Mein Dank gilt all jenen Menschen, ohne deren Hilfe die Pandæmonia-Trilogie niemals entstanden wäre:
meinen Lektorinnen Kerstin von Dobschütz und Nicole Geismann sowie meinem Agenten Bastian Schlück, für ihre kompetente und geduldige Unterstützung;
den Alchymistinnen Lisa Dickreiter, Uschi Timm-Winkmann und Natalja Schmidt, die mit ihrem Sachverstand stilistische Laborunfälle verhinderten und die Geschichte so lange destillierten, bis sie die richtige Wirkung hatte;
den Aethermechanikern Markus Opper, Dimitrije Pauljev, Christoph Hardebusch und Heiko Wolz, die mit Umsicht und Scharfblick Schäden im Plot-Getriebe aufspürten und mich vor dem logischen Totalschaden bewahrten;
Claudia Wichmann, die so freundlich war, einem von Handwerkerlärm geplagten Schattenwesen Zuflucht zu gewähren;
und schließlich meiner Frau und Magierin Sandra – deine Zauberkraft hat Bradost erschaffen. Ich weiß nicht, wie, aber es hat funktioniert.
Christoph Lode
Mannheim, Februar 2011
Christoph Lode, geboren 1977, ist in Hochspeyer bei Kaiserslautern aufgewachsen und lebt heute mit seiner Frau in Mannheim. Er studierte in Ludwigshafen am Rhein und arbeitete in einer psychiatrischen Klinik bei Heidelberg. Heute widmet er sich ganz dem Schreiben. Bisher ist er als Autor erfolgreicher historischer Romane bei Page & Turner in Erscheinung getreten. Nun hat er seine »phantastische« Seite entdeckt und legt mit Pandæmonia seine erste Fantasy-Trilogie bei Goldmann vor.
Außerdem von Christoph Lode lieferbar:
Der letzte Traumwanderer. Pandæmonia I (47173)
Die Stadt der Seelen. Pandæmonia II (47174)
Der Gesandte des Papstes. Roman (46799)
Das Vermächtnis der Seherin. Roman (46798)
Die Bruderschaft des Schwertes. Roman (47376)
Vivana schloss die Augen.
Ist das wirklich geschehen? Was, wenn ich alles nur träume? Ja. So muss es sein …
Doch es war kein Traum, natürlich nicht. Als sie die Augen aufschlug, war alles noch so wie zuvor: die zerwühlte Tasche, die Glassplitter, das Blut auf dem Boden.
Und Livia auf ihrem Bett.
»Vivana«, flüsterte ihre Tante. »Das Amulett.«
Vivana wischte sich die Tränen weg. Sie musste tun, worum ihre Tante sie bat. Wenigstens das musste sie schaffen.
Stück für Stück nahm sie Livias Sachen aus der Tasche und breitete sie auf dem Boden aus. Vorsichtig, damit sie nichts beschädigte. Die ledergebundenen Bücher. Das Messer. Mehrere Beutel mit getrockneten Kräutern. Ganz unten fand sie die schwarze Perle, die Livia einst benutzt hatte, um Liam zu prüfen.
Daneben lag ein Stein. Ein scharfkantiger Granitsplitter in Form einer Pfeilspitze. Zeichen und Symbole waren darin eingeritzt.
»Da ist kein Amulett«, sagte sie und nahm den Stein in die Hand. »Nur das.«
»Das ist es«, murmelte Livia. Ihre Stimme klang schwach, so schwach.
Vivana betrachtete den Stein. Tief in ihr schien es einen unbeteiligten Beobachter zu geben, der trotz des Grauens, das sie empfand, kühl die Situation analysierte. Du kennst diese Runen. Es sind die Schriftzeichen des Verlorenen Volkes. Die Symbole waren unermesslich alt und voller Macht.
Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Wir müssen fort«, sagte Godfrey.
»Fort?«, echote sie verwirrt.
»Wir können hier nicht bleiben. Wenn Corvas und Umbra merken, dass du und Nedjo nicht bei den Gefangenen seid, werden sie zurückkommen.«
»Und Livia?«
»Wir müssen sie mitnehmen.«
»Das geht nicht. Schau sie dir doch an. Sie ist viel zu schwach.«
»Ich kenne einen Platz, wo wir uns verstecken können. Es ist nicht weit.«
»Aber …« Vivana bemerkte, dass Tante Livia etwas sagen wollte. Die Manusch brauchte einen Moment, bis sie die Kraft dazu fand.
»Godfrey hat Recht«, flüsterte sie. »Ich schaffe das schon.«
Der Aethermann und Nedjo eilten davon, um eine Trage zu holen. Vivana setzte sich auf die Bettkante. Livia presste die Hand auf die blutigen Verbände. Sie war blass, und ihre Augen glänzten fiebrig. Auf eine seltsame Weise wirkte sie so noch schöner als sonst.
Vivana wandte den Blick ab. Sie hatte einen Kloß im Hals. »Wofür ist der Stein?«
»Später«, sagte Livia und schloss die Augen. »Vergiss die Sachen nicht«, murmelte sie nach einer Weile. »Die Perle und die Bücher … Sie gehören jetzt dir.«
»Nein, tun sie nicht. Sie gehören dir.«
Die Manusch erwiderte nichts darauf, vielleicht weil sie den Rest ihrer Kräfte nicht damit vergeuden wollte zu streiten. Vivana presste die Lippen zusammen und begann, Livias Sachen in die Tasche zu stopfen.
Godfrey und Nedjo kamen mit der Trage zurück. Der junge Manusch war bleich und fuhr sich mit zitternder Hand durch das Haar, während sein Blick hierhin und dorthin huschte. Vivana hatte ihn noch nie so erschüttert erlebt.
Behutsam hoben die beiden Männer Livia vom Bett. Die Wahrsagerin versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch Vivana sah, dass sie große Schmerzen litt. Als Godfrey und Nedjo sie auf die Trage legten, stöhnte sie leise auf.
Die Männer brachten sie in den Hauptraum des Verstecks, wo immer noch Schwaden von Pulverdampf über den zerschossenen Maschinen hingen. Ruac hatte hier auf sie gewartet. Der einstige Tatzelwurm, der nun zu einem Lindwurm herangewachsen war, betrachtete Livia mit seinen gelben Reptilienaugen. Er beschnupperte ihr Gesicht, als könne er nicht glauben, die energische Wahrsagerin so hilflos zu sehen. Livia lächelte schwach und strich ihm über die Schnauze.
