können. Er hatte nie mit eigenen Augen die Zubereitung dieser Spezialität gesehen, hoffte jedoch es handelte sich nicht um eine Kreation alla Mrs Lovett.

Er hatte heute Abend aber auch wieder düstere Gedanken. Und so hievte er sich etwas ungelenk aus dem Stuhl und trottete hinaus.

Auf dem Weg zum Salon begegnete ihm James, sein treuer Butler. Mr Moore, der Immobilienmakler, von dem Adams das Anwesen gekauft hatte, hatte ihm James empfohlen und da Adams keine großen Ansprüche an seine Bediensteten stellte, hatte er James sogleich übernommen. James war stumm, zumindest nahm man das an, denn er hatte noch nie ein Wort gesprochen. Jedenfalls nicht in den letzten acht Monaten, seitdem John Adams im Black Rose ein Zuhause gefunden hatte.

James verbeugte sich so tief, dass er mit der Nasenspitze fast den Teppichboden berührte.

Er hatte schütteres schwarzes Haar, war sehr schmächtig und seine Augen traten merkwürdig aus ihren Höhlen hervor. Zusammen mit seiner weißen Haut machte er stets den Eindruck, als würde er jeden Moment von dieser Welt scheiden. Allerdings beeinträchtigte dieser Zustand nicht seine Leistungen als Butler und Chauffeur.

„James, würden Sie mir einen Gefallen tun? Schenken Sie mir doch bitte im Salon einen Charly ein. Ich muss noch ein dringendes Telefongespräch führen.“

Mit einer weiteren Verbeugung kehrte James abrupt um und lief die Stufen wieder hinunter.

Sein Verleger musste unbedingt Bescheid bekommen, dass er noch zwei weitere Wochen für sein Buch brauchte. Gut Ding muss eben Weile haben! Ob Sir Benedikt das verstand, war durchaus fraglich.

„Ja ja… Nur noch zwei Wochen. Ich muss mir über einen ganz entscheidenden Punkt noch Gedanken machen. Das ist wirklich wichtig. Es geht um Leben und Tod, im wahrsten Sinne des Wortes!“

„Mr Adams, ich habe Ihre Spielchen satt. Drei Tage und keine Minute länger. Versetzen Sie sich mal in meine Lage. Seien Sie froh, dass Ihnen überhaupt jemand Ihre irrwitzigen Geschichten abnimmt“, ertönte die näselnde Stimme am anderen Ende der Leitung.

Dann ein Knacken. Sir Benedikt hatte aufgelegt. Drei Tage… Jetzt brauchte er wirklich einen Charly. Nach dem Abendessen würde er sich sofort wieder an die Arbeit machen müssen. Nicht, dass er das Schreiben als Arbeit empfand, aber der lästige Zwang die Bücher über seinen Verleger zu veröffentlichen, schränkte seine schöpferische Kreativität ein ums andere mal ein.


„Ich habe Ihnen Ihr Leibgericht gemacht Mr Adams. Das wird Sie ein wenig aufmuntern; Sie haben’s ja in letzter Zeit so schwer.“

Vielen Dank Mrs Smith, aber Fleischpastete hilft auch nicht gegen Zeitnot.

„Dankeschön, dass ist sehr nett von Ihnen.“

„Oh… nicht der Rede wert. Sie wissen doch, Ihr Wohl liegt mir sehr am Herzen Mr Adams.“

Dann sollten Sie sich mal um warmen Kaffee bemühen.

„Ich weiß es wirklich zu schätzen.“

Dann ließ sie ihn endlich allein. James stand reglos in der Ecke und wartete darauf, dass man seine Dienste in Anspruch nahm. Es wäre niemandem aufgefallen, wäre er jetzt in diesem Moment dahin geschlichen, höchstens das dumpfe Geräusch beim Aufschlagen seines schmächtigen Körpers auf dem Boden hätte man vernommen.

