Alle Rechte liegen bei der Autorin.

©Susanne Hottendorff 2014

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2. Auflage

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-741 201-68-4

~~~ Prolog ~~~

Dichte Schwaden des Nebels, der so untypisch ist für diese Zeit, ziehen durch die engen Gassen der Stadt. Katzen - Gejaule ist zu hören, Wasser plätschert und ein Esel schreit. Aus einem geöffneten Fenster hört man sehr eindeutige Schreie, die plötzlich verstummen. Auf dem Hinterhof des Hauses fallen Mülleimer um, das Scheppern dringt durch die Straße, es kümmert hier jedoch niemandden. Knarrend öffnet sich kurz darauf die alte Haustür, in ihr wird eine Person erkennbar. Die Gestalt, es scheint eine vom Alter gebeugte Frau zu sein, schreit etwas Unverständliches in den Hof. Ihre Rufe bleiben unbeantwortet. Schlurfend nähert sie sich den Mülltonnen. Aus den umgefallenen Tonnen haben sich Abfälle über den Betonboden verteilt. Eine Kette, rostig und anscheinend aus dem letzten Jahrhundert, liegt gespannt daneben. Befestigt an der Hauswand, endet sie in der Unendlichkeit des Dunkels. Erneut ruft die Alte mit durchdringender Stimme in den Hof. Aber auch dieses Mal ist Stille die einzige Antwort. Sie bleibt stehen, hebt ihren rechten Arm und etwas darin Verborgenes peitscht hinab zum Boden. Ein klägliches Jaulen dringt kurz an ihr Ohr, dann ist es still. Sie wirft etwas, das eben noch in ihrer Hand war, ziellos in den Hof. Mit einem schüttelnden Kopf geht die Greisin zurück ins Haus. Erst jetzt löst sich aus dem Dunkel eine zweite Gestalt, viel kleiner als die Alte. Sie nähert sich der am Boden liegenden Kette und kniet daneben nieder. Stille. Verharren. Abwarten. Langsam erhebt sich die Gestalt und verschwindet unerkannt durch die Tür auf die Straße. Erst am nächsten Morgen wird sie vermisst werden.

Inhaltsverzeichnis

Zwanzig Jahre später

~~~ Kapitel 1 ~~~

Knarrend öffnet sich die Tür zur kleinen Tapa-Bar „Romero“. Geräusche dringen nach draußen, zuerst zaghaft, dann aber, nachdem die Tür sich ganz geöffnet hat, werden sie lauter und unüberhörbarer. Ein unverständliches Stimmengewirr, lautes Lachen, schwere Klänge eines Fandangos und das Klirren der Gläser, diese typischen Klangfarben eines Lebens, die nach Cádiz gehören, wie die Sonne, der Atlantik und der Karneval.

Jamón an Jamón, so hängen die Schinken über dem Tresen, wartend auf den Augenblick, wo der Kellner endlich das scharfe Messer ansetzt und sie in feine Scheiben schneidet. Zu dem Aroma gesellt sich der Duft der unterschiedlichen Getränke wie Sherry, Rotwein und Kaffee.

Der dunkelhaarige Gast, ein Mann um die Fünfzig, betritt die Bar und begibt sich, ohne sich umzuschauen, an einen der kleinen Tische, die im hinteren Eck stehen. Langsam und schwerfällig nimmt er Platz. Über seinem hellblauen Hemd trägt er einen legeren, zartblauen Pullover ohne Muster und ohne Verzierungen. Seine Kleidung ist aufeinander abgestimmt, selbst der Ton der Jeanshose scheint anders, kräftiger als sonst üblich. Bei dem herannahenden Ober bestellt sich der Mann ein Glas Fino und ein Glas Wasser. Dann erkundigt er sich nach den Tapas. Kurz und knapp folgt nach den ausführlichen Erläuterungen - der Ober ist ein freundlicher Mann - seine Bestellung.

Kurz nach Mitternacht verlässt der Gast die Bar, genauso unauffällig wie er gekommen ist. Zuvor hat er seine Rechnung beglichen und dem freundlichen Ober ein kleines, aber angemessenes Trinkgeld zukommen lassen. Warum er so schnell die kleine Bar verlassen hat, daran wird sich später niemand mehr erinnern können. Keiner der anwesenden Gäste hat bemerkt, wie der Unbekannte mit den dunklen Haaren den drei Frauen gefolgt ist. Lange hatte er sie schon beobachtet, ohne sie dabei anzustarren. Die drei Spanierinnen redeten unaufhörlich miteinander, der Gesprächsstoff schien noch für viele Abende zu reichen. Auch sie bemerkten nicht, dass ihnen der Unbekannte folgte. Auch nicht, nachdem sie sich getrennt hatten, an der Plaza de las Flores. Jede von ihnen hatte eine andere Richtung nach Hause. Zuerst blieb der Unbekannte stehen, schien abzuwarten und zu überlegen. Dann aber, nachdem alle Frauen aus seinem Gesichtsfeld entschwunden waren, folgte er der Rothaarigen. Bemerkt hat sie ihn auf ihrem Weg durch die kleinen Gassen zunächst nicht. Dann jedoch wundert sie sich über die Schritte, die ihr unaufhörlich folgen. Sie bleibt stehen, wendet sich um und weiß im selben Moment, sie hätte es lieber nicht getan. Es ist zu spät.