Sie stiegen über die Trümmer des Tores und folgten dem stillgelegten Abwasserkanal, eine stumme Prozession durch die Dunkelheit. Ruac spürte, dass sie Schutz brauchten, und huschte voraus. Vivana trug die Tasche mit Livias Sachen über der Schulter. In der einen Hand hielt sie Godfreys Lampe, in der anderen das Runenamulett. Sie umklammerte den Stein so fest, dass die Kanten in ihre Haut schnitten.
Godfrey führte sie durch ein Gewirr aus Tunneln, in denen man das dumpfe Maschinenwummern des Kessels hören konnte, bis sie schließlich zu einer alten Tür kamen. Sie war so verzogen, dass Godfrey sie nur mit Mühe aufbekam. Muffige Luft schlug ihnen entgegen. Vivana leuchtete hinein. Offenbar ein vergessener Lagerraum, in dem sich morsche Kisten und Blechfässer bis zur spinnwebenverhangenen Gewölbedecke stapelten.
»Hier findet uns niemand«, sagte Godfrey. Er und Nedjo trugen Livia hinein.
Die Manusch gab keinen Laut von sich, als sie die Trage abstellten. Vollkommen reglos lag sie da, die Augen geschlossen. Vivana kniete sich neben sie.
»Tante Livia?« Sie berührte die Wange der Wahrsagerin. Ihre Haut war kalt.
Vivana legte die Finger auf Livias Hals, tastete, wartete. Endlich spürte sie den Puls, ganz schwach zwar, aber er war da.
»Wach auf, Tante Livia. Bitte. Du musst aufwachen.« Nach endlosen Sekunden öffnete Livia die Augen.
»Wo sind wir?«
»In Sicherheit.«
Nedjo holte einen Wasserschlauch aus seinem Rucksack und half Livia beim Trinken. Anschließend klang ihre Stimme ein wenig kräftiger. »Hast du den Stein?«
Vivana nickte und öffnete ihre Hand.
»Hör mir jetzt gut zu. Wir haben … nur einen Versuch. Nichts darf schiefgehen.«
»Was für einen Versuch? Ich verstehe nicht …«
»Die Tradition verlangt, dass ich mein Wissen weitergebe, bevor ich sterbe.«
Vivana wollte protestieren, wollte rufen Du stirbst nicht!, doch der nüchterne Beobachter in ihr wusste, dass sie damit lediglich Livias letzte Minuten verschwenden würde. Ihre Tante lag im Sterben – nichts und niemand konnte das verhindern. Alles, was Vivana jetzt noch tun konnte, war, ihre Wünsche zu respektieren.
Sie kämpfte gegen die Tränen an und sagte: »Du willst es an mich weitergeben.«
»Ja.«
»Auch deine Zaubersprüche und magischen Kräfte?«
»Sie dürfen nicht verloren gehen.«
»Aber ich bin nicht bereit dafür. Du hast doch immer gesagt, man müsse jahrelang studieren, bis man …«
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr.«
Vivana schluckte. »Was muss ich tun?«
»Das Amulett enthält … magische Kraft. Du musst es gut festhalten. Es bündelt die Magie, die wir für das Ritual brauchen. Gib mir deine Hand.«
Vivana gehorchte. Die kalten Finger der Wahrsagerin schlossen sich um ihre Hand mit dem Stein und pressten sie auf Livias Brust.
»Komm her«, sagte Livia leise. »Du musst genau zuhören. «
Vivana hielt ihr Ohr nah an Livias Lippen. Ein Kraftschub schien durch den Körper der Wahrsagerin zu strömen, und sie umklammerte ihre Hand so fest, dass sich Vivana vor Schmerz auf die Lippe biss.
Livia begann zu flüstern.
Etwas in ihrer Stimme versetzte Vivana in hypnotische Trance und ließ sie vergessen, wo sie sich befand und was gerade geschah. Ihr war, als sickerten die Worte bis in die tiefsten Bereiche ihres Bewusstseins und brächten dort etwas zum Schwingen, von dem sie bis jetzt nicht gewusst hatte, dass sie es in sich trug. Obwohl Livia in der Sprache der Manusch redete, verstand sie jedes Wort – und nicht nur das, sie erfasste die verborgenen Bedeutungen der einzelnen Silben und Laute, so, als lausche sie der puren Essenz der Sprache.
Der Runenstein wurde warm und schließlich so heiß, dass sie ihn am liebsten fallen gelassen hätte. Doch der Griff der Wahrsagerin war unerbittlich.
Es waren uralte Geheimnisse, die Livia ihr anvertraute. Sie waren schon alt gewesen, als die Manusch ihre Heimat verloren hatten und begannen, rastlos durch die Länder des Nordens zu ziehen. Viele Jahrhunderte lang waren sie von Mund zu Ohr gewandert, wurden stetig angereichert durch neues Wissen, durch neue Erfahrungen, sodass sie auch dann noch die Tür zu beträchtlicher Macht öffnen konnten, als die Magie längst schwach geworden war. Innerhalb weniger Augenblicke sah Vivana die Welt durch die Augen zahlloser Manusch – Wahrsager und Heiler, Zauberer und Totenbeschwörer – , die das Wissen ihrer Vorfahren erhalten hatten und es hüteten und mehrten, bevor sie starben und es ihrerseits an ihre Nachkommen weitergaben.
Die Flut der Bilder und Geräusche und Gefühle, die auf sie einstürzte, war so gewaltig, dass sie vor Schmerz aufstöhnte. Sie versuchte, sich dagegen abzuschotten, die fremden Erinnerungen auszusperren und sie nicht mehr in ihr Inneres zu lassen – doch Livias Stimme durchdrang mühelos die Barrieren ihres Verstandes, so machtvoll war sie dank der Kraft des Amuletts.
Übelkeit erfasste Vivana. Sie schien zu fallen, in einem Meer aus Schwärze zu versinken, das ihr Bewusstsein mit Dunkelheit überschwemmte.
Hände griffen nach ihr, drehten sie auf den Rücken, berührten ihre Wange. Schmerz durchfuhr ihren Kopf, und sie stöhnte abermals. Schließlich öffnete sie blinzelnd die Augen und erblickte Godfrey und Nedjo, die sich über sie beugten.
»Was ist passiert?«, fragte der Manusch.
Vivana atmete ruhig, bis die Benommenheit verschwand. Gern hätte sie Nedjo geantwortet, Worte formuliert, doch es gelang ihr nicht. Unzählige Stimmen flüsterten in ihrem Verstand und übertönten jeden Gedanken.