Drei Tage… John Adams stocherte lustlos in seiner Fleischpastete herum. Drei Tage… Das war verdammt kurz und er hatte eine wichtige Entscheidung zu treffen. Sollte er seinen Protagonisten sterben lassen? Sollte er seine Buchreihe ein für alle Mal beenden? Im Grunde kannte er die Antwort schon eine ganze Weile. Er wollte es nur nie wahr haben.

Er schob die Fleischpastete beiseite. Die letzten Tage und Wochen hatte ihn dieser Gedanke gequält, weil er auf eine grausame Art wusste, dass es genau dieses Ende sein musste und kein anderes. Man konnte es schriftstellerische Intuition nennen oder kaltherzige Berechnung, es lief auf’s Selbe hinaus.

„James! Holen Sie mir mein Manuskript und die Schreibmaschine aus dem Arbeitszimmer. Ich muss einen Mord begehen!“


Constable William Crane hatte den Täter entlarvt, er hatte den Mörder gefunden, der das ganze Dorf in Angst und Schrecken versetzt hatte. Jetzt galt es ihn nur noch zu stellen. Nie im Leben hatte er damit gerechnet, dass er erneut zum Haus der Witwe fahren müsste, dass er abermals eine Runde durch den herrlich angelegten Park drehen würde, in den Mr Thomson so viel Arbeit investiert hatte. Der gute Mr Thomson… Jetzt durfte er nicht sentimental werden. Schließlich war er einem Mörder auf der Spur.


Im Hintergrund tickte die große Standuhr. Das Ticken klang unheimlich, in dem ansonsten stillen Salon, in dem nur John Adams neben der erkalteten Fleischpastete saß. Adams bekam schwitzige Hände, wie immer wenn er fieberhaft in seine Arbeit vertieft war und gerade jetzt, als es um das entscheidende Ende ging, schlug sein Herz immer höher, als würde er selbst hinter sich die drohende Gefahr spüren.


Niemand wäre mir auf die Schliche gekommen, keiner würde einen armen unschuldigen Gärtner verdächtigen. Verraten Sie mir, wie haben Sie das gemacht?“

Constable William Crane bewahrte die Ruhe.

Ich bin Ihnen keinerlei Rechenschaft schuldig Mr Thomson. Aber haben Sie schon einmal etwas von dem Spruch <<Der Mörder ist immer der Gärtner>> gehört? Es tut mir sehr Leid, aber ich muss Sie jetzt festnehmen.“

Crane trat einen Schritt auf den Gärtner zu, doch mit dem, was dann geschah, hatte er nicht gerechnet. Ein wahnsinniger Aufschrei, eine blitzschnelle Bewegung seitens des Gärtners und ehe Constable Crane auch nur mit der Wimper zucken konnte, war er einem verrückten alten Mann zum Opfer gefallen.

Niemand verdächtigt einen treuen Gärtner!“


Es war weit nach Mitternacht, als Adams die Schreibmaschine von sich schon und sich gähnend streckte. Mrs Smith war schon längst zu Bett gegangen und hatte alle Lampen im Haus gelöscht.

Morgen und übermorgen würde er noch einmal alles in Ruhe durchlesen und dann am Mittwoch Sir Benedikt wie versprochen das Manuskript bringen. Elender alter Kauz! Er hatte aus Zeitdruck seinen liebsten Protagonisten umbringen lassen. Nein, das war eine Lüge und das wusste er auch. Adams wischte den Gedanken ärgerlich fort. Er wollte jetzt in Ruhe schlafen, tief und fest, so wie er es nur konnte, nachdem er ein Buch fertiggestellt hatte. Seufzend stieg er die knarrende Treppe hoch. Das Manuskript verstaute er wieder in der untersten Schublade seines Schreibtisches.



3. Kapitel

John Abberline war 12 Jahre alt, als er beschloss sein erstes Experiment heimlich in der kleinen Garage auf dem Anwesen seiner Familie durchzuführen. Er war ein neugieriger aufgeweckter Bursche und der ganze Stolz seines Vaters, auch wenn dieser es nur selten zum Ausdruck bringen konnte. Für sein Experiment benötigte John zwei Dinge: Koko, den Wellensittich seines Bruders William und den schwarzen Bentley im Schuppen.