Im nahegelegenen Chiclana de la Frontera steht seit zwei Tagen die ganze Stadt Kopf. Ursache dafür ist die Feria, die wie in jedem Jahr um den 13.Juni, den Tag des San Antonio, beginnt. Auf dem freien Gelände, am Rande des Rios in der Stadt, haben die Schausteller ihre Buden, Stände und Fahrgeschäfte aufgebaut. Das große Eingangstor, bunt und mit unzähligen Lichtern geschmückt, ist schon von weitem zu erkennen. Zwischen den zahleichen Casitas, in denen am Abend der Flamenco getanzt wird, wirbelt der abklingende Levante den staubigen Boden durch die Luft. Reiter, die auf ihren stolzen Pferden sitzen und genauso wie die Frauen, in Tracht erschienen sind, begeistern die Zuschauer. In den geschmückten Wagen erkennt man Flamencokleider in allen Farben und mit den unterschiedlichsten Mustern. Auffällig für jeden Betrachter, ob junge Frauen, kleine Mädchen oder gar ältere Damen, Punkte sind groß in Mode. Unermüdlich drehen die Besucher ihre Runden, fröhlich singend und ohne auch nur im Entferntesten an den nächsten Tag zu denken. Mitten auf dem freien Platz, dort wo die Blechlawine ihr Ende findet und die Autos Seite an Seite dicht beieinander geparkt auf ihre Besitzer warten, steht eine Gestalt unbewegt und unbemerkt. Singend nähert sich ihr eine Gruppe von Besuchern. Gerade haben sie ihren Seat geparkt und wollen sich nun in das Getümmel stürzen. Die Stimmung ist nicht nur deshalb so gelöst, weil es im Hause schon einen kleinen Umtrunk gab. Man freut sich einfach, denn es ist Frühling und nicht nur die Nächte laden zum Besuch der Feria ein. Die Vier kennen sich schon lange. José und Pepe, die beiden jungen Männer, sind gemeinsam in Chiclana zur Schule gegangen und haben sich selbst nach Abschluss ihrer Berufsausbildung nicht aus den Augen verloren. Laura, Josés Freundin, ist ein sehr hübsches Mädchen. Lange, schwarze, gelockte Haare rahmen ihr zartes und ausdrucksstarkes Gesicht ein. Auf der Post, in einer wieder einmal nicht endenden Schlange, stand sie eines Tages vor ihm, um einen Brief aufzugeben. Natürlich fiel sein Blick nicht zufällig auf den Absender auf dem Umschlag, denn José ist ein cleverer junger Mann! Nachdem Laura die Post verlassen hatte, folgte José ihr unauffällig bis in die Tiefgarage des Justizgebäudes, die ganz in der Nähe der Calle Jesus Nazareno liegt. Allen Mut und allen Charme zusammengenommen, hat er sie angesprochen. Das Ergebnis dauert nun schon über zwei Jahre an. Pepe war sofort von der Angebeteten seines Schulfreundes begeistert. Eher zufällig gesellte sich nur wenige Wochen danach Isabel dazu, die nun auch schon seit drei Monaten mit Pepe verlobt ist. Noch heute hört man ihn sagen: sie ist meine ganz persönliche Traumfrau! Glücklich und ausgelassen genießen die jungen Leute den Rummel. Sie schlendern von Zelt zu Zelt, hier wird ein Sherry getrunken, dort eine kleine Tapa verzehrt. Stundenlang vergnügen sich die Vier, bis José - er durfte heute nur wenig trinken, da er den Chauffeur spielt - müde wird und nach Hause möchte. Bei einem Blick auf die Uhr bestätigt sich sein Gefühl, es ist kurz nach drei Uhr.

Auf dem Festplatz ist noch lange kein Ende, bis zum Morgengrauen genießen die Chiclaneros und die vielen Gäste der Stadt das Fest.

Leise plätschern die Wellen an den Strand in Cádiz. Ganz zaghaft möchte man meinen, denn es weht nur ein ganz schüchterner Wind. Aus der Ferne hört man einige Stimmen. Junge Menschen, die lachen und ihr Leben genießen. Noch können sie es, denn noch wissen sie nicht, was ihnen die nächste Viertelstunde bringen wird. Der zunehmende Mond, kurz vor seiner Vollendung, lässt die Büsche und Sträucher, die am Rande der Strandes stehen, länger erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Lautlos zieht eine Fledermaus ihre Kreise über das Meeresufer, auf der Suche nach etwas Fressbarem. Weggeworfene Plastiktüten, Abfälle, die vor einiger Zeit noch frisches Obst umhüllten, liegen achtlos neben einem Mülleimer, der befestigt auf drei Füßen im Sand steht. Die Stimmen werden lauter, die ausgelassenen jungen Leute spielen trotz ihres Alters am Strand Fangen. Eine kleine Wolke, die der langsam abklingende Levante am Himmel vergessen hat, bedeckt nur für einen kurzen Augenblick die Sicht auf den Mond. Da geschieht es!

Lisa, die jüngste der Gruppe versucht ihrem Gegenüber auszuweichen und stolpert über etwas, das scheinbar achtlos weggeworfen im Sand liegt. Noch kann sie nichts erkennen, noch ahnt sie nicht, dass ihr gemeinsames Spiel ein jähes Ende gefunden hat. Gerade hat die Wolke den Blick auf den Mond wieder freigegeben, da erkennt Lisa den grausigen Fund!

Ein Schrei folgt, aus dem Innersten ihrer selbst. Ihre Freunde, die noch zu weit entfernt stehen, denken an einen Trick der alle ablenken soll. Aber die Intensität, mit der Lisa schreit, lässt dann ihre Freunde erkennen, es ist kein Spiel! Die Jugendlichen kommen näher. Das am Boden liegende Etwas entpuppt sich als Körper. Die langen dunkelroten Haare deuten auf eine Frau hin. Lisa bückt sich hinunter zu der Leblosen, sie spricht sie an, sie rüttelt an ihrem rechten Arm, der in einem unnatürlichen Winkel oberhalb des Körpers liegt. Keine Reaktion, kein Lebenszeichen. Erneut beginnt Lisa zu schreien:

„Sie ist tot!“

Die Freunde stehen noch immer regungslos neben der Leiche. Jeder ist in seine eigenen Gedanken vertieft. Lisa erinnert sich an das Gefühl, dass die Berührung bei ihr ausgelöst hat. Einmal in ihrem Leben hatte sie schon ein ähnliches Gefühl. Es war an einen lauen Sommerabend. Die Nacht, die Lisa nie wieder in ihrem Leben vergessen sollte. Der Abend hatte so romantisch begonnen. Eine kleine Feier bei Freunden, schöne Musik, einige Drinks dazu. Sie hatte ihn zuerst entdeckt. Joan, ein junger Mann, der seine Studienferien bei seiner Oma verlebte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Für beide! Der erste Kuss, eine zärtliche Berührung. Hände, die langsam ihren Weg unter Lisas Bluse fanden. Die noch so unbekannten Gefühle irritierten Lisa. Joan lenkte, Lisa folgte. In einem nahegelegenen Park allerdings verließ Lisa die Courage. Joan wollte mehr. Das junge Mädchen lief, so schnell es konnte. Und damals - daran erinnert sie sich jetzt - hatte sie dieses sonderbare Gefühl schon einmal. Sie war bei ihrer Flucht auf einen schon halbverwesten Hundekörper getreten.

Marie steht neben Lisa, auch sie blickt starr auf den toten Körper im Sand. Noch nie zuvor hat das junge Mädchen eine Tote gesehen. In den Filmen im Kino und zu Hause im Fernseher ist es immer so leicht, sich die Leichen anzusehen. In der Wirklichkeit jedoch ist es ein Gefühl, das in dem Betrachter einen Brechreiz auslöst. Franco und Paco, zwei Brüder, die die gleiche Mutter aber unterschiedliche Väter haben, stellten sich dicht nebeneinander. Sie halten sich an den Händen. Beide sind fast achtzehn Jahre alt, wenn man sie jedoch so stehen zieht, könnte man denken, sie warteten auf den Stillstand des Kettenkarussells auf dem Jahrmarkt. Die beiden Brüder hatten auch noch keinen Kontakt mit Leichen, zum Glück! Wohlbehütet leben sie mit ihrer Mutter und deren neuem Freund zusammen. Glück bedeutet für sie in Frieden zu leben. Die Väter der Jungen, hatten beide so viel Gewalt in die Familie gebracht, dass keiner von ihnen es je vergessen wird!