Sie hielt sich an Nedjos Arm fest und setzte sich auf.
»Alles in Ordnung? Du bist plötzlich umgekippt.«
Blitze tanzten vor ihren Augen. Sie spürte, dass sie nach wie vor den Stein umklammerte. Als sie ihre Hand öffnete, blieben Partikel an ihrer Haut kleben. Der Stein zerbröckelte, und seine Überreste rieselten wie Asche durch ihre Finger.
Sie wusste Dinge. Erinnerte sich an Ereignisse, die sie nie erlebt hatte. Ihr Kopf war so voll davon, dass er sich anfühlte, als würde er jeden Moment platzen.
Ruac rieb seine Schnauze an ihrer Schulter. Dankbar für seine Gegenwart schmiegte sie sich an ihn, spürte die Wärme, die seine Flanken verströmten. Seine Zuneigung war etwas Konkretes, gab ihr Halt. Half ihr, sich nicht in den fremden Leben zu verlieren, die sie dutzendfach gesehen und in sich aufgenommen hatte.
Ein einzelner Gedanke durchdrang ihre Verwirrung: Livia.
Sie fuhr herum. Nedjo kauerte neben der Trage, das Gesicht grau vor Kummer.
Vivana ergriff die Hand der Wahrsagerin, betrachtete ihr Gesicht. Ihre Züge hatten sich entspannt. Sie wirkten sanft und erschöpft zugleich, so als hätte sie sich nach einem langen Arbeitstag hingelegt, um ein wenig zu ruhen.
Leise sprach Nedjo ein Gebet.
In Lady Sarkas Palast war der Herbst nie weit entfernt. Selbst im Hochsommer, wenn Bradost unter der Hitze ächzte, lagen Schatten über dem Garten, sodass es in den Fluren und Hallen kaum je richtig hell wurde. Ein immerwährendes Zwielicht umgab die uralten Bäume und verwitterten Statuen, und stets erfüllte ein Hauch von Moder die Luft.
Aber nun war Oktober, und der Herbst hatte den Palast tatsächlich fest im Griff. Feuerrotes Laub bedeckte Wege und Rasenflächen. Früh am Morgen ragte das Anwesen wie eine Klippe aus dem Nebel, der vom Fluss durch die Gassen kroch. Die Schwaden verfingen sich in den Gängen des Heckenlabyrinths und verschwanden manchmal bis zum Nachmittag nicht.
Jackon wanderte einen menschenleeren Korridor entlang und blieb an einem Bleiglasfenster stehen, das auf die kahl werdenden Bäume vor dem Ostflügel wies. Er wusste nicht, wie lange er schon durch das Anwesen streifte. Er hatte die Enge seines Zimmers nicht mehr ertragen und streunte ziellos umher. Das Mittagessen, das Cedric ihm gebracht hatte, hatte er auch nicht angerührt. Er bezweifelte, dass er je wieder etwas zu sich nehmen konnte, ohne dass es ihm sofort wieder hochkam.
Regengraue Wolken zogen von Karst heran und hingen tief über den Dächern. Wind ließ den Rauch aus den Kaminen zerfasern. Im Nordosten, weit hinter den Türmen der Kathedrale, befand sich ein Hügel. Mit etwas Mühe konnte Jackon das Gebäude erkennen, das darauf stand. Es war groß und grau und abweisend und besaß Gitter vor jedem Fenster.
Das Ministerium der Wahrheit.
Just in diesem Moment befand sich Liam irgendwo da drinnen, gefangen in einer Zelle, und wartete darauf, dass …
Nein. Jackon beschloss, diesen Gedanken nicht weiterzuverfolgen, am besten überhaupt nicht mehr zu denken, er hatte ja gesehen, wohin das führte. Er musste sich ablenken, musste irgendetwas tun, das ihn daran hinderte, sich immer wieder zu fragen, was er hätte tun müssen, damit es nicht so weit gekommen wäre.
Du bist ein Traumwanderer. Ein Leibwächter von Lady Sarka. Hör auf mit diesem albernen Selbstmitleid!
Seine innere Unruhe wurde so stark, dass er weitergehen musste. Mit hängenden Schultern schlurfte er durch das trübe Farbenspiel der Buntglasfenster, und irgendwann fand er sich auf der Treppe wieder, die zum Palastkeller und von dort aus zu den Höhlen unter den Gewölbekammern führte. Stufe für Stufe stieg er hinab, dem blauen Licht entgegen. Er wusste nicht recht, warum er ausgerechnet diesen Weg genommen hatte. Vielleicht weil er hoffte, jemanden zum Reden zu finden. Jemanden, der ihm sagte, dass er das Richtige getan hatte.
Die Treppe mündete in einen Gangkomplex, dessen Wände, Böden und Decken aus einer wulstigen, glasartigen Substanz bestanden. Jackon war schon ein paarmal hier unten gewesen, aber er hatte nie herausgefunden, woher das blaue Licht kam. In manchen Felsnischen hingen papierne Spindeln, die zu groß geratenen Wespennestern ähnelten. Mit Grausen erinnerte er sich, dass es sich dabei um Hüllen handelte, in denen neue Spiegelmänner heranwuchsen.
Er ging zum Zentrum der Höhlen. Dort, umgeben von Säulen aus gewuchertem Glas, befand sich das Labor von Lady Sarka.
Seit die Lady Aziels Platz eingenommen hatte und über die Träume herrschte, hielt sie sich kaum noch in der Wachwelt auf. Doch wenn sie es tat, war sie meist hier unten. Gerade unterhielt sie sich mit Corvas. Das silbrige Tuch ihres Gewandes nahm das Höhlenlicht und den Feuerschein des alchymistischen Ofens auf und schimmerte wie Perlmutt in geheimnisvollen Farben, als sie sich zu Jackon umwandte.
»Da ist ja unser Held des Tages. Bei Tessarion, du siehst ja furchtbar aus. Ist etwas passiert?«
»Ich habe mir nur den Magen verdorben«, murmelte Jackon. »Es geht schon wieder.«
»Corvas hat mir gerade erzählt, dass er die Verräter festgenommen hat. Heute ist ein großer Tag für Bradost. Und wessen Verdienst ist das? Allein der deine. Ich bin stolz auf dich.«
Früher hatte ihr Lächeln ihn stets aufgemuntert. Jetzt bewirkte es nur, dass er sich noch elender fühlte.
Lady Sarka hob eine Augenbraue. »Es ist wegen Liam, nicht wahr? Hast du seinetwegen etwa ein schlechtes Gewissen? «
Er zuckte mit den Schultern.