Als er mit seiner Mutter vor ein paar Tagen ins Dorf gegangen war, um eine Beileidsbekundung für eine alte Frau abzugeben, die in der vergangenen Woche verstorben war, hatte er zufällig die Worte eines alten Mannes zu einem Freund gehört, der gegenüber des Trauerhauses auf einer Bank gesessen und sich eine Pfeife angezündet hatte. Er hatte gerade von einem alten Bekannten erzählt, der in einem Bergwerk ums Leben gekommen war. John hatte das Gespräch mit höchstem Interesse verfolgt, während er draußen auf seine Mutter gewartet hatte und war schließlich neugierig näher geschritten. John hatte dem Mann unverhohlen auf die Schulter getippt und mit seiner piepsigen Jungenstimme gefragt, warum der Mann denn gestorben sei. Der Alte schien leicht verärgert gewesen zu sein, dass ein Bengel wie John ihn in seiner Unterhaltung störte und hatte barsch geantwortet: „Ist abgekratzt, was denn sonst. Und der Wellensittich auch.“ John hatte fragend den Kopf zur Seite geneigt und der Mann genervt geseufzt.

„Hatte keinen Sauerstoff mehr zum Atmen. Das kommt vor in Bergwerken, dass einem die Luft ausgeht. Stell dich in die Garage, lass den Motor laufen und schließ vorher alle Fenster. Ähnliche Situation, selbes Ergebnis.“

„John!“, hatte ihn Mrs Abberline vom anderen Straßenrand her plötzlich zugerufen und der Junge war flink zurückgelaufen.

„Dass du mir das aber nicht ausprobierst“, hatte der Mann noch kopfschüttelnd gekrächzt und sich wieder seinem Freund zugewandt.

Koko machte auf dem gesamten Weg von Williams Zimmer durch die Hintertür bis in den Schuppen zum Glück keinen Mucks. Vorsichtig stellte John den Käfig auf die Motorhaube des Bentleys. Am Haken neben der Tür hingen die Schlüssel. Er hatte seinen Vater und auch Charly, einem der Gärtner, schon oft genug dabei zugesehen, wie sie den großen schwarzen Wagen starteten. Das dürfte für ihn dann ja auch kein Problem sein. John setzte sich auf die äußerste Sitzkante, streckte seine kurzen Beine so weit wie möglich nach vorne und drehte den Schlüssel um. Ein zähes Stottern ertönte, dann heulte der Motor auf. Er klatschte vor Freude in die Hände und stieg aus, um sich im Schneidersitz vor den Wagen zu hocken. Er hatte den Blick starr auf Koko gerichtet, der inzwischen doch nervös wurde, gerade so, als ahnte er, was der junge John mit ihm vorhatte. Die Minuten verstrichen, John unterdrückte ein Gähnen und kramte ein Jo-Jo aus der Hosentasche. Sein Vater schlief vermutlich auf dem Sofa im Salon und Mr Smith war weit draußen nahe des Sees. Niemand würde sein Experiment stören. Mehr als eine Stunde hockte er nun so da, bis ihm langsam schlecht wurde. Erst war es Müdigkeit, die ihn überfiel, jetzt fing er an zu husten und zu würgen. Seine Augen tränten. Der Schuppen war in schwarzen Dampf gehüllt, doch Koko krächzte immer noch. John überfiel ein neuer Hustenanfall. Taumelnd erhob er sich und funkelte den Vogel böse an. Plötzlich hörte er von draußen Rufe und erkannte Williams Stimme. Hektisch stürzte er zur Schuppentür, öffnete sie einen Spaltbreit und sog mit Erleichterung die frische Luft ein, die ihm entgegenströmte. Kurzum beschloss er sein Experiment mit einem gewissen Abstand aus zu verfolgen und verlegte seinen Beobachtungsposten nach draußen. Erst am frühen Abend entdeckte Charly die ganze Katastrophe.




4. Kapitel

Drei Tage später saß Adams mit schwitzigen Händen im Büro seines Verlegers.