Bleiben noch zwei junge Männer, die still am Geschehen teilhaben. Florian, der älteste der Anwesenden und sein bester Freund Oliver. Sie haben bisher nur fassungslos aufs Meer geschaut. Nicht einen vorsichtigen Blick auf den toten Frauenkörper, nicht mal ein Versuch haben beide gewagt. Florian geht einige Schritte zur Seite, er krümmt sich, geht noch einige Meter, dann erbricht er die am Abend zu sich genommene Pizza und den Rotwein am Rand der Dünen. Als Erster hat Oliver wieder einen klaren Kopf. Er wendet sich ab, greift in seine Jacke und holt sein Handy hervor und wählt den Notruf der Polizei.

An seine Freunde gerichtet, erklärt Oliver, dass die Polizei bald eintreffen wird. Florian, dem es anscheinend etwas besser geht, wirft ein kleines Päckchen mit weißem Pulver im hohen Bogen ins Meer. Danach entschließen sich die jungen Leute einige Meter entfernt von der Leiche im Sand auf die Polizei zu warten. Keiner spricht. Die Kälte der Nacht kriecht langsam an Beinen und Armen empor. Das Spiel der Jugendlichen ist vergessen, der Abend nur noch ein Schrecken, der ihnen für immer im Gedächtnis bleiben wird.

Zwanzig Minuten später, eine halbe Ewigkeit für die jungen Leute, hören sie die Sirene der eintreffenden Polizei. Drei Beamte kommen zügig zum Strand. Das klägliche Jaulen eines streunenden Hundes schreckt die Jugendlichen auf. Langsam erheben sie sich aus dem Sand. Die drei Polizisten erkennen sofort, dass es sich bei dem Notruf um einen Ernstfall handelt. Viel zu oft werden sie geholt, nur wegen einer Wette oder eines dummen Streiches. Einer der herangeeilten Uniformierten untersucht den Frauenkörper vorsichtig. Er will keine Spuren verwischen, muss sich dennoch vom Zustand der Leiche ein Bild machen. Da es sich hier nach allem Anschein nach um eine Straftat handelt, werden die Kollegen der Kriminalpolizei informiert. Ein anderer Beamter beginnt akribisch mit der Befragung der jungen Leute. Aus seiner Jackentasche hat er einen Notizblock hervorgeholt, auf dem er nun alle Einzelheiten notiert. Alle Beteiligten müssen ihren Namen und ihre Adresse angeben. Um sicher zu gehen, dass keiner der Befragten lügt, kontrolliert der Polizist die Aussagen, indem er sich die Ausweise der Zeugen zeigen lässt.

Die eintreffenden Kollegen der Kripo nehmen die Ergebnisse dankend entgegen und beginnen dann mit ihrer Arbeit. Ein Team aus vier Personen, die zur Spurensicherung gehören, sperrt den Fundort der Leiche mit einem Sicherheitsband ab. Keiner soll hier bewusst oder unbewusst Spuren verändern oder hinzufügen.

Kommissar Josè Alvares ist der Leiter des Morddezernates in Cádiz. Seit über 27 Jahren arbeitet er für die Policia National, die überwiegende Zeit davon auch in Cádiz, seiner Heimatstadt. Seine fünfundfünfzig Jahre sieht man dem gutaussehenden, verheirateten Mann wirklich nicht an. Am Tatort erscheint mit ihm gemeinsam Luis Cantor, siebenundvierzig Jahre alt und genauso glücklich verheiratet, wie sein Kollege. Auch er hat schon über 20 Jahre Berufserfahrung in der dunkelblauen Uniform und auch er kommt aus Cádiz. José und Luis haben die Lage relativ schnell erfasst. Gemeinsam nähern sie sich, nachdem sie sich durch eine zunächst kurze Inaugenscheinnahme der Leiche einen ersten Eindruck verschafft haben, den jungen Leuten, die immer noch in angemessenem Abstand neben der Frauenleiche stehen, frierend und wartend. Der Kollege der Guardia Civil, teilt den beiden Ermittlern die ersten Erkenntnisse mit. Souverän bedankt sich José und schaut dabei auf die zwischenzeitlich eingetroffenen Kollegen der Kriminaltechnik. Der gleichzeitig anwesende Arzt und Pathologe beginnt mit den ersten Untersuchungen am Leichnam.

„Wer von Ihnen hat die Tote gefunden?“, beginnt Luis die Befragung der jungen Menschen.

Zuerst reden alle der Anwesenden durcheinander, so aufgeregt sind sie. Sie sind anscheinend froh, sich endlich alles Erlebte von der Seele reden zu können. Plötzlich ist es, als hätte jemand Halt gerufen, es ist wieder still. Nun beginnt Lisa zu erzählen, ganz alleine und ganz ruhig.

„Wir haben gemeinsam ziemlich ausgelassen hier gefeiert. Eigentlich waren wir schon auf dem Weg zurück nach Hause, da hatte einer von uns die Idee, Fangen zu spielen. Wir liefen wie die Hasen über den Strand. Hier war es erstaunlich hell, der Mond. Doch dann plötzlich schob sich eine Wolke davor, es war sehr dunkel und ich stolperte, beinah wäre ich hingefallen. Ich stand vor der toten Frau.“

„Sie konnten erkennen, dass die Frau tot war?“, fragt Luis nach.

„Nicht gleich. Wobei, so wie sie dort lag war es mir eigentlich klar, sie musste tot sein. Aber um ganz sicher zu gehen, bückte ich mich, sprach sie an und rüttelte an ihrem Arm. Sie reagierte nicht“, erklärt Lisa dem Kommissar.

„Kennen Sie die junge Frau?“

„Nein, ich habe sie noch nie vorher gesehen.“

Die Frage stellt Luis nun in die Runde, an die verbleibenden fünf Personen. Kopfschütteln ist die Reaktion der jungen Menschen, die immer noch total fassungslos sind. Es folgen noch weitere Fragen, wie zum Beispiel ob die jungen Leute irgendetwas bemerkt, oder ob sich andere Personen in der Nähe aufgehalten hätten. Die jungen Leute waren allerdings genügend mit sich selbst beschäftigt, es ist ihnen daher nichts am Strand aufgefallen, außer dem Hund, der bellend über die Promenade verschwunden war. Luis spricht sich kurz mit seinem Kollegen und Vorgesetzen ab, danach dürfen sich die jungen Leute entfernen und ihren so jäh unterbrochenen Heimweg fortsetzten. José und Luis wenden sich nun den Kollegen der Kriminaltechnik zu, die sich durch Zuhilfenahme der zwischenzeitlich eingetroffenen Strahler am Fundort der Leiche umsehen.