»Dazu besteht wirklich kein Grund. Er wollte mir schaden. Er hat bekommen, was er verdient.«
»Er war mein Freund.«
»Du brauchst keine Freunde. Du hast uns.«
Jackon blickte von ihr zu Corvas, der mit seiner bleichen Haut und dem knochigen Schädel im Zwielicht wie eine lebende Leiche wirkte. Ein Schauder lief ihm über den Rücken.
»Du hast das Richtige getan«, erklärte Lady Sarka sanft. »Jetzt hör auf, so ein Gesicht zu machen. Heute ist für uns alle ein Tag der Freude.«
Da war er, der Satz, den er unbedingt hatte hören wollen. Doch er beruhigte ihn nicht, im Gegenteil, er klang wie grausamer Hohn in seinen Ohren. Am liebsten wäre er davongelaufen und hätte sich irgendwo verkrochen, für immer.
In diesem Moment zogen sich in einem Winkel der Höhle die Schatten zusammen und verdichteten sich zu einem nachtschwarzen Kern. Ein Schattentor. Umbra trat heraus, gefolgt von Silas Torne und zwei Spiegelmännern. Die Maskierten trugen eine Gestalt. Obwohl ihr der Kopf auf die Brust gesunken war, erkannte Jackon auf den ersten Blick, um wen es sich handelte.
»Lucien«, sagte er überrascht und lief Umbra entgegen.
Die Spiegelmänner hielten den Alb an den Armen fest; seine Füße schleiften über den Boden. Ohnmächtig war er nicht – seine Augen waren offen –, aber er schien irgendwie gelähmt zu sein.
»Wieso hast du ihn nicht zum Ministerium gebracht, so wie die anderen?«, fragte Jackon.
»Weil er mir gehört«, antwortete Silas Torne an Umbras Stelle.
Die Leibwächterin bedachte Torne mit einem Blick voller Abscheu. »Er gehört dir, wenn ich ihn verhört habe«, erinnerte sie ihn. »So lautet unsere Abmachung.«
»Gewiss«, erwiderte der entstellte Alchymist mit einem boshaften Lächeln.
Umbra befahl den Spiegelmännern, Lucien nach oben zu bringen. Torne folgte ihnen und rieb sich dabei die Hände.
Jackon wagte sich nicht vorzustellen, was für ein Schicksal Lucien in Tornes Hexenküche erwartete. Er hat mich vor Aziel gewarnt. Ohne ihn wäre ich jetzt tot. Hastig schob er auch diesen Gedanken beiseite.
Umbra öffnete eine lederne Umhängetasche und übergab Lady Sarka einen alten Wälzer. »Das Gelbe Buch von Yaro D’ar. Wir haben es bei dem Jungen gefunden.«
Lady Sarka legte den Folianten behutsam auf den Labortisch und strich mit den Fingerkuppen über den Ledereinband. »Gute Arbeit. Ich bin zufrieden mit euch.«
»Leider hat die Sache einen kleinen Schönheitsfehler«, sagte Umbra mit gerunzelter Stirn. »Godfrey ist uns entwischt. Außerdem waren Quindals Tochter und einer der Manusch nicht in dem Versteck. Dummerweise ist uns das erst aufgefallen, als wir die Gefangenen ins Ministerium gebracht hatten. Wir haben sofort Leute zu dem Unterschlupf geschickt. Falls sie dort auftauchen, nehmen wir sie fest.«
»Gut.« Lady Sarka wandte sich an Corvas. »Fang an, die Gefangenen zu verhören. Ich will alles wissen. Was ihre Pläne gewesen sind und vor allem, was sie mit dem Buch vorhatten. Und frag Quindal nach seiner Tochter. Er wird wissen, wo sie sich versteckt.«
Corvas deutete eine Verneigung an. Dann verwandelte er sich in eine Krähe, flog los und verschwand im blauen Zwielicht.
Eine Frage brannte Jackon auf den Lippen. »Wenn Corvas fertig ist«, begann er zögernd, »was passiert dann mit den Gefangenen?«
»Was dann mit Liam passiert, willst du doch wissen, oder?«, erwiderte Lady Sarka.
»Ihr habt versprochen, dass ihm nichts angetan wird. Dass er nur ins Gefängnis kommt.«
»So, habe ich das.«
Ihr Ton gefiel ihm ganz und gar nicht. »Ihr habt mir Euer Wort gegeben!«
»Sei doch kein Narr. Sie sind Verräter. Dafür gibt es nur eine Strafe.«
»Welche?«
»Herrgott, Jackon. Frag nicht so dumm.«
»Das könnt Ihr nicht tun«, ächzte er.
»Ich kann nicht nur, ich muss. Die Sicherheit Bradosts hängt davon ab.«
Plötzlich war Jackon, als gäbe der Boden unter ihm nach, und er schien zu fallen, immer tiefer, immer schneller. »Ihr habt das von Anfang an gewusst, nicht wahr? Das Versprechen – das war nur eine Lüge, damit ich mache, was Ihr sagt. Wahrscheinlich habt Ihr gedacht: Der kleine, dumme Jackon merkt das sowieso nicht.«
»Jackon!«, sagte Umbra scharf.
»Wenn man über eine Stadt wie Bradost herrscht, muss man gelegentlich unangenehme Entscheidungen treffen«, entgegnete Lady Sarka ruhig. »Versteh das bitte. Jetzt lass uns allein. Umbra und ich müssen einiges besprechen.«
»Nein. Ich gehe erst, wenn ich weiß, dass Liam und seinen Freunden nichts geschieht. Ich will, dass Ihr es schwört, und diesmal ist Umbra mein Zeuge.«
Lady Sarka gab der Leibwächterin mit einem Kopfnicken ein Zeichen, woraufhin Umbra ihn am Arm packte.
»Lass mich los!«
»Jetzt reiß dich zusammen! Du benimmst dich wie ein kleines Kind.« Umbra öffnete ein Schattentor.
»Lügnerin!«, schrie Jackon. »Ihr seid eine Lügnerin, habt Ihr gehört?«
Im nächsten Moment umfingen ihn die Schatten. Jackon versuchte, sich loszureißen und zum Eingang des Tunnels zu laufen, doch Umbra hielt ihn mit eisernem Griff fest, bis er sich wenige Sekunden später in seinem Zimmer wiederfand.
»Ich schlage vor, du bleibst hier, bis du zur Besinnung gekommen bist«, knurrte die Leibwächterin, bevor sie wieder verschwand.