„Sie haben Ihn umbringen lassen? Verstehe ich das richtig, Mr Adams?“

„Ja, aber nur, weil Sie mich dazu gezwungen haben!“

Sir Benedikt schlug die Hände über dem Kopf zusammen und nahm sichtlich verzweifelt noch einen Schluck Kaffee.

„Mein lieber Freund, ich spreche jetzt ganz im Vertrauen zu Ihnen, von Mann zu Mann…“

Adams schnaubte. Na das wollte er erleben, dass Sir Benedikt mit einem im Vertrauen sprechen konnte.

„Sie wissen selbst, dass Ihre schriftstellerischen Fähigkeiten, mmhh.. sagen wir mal nicht die größten sind. Und ich muss auch zugeben, dass Ihre Figur, dieser Constable Crane nicht gerade das größte Genie ist. Etwas plump würde man sagen.“ Er machte eine leicht einfältige Geste. „Aber der Sinn eines Kriminalromans besteht doch darin, dass am Ende der Fall aufgeklärt wird! Der Täter wird bestraft und im nächsten Buch beschäftigt sich der Held mit einem neuen Fall.“ Sir Benedikt brauchte ihm doch nicht die Grundregeln der Schriftstellerei zu erklären!

„Der Mord wurde aufgeklärt, Sir Benedikt. Es war der Gärtner!“

„Das nennen Sie aufgeklärt! Um Gottes Willen, Adams! Ihr Buch endet mit dem Tod des Constables und diesem, diesem Satz…wie heißt er noch? Hier: Niemand verdächtigt einen treuen Gärtner! Und was dann? Der Mörder entwischt! Katastrophal!“

Sir Benedikt wedelte theatralisch mit den Händen in der Luft herum und kippte dabei seinen Kaffeebecher um. „Ach um Himmels Willen!“, stöhnte er.

„In meinen Augen war es eine grandiose Idee den Gärtner den Mord begehen zu lassen. Da kommt niemand drauf“, antwortete Adams ruhig

„Warum lassen Sie Crane den Fall nicht bis ganz zum Schluss lösen?“

„Sie gaben mir nur drei Tage Zeit. Das war das schnellste Ende…“ John Adams stockte einen Moment, fuhr sich mit den Fingern über seinen Schnauzer, räusperte sich kurz und fuhr dann fort: „Und außerdem glaube ich nicht an ein glückliches Ende. Der Held muss sterben. Ich sehe es vor mir. Es ist wie eine Fügung, verstehen Sie? Nein, das tun Sie nicht…“

Sir Benedikt verstand kein Wort davon und er wollte es auch nicht verstehen. In seinen Augen war die ganze story überhaupt der größte Humbug, den es gab. Was wollte man da eigentlich groß retten?

„Na gut Adams, ich gebe Ihnen eine Woche, wenn Sie Ihren Roman nochmals umschreiben. Und dann will ich ein anderes Ende sehen. Sie können jetzt gehen.“

Und mit einer Handbewegung gab er Adams zu verstehen, dass die Unterhaltung beendet und Widerworte zwecklos waren. John Adams erhob sich müde.

„Fahren Sie uns nach Hause, James!“, wies er seinen Butler an und rieb sich müde die Schläfen.

Der schwarze Bentley setzte sich in Bewegung und John Adams ließ sich auf den Rücksitz zurücksinken. Auf einmal fühlte er sich alt, sehr alt. Natürlich war er schon nicht mehr der Jüngste und konnte 65 Jahre sein eigen nennen, aber doch war er sich dieser enormen Summe an Jahren noch nie so bewusst geworden wie jetzt. Und niemand wusste wann er sein Ende finden würde. Diese Gedanken über Leben und Tod quälten ihn, man konnte es sehen, an dem eingesunkenen Gesicht, dem trüben Blick und dieser Mischung aus Verzweiflung und Resignation, die sich in seinen Augen widerspiegelte. Diese Gedanken quälten ihn nun schon seit langem, waren zu einem ständigen Begleiter geworden, der mal mehr mal weniger stark an seiner Seite auftauchte.

