Peter Handke
Versuch über die Müdigkeit
Suhrkamp Verlag
»Καὶ ἀναστὰς απὸ τῆς προσευχῆς ἐλϑὼν πρὸς τοὺς μαϑητὰς εὖρεν ϰοιµωµένους αὐτοὺς ἀπὸ τῆς λύπης«
»Und aufgestanden vom Gebet, kommend zu den Jüngern, fand er sie eingeschlafen vor Betrübnis«
Lukas 22,45
Früher kannte ich nur Müdigkeiten zum Fürchten.
Wann früher?
In der Kindheit, in der sogenannten Studienzeit, ja noch in den Jahren der frühen Lieben, gerade da. Während einer der Christmetten saß das Kind inmitten der Angehörigen in der dichtbevölkerten, blendhellen, von den bekannten Weihnachtsliedern schallenden Heimatkirche, umgeben von Tuch- und Wachsgeruch, und wurde befallen von der Müdigkeit mit der Wucht eines Leidens.
Was für ein Leiden?
Wie man Krankheiten »häßlich« oder »bösartig« nennt, so war diese Müdigkeit ein häßliches und bösartiges Leiden; welches darin bestand, daß es entstellte, sowohl die Umgebung ‒ die Kirchenbesucher zu einpferchenden Filz- und Lodenpuppen, den Altar samt blinkendem Aufputz in der undeutlichen Ferne zu einer Stätte der Torturen, begleitet von den wirren Ritualen und Formeln der Ausführer ‒ als auch das Müdkranke selber, zu einer Groteskfigur mit Elefantenkopf, auch so schwer, so trockenäugig, so wulsthäutig; entzogen durch die Müdigkeit dem Stoff der Welt, in diesem Fall der Winterwelt, der Schneeluft, der Menschenleere, etwa auf jenen Schlittenfahrten nachts unter den Sternen, wenn die anderen Kinder allmählich in die Häuser verschwunden waren, weit über die Ränder des Dorfes hinaus, allein, begeistert: vollkommen da, in der Stille, im Sausen, im Blau des vereisenden Wegs ‒ »es zieht an«, sagte man von solcher wohligen Kälte. Nun aber, dort in der Kirche, die ganz andere Kälteempfindung des von der Müdigkeit als einer Eisernen Jungfrau Umschlossenen, und es, das Kind, ich bettelte mitten in der Mette heim, was fürs erste einmal bloß »hinaus!« hieß, und verdarb seinen Angehörigen damit eine der ohnehin, durch das Schwinden der Bräuche, immer selteneren Gemeinschaftsstunden mit den anderen Bewohnern der Gegend (wieder einmal).
Warum beschuldigst du dich (wieder einmal)?
Weil die Müdigkeit von damals selbst schon verbunden war mit einem Schuldgefühl, von diesem sogar noch verstärkt wurde, zum akuten Schmerz. Wieder einmal versagst du in der Gemeinschaft: zusätzlich ein Stahlband um die Schläfen, zusätzlich ein Blutentzug vom Herzen; noch Jahrzehnte danach wiederholt eine jähe Scham über jene Müdigkeiten; seltsam nur, daß mir von den Angehörigen später zwar einiges vorgehalten wurde, nie aber sie …
War es dann ähnlich mit den Müdigkeiten der Studienzeit?