Jackon kauerte auf dem Boden und schlug mit der Faust auf das Parkett, wieder und wieder. Er merkte nicht, dass ihm dabei Tränen über die Wangen liefen.
Nicht einmal die Augenlider konnte Lucien noch bewegen.
Ein Großteil seiner Muskeln hatte sich verhärtet, als wäre das Blut in seinen Adern zu einer festen Masse geronnen. Nur ein paar Körperteile – die Finger, die Füße, sein Gesicht – waren davon nicht betroffen; dafür waren sie gelähmt und vollkommen taub. Seine Nervenbahnen dagegen arbeiteten unglücklicherweise einwandfrei. Immer neue Wellen brennender Pein sandten sie durch seine Glieder und verwandelten seinen Körper in eine Hölle aus Schmerz.
Die Spiegelmänner hatten ihn zu Silas Tornes Labor gebracht und auf einen steinernen Tisch gelegt. Der Alchymist hielt sich seit ein paar Minuten im hinteren Teil des Raumes auf und tat … irgendetwas. Was genau, wusste Lucien nicht – da er seinen Kopf nicht bewegen konnte, sah er lediglich die rußverschmierte Gewölbedecke. Doch was er hörte, klang nicht gerade beruhigend. Geräte klickten und surrten metallisch, und Torne summte gut gelaunt vor sich hin.
Lucien versuchte, seine Muskeln anzuspannen, seine Hand zur Faust zu ballen, irgendwie die Kontrolle über seinen Körper zurückzuerlangen – vergeblich. Er konnte nicht einmal um Hilfe rufen, geschweige denn, sich unauffällig machen oder in die Traumlanden entkommen. Das Gift legte sich wie Nebel über seinen Verstand, machte seine Gedanken schwerfällig und blockierte seine Albenfähigkeiten. Diesmal hatte Torne wirklich an alles gedacht.
Irgendwann erschien das entstellte Gesicht des Alchymisten über ihm. Seine mumienhaft vertrockneten Lippen formten ein Lächeln.
»Lucien, alter Freund, du ahnst gar nicht, wie glücklich du mich machst. Weißt du, wie oft ich mir diesen Moment vorgestellt habe? Hundertmal. Tausendmal. Ach, noch viel öfter. Nacht für Nacht habe ich wachgelegen und mir ausgemalt, wie du auf meinem Tisch liegst, hilflos und voller Angst. Und jetzt ist mein Wunsch endlich in Erfüllung gegangen.«
Torne verschwand aus Luciens Sichtfeld und redete weiter, während er in einem Regal herumwühlte.
»Monatelang habe ich mir den Kopf zerbrochen, wie ich dich zur Strecke bringen könnte. Wie fängt man einen Alb, der so gerissen ist wie Lucien?, habe ich mich gefragt. Am besten mit Giftgas, dachte ich mir, aber natürlich durfte es kein gewöhnliches Giftgas sein. Ich musste eine völlig neuartige Rezeptur erfinden, eine Substanz, die genau auf die speziellen Widerstandkräfte eines Alben abgestimmt ist. Du machst dir keine Vorstellung, wie schwierig es ist, ein solches Gift zu destillieren. Was man dabei alles bedenken muss. Es gab Tage, an denen ich beinahe aufgegeben hätte, und ich bin sicher, ein Wald-und-Wiesen-Alchymist wäre an dieser Aufgabe verzweifelt. Aber wie du weißt, bin ich kein gewöhnlicher Trankmischer. Ich bin ein Meister meines Fachs, und so habe ich schließlich eine Rezeptur gefunden, die meine kühnsten Erwartungen übertroffen hat.«
Der Alchymist kam mit zwei Lederriemen zurück. »Leider hält die Wirkung nicht ewig. Wenn du also entschuldigst …« Er befestigte die Riemen an einer Seite des Tisches, schlang sie Lucien über Brust und Arme und über die Oberschenkel, zog sie fest und hakte sie auf der anderen Tischseite ein.
»Und weißt du, was mich ganz besonders stolz macht? Das Giftgas ist nicht einmal mein Meisterstück.« Etwas quietschte wie die Scharniere einer Kiste, und Torne erschien mit einem Messer in der Hand. »Das ist mein Meisterstück.«
Das Messer bestand vom Griff bis zur Spitze aus grünem Glas, in dem sich der Lampenschein brach wie in geschliffenem Smaragd.
»Wunderschön, nicht wahr? Es besteht aus Millionen von Kristallen, angereichert mit raffinierten und kostbaren Wirkstoffen, und es ist nicht gelogen, wenn ich dir sage, dass es eine verfluchte Schufterei war, sie zu gewinnen. Jeden Tag höchstens einen Fingerhut voll. Aber es hat sich gelohnt. Es ist ein Prachtstück. Der Gipfel der alchymistischen Kunst, wenn du mir das Eigenlob gestattest. So etwas hat es noch nie gegeben.«
Torne drehte das Glasmesser so, dass das Licht auf der Schneide gleißte. Dann strich er mit der Spitze sanft über Luciens Wange. Lucien konnte spüren, dass es sehr scharf war. Hätte der Alchymist ein wenig mehr Druck ausgeübt, hätte er sein Gesicht verletzt.
»Weißt du, was geschieht, wenn ich dich damit schneide? Die Klinge entzieht dir einen winzigen Teil deiner Albenkräfte und speichert sie in den Kristallen, sodass ich sie später extrahieren und zu einer nützlichen Essenz verarbeiten kann. Auf diese Weise zu sterben ist überaus qualvoll, denn es dauert lang.«
Die Klinge wanderte weiter, von Luciens Wange zu den Lippen, zum Kinn, über die Kehle, strich ganz sanft über seine Haut. Schließlich verharrte sie auf seinem Adamsapfel. Lucien bekam kaum noch Luft.
»Wir werden viel Spaß miteinander haben, wir zwei«, flüsterte ihm der Alchymist ins Ohr. Sein Atem roch Ekel erregend, nach schlechten Zähnen und entzündetem Zahnfleisch. »Wo soll ich anfangen? Am Arm? Du darfst entscheiden. Vielleicht könntest du ein bisschen zusammenzucken, wenn du einverstanden bist.«
In diesem Moment knarrte die Labortür. Silas Torne richtete sich ruckartig auf. Dabei zischte die grüne Klinge an Luciens Gesicht vorbei und verfehlte sein Auge um höchstens einen halben Zoll.
»Was machst du da?« Das war Umbras Stimme.