Vielleicht hatte er deshalb Constable Crane umbringen lassen, weil er sich selbst so nah am Tod fühlte. Die Frage, die noch blieb, war nur, wie er sterben würde. An Altersschwäche durch einen Herzinfarkt oder würde er einfach in Frieden entschlafen oder sogar ermordet werden? Warum denn nicht? Adams musste ein wenig schmunzeln. In diesem Moment war es für ihn eine amüsante Vorstellung. Welch makabre Gedanken er doch manchmal hatte!

Dann holte er Notizblock und Stift aus der Innenseite seiner Weste (beides trug er stets bei sich, wie es sich für einen guten Schriftsteller gebührte) und fing an zu schreiben. Aufgrund der holprigen Straße war seine Schrift kritzelig und schwer zu entziffern, doch er ließ es sich dennoch nicht nehmen seine Ideen poetisch auszuformulieren. Das hatte er sich noch nie nehmen lassen. Egal wie schlecht die Handlung einer Geschichte auch ausfallen mochte, letztenendes kam es doch immer auf die Sprache an. Und so schrieb er vom Leben und Tod, der Liebe und dem Leid, während der Bentley ihn durch die englische Landschaft kutschierte.

Plötzlich kam der Wagen zum Stehen und James öffnete ihm die Tür zum Aussteigen. Die Blicke der beiden Herren streiften sich einen Augenblick, doch niemand vermochte zu wissen, was der andere in diesem Moment dachte. Es war ein distanziertes Verhältnis zwischen dem Herren des Hauses und seinem Dienstboten, aber bis jetzt ehrlich und loyal. Adams konnte sich keinen besseren Butler vorstellen. James verbeugte sich und wendete damit den Blick wieder ab. Genauso gehörte es sich auch, nur manchmal wünschte sich Adams einen etwas geselligeren Butler, doch diesen Wunsch ließ er zu keinem Zeitpunkt vernehmen.


Mrs Smith erwartete ihn bereits in der Eingangshalle und kam nun mit federnden Schritten auf ihn zu, um ihm den Mantel abzunehmen. Adams hatte noch nie verstanden woher sie immer diesen überschwänglichen Enthusiasmus nahm. Und das in Ihrem Alter. Schließlich war sie auch nicht mehr die jüngste.

„Mr Adams, ich hoffe es ist alles gut gelaufen bei Sir Benedikt? Also mein Albert ist wieder einmal begeistert von Ihrer Geschichte. Nur das Ende macht ihn ein wenig traurig. Er mochte diesen Constable. Wie hieß er noch gleich?“ Mr Smith hatte schon seit langem darum gebettelt, der Erste sein zu dürfen, der das neue Buch um Constable Crane lesen könnte. Und Adams hatte ihm schließlich den Wunsch erfüllt und direkt, nachdem er den letzten Punkt unter den Tod seines Protagonisten gesetzt hatte, Mr Smith sein fertiges Manuskript gegeben.

Welch famose Begrüßung und die verbesserte seine Laune auch nicht gerade!

„Crane, Constable William Crane! Schön, dass es Ihrem Mann gefallen hat, nur leider kann ich dies von Sir Benedikt nicht sagen. Er teilte mir auf seine eigene wundervolle und so liebenswerte Art mit, dass ich das Ende wieder umschreiben darf.“

„Oh, das tut mir leid, Mr Adams. Aber meinem Albert…“

„Ich wäre Ihnen sehr verbunden wenn Sie sich jetzt um das Abendessen kümmern würden, Mrs Smith“, schnitt Adams ihr das Wort ab.

„Natürlich, natürlich! Sie dürfen das nicht so tragisch nehmen, Mr Adams!“

„Ich hätte heute Abend gerne Hühnchen. Ließe sich das einrichten?“

Adams merkte schon wie sich Kopfschmerzen einstellten und wenn er nicht gleich in sein ruhiges Arbeitszimmer konnte, dann würde ihm noch heute Abend der Kragen platzen.