„Habt ihr etwas gefunden?“, fragt Luis in die Runde.

„Jede Menge Fußspuren, aber was nützen uns schon Spuren im Sand. Jede Menge Abfälle, keiner weiß, seit wann die hier schon liegen, von heute sind die bestimmt nicht. Sonst nichts“, erwidert der Chef der Truppe.

„Und Doc, kannst du was sagen?“, geht die Frage an den Kollegen, der sich intensiv mit dem Leichnam beschäftigt.

Nachdem zahlreiche Fotos der Toten gemacht wurden, hat man die Leiche teilweise entkleidet. Die dunkelgrüne Strickjacke mit großen weißen Punkten liegt nun in einer sterilen Plastiktüte der Kriminaltechnik. Sie wird zur weiteren Untersuchung ins Labor gebracht werden.

„Sie scheint erstickt worden zu sein. Geplatzte Äderchen in den Augen deuten darauf hin. Sie ist noch warm, der Tod wird nach Mitternacht eingetreten sein. Womit sie erstickt wurde, kann ich zurzeit noch nicht sagen, erst nach der Obduktion, wie immer. Ihr kennt das Spiel. Ich denke, sie wurde genau an dieser Stelle ermordet. Es sind keinerlei Schleifspuren zu erkennen. Leichenflecken sind noch nicht vorhanden, Ihr werdet abwarten müssen.“

José bedankt sich bei den Kollegen und hat nun nur noch eine letzte Frage an die Kollegen.

„Habt ihr irgendwelche Ausweispapiere bei der Leiche gefunden?“

„Nein. Keinerlei Papiere. Keine Schlüssel, kein Telefon, rein gar nichts. Es tut mir sehr leid für euch. Wird eine harte Nuss werden.“

Die Uniformierten bleiben am Tatort, bis die Leiche abtransportiert ist und alle verwertbaren Spuren gesichert sind. José und Luis, die Ermittler der Policia National, fahren aufs Kommissariat um mit ihrer Arbeit fortzufahren.

Kurz vor drei Uhr in der Nacht betreten die beiden Ermittler ihr Büro, müde und erschöpft.

„Bevor der Bericht der Spurensicherung nicht eingetroffen ist, haben wir sowieso keine Chance etwas zu erreichen. Wir sollten uns um die Vermisstenmeldungen kümmern, vielleicht gibt es ja eine Übereinstimmung“, schlägt Luis vor.

„Ich mache es sofort, vielleicht haben wir ja Glück“.

Die Kommissare arbeiten schon lange zusammen in Cádiz auf dem Kommissariat der Policia National. Sie verstehen sich, ohne miteinander zu sprechen, ein wirklich eingespieltes Team. Die Aufklärungsquote liegt daher auch besonders hoch, darüber sind nicht nur die beiden Kollegen sehr froh, sondern auch ihre Vorgesetzten.

„José, leider, ich kann unserer Leiche keinen Namen aus der Datei zuordnen. Es wird keine Rothaarige vermisst.“

Etwas grinsend fügt der Kommissar hinzu:

„Na ja, eine mit roten Haaren würde ich auch nicht verstoßen!“

„Haare kann man färben, ich glaube, es spielt keine wirklich große Rolle im Leben. Deine Frau wechselt doch auch mal die Haarfarbe, wenn ich mich da richtig erinnere?“, erwidert José.

„Wir treffen uns in fünf Stunden wieder hier, etwas Schlaf tut uns gut, die nächsten Tage werden anstrengend genug werden.“

Luis und José verlassen gemeinsam das Büro und machen sich auf nach Hause zu ihren Familien.