»Verschwinde«, fauchte Torne. »Siehst du nicht, dass ich zu tun habe?«
Lucien hörte, dass die Leibwächterin mit energischen Schritten hereinkam. Sie war nicht allein.
»Ist das deine Art, dich an eine Abmachung zu halten?«, fuhr sie den Alchymisten an. »Du sollst ihn einsperren, hab ich gesagt. Einsperren, nicht abstechen! Herrgott, Torne, hast du deinen Sadismus nicht mal für fünf Minuten im Griff?«
»Dazu hast du kein Recht!«, kreischte Torne, als sich zwei Schemen dem Tisch näherten.
Zwei Spiegelmänner lösten die Lederriemen, ergriffen Lucien an den Armen und stellten ihn auf die Füße. Torne schrie vor Wut.
»Schafft ihn zurück in den Keller«, befahl Umbra. Lucien war noch nie so froh gewesen, sie zu sehen.
»Das darfst du nicht!«, tobte der Alchymist. »Gib ihn mir zurück!«
»Nein. Wenn ich ihn hierlasse, kommst du nur in Versuchung. «
»Wann kriege ich ihn wieder?«
»Wenn ich ihn verhört habe.«
»Aber es dauert noch mindestens fünf Stunden, bis er wieder sprechen kann!«
»Dein Pech«, sagte Umbra.
Dem Getöse nach zu schließen, warf der Alchymist in seinem Zorn Regale und Gerätschaften um, während die Spiegelmänner Lucien wegtrugen. Umbra ging voraus, und wenig später stiegen sie die Treppe zum Keller hinab.
Lucien spürte immer noch die Glasklinge an seiner Kehle. Ein Schweißtropfen rann ihm über die Stirn. So knapp war es schon lange nicht mehr gewesen …
Man brachte ihn in die Glashöhlen zurück. In einer von blauem Licht erfüllten Kaverne schloss Umbra eine eiserne Tür auf, hinter der sich ein kleiner Raum mit gemauerten Wänden befand.
Seit Lucien sich von seinem Entsetzen erholt hatte, dachte er angestrengt darüber nach, wie er sich diese günstige Wendung der Ereignisse zu Nutze machen konnte. Als er sein neues Gefängnis sah, konnte er sein Glück kaum fassen. Glaubte Umbra wirklich, so eine lächerliche Zelle konnte ihn aufhalten?
»Du bist nicht das erste Schattenwesen, das wir hier gefangen halten«, sagte die Leibwächterin, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Deine Albenkräfte werden dir nichts nützen, also versuch es gar nicht erst.«
Jetzt erst sah er, dass in die Decke ein Drudenfuß eingeritzt war. Seine Zuversicht verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
Die Spiegelmänner legten ihn unsanft auf den Zellenboden. Umbra warf die Tür zu und schloss ab.
Lucien lag auf dem Rücken, unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Er war noch keine Minute hier drin, doch er spürte bereits, wie die Macht des magischen Symbols in ihn eindrang und seine letzten Kräfte betäubte.
Fünf Stunden – so viel Zeit blieb ihm, bis Umbra zurückkam. Er konnte nur hoffen, dass die Wirkung des Giftgases vorher nachließ und er sich wenigstens wieder bewegen konnte, wenn sie aufkreuzte.
Allmählich schien das Gefühl in seine Hände zurückzukehren – er meinte, die rauen Steinplatten unter seinen Fingerkuppen zu spüren. Er konzentrierte sich, bündelte seine Willenskraft, stellte sich vor, wie seine Finger zuckten, die Steifheit abschüttelten … nichts. Das Gift war zu stark.
Aus der Dachflanke des Ostflügels wuchs ein Erkertürmchen, eins von einem guten Dutzend, die das Anwesen krönten. Efeu klammerte sich an die Fassade, umrankte die gesplitterten Buntglasfenster und wurde erst von den Bleiplatten des Spitzdachs aufgehalten. Zwei Wasserspeier lugten aus dem Blättergestrüpp; Wind und Wetter hatten sie so sehr abgeschliffen, dass sie konturlosen Steinzapfen glichen.
Jackon kauerte auf dem kleinen Balkon und tippte mit den Fußspitzen gegen das rostzerfressene Geländer. Erinnerungen zogen an ihm vorbei wie die Geisterbilder einer Laterna magica.
Er dachte an die Nacht, in der Corvas ihn in seinem Schlupfwinkel gefunden hatte. An die Tage im Haus der stummen Zwillinge, wo er zum ersten Mal in einem richtigen Bett geschlafen hatte. An seine erste Begegnung mit Lady Sarka im Kuppelsaal, während draußen ein Gewitter tobte. An den Beginn seiner Ausbildung, die Nächte im geheimen Zimmer und wie die Lady ihn gelehrt hatte, seine Kräfte zu meistern und zu vergrößern.
Es war eine unbeschwerte, eine aufregende Zeit gewesen, doch sie währte nicht ewig. Aziel wurde auf ihn aufmerksam und versuchte, ihn zu töten. Schwer verletzt überlebte er, erholte sich langsam von seinen Wunden. Dachte, er könne sein Leben nur retten, wenn er Aziel vernichtete. Übte weiter, wurde mächtiger und mächtiger.
Lady Sarka belohnte ihn für seine Entschlossenheit, machte ihn zu einem Leibwächter, schenkte ihm Einfluss, Wohlstand und Ansehen. Er dankte es ihr, indem er noch härter übte, bis er schließlich stark genug war, Aziel zu besiegen.
Und da zeigte sich plötzlich, dass es von Anfang an Lady Sarkas Plan gewesen war, Aziels Platz einzunehmen und über die Träume zu herrschen. Jackon fühlte sich hintergangen, doch sie redete auf ihn ein, zerstreute seine Bedenken, überzeugte ihn von der Redlichkeit ihrer Absichten. Er glaubte ihr, so wie er ihr stets geglaubt hatte. Sie hatte ihm ein neues Leben geschenkt – wer war er, an ihr zu zweifeln?
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Liam, den er für tot gehalten hatte, lebte – und nicht nur das, er gehörte zudem einer Verschwörung gegen Lady Sarka an. Während ihre Leute Jagd auf Liam und dessen Gefährten machten, versuchte Jackon verzweifelt, die Katastrophe abzuwenden, seinen Freund zu retten. Vergebens – ihr heimliches Treffen endete im Streit, die Freundschaft zerbrach.