„Nun ich weiß nicht, ob wir noch Hühnchen in der Speisekammer haben. Wäre es schlimm, wenn es auch etwas anderes zum Essen gäbe, Mr Adams?“

Mit einem Kopfschütteln polterte er die Stufen der großen Treppe in der Eingangshalle hoch und mit einem lauten Türenschlagen verschwand er in seinem Büro.

„Der arme Mr Adams! Er hat es nicht leicht in letzter Zeit!“

Mrs Smith wuselte wieder zurück in ihre Küche während James im Wohnzimmer verschwand.



5. Kapitel

Das Anwesen der Familie Abberline in Little George war ein stattliches Herrenhaus etwas abseits des nächstgrößeren Dorfes, welches sich südwestlich von London befand. Warum es nun ausgerechnet den Namen Black Rose trug, was schließlich ein unüblicher Name für ein Haus war, das wusste niemand so genau. Vielleicht deshalb, weil die Hausherrin eine große Rosenliebhaberin war und man um das Anwesen herum Rosen unterschiedlichster Farben und Größen finden konnte und vielleicht auch weil das Haus aus dunklem Stein erbaut worden war. Das zusammen mochte zum Namen Black Rose geführt haben. Das Anwesen bestand aus einem West- und einem Ostflügel, wobei sich das meiste Leben der Abberlines im Westflügel abspielte und der Ostflügel lediglich ein paar Räume für die Kindermädchen und einige Gästezimmer enthielt. Das Grundstück war derweil so weitläufig, dass man es mit einem Blick kaum erfassen konnte, denn der große Garten hinter dem Haus erstreckte sich bis zu einem kleinen Wäldchen hinunter, in dem sich noch ein See und eine Jagdhütte befanden. In den glanzvollen Zeiten sorgten eine Handvoll Gärtner dafür, dass die Pracht dieser Anlage erhalten blieb. Währenddessen wurde im Haus die Dienerschaft rigoros von einem strengen Butler geführt, der penibel darauf achtete, dass alles seinem gewohnten Gang nachging.

Die Wurzeln dieser alteingesessenen Familie reichten weit zurück genau wie ihr Anwesen. Und so waren die Abberlines und ihre Villa eng miteinander verwachsen und wurde einmal in Little George von dem Black Rose gesprochen, dann fiel das Wort auch gleich auf die darin lebende Familie. Man musste dazusagen, dass im Dorf fiel über die Abberlines gesprochen wurde. Sie boten immer genügend Stoff für den neuesten Tratsch, der meist in der alten Wirtsstube Old George Inn seinen Anfang fand. Denn hier kehrte alle paar Tage der alte Charly ein, der Gärtner der Abberlines, der es sich nicht nahm, die neusten Geschichten aus dem stattlichen Anwesen zu berichten. Genau wie die Abberlines gehörten auch ihre Dienstboten zum Black Rose dazu und das waren wie gesagt eine ganze Menge. Aber an erster Stelle wurden immer der alte Charly und die resolute Köchin genannt, die aus einem Verhältnis mit dem Butler eine kleine Tochter zur Welt gebracht hatte. Sie alle kümmerten sich schon seit Generationen um all das, was im Haus und in den großen Gärten anfiel. Aber wie in jeder großen Familie hat alles einmal ein Ende und der Prunk der letzten Jahrhunderte verstaubte, genau wie die Vorhänge verblichen und man sah sich gezwungen immer mehr Personal zu entlassen und viele Räume zu schließen, um an den Heizkosten zu sparen. Die Abberlines waren schon lange nicht mehr das, was man von einer reichen und stolzen Familie erwartete, doch gerade dieser Umstand machte sie im Dorf nur noch beliebter, denn es boten sich auf diese Weise mehr Klatschgeschichten über den Verfall der Familie. Die tragischste Geschichte ereignete sich im Jahre 1953 und bedeutete zugleich das Ende der Abberlines.