Auch der Dunkelhaarige hat seinen Weg fortgesetzt und ist zu Hause angekommen. Entspannt nimmt er sich eine Flasche des besten Finos aus dem Kühlschrank und begibt sich in den kleinen Raum, der so viele Erinnerungen verbirgt.

~~~ Kapitel 2 ~~~

Langsam erwacht die glückliche Laura in den Armen ihres Freundes José. Eine Ausnahme, denn die beiden sind schließlich noch nicht verheiratet! Der Sherry der Feria, der nur aus kleinen Gläsern genossen wird, hat allerdings aufgrund der Vielzahl der Gläser zu einem tiefen Schlaf beigetragen. Die beiden haben sich heute einen Tag frei genommen, können daher auch etwas länger schlafen, als sonst üblich. Nach dem morgendlichen Ritual, Badezimmer, Betten machen und Kaffee trinken haben die jungen Leute beschlossen nach Cádiz zu fahren. In Chiclana läuft das Leben aufgrund der Feria nur auf halber Kraft. Die meisten der Geschäfte haben heute ganz geschlossen, einige wenige nur am Nachmittag.

„Hast du ein bestimmtes Ziel, ich meine in Cádiz?“, fragt José seine Freundin.

„Ich dachte, wir bummeln etwas durch die Stadt. Nein, ein Ziel habe ich nicht. Aber bevor wir wieder nach Hause fahren, könnten wir etwas aus der Markthalle mitbringen. Wenn wir schon mal in Cádiz sind“, erklärt Laura, so als sei die die perfekte Hausfrau.

„Du weißt ja, die Produkte in Cádiz sind einfach viel günstiger, als in Chiclana.“

José wundert sich über seine Freundin, er kennt Aussagen, die sich um Preise und Geld drehen von zu Hause so gar nicht. Er lebt eher nach der Devise: Geld hat man um es auszugeben. Gedanken, ob die Kartoffeln nun mehr oder weniger kosten, sind ihm fremd.

Die Fahrt nach Cádiz dauert nur zwanzig Minuten, die Straßen sind wie leergefegt. Wer nicht unbedingt auf den Beinen sein muss, bleibt im Haus und schont sich für die nächste Nacht, denn die Feria ist noch nicht zu Ende! Um nicht lange nach einem freien Parkplatz zu suchen - wie überall in den großen Städten bleibt auch in Cádiz sorgenfreies Parken ein unerfüllbarer Traum - fahren die beiden in die Tiefgarage. Praktisch, dass sie nur einige Minuten von der großen Markthalle im Zentrum der Stadt entfernt ist. Langsam schlendern die jungen Leute, Arm in Arm, betrachten die Auslagen der Geschäfte, freuen sich über den freien Tag und steuern zuerst ein kleines Café in der Nähe der Plaza de los Flores an. Die beiden jungen Leute bestellen sich einen großen Becher Eis mit Sahne und genießen ihr Leben und den herrlichen Tag.

Am nahegelegen Strand sind die Spuren der letzten Nacht längst beseitigt worden. Nur ein kleiner Rest des Absperrbandes erinnert noch daran - es hatte sich an einem im Sand verankerten Mülleimer verfangen, der unweit der Leichenfundstelle steht. Oberhalb des Strandes, am Rande des Weges, der einer Promenade ähnelt, stehen in regelmäßigen Abständen zum Verweilen einladende Steinbänke. Die meisten von ihnen sind um die Mittagszeit besetzt. Angestellte der nahegelegen Firmen und Geschäfte genießen ihre freie Zeit, nehmen eine Kleinigkeit zu sich oder schauen einfach nur auf den Atlantik hinaus. Auch Laura und José beabsichtigen sich einen kurzen Moment hier auszuruhen, bevor sie noch vorm Schließen der Markthalle ihre Einkäufe erledigen wollen.

„Schau, auf der Bank hier ist gerade noch Platz für uns. Der Herr wird sicherlich ein wenig rutschen, damit wir noch daneben passen!“, meint die junge Frau mit einem Lächeln an den Dunkelhaarigen gerichtet.

Anscheinend hat er ihre Bitte nicht wahrgenommen, er macht so gar keine Anstalten dem Paar ein wenig Platz zu machen. Kurzerhand setzt sich Laura bei ihrem Freund auf den Schoß und legt ihre Arme um seinen Nacken. Beide besprechen den weiteren Verlauf des Tages. Sie beachten den Mann nicht mehr, der immer noch starr neben ihnen sitzt. Sein Blick ist nur auf eine Stelle am Strand gerichtet. Das Bellen eines herumstreunenden Hundes scheint ihn aufgeschreckt zu haben. Plötzlich springt er auf und läuft mit hastigen Schritten davon. Erst jetzt werden José und Laura aufmerksam.

„Was war das denn jetzt?“, fragt José, während er der schon fast verschwundenen Person kopfschüttelnd mit den Augen zu folgen versucht.

„Nur nicht wundern, einfach ignorieren“, erwidert Laura lachend.

Auf dem Cádizer Kommissariat laufen die Ermittlungsarbeiten langsam an. Noch immer liegt der Untersuchungsbericht der Kriminaltechnik nicht vor. Die Beschreibung der Ermordeten wurde mit allen vermissten Frauen verglichen, es gab aber keinerlei Übereinstimmung. Aktuelle Vermisstenmeldungen der letzten Nacht oder des Morgens liegen nicht vor.

„Ich rufe jetzt in der Technik an, langsam können die mal Infos rüberwachsen lassen“, stellt Kommissar Luis Cantor fest.

„Hallo! Seit wann bist du denn so fordernd. Sonst hast du es doch auch nicht so eilig, wenn es um die Arbeit geht.“

Der Chef der Ermittlungen, José Alvares zwinkert seinem Kollegen zu, er hat es nicht wirklich ernst gemeint. Ein Griff zum Telefon beendet die Unterhaltung. Anschließend teilt Luis seinem Kollegen die soeben erhaltenen Neuigkeiten mit.

„Die schöne Frau mit den roten Haaren wird zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt gewesen sein. Man hat im Blut etwas Alkohol nachgewiesen, aber unter 0,5 Promille. Vielleicht hat sie am Abend in der Stadt ein Glas Wein zu sich genommen. Sie wurde zuerst niedergeschlagen, mit einem stumpfen Gegenstand, vielleicht mit einer Flasche. Später wurde sie dann erstickt. Der Täter hat ihr die Strickjacke in den Mund geschoben und ihr die Nase zugehalten. Sie wird dabei schon ohne Bewusstsein gewesen sein, denn es gibt keinerlei Kampfspuren. Weder blaue Flecke noch Partikel unter den Fingernägeln. Sie hat es vermutlich nicht mehr gemerkt. Glücklicherweise.“

„Hast du auch Informationen erhalten, die uns bei der Feststellung der Identität helfen?“, will José wissen.

„Leider nicht wirklich. Sie war nicht schwanger, hatte keinen Verkehr, bevor sie starb. Die Zähne sind einwandfrei und auch sonst hatte sie keinerlei Ersatzteile, wenn du weißt, was ich meine“, erklärt Luis mit einem kleinen Schuss Ironie.

„Was ist mit der Kleidung, die die Rothaarige trug?“

Luis erklärt, es wäre nichts Außergewöhnliches, keine Kleidung vom Designer oder gar etwas Angefertigtes.

„Wir werden das Foto an die Presse geben, sollte sich in den nächsten zwei Tagen keiner nach ihr erkundigen. Bist du einverstanden?“ fragt José eigentlich nur pro ´forma, denn er ist der Chef des Teams.

Gegen zweiundzwanzig Uhr machen sich in Chiclana Laura und ihr Freund wieder auf den Weg in die Stadt. Am heutigen Abend wollen sie sich alleine auf der Feria vergnügen, die beiden Freude Pepe und Isabel verbringen den Abend gemeinsam mit ihrer Familie auf dem Fest. Im Festzelt, das eine große Supermarktkette stellt, wird seit Stunden Flamenco getanzt. Die große Holzbühne trägt knarrend die Tänzerinnen. Aus den unterschiedlichen Gruppen und Tanzschulen sind sie hier, um ihre einstudierten Darbietungen zu präsentieren. In den Pausen drängen sich die weiblichen Besucher auf dem Parkett. Ob in wunderschönen Flamencokleidern, in Jeans oder einfachen Kleidern, getanzt wird zur Musik bis zum Rande der Erschöpfung.

„Geh doch rauf, ich warte auf dich. Mach schon. Ich will sehen, wie meine Laura hier tanzt“, fordert José seine Freundin auf.

Sie erwidert jedoch, ohne die richtigen Schuhe würde sie sich nicht trauen, so viele Augen sind immerhin auf die Bühne gerichtet.

„Ich glaube, du traust dich nicht. Schau, die anderen Frauen tanzen sogar in Turnschuhen und Jeans.“

Laura winkt ab, sie lässt sich nicht drängen und möchte stattdessen lieber in ein anderes Festzelt wechseln.

„Lass uns doch noch einen Sherry trinken, im Chiclanero, bevor wir wieder nach Hause fahren“, bittet Laura ihren Freund.

Langsam wird es bereits hell, der Morgen graut und noch immer tanzen und feiern die zahlreichen Besucher der Feria in Chiclana. Auch Laura und José verlassen erst gegen sechs Uhr den Festplatz um total übermüdet nach Hause zu fahren.