Nein. Kein Schuldgefühl mehr. Die Müdigkeit in den Hörsälen ließ mich mit den Stunden im Gegenteil sogar aufsässig oder aufbegehrend werden. Es war in der Regel weniger die schlechte Luft und das Zusammengezwängtsein der Studentenhunderte als die Nichtteilnahme der Vortragenden an dem Stoff, der doch der ihre sein sollte. Nie wieder habe ich von ihrer Sache so unbeseelte Menschen erlebt wie jene Professoren und Dozenten der Universität; jeder, ja, jeder Bankangestellte, beim Hinblättern der, gar nicht seiner, Scheine, alle Straßenteerer in den Hitzeräumen zwischen Sonne oben und Teerkoch unten wirkten beseelter. Wie mit Sägemehl ausgestopfte Würdenträger, deren Stimmen keinmal von dem, was sie besprachen, in ein Schwingen des Staunens (des guten Lehrers selber über seinen Gegenstand), der Begeisterung, der Zuneigung, des Sich-Fragens, der Verehrung, des Zorns, der Empörung, des Selber-nicht-Wissens gebracht wurden, vielmehr unablässig nur leierten, abhakten, skandierten ‒ freilich nicht im Brustton eines Homer, sondern dem der vorweggenommenen Prüfung ‒, höchstens zwischendurch mit dem Unterton eines Witzelns oder einer hämischen Anspielung für Eingeweihte, während es draußen vor den Fenstern grünte und blaute und dann schon dunkel wurde: bis die Müdigkeit des Hörers in Unwillen, der Unwille in Übelwollen umschlug. Wieder, wie in der Kinderzeit, das »Hinaus! Weg von euch allen hier!« Nur wohin? Heim, wie damals? Dort aber, in der Mietkammer, war jetzt während der Studienzeit eine andere neuartige, im Elternhaus unbekannte Müdigkeit zu befürchten: die Müdigkeit in einem Zimmer, am Rand der Stadt, allein; die »Alleinmüdigkeit«.
Aber was war an der zu fürchten? Stand nicht neben Stuhl und Tisch in der Kammer gleich das Bett?
Das Schlafen als Ausweg kam nicht in Frage: Zunächst einmal wirkte sich jene Art der Müdigkeit aus in einer Lähmung, aus der heraus in der Regel nicht einmal ein Krümmen des kleinen Fingers, ja kaum ein Wimpernzucken möglich war; selbst das Atmen schien ins Stocken geraten, so daß man sich erstarrt bis ins Innerste fühlte zu einer Müdigkeitssäule; und wenn doch einmal der Schritt ins Bett geschafft wurde, dann kam es, nach einem schnellen, ohnmachtsähnlichen Wegschlafen ‒ keine Empfindung von Schlaf ‒, beim ersten Umdrehen zum Aufwachen hinein in die Schlaflosigkeit, meist ganze Nächte lang, denn die Müdigkeit im Zimmer allein pflegte immer am späten Nachmittag oder am frühen Abend hereinzubrechen, mit der Dämmerung. Von der Schlaflosigkeit haben andere schon genug erzählt: wie sie am Ende dem Schlaflosen sogar das Weltbild bestimmt, so daß er das Dasein, beim besten Willen, nur noch als Unglück, jedes Handeln als sinnlos, jede Liebe als lächerlich sehen kann. Wie der Schlaflose daliegt bis hinein ins Fahllicht des Morgengrauens, das ihm die Verdammnis bedeutet, über ihn allein da in seiner Schlaflosigkeitshölle hinaus des ganzen fehlgeratenen, auf den falschen Planeten verschlagenen Menschenwesens … Auch ich war in der Welt der Schlaflosen (und bin es, immer wieder, noch jetzt). Die ersten Vögel noch in der Finsternis, im Vorfrühling: wie österlich sonst oft ‒ wie hohnvoll aber nun hereinschrillend zum Zellenbett, »wie-der-ei-ne-Nacht-ohne-Schlaf«. Das Schlagen der Kirchturmuhren jede Viertelstunde, gut vernehmbar auch die entferntesten, als Ankünder wieder eines üblen Tages. Das Fauchen und Kreischen zweier übereinander herfallender Kater in der Reglosigkeit als das Laut- und Deutlichwerden des Bestialischen im Zentrum unserer Welt. Die angeblichen Lustseufzer oder -schreie einer Frau, in ebenso stehender Luft unvermittelt einsetzend, wie wenn, genau über dem Schädel des Schlaflosen, auf Knopfdruck eine in Serie erzeugte Maschine anspränge, als das plötzliche Fallenlassen unser aller Zuneigungsmasken und das Hervorkehren panischer Selbstsucht (da liebt kein Paar, sondern wieder einmal ein jeder lauthals allein sich) und Gemeinheit. Episodische Stimmungen der Schlaflosigkeit ‒ den beständig Schlaflosen freilich, so verstehe ich jedenfalls deren Erzählungen, können sie endgültig erscheinen, sich fügen zu Gesetzlichkeiten.
Aber du, der doch nicht chronisch Schlaflose: Bist du nun darauf aus, vom Weltbild der Schlaflosigkeit zu erzählen oder dem der Müdigkeit?
Von der Liebe