6. Kapitel

Der Herbst hatte viele Stürme und noch dazu eine eisige Kälte mit sich gebracht. Die Weiden, die dicht am Haus gepflanzt worden waren, peitschten immer wieder gegen die Scheiben, sodass sie klirrten. Adams hatte nie verstanden, wer so unvernünftig gewesen war, die Bäume so dicht an das Haus zu setzen, obwohl doch jedes Kind wusste, dass Bäume bei schweren Stürmen auch entwurzeln konnten. Innen war es deutlich gemütlicher mit den prasselnden Feuern in jedem Kamin und dem Geruch nach gerösteten Kastanien, der aus der Küche wehte. Weiß Gott, mochte Mrs Smith noch so einen schlechten Kaffee machen und noch so einfallslos sein was das Abendessen anging, so war der Geruch nach Kastanien, der jetzt im Herbst durch die Villa wehte, etwas Wunderbares. Es waren jetzt drei Wochen vergangen seit dem Erscheinen des Romans und John Adams plagte diese innere Leere, vor dem sich jeder große Schriftsteller fürchtet. Ein Zustand erbarmungsloser Passivität, in dem kein frischer Wind einen neuen Anflug von Kreativität mit sich brachte.

Adams bewahrte alle Erstexemplare seiner Werke in einem alten Eichenschrank hinter seinem Schreibtisch auf. Und so wurde auch das neue Buch fein säuberlich neben seinen Vorgängern platziert.

Immer wenn ihn diese tiefe Leere heimsuchte, und das geschah in letzter Zeit leider nur allzu oft, dann blätterte er seine alten Werke durch, vor und zurück, in der Hoffnung sie mögen ihm eine Idee für ein neues Werk geben. Doch dieses Mal, so schien es, dauerte sein Zustand länger an als je zuvor. Stundenlang saß er in seinem Arbeitszimmer, die alte Schreibmaschine seines Vaters vor sich stehend und starrte die Decke an. Nicht einmal auf Mrs Smith liebevolle Versuche ihn aufzumuntern oder ihn einmal an die frische Luft zu bringen, reagierte er.

Es war an einem Sonntagnachmittag, draußen war es bereits dunkel und ein Gewitter kündigte sich an, als Adams sich endlich erhob und nach unten ins Wohnzimmer trottete.

„James“, rief er, „machen Sie mir bitte einen Kognak!“

Stöhnend ließ er sich in dem alten Sessel am Kamin nieder und wartete, doch die Einzige, die

erschien, war Mrs Smith.

„Wo ist James? Ich hab nach ihm gerufen. Er soll mir einen Kognak bringen“, brummte Adams schlecht gelaunt.

„Oh, James ist vor etwa einer Stunde mit dem Wagen fort.“

„Verdammt noch mal, er soll doch vorher Bescheid geben und sich nicht einfach so den Wagen nehmen. Wo sind wir denn hier, wenn sich die Bediensteten einfach so selbstständig machen!“, brüllte Adams auf einmal. Er geriet immer mehr in Rage.

„Wir wollten Sie nicht stören, Mr Adams. Sie sahen so…so beschäftigt aus und ich habe schon immer gehört, dass man einen Schriftsteller nicht bei der Arbeit stören darf, denn sonst könnten seine Gedanken auf unliebsame Weise plötzlich verloren gehen.“