~~~ Kapitel 3 ~~~

Verträumt steht das kleine, weißgestrichene Haus am Rande des Caminos. Die Nachbarn wunderten sich zuerst, immer wieder hielten Fahrzeuge mit ausländischen Nummern vor dem Tor und ihre Insassen verschwanden für lange Zeit im Inneren. Erst nachdem auch Lastwagen Material brachten, der große Betonmischer seine Ladung durch einen langen Rüssel entlud, war das Rätsel gelöst. Das Haus, es gehörte einst einem alten französischen homophilen Paar, wurde verkauft. Die neuen Eigentümer, anscheinend auch ausländischer Nationalität, veranlassten eine Totalerneuerung des alten Hauses. Wochenlang wurde geklopft, gehämmert und nur die plötzlich einkehrende Ruhe schien die Fertigstellung zu dokumentieren. Dann geschah nichts. Das Haus stand und wartete auf seine bevorstehende Aufgabe. Mit den ersten warmen Sonnenstrahlen kamen sie dann, meist wochenweise angereist, die Gäste des Hauses, die Touristen, die sich hier eingemietet hatten. Die Nachbarn schenkten ihnen wenig Beachtung. Verständlich, denn sie blieben nie lange. Kontakt kam nicht zustande, vielleicht auch wegen der Sprache oder wegen der Einstellung, die so manche Reisende im Gepäck haben. Sie leben nach dem Motto: wir haben Urlaub und was gehen uns das Land, die Menschen und die Nachbarn an! Für Ordnung schien ein junges Paar zu sorgen. Der weiße Clio stand öfter am Tor, das war aufgefallen. Neugierige Blicke hatten dann erkennen lassen, es wurden Bettwäsche und Handtücher transportiert. Besen und Wischer kamen zum Einsatz und am Ende des Besuches wurde auch noch ein verschnürter Sack zum Müll gebracht. Neue Gäste kamen, blieben und zogen wieder aus. Das Procedere wiederholt sich in mehr oder weniger gleichen Anständen.

Am vorletzten Tag der Feria, es ist ein Sonnabend, scheint sich wieder ein neuer Gast im Camino Las Abuelas einzufinden. Frisch gewaschen und dunkelrot steht der kleine Citroën vor dem Haus. Neugierig steigt eine junge Frau aus ihm und versucht das große Tor zu öffnen. Nicht so einfach, an dem Bund befinden sich zahlreiche Schlüssel. Dennoch, nach etwas Probieren gelingt es ihr und das Auto verschwindet auf dem Grundstück. Laut scheppernd schließt sich das Tor und die ursprüngliche Ruhe ist wiederhergestellt. Barbara Fischer kommt aus Hamburg. Sie hat sich aus dem Internet diese Unterkunft ausgesucht, weil sie Ruhe haben möchte, weil sie eben nicht, wie so viele andere Touristen, in einem großen Hotel mit Animation und Rundumbetreuung ihren Urlaub verbringen will. Die Trennung von ihrem letzten Freund hatte ihr sehr zu schaffen gemacht, zu tief saß der Schmerz. Mit Sonne, Strand und Wasser, langen Spaziergängen und Ruhe will sie sich erholen und vergessen. Barbara Fischer schließt die Haustür auf und trägt zuerst ihren Koffer in den Salon. Das Haus scheint frisch gestrichen zu sein und wirkt freundlich und sauber. Langsam öffnet sie die Türen um einen Blick in jedes der vorhandenen Zimmer zu werfen. Neben dem Salon, der auch einen Esstisch und vier Stühle beherbergt, gibt es zwei Schlafzimmer, ein Bad und eine Küche. Hinter dem Haus stehen unter einer Überdachung ein Tisch, vier Stühle und zwei Liegen. Der Garten ist nicht besonders groß. Eine besondere Art Rasen, dick und fleischig bedeckt den Boden. Am Rande stehen einige Büsche, die herrliche rote Blüten tragen. Barbara packt ihren Koffer aus und springt zuerst unter die Dusche. Der Tag hat früh begonnen und sie ist trotz der Freude und Aufregung, nun endlich im Urlaub zu sein, von der Reise erschöpft. Etwas später fährt sie mit ihrem kleinen C 3 in die nahegelegene Stadt Chiclana um einzukaufen. Denn nur von Sonne und Ruhe kann die junge Frau nicht leben.

Gleich an der Autobahn - sie nimmt die Ausfahrt Nummer Sieben - liegt der Supermarkt einer großen Kette. Auf dem für die Kunden kostenlos zur Verfügung stehenden Parkplatz entdeckt Barbara nur wenige Fahrzeuge. Sie stellt ihren Wagen ab und betritt das Gebäude durch die Automatiktür. Im Inneren gibt es neben dem Supermarkt auch noch einige andere Geschäfte. Im kleinen Vorraum fällt ihr ein Plakat auf. Darauf ist eine wunderschöne Frau in spanischer Flamencotracht abgebildet. Die junge Deutsche spricht kein Spanisch, dennoch das Datum und die Uhrzeit, es scheint eine Tanzveranstaltung zu werden, kann sie entziffern. Große geschwungene Buchstaben, schwarz und rot umrandet, nennen den Namen der Akteurin: Juanita Mercedes Ortega da Silva. Was soll bei einem solchen Namen noch schief gehen? Barbara beschließt, ohne weiter darüber nachzudenken, an dieser Veranstaltung am kommenden Abend teilzunehmen. Woher sie die Karte für den Abend bekommt, weiß sie allerdings noch nicht, den Hinweis auf dem Plakat kann sie nicht übersetzen.

Nach dem Einkauf ist der Wagen schwer geworden, von den vielen Tüten, die die Kassiererin für sie gepackt hat. Nun versucht sie im Foyer des Supermarktes jemanden zu finden, der ihre Sprache spricht. Gar nicht so einfach. Barbara beschließt zuerst einmal die schweren Einkaufstüten in ihren Wagen zu transportieren, dann wird sich sicherlich eine Lösung finden. Zufällig parkt neben ihrem Citroën ein Fahrzeug mit deutschen Kennzeichen. Die Hamburgerin beschließt einfach, in ihrem Auto auf die Besitzer zu warten. Sie hat Glück, nur wenige Minuten später erscheint ein junges Paar mit einigen Zeitungen unter dem Arm.

„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie so einfach anspreche. Sie sprechen doch sicherlich Deutsch?“, traut sie sich zu fragen.

„Ja, ganz zufällig. Worum geht es?“, fragt der braungebrannte Deutsche.

„Ich mache hier Urlaub“, beginnt Barbara mit ihrer Erklärung.

„Wie schön für Sie!“, kommt vom Gegenüber, etwas zu unfreundlich für Barbaras Geschmack.

„Ich wollte Sie nicht belästigen, nur eine kurze Frage. Ich habe drinnen ein Plakat über eine Tanzveranstaltung gesehen, die ich gerne besuchen würde. Wissen Sie vielleicht wo ich eine Karte erwerben kann?“

Die beiden Deutschen schauen sich an, schütteln den Kopf und setzen sich in ihren altersschwachen Wagen, ohne auch nur die Spur einer Antwort. Barbara bleibt stehen, sie kann gerade überhaupt nicht verstehen, was hier passiert ist. So bemerkt sie auch nicht, dass sich ihr ein junger Mann nähert, der anscheinend seinen Wagen in einem anderen Gang geparkt hat.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Barbara dreht sich um und schaut in zwei dunkelbraune Augen.