Schlimmer noch, Lady Sarka kam ihm auf die Schliche, verlangte von ihm, Liam auszuliefern. Er wollte sich weigern, wollte sich ihr widersetzen, aber da zeigte sich, dass sie ihn längst in der Hand hatte. Zu tief war er in ihre Machenschaften verstrickt, so sehr war er von ihr abhängig, dass er gehorchte – und Liam verriet.
Während Jackon die vorbeiziehenden Wolken beobachtete, erschien es ihm, als wären die Ereignisse der vergangenen Monate nur Stationen eines Weges gewesen, der ihn unweigerlich zu diesem Ende geführt hatte. Er wäre ein Dummkopf und ein Feigling, wenn er behauptete, dass er dagegen nichts hätte tun können. Er hatte immer eine Wahl gehabt, vom ersten Tag an. Seine Entscheidungen waren es, denen er verdankte, dass es so gekommen war.
Liam hatte Recht gehabt: Lady Sarka hatte ihn nur benutzt. Von Anfang an hatte sie ihn beeinflusst, hatte ihn mit Versprechungen, Lügen und Drohungen gefügig gemacht, bis ihm Macht und Einfluss zu Kopf gestiegen waren und er nicht mehr auf sein Gewissen gehört hatte. Und er war zu blind gewesen, das zu sehen. Auch damit hatte Liam Recht gehabt.
Er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen bis zu jener Nacht im Kuppelsaal, als er zum ersten Mal Lady Sarka begegnet war. Damals hatte alles in ihm danach geschrien, zu fliehen, das Weite zu suchen, kein Wort von dem zu glauben, was sie sagte. Hätte er nur darauf gehört.
»Hier bist du. Ich habe dich überall gesucht.«
Jackon wandte sich um und entdeckte Umbra, die ihren Kopf durch eines der Löcher in der Buntglasscheibe steckte. Sie öffnete die rostige Tür und trat auf den Balkon.
»Was machst du hier oben?«
Er schwieg. Er hoffte, dass sie wieder ging.
»Ich bin auf dem Weg zum Ministerium. Kommst du mit? Corvas und ich könnten deine Hilfe gebrauchen.«
»Wobei?«
»Die Gefangenen zu verhören.«
»Nein, danke«, murmelte er.
»Du hast immer noch ein schlechtes Gewissen, was?«
»Kann schon sein.«
»Hör auf damit. Du hast …«
»… das Richtige getan, ich weiß«, sagte er bitter.
»Manchmal muss man eben Dinge tun, die man nicht tun will«, meinte Umbra. »Es ist schwer, das einzusehen, aber irgendwann wirst du verstehen, dass es richtig war, Lady Sarka zu gehorchen. Das Wohlergehen vieler Menschen hängt davon ab.«
Jackon gab ein Schnauben von sich. Umbra glaubte das wirklich. Sie konnte einem beinahe leidtun.
»Was ist jetzt? Hast du vor, den ganzen Tag hier zu sitzen? «
»Lass mich in Ruhe.«
»Wie du willst. Aber lass die Grübelei. Das bringt nichts.«
Die Tür knarrte, als Umbra sie hinter sich schloss.
Jackon zog die Knie an den Oberkörper, legte die Arme darauf und blickte zu den Wolken empor. Sie bildeten immer neue Formen, während der Wind sie über die Stadt trieb, und er wünschte, er könnte mit ihnen fliegen, fort, bis ans Ende der Welt.
Die Dunkelheit lastete so schwer auf Liam, dass er glaubte, sie würde ihn erdrücken.
Er kauerte in einer Ecke seiner Zelle. Es war so finster, dass er nicht einmal die Tür und die kleine Holzpritsche sehen konnte. Die Luft roch nach altem Mauerwerk, nach Furcht und Hoffnungslosigkeit.
Er war allein. Wohin man Quindal, Lucien, die Manusch und die Kinder gebracht hatte, wusste er nicht – es musste Stunden her sein, dass man ihn von seinen Freunden getrennt und in diese winzige Kammer tief in den Gewölben des Ministeriums der Wahrheit geworfen hatte. Manchmal hörte er Schritte auf dem Gang, leise Stimmen und das Klappern von Schlüsseln. Geräusche, bei denen er jedes Mal zusammenzuckte und bang darauf wartete, dass die Stille zurückkehrte.
Er kannte die Geschichten über das Ministerium. Nur wichtige Gefangene wurden hierhergebracht, Feinde von Bradost, wie man sie nannte – Leute, die man verhören wollte. Es hieß, Corvas und seine Gehilfen besäßen ausgefeilte Techniken, mit denen sie jeden zum Reden brachten. Bis jetzt hatte man ihm keine einzige Frage gestellt. Worauf warteten sie? Dass Dunkelheit und Furcht ihn zermürbten?
Er hatte versucht zu schlafen, um für ein paar Stunden der Verzweiflung zu entkommen. Doch immer, wenn er die Augen schloss, sah er Vivanas Gesicht vor sich. War es den Spiegelmännern gelungen, sie aufzuspüren? Was, wenn sie von der Alten Arena zu Godfreys Versteck zurückgekehrt und ihnen geradewegs in die Arme gelaufen war? Er betete, dass sie sich in Sicherheit befand. Die Vorstellung, sie könnte wie er in einer dunklen Zelle sitzen und auf Corvas’ Folterknechte warten, brachte ihn schier um den Verstand.
Er lehnte sich zurück, bis sein Kopf die Mauer berührte, und schloss die Augen. Er war so ein Narr. Ein überheblicher Dummkopf. Wie hatte er nur je glauben können, er könne etwas gegen Lady Sarka ausrichten? Sie war viel zu mächtig. Er hatte nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt. Und zu allem Überfluss hatte er auch noch seine Freunde mit hineingezogen. Dass sie litten, war allein seine Schuld.
Sein Vater hatte es gewusst. Er hatte geahnt, dass die Suche nach dem Gelben Buch von Yaro D’ar nur Leid nach sich ziehen würde. Deshalb hatte er Liam all die Jahre verheimlicht, was er tat – um ihn zu schützen.
Liam wünschte, er hätte nie jemandem von dem Buch erzählt, Quindal nicht, und erst recht nicht Vivana. Hätte er versucht, es ohne fremde Hilfe zu finden, wäre es nie so weit gekommen.
Stimmen erklangen vor der Zellentür. Ihm wurde kalt, als er sie erkannte. Corvas und Umbra.
Lass sie weitergehen. Bitte lass sie weitergehen!
Ein Schlüssel knirschte im Schloss. Von plötzlicher Furcht gepackt, stand Liam auf. Die Tür öffnete sich, und Licht flutete herein, so hell, dass er schützend die Hand vor das Gesicht halten musste.