„Nur leider hatte ich gerade keine Gedanken!“

„Soll ich Ihnen etwas zu essen machen, Mr Adams?“

„Nein, Sie sind für heute entlassen. Gesellen Sie sich zu Ihrem Mann.“

„Sind Sie sicher? Sie sehen nicht gesund aus.“

„Mrs Smith!“ Adams erhob sich beinahe drohend, sodass die arme Frau schnell aus dem Zimmer flüchtete. Er bereute es sofort, Mrs Smith so angeschrien zu haben, doch er hatte sich nicht beherrschen können. Nach einer Weile hörte man die Hintertür zuschlagen. Adams war allein. Er bediente sich damit also selbst, holte sich eine Flasche Wein und ein Glas und ließ sich wieder am Kamin nieder. Mit jedem Glas wurde seine Stimmung schlechter, seine Augen quollen auf seltsame Weise hervor und sein Gesicht lief dunkelrot an. Mit der Absicht solange hier unten zu warten bis James wiederkam, lehrte er zwei Flaschen Wein. Die Uhr tickte unaufhaltsam, die Zeiger schoben sich langsam vor und Adams hing seinen düsteren Gedanken nach, die sich einfach nicht aus seinem Kopf verbannen ließen. Mit dem Tod seines Romanhelden war auch er innerlich gestorben. So zumindest fühlte er sich gerade und auf grausame Weise wusste er, dass es so richtig war. Zum Schluss war Adams so betrunken, dass ihm das Glas aus der Hand rutschte und der Wein sich über den schönen alten Teppich ergoss. Doch davon bekam er schon nichts mehr mit, denn er war bereits eingeschlafen. Sein Schnarchen erfüllte den ganzen großen Raum.


James kehrte erst nach Mitternacht zurück und fand Adams in sich zusammen gesunken in dem Sessel vor. Er nahm die leeren Flaschen Wein und das Glas beiseite und deckte den alten Mann vorsichtig mit einer Decke zu. Doch dieser zuckte zusammen und öffnete seine blutunterlaufenen Augen.

„James“, murmelte er im Halbschlaf, „ich habe ein ernstes Wörtchen mit Ihnen zu wechseln. Das geht…“ Er gluckste einmal, „das geht so nicht mein Freund. Haben Sie das gehört?“

James verneigte sich tief, doch Adams nahm ihn offenbar gar nicht wahr.

„Antworten Sie gefäll…gefälligst!“, lallte er weiter, „haben Sie mein Manuskript gelesen? Das sollten Sie tun, es ist… es ist wirklich…“ Er vollführte eine so ausschweifende Handbewegung, dass er fast aus dem Sessel fiel. „Es ist verdammt noch mal wirklich gut. Mein bestes Stück! Und wissen Sie was? Er stirbt! Ja er ist am Ende mausetot, ganz mausetot.“ Adams beugte sich ganz weit vor und hob seinen rechten Zeigefinger, sodass dieser James fast berührte, aber der Butler blieb steif stehen. „Er wurde erschlagen, ganz hinterhältig. Aber das wird mir nicht passieren, nein nein nein. Ich bin nicht er und…und er ist auch nicht ich. Aber am Ende da isser tot! Passen Sie gut auf mein Freund! Haben Sie’s gelesen? Das ist wirklich gut!“ Und dann sank er wieder zurück und fing erneut an zu schnarchen.


Am nächsten Morgen schlich Adams noch schlecht gelaunter als am vorherigen Tag durch das Haus, scheuchte Mrs Smith und James von einem Zimmer ins nächste und nahm eine Tablette nach der anderen gegen seine üblen Kopfschmerzen, die er wohl dem Rotwein vom Abend zu verdanken hatte. Er vertrug einfach keinen Wein! Mein Gott, so konnte das doch nicht weitergehen! Gegen Mittag meldete sich Sir Benedikt, der neue Roman verkaufe sich so mäßig, nicht besser aber auch nicht schlechter als die beiden Vorgänger. Er hätte doch das erste Ende wählen sollen, das wusste Adams instinktiv. Und außerdem verspürte er nicht mehr die geringste Lust sich noch weiter mit Constable William Crane zu beschäftigen. Diese Figur erinnerte ihn zu sehr an sich selbst und das erschreckte ihn.

Es konnte ein Fluch sein, wenn sich der Autor zu sehr mit seinen Figuren identifizierte. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwammen nur allzu leicht. Aber manchmal war gerade genau dies die pure Absicht. Machte es ein Buch nicht erst lesenswert, wenn es Spuren des echten Lebens enthielt?



7. Kapitel

Man sagt, Blut sei dicker als Wasser. Vielleicht ist etwas dran an diesem alten Spruch. Das Blut ist es, was eine Familie zusammenhält. So ist der Adel stolz auf sein angeblich blaues Blut, das ihn von dem einfachen Volke unterscheidet. Man mag zweifeln an derlei Ausführungen, aber im Grunde ist es genau das, was diese Einheit verbindet und von anderen abgrenzt.