„Oh! Vielen Dank. Die beiden eben hatten wohl Angst, wovor weiß ich allerdings nicht.“

Die Hamburgerin erklärt, wonach sie sucht und bekommt ein Angebot, das sie eigentlich nicht ablehnen kann.

„Ich weiß nicht, ich möchte es lieber nicht“, erklärt sie dem Fremden.

„Was kann denn passieren? Wovor haben Sie Angst? Sehe ich so gefährlich aus?“, fragt der Fremde.

„Nun. Nein. Aber, man sieht es eben nicht, wenn jemand etwas Böses vorhat. Aber Sie haben Recht, was soll passieren? Ich bin einverstanden.“

„Gut. Dann treffen wir uns vor dem Eingang zur Allzweckhalle um 21.45 Uhr. Sie wissen, wie Sie dort hingelangen?“

Barbara lässt sich den Weg erklären und ist froh, denn die Halle liegt gar nicht so weit von ihrem Urlaubsquartier entfernt. Die beiden verabschieden sich voneinander und Barbara steigt lächelnd in ihr Auto. Den Rest des Tages verbringt die junge Urlauberin am Strand von La Barrosa, dem eigentlichen touristischen Zentrum Chiclanas. Urlauber, die dort ihre lang ersehnten Ferien verbringen, wissen oft gar nicht, dass sie sich in Chiclana de la Frontera befinden!

Barbara ist nun doch sehr aufgeregt, wenn sie an ihre ungewöhnliche Verabredung denkt. Noch nie hat sie sich mit einem für sie wildfremden Mann verabredet, noch dazu in einem fremden Land. Unentschlossen hat sie begonnen in ihrer mitgebrachten Urlaubsgarderobe nach einem passenden Stück für den Abend zu suchen. Kurz nach sechs Uhr entschließt sie sich erneut nach Chiclana zu fahren, um nach angemessener Garderobe zu suchen. Es stellt sich heraus, es ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Modegeschäfte, die ihren Ansprüchen genügen, findet sie nicht. Zufällig trifft sie aber erneut auf Deutschsprachige, die ihr den Tipp geben, ins nahegelegene San Fernando, ins Einkaufszentrum Bahia Sur, zu fahren. Dort kann sie ihren Kaufrausch so richtig ausleben und wird fündig.

Zahlreiche Interessierte stehen bereits vor der Halle, als Barbara dort ankommt. Glücklicherweise findet die junge Deutsche sofort einen Stellplatz für ihren Wagen. Nun muss sie nur noch nach dem Fremden Ausschau halten.

„Hallo!“, hört sie immer wieder eine männliche Stimme durch die Menschenmenge rufen.

Suchend schaut sich Barbara um und entdeckt ihren morgendlichen Informanten.

„Ich habe schon überall nach Ihnen Ausschau gehalten. Ich hatte Angst, Sie würden nicht kommen!“, begrüßt er sie.

„Aber, ich habe doch zugesagt“, erwidert sie entrüstet.

„Ich möchte mich vorstellen. Mein Name ist Herbert Weiß. Ursprünglich komme ich aus Coburg, aber das ist schon lange her. Nun lebe ich schon seit knapp zehn Jahren in Chiclana. Wie die Zeit vergeht!“

„Darf ich fragen, was Sie hier machen? Sie sind doch noch so jung, Rente bekommen Sie doch noch keine“, fragt Barbara interessiert.

Ihr Begleiter erklärt, er sei für eine deutsche Firma nach Spanien gekommen, als Außendienstmitarbeiter. Die Firma vertreibe Elektromaschinen und Zubehör. Mittlerweile gebe es auch spanische Kollegen, aber er sei der Missionar gewesen, damals kannten die Spanier seine Firma hier noch nicht.

„Lassen Sie uns gehen, damit wir in Ruhe unseren Platz suchen können“, schlägt Herbert vor.

Barbara schaut sich die Gäste an, besonders die weiblichen. Dafür, denkt sie sich, hätte ich mir wirklich kein neues Outfit kaufen müssen. Viele junge Spanierinnen tragen Jeans, andere lange Röcke oder lockere Kleider. Das Publikum ist sehr gemischt, Jung und Alt, Mann und Frau und viele Kinder drängen ins Innere der Halle.

Die Vorführung, ein typischer spanischer Flamencoabend, ist so ganz nach dem Geschmack der Urlauberin. Die Hauptdarstellerin mit dem unvergleichlichen Namen Juanita Mercedes Ortega da Silva ist der Star des Abends. Unzählige Male wechselt sie ihre Kleider, die bunter nicht aussehen könnten. Dunkelrote Kleider mit großen und weißen Punkten, ein schwarzes Kleid, das bunte Blumen schmückt, aber auch andere Muster, die Barbara vorher noch nie gesehen hat, sieht sie entzückt an der Tänzerin. Ein Kleid allerdings, ein zweiteiliges, hat es der jungen Deutschen besonders angetan. Der mehrfach gestufte, dunkelgrüne Rock ist mit einer beigefarbenen Spitze verziert. Das Oberteil, aus dem gleichen grünen Stoff allerdings mit großen Punkten. Der Stoff glänzt und die um die Hüften geschlungene Stola muss sicherlich ein Vermögen gekostet haben. Barbara kann sich gar nicht satt sehen und ist total begeistert.

„Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, ohne Sie hätte ich es nie geschafft, es ist ein richtiges Highlight für meinen Urlaub. Vielen Dank. Ich möchte Sie gerne, als Dankeschön, zum Essen einladen. Ich weiß nur nicht, wohin. Machen Sie doch bitte einen Vorschlag!“, fordert Barbara, während sie gemeinsam die Halle verlassen.

Herbert bedankt sich bei seiner jungen Begleiterin, erklärt ihr aber, an diesem Abend wäre es ihm schon zu spät. Die Tänzerin hatte unzählige Zugaben tanzen müssen, Barbara hatte dabei völlig vergessen, einen Blick auf die Uhr zu werfen.

„Wenn Sie einverstanden sind, können wir uns gerne an einem anderen Abend zum Essen treffen. Vielleicht ja morgen, also eigentlich ja übermorgen“, erklärt Herbert lachend.

„Wie?“, fragt Barbara mit zahlreichen Falten auf der Stirn.

„Nun, morgen ist ja schon heute. Also ich meine, es ist ja schon nach Mitternacht!“

Nun hat auch die Urlauberin verstanden, wie ihr charmanter Begleiter es gemeint hatte.

„Ich werde Sie anrufen. Haben Sie eine Telefonnummer?“

Barbara erwidert, nur ihre deutsche Handynummer.