»Lasst mich allein mit ihm«, sagte Corvas. Die Tür schloss sich, und der Bleiche stellte die Lampe auf den Boden. »Setz dich«, befahl er.
Liam nahm die Hand herunter. Er rührte sich nicht von der Stelle.
»Ich habe einige Fragen an dich. Ich rate dir, sie zu beantworten. Du ersparst dir damit viel Leid.«
Liam schluckte. Nun war es also so weit: Das Verhör begann.
»Erzähl mir von euren Plänen«, sagte Corvas ohne Umschweife. »Was hattet ihr mit dem Buch vor? Habt ihr es gelesen? Hat euch jemand dabei geholfen?«
Liam war entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen, obwohl er den krähenhaften Ausdruck in Corvas’ Augen kaum ertrug. »Wie geht es meinen Freunden? Wo sind sie?«
Corvas gab keine Antwort. Reglos stand er da. Der Lampenschein zeichnete seinen Schatten auf die Zellenwand. »Warum konnten die Spiegelmänner euch in Godfreys Versteck nicht sehen?«, fuhr er fort. »Haben die Manusch etwas damit zu tun?«
Er blickte Liam abwartend an. Schließlich sagte er mit seiner tonlosen Stimme: »Wenn du nicht kooperierst, hole ich einen unserer Alchymisten. Sie verfügen über Mittel und Wege, deine Zunge zu lockern. Aber ich warne dich: Dieser Vorgang ist überaus unangenehm.«
Er ließ einige Sekunden verstreichen, die Liam wie Stunden vorkamen. »Wo verstecken sich Quindals Tochter und der Manusch namens Nedjo? Wieso haben sie das Versteck verlassen? Wohin sind sie gegangen?«
In seinem Entsetzen benötigte Liam einen Moment, bevor er begriff, was diese Frage bedeutete: Die Spiegelmänner hatten Vivana nicht gefasst – sie war in Sicherheit! Er hätte am liebsten gejubelt vor Erleichterung. Er lächelte Corvas an. »Ich habe keine Ahnung, wo die beiden stecken. Aber eins weiß ich sicher: Sie werden sie nie finden.«
»Ist das alles, was du zu sagen hast?«
Anstelle einer Antwort setzte sich Liam auf die Pritsche und schaute den Chef der Geheimpolizei herausfordernd an.
»Wie du willst. Aber du wirst dein Schweigen noch bereuen. « Corvas hob die Lampe auf und klopfte an die Tür. Nachdem er gegangen war, erfüllte wieder vollkommene Dunkelheit die Zelle. Liam wippte mit beiden Knien. Das Grauen saß ihm immer noch tief im Leib, aber zu wissen, dass es Vivana gutging, dass sie frei war, erfüllte ihn mit unbändiger Energie. Sollte Corvas doch eine ganze Armee Alchymisten holen! Von ihm würden sie nichts erfahren.
Es dauerte nicht lange, bis sich die Tür abermals öffnete. Draußen auf dem Korridor stand Corvas mit zwei Wachsoldaten. Ein Mann in einer schlichten Robe, grau wie Blei, trat ein. Er war noch bleicher als Corvas.
In der Hand hielt er eine kleine Kapsel aus Messing.
»Was ist das?«, fragte Liam gedehnt.
Der Alchymist drückte den Verschluss der Kapsel ein, und violetter Dampf strömte heraus. Die Schwaden bildeten mehrere Stränge, die auseinanderfächerten und sich wie neugierige Schlangen in der Luft wanden – und sich plötzlich zielstrebig auf Liam zubewegten, als verfügten sie über einen eigenen boshaften Willen.
Liam federte hoch und wich in eine Ecke der Zelle zurück, doch die Dampftentakel bewegten sich so schnell, dass er ihnen nicht entkommen konnte. Sie schossen über den Boden, krochen an seinen Beinen empor und schlangen sich um seinen Torso, seine Arme, seine Hände, so fest wie Drahtseile. Liam prallte gegen die Mauer, wand sich, kämpfte dagegen an, doch ohne Erfolg.
Ein Strang schloss sich um seinen Hals und erstickte seine Schreie.
Knisternd schlugen die Flammen höher, bis sie Livia voll ständig einhüllten. Rauch stieg zu den Baumkronen auf, verfing sich zwischen dürren Ästen und feuerroten Blättern, zerfaserte im Wind.
Vivana und ihre Gefährten standen am Rand der kleinen Lichtung, die Köpfe gesenkt, die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen. Die Luft war feucht und kalt hier in den Hügeln, und zwischen den Wipfeln der Ahornbäume konnte man in der Ferne die nebelverhangenen Felshänge von Karst sehen. Godfrey kannte einen alten Tunnel, der von den Katakomben des Labyrinths zum nördlichen Rand der Stadt führte, zu den Plantagen am Fuß der Hügel. Hierher hatten sie Livia gebracht, um ihren Körper unter freiem Himmel zu verbrennen, wie es Sitte bei den Manusch war.
Nedjo hatte ein altes Gebet gesprochen und die Totenklage gesungen, bevor er seine Fackel an das ölgetränkte Holz hielt. Niemand sprach ein Wort. Vivana schloss die Augen und spürte den Erinnerungen nach, die Livia ihr geschenkt hatte, ließ sie an sich vorüberziehen. Unzählige Menschen hatte die Wahrsagerin in ihrem Leben getroffen, sie mit ihrer Freundlichkeit und ihrer Hingabe berührt, ihnen Hoffnung gegeben, ihre Leiden gemindert. Sie alle hätten da sein sollen, Verwandte und Freunde, Manusch und Leute aus Bradost, sie hätten da sein sollen, um Abschied von ihr zu nehmen, um für sie zu beten. Doch niemand war da, nicht einmal ihr geliebter Madalin, nicht einmal ihre Kinder. Nur Vivana und Nedjo, Godfrey und Ruac. Vier Gestalten, schmutzig, verängstigt und zu Tode erschöpft.
Vivana ballte die Fäuste, bis sich die Fingernägel in ihre Haut gruben. In ihr war ein Zorn, wie sie ihn noch nie verspürt hatte. Stumm bewegten sich ihre Lippen, während sie unter den kahlen Ästen stand und dem Rauch nachblickte, der die Asche forttrug. Wind bauschte ihren Mantel auf, als sie Amanders Namen verfluchte und schwor, Rache zu nehmen für das, was er getan hatte.