„Ach was. Wir machen es anders. Ich hole Sie ab. Gegen neun Uhr, also ich meine, einundzwanzig Uhr. So sagt man es doch noch immer bei Ihnen in Deutschland?“

Barbara lacht und bestätigt. Sie freue sich auf den Abend und auf das hoffentlich typische Lokal.

~~~ Kapitel 4 ~~~

José und Luis haben mit der Ermordung der Rothaarigen, die am Strand gefunden wurde, eine dicke Nuss zu knacken. Keiner scheint diese Frau zu vermissen. Brauchbare Hinweise hat der zwischenzeitlich vorliegende Obduktionsbericht nicht ergeben. Die zuerst gemachte Aussage des Pathologen bleibt unverändert. Die Frau war etwa um die 25 – 30 Jahre alt. Aufgrund ihres schlanken Körpers gehen die Ärzte davon aus, dass sie sportlich tätig war. Leistungssport hat aber sicherlich nicht dazu gehört, der Muskelaufbau war zu schwach. Sie scheint Nichtraucherin gewesen zu sein, auch ein übermäßiger Alkoholgenuss kann ausgeschlossen werden. Man hat keinerlei Anzeichen gefunden, dass sie jemals mit Drogen in Kontakt gekommen wäre. Sie war nicht schwanger. Die Kommissare haben sich entschlossen, ein Foto der Ermordeten in die Zeitung und in die wichtigsten Nachrichten des Fernsehens zu bringen. Auch die erneute Befragung der Jugendlichen, die bei ihrem nächtlichen Besuch am Strand über die dort abgelegte Leiche fast gestolpert wären, blieb erfolglos. Dennoch, die Polizei hat noch mehr versucht. Alle Anwohner der dem Fundort am nächsten stehenden Häuser wurden aufgesucht und befragt. Keiner der Anwohner hat eine Beobachtung gemacht. Weder die rothaarige Frau noch etwas Außergewöhnliches wurde in dieser Nacht beobachtet. Die Arbeit in diesem Mordfall lässt an Sisyphus denken, eine schier nicht enden wollende Aufgabe. Alle Möglichkeiten wurden ausgeschöpft, weder die Blutuntersuchung noch die Überprüfung der DNA brachte die Ermittler auf eine heiße Spur.

„Ich bin gestern Abend noch am Strand spazieren gewesen. Leider ohne auf etwas Spektakuläres gestoßen zu sein“, erklärt Luis seinem Kollegen

„Wie, du bist am Strand gewesen? Nach Feierabend noch?“

„Sicherlich. Ich dachte, vielleicht kehrt der Täter, wie so oft schon, an den Tatort zurück. Vielleicht wäre er mir direkt in die Arme gelaufen und hätte mir sein Herz ausgeschüttet.“

„Deinen Glauben an das Gute möchte ich haben. Aber ehrlich, Luis, wenn du mal wieder etwas Ähnliches vorhast, sage mir bitte Bescheid. Nur für den Fall. Es könnte ja auch unangenehm enden“, stellt José fest.

In Chiclana läuft der letzte Tag der Feria San Antonio. Bis Mitternacht wird noch gefeiert, dann beendet ein großes Feuerwerk das Spektakel. Das Gefühl liegt nahe, dass die ganze Stadt auf den Beinen ist. Tausende strömen noch einmal zum Festplatz an den Rio. Die Stimmung ist famos und der Alkohol fließt in Strömen. Natürlich sind auch die vier Freunde, José und seine Freundin Laura und Pepe mit seiner Isabel dabei. Die Männer wollen heute noch einmal richtig Autoskooter fahren, die Mädchen interessieren sich dafür so gar nicht. Beide machen sich auf den Weg und schlendern über dem Festplatz, sie sind auf der Suche nach einem Kettenkarussell. Gemeinsam haben sie beschlossen, sich kurz vorm Beginn des Feuerwerkes vor dem Hauptzelt zu reffen.

„Isabel, ich gehe noch eben für die kleinen Königstiger, wartest du hier auf mich?“, fragt Laura ihre Freundin.

Die Toiletten sind etwas abseits des Festplatzes, jedoch nur einige Minuten entfernt. Isabel, die eine Naschkatze ist, kauft sich am Stand noch ein Eis und wartet dann auf ihre Freundin. Vermutlich ist es um diese Zeit besonders voll, alle Besucher wollen noch schnell aufs Örtchen, bevor das Feuerwerk beginnt. Zuerst wundert sich Isabel daher nicht, dass es länger dauert und ihre Freundin Laura nicht zurückkehrt. Als sie kurz vor Mitternacht noch immer nicht zurück ist, greift Isabel zu ihrem Handy um Laura anzurufen. Das Gespräch wird nicht angenommen, die Mailbox springt an. Kurzentschlossen begibt sich Isabel zum vereinbarten Treffpunkt, die beiden Männer warten schon suchend vor dem Festzelt.

„Ist Laura schon bei Euch?“, fragt sie gleich.

„Nein. Sie war doch bei Dir“, erwidert José.

Isabel erklärt den beiden Männern, was sich zugetragen hat. Sie beschließen sich zu trennen, nachdem auch ein weiterer Anruf auf dem Telefon erfolglos geblieben ist. Isabel und José machen sich auf den Weg zu den Toilettenhäuschen, Pepe wartet weiterhin vor dem Festzelt. Der Weg macht ihnen Mühe, die Menschen drängen an das Ufer des Rios, alle wollen das Feuerwerk bestaunen, das schon in vollem Gang ist. Der Himmel erstrahlt in unterschiedlichen Farben und Mustern. Endlich erreichen die beiden die Toiletten. Isabel betritt den Container, auf dem der Hut am Eingang zu erkennen ist. Laut ruft sie nach ihrer Freundin. Ohne Erfolg. Auch José, der um die Container herumgelaufen ist, ruft immer wieder den Namen seiner Freundin. Aber die Rufe bleiben genauso unbeantwortet wie die erneuten Versuche, die Freundin über das Handy zu erreichen.

„Lass uns zurück zum Festzelt gehen“, beschließt José.

„Hier ist sie nicht.“

„Ich habe an alle verschlossenen Türen geklopft und gerufen. Sie war nicht drinnen. Ich verstehe es gar nicht“, stottert Isabel, die sichtlich erregt ist.

Die jungen Leute beschließen nicht länger am Festzelt zu warten. Sie unternehmen einen weiteren Versuch Laura zu finden. Gemeinsam gehen sie zum geparkten Fahrzeug, um zu sehen ob Laura dort vielleicht wartet.

„Vielleicht ist ihr schlecht geworden und hat sich ins Auto gesetzt“, meint José.

„Sie hat den Schlüssel in ihrer Handtasche.“

Als die drei Freunde am Auto ankommen, suchen sie den ganzen Platz ab. Laura jedoch bleibt verschwunden.

„Was machen wir jetzt? Wir suchen jetzt seit drei Stunden nach Laura? Ich verstehe es nicht. Sie muss doch sehen, dass bereits unzählige Anrufe auf ihrem Handy eingegangen sind. Warum ruft sie nicht zurück?“, regt José sich